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Energiestrategie 2050
Energie & UmweltMagazin der Schweizerischen Energie-Stiftung SES – 3 /2012
> Pseudoausstieg oder Einstieg in die Energiewende?> Viel Hoffnung statt griffige Massnahmen> Beznau 1: Freifeldversuch in Reaktoralterung!
2 Energie & Umwelt 3/2012
INHALTSVERZEICHNIS
Impressum
ENERGIE & UMWELT Nr. 3, September 2012
Herausgeberin: Schweizerische Energie-Stiftung SES, Sihlquai 67, 8005 Zürich, Telefon 044 275 21 21, Fax 044 275 21 20 [email protected], www.energiestiftung.chSpenden-Konto: 80-3230-3
Redaktion & Layout: Rafael Brand, Scriptum, Telefon 041 870 79 79, [email protected]
Redaktionsrat: Jürg Buri, Rafael Brand, Dieter Kuhn, Felix Nipkow, Bernhard Piller, Linda Rosenkranz, Sabine von Stockar
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Druck: ropress, Zürich, Auflage: 9500, erscheint 4 x jährlich Klimaneutral und mit erneuerbarer Energie gedruckt.
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SCHWERPUNKTTHEMA: Energiestrategie 2050
4 Pseudoausstieg oder Einstieg in die Energiewende?Bundesrat und Parlament haben den Atomausstieg beschlossen. Unsere Energieministerin hat daraus ein umfassendes erstes Massnahmenpaket für die Energiewende gemacht. Sie hat richtig erkannt: Raus aus dem Atom ist nur die halbe Wende. Wir müssen auch raus aus den Fossilen und rein in die Erneuerbaren. Beim «rein» hapert es an griffigen Massnahmen, beim «weniger ist mehr» ebenso. Aber lieber ein mehrheitsfähiger Einstieg in die Energiewende, statt weitere zehn Jahre energiepolitisches Treten an Ort.
8 Energieeffizienz&Erneuerbare: Nur Mut, Frau Bundesrätin!Mit der neuen Energiestrategie 2050 des Bundes steht die Schweiz an der Wende zu einer sauberen Stromversorgung. Doch die bundesrätliche Vorlage macht nur eine halbe Wende: Es fehlen verbindliche Abschaltdaten für die bestehenden AKW. Zudem soll auf einen ungebremsten Zubau bei der Photovoltaik und die sofortige Einführung einer Lenkungsabgabe verzichtet werden.
10 Bereich «Mobilität»: Viel Hoffnung statt griffige MassnahmenEin Drittel der Energie verbrauchen wir für Mobilität. Dies spiegelt sich aber in keiner Weise in den vom Bundesrat vorgeschlagenen Massnahmen. Für die SES ist klar: Es braucht viel, viel mehr, um das Steuer bei der Mobilität herumzureisen.
12 Bereich «Gebäude»: Minergie&Co. alleine werden es nicht richten In der Schweiz gibt es 1,64 Mio. Gebäude. Sie verbrauchen 49% der fossilen Ener gie und 37% des Schweizer Stroms. Trotz gutem ersten Massnahmenpaket lassen sich die Ziele der Energiestrategie 2050 nur zu zwei Dritteln erreichen. Es braucht integrale Ansätze, die Wohnen, Arbeiten, Mobilität sowie Freizeit und Konsum einander wieder näher bringen.
14 Photovolatik: Schweiz ist das Schlusslicht Die SES hat untersucht, wo die Schweiz im Vergleich mit umliegenden Ländern bei der Produktion von neuen erneuerbaren Energien steht. Das Resultat ist klar: Die Schweiz liegt – weit abgeschlagen – auf dem letzten Platz.
16 Beznau 1: Freifeldversuch in Reaktoralterung! In Beznau 1 steht der älteste Reaktor der Welt. Sein Reaktordruckbehälter ist aus un ausgereiftem Material hergestellt. Die Neutronenversprödung führt dazu, dass der Behälter immer brüchiger wird. Noch nie war ein so alter, so grosser Reaktordruckbehälter so lange so stark bestrahlt worden. Wir betreiben einen weltweit erst maligen Freifeldversuch in Reaktoralterung!
18 «ENSI und BFE tanzen nach den Vorgaben der Nagra»Per Ende Juni ist Marcos Buser aus der Eidgenössischen Kommission für nukleare Sicher heit (KNS) zurückgetreten. Sein Rücktritt sei eine Frage des Gewissens, die Vorwürfe sind happig. «Etwas stimmt nicht im Atomstaat Schweiz!» – Ein Interview über die Hinter gründe und Machenschaften bei der Standortsuche nach einem AtommüllTiefenlager.
20 l News l Aktuelles l Kurzschlüsse l
22 Dezentrale WKK leistet wichtigen Beitrag zur EnergiewendeDie zukünftige Schweizer Stromversorgung wird gänzlich anders gestaltet sein als die heutige. Sie wird kleinräumiger, dezentraler und erneuerbar sein. Die dezentrale WärmeKraftKopplung (WKK) wird eine tragende Rolle spielen, da sie gleichzeitig Strom und Wärme produziert. Zentrale grosse Gaskraftwerke sind aus Ressourcen wie auch aus Effizienz gründen nicht zukunftsfähig.
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EDITORIAL
Nicht auf halbem Weg stehen bleiben!
Aus der Perspektive der Energiepolitik kann man der knapp zwei Jahre amtierenden Energiemi nis terin Doris Leuthard gratulieren: Angesichts des Desasters in Fuku
shima hat sie den Hebel hin zu einer langfris tigen Versorgung mit erneuerbarer Energie und in Richtung AKWAusstieg umgelegt.
Was ihr Vorgänger zwölf Jahre lang allzu gerne getan hätte, wozu ihm aber das Parlament, die Stromwirtschaft und die Wirtschaftsverbände nicht den Hauch einer Chance gegeben haben, ist jetzt in greifbare Nähe gerückt. Wir warten nun gespannt auf die vollmundig angekündigten konkreten Vorschläge des Bundesrates und können nur festhalten: Die Chancen, dass auch das Parlament – endlich! – in diese Richtung gehen will, stehen nicht schlecht. Dazu braucht es aber konsistente Konzepte. Der Ausstieg ist nicht ohne weiteres zu haben – da hat die economiesuisse Recht. Nicht Recht hat sie hingegen mit ihrem sturen Festhalten an veralteten Konzepten, wovon ja die Atomtechnologie nur eines ist. Zur Konsistenz der neuen Energiepolitik gehören vier Grundprinzipien: n Kein halber Ausstieg ! Erstens darf der Ausstieg nicht nur einer aus der Nukleartechnologie sein, sondern auch aus allen anderen nicht erneuerbaren Ener gien. Die Substitution von nuklearer Technologie durch fossile – und umgekehrt – ist für die langfristige Energieversorgung ein Trugschluss, abgesehen von deren fatalen klimatischen und ökologischen Auswirkungen. Parallel zum Atomausstieg müssen also bei den Grossverbrauchern Gebäude und Verkehr die veralteten und ineffizienten Verbrennungstechnologien rasant zurückgefahren werden.
n Maximale Effizienz ! Zweitens schreitet die Elek trifizierung der Gesellschaft voran: Künftige Generationen werden diese Energieform noch stärker nutzen. Die Herausforderung ist damit die erneuerbare Versorgung mit viel Elektrizität bei maximaler Effizienz ihres Einsatzes.
n Investieren in die Zukunft ! Ener giepolitik bedeutet drittens nicht Verzicht, sondern ganz im Gegenteil die massive Investition der Wirtschaft und des Staates in innovative Technologien. Wir Schweizer haben nur die Lehre aus unserer eigenen Geschichte – jene der Turbinen und der Wasserkraft vor 120 Jahren – zu ziehen. Damals, liebe economiesuisseOldies, hat man viel Geld in teure Innovationen investiert, in Techniken, die heute die goldenen Eier der Energiewirtschaft legen! Wenn es damals die kostspielige Wasserkraft und Stromleitungen waren, so ist heute die Solartechnologie die Zukunftstechnologie.
n Durchstarten ! Viertens müssen diese Prozesse so rasch als möglich in Gang kommen. Jedes Jahr, das wir verlieren, bedeutet Verlust an Versorgungssicherheit, an Energieautonomie und – insbesondere! – an internationaler Wettbewerbsfähigkeit unserer innovativen Branchen. Wer hier jetzt nicht durchstartet, verliert den Anschluss an die Welt.
Genau an diesen vier Grundprinzipien werden wir die Vorschläge des Bundesrates und die Umsetzung durchs Parlament messen. Der Staat und die Gesetze können und sollen nicht alles. Aber sie setzen die Rahmenbedingungen und sie geben vor allem die Geschwindigkeit der Umsetzung vor.
Verzögern und verwässern wir sie, droht der Stillstand auf halbem Weg. Das wäre das Schlimmste. <
Von MICHAEL KAUFMANN*SES-Stiftungsrat
* Michael Kaufmann ist seit 1. März 2011 Direktor der Musikhochschule Luzern. Der Ingenieur ETH war während sechseinhalb Jahren Vizedirektor des Bundesamtes für Energie (BFE) und leitete das Programm EnergieSchweiz.
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Von JÜRG BURISES-Geschäftsleiter
Die Schweiz ist das reichste Land der Welt, wenn auch der Reichtum extrem schief verteilt bleibt. Durchschnittlich verdient ein(e) SchweizerIn im Jahr 72’000 Franken und hat ein Vermögen von 176’000 Franken. In einem durchschnittlichen Unternehmen oder im
Haus haltsbudget einer Privatperson machen die Energie kosten etwa 2–5% der gesamten Ausgaben aus.
Keine CH-RohstoffeAusser der Wasserkraft und etwas Biomasse hat die Schweiz keine eigenen Energieressourcen. Vier Fünftel der Energie wird in Form von Erdölprodukten, Erdgas und Uranbrennstäben importiert. Wir kaufen jährlich für etwa 10 Milliarden Franken Energie im Ausland ein. Dieses Geld fliesst nach Libyen, Nigeria, Algerien, SaudiArabien, Iran, Russland, Kasachstan, Norwegen – und oft wieder auf Schweizer Bankkonten zurück. Unser Reichtum fusst auf anderen Faktoren: stabiler Hafen für schwarzes und weisses Geld, wenig Transparenz und tiefe Steuern, guter Bildungsplatz, hohe Innovation und viel frische Luft. Banken, Börsen, Chemie und KMU prägen die Landschaft. Energieintensive Betriebe gibt es nur noch wenige, obwohl die Energie in unserem Land billiger ist als anderswo in Europa.
Horrender EnergieverbrauchIm reichsten Land der Welt ist auch der Energieverbrauch rekordverdächtig. Seit 1970 hat er sich fast verdoppelt. Wenn Energie billig ist, wird sie bedenkenlos konsumiert und verschwendet. Kein Wunder hat die Schweiz die spritfressendste Autoflotte Europas, geheizte Fussballfelder und mit rund 50 m2 am meisten (geheizte!) Wohnfläche pro Person. Wir können es uns leisten, ganze Städte, Dörfer, Strassen und Schaufenster ohne Nutzen die ganze Nacht elektrisch zu beleuchten. Zählen wir den Energieverbrauch der im
portierten Konsumgüter hinzu, so haben wir heute pro Person einen Energiebedarf von mindestens 8300 Watt (Dauerleistung). Das heisst, für jeden von uns brennen permanent über achtzig 100WattGlühbirnen! Das ergibt eine Energierechnung für unser Land von gut 30 Milliarden Franken jährlich.
Fossiles wird teuerMittlerweile will sogar der amerikanische Präsident sein Land unabhängiger vom Erdöl machen und bis 2025 1700 Milliarden Dollar an Benzinkosten sparen. Ende August hat Barack Obama ein Gesetz vorgelegt, welches den Benzinverbrauch der Autos bis 2025 halbieren soll. Statt über 8 soll die amerikanische PWFlotte nur noch 4 Liter auf 100 Kilometer brauchen. Dieser Schritt Obamas ist verständlich. Denn die Kriege ums Öl kosten die USA jährlich mehrere Hundert Milliarden USDollar. Die Zeit des billigen Öls neigt sich dem Ende zu – das pfeifen mittlerweile auch saudische Spatzen von den Dächern. Die heutigen OECDLänder werden das billige und knapper werdende Öl zunehmend mit China, Indien, Brasilien und Afrika teilen müssen. Denn auch dort wird je länger je mehr Auto gefahren, geheizt, gekühlt, gefertigt, geduscht, geglotzt und beleuchtet.
Erneuerbares wird billigerWährend die Preise für die knapper werdenden fossilen Energierohstoffe steigen, fallen sie für Windräder und SonnenenergieAnlagen drastisch. Heute produziert eine gute Solarstromanlage im Mittelland 1 Kilo wattstunde für 20 Rappen. Vor fünf Jahren war sie mindestens drei Mal so teuer. Die Produktionskosten für Solarstrom sind heute fast so tief wie der Preis für 1 Kilowattstunde vom Elektrizitätswerk. Auch einheimisches Holz war in den letzten Jahren immer billiger als Heizöl.
Fukushima als Trigger11311 hat uns die fast vergessene Fratze einer unbeherrschbaren und zu gefährlichen Technologie vor
ENERGIESTRATEGIE 2050
Pseudoausstieg oder Einstieg in die Energiewende?Fukushima und die Wahlen 2011 haben es möglich gemacht: Bundesrat und Parlament haben vor eineinhalb Jahren den Atomausstieg beschlossen. Unsere Energieministerin hat daraus ein umfassendes erstes Massnahmenpaket für die Energiewende gemacht. Sie hat richtig erkannt: Raus aus dem Atom ist nur die halbe Wende. Wir müssen auch raus aus den Fossilen und rein in die Erneuerbaren. Beim «rein» hapert es an griffigen Massnahmen, beim «weniger ist mehr» ebenso. Aber lieber ein mehrheitsfähiger Einstieg in die Energie-wende, statt weitere zehn Jahre energiepolitisches Treten an Ort.
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Augen geführt. Die Folgen sind für die japanische Bevölkerung, für die Umwelt und auch für den ehemaligen AKWBetreiber fatal. Auch wenn gewisse Kreise den SuperGAU bereits klein reden, so ist eine deutliche Mehrheit der Schweizer nach wie vor gegen den Neubau von AKW. Und das wird wohl noch eine Weile so bleiben.
Doris als Glücksfall?Doris Leuthard hat diesen Tatsachen in die Augen geschaut und sich zuerst für den Atomausstieg und dann für die Energiewende entschieden. Sie brauchte dafür keine ökologische Überzeugung, sie sah die politischen aber auch volkswirtschaftlichen Chancen. Unser aller Glück war ihre Parteizugehörigkeit. Bei ihrem SPVorgänger wäre dieser Richtungswechsel wegen parteipolitischer Abwehrreflexe nie mehrheits fähig gewesen. Und klar, Bundesrätin Leuthard hatte den nötigen Mut und den nötigen Charme, um die Fackel der Energiewende endlich durchs Bundeshaus zu tragen. Wer sie in der entscheidenden Ständeratsdebatte gegen die demonstrativ Kreuzworträtsel lösenden Atomköpfe hat referieren sehen, weiss, dass ihre Überzeugung ehrlich ist. Nicht weil sie über Nacht zur Atomkritikerin geworden wäre. Nein, sie wusste einfach, dass AKWNeubauten schlicht unrealistisch geworden waren und die erneuerbaren Energien, die effizienten Technologien und die Ge
bäudesanierungen allesamt ein riesiges Potenzial an Arbeit und Wohlfahrt für hiesige KMU bedeuten. Leider haben das bis heute weder der Gewerbeverband geschweige denn die SVP begriffen. Sie haben noch immer das Gefühl, dass billige Energie für uns alle ein Segen ist.
Demokratie wendet nur langsamBisher ist noch gar nichts neu und noch gar nichts entschieden. Die SVP und die nuklearen Altherrenklubs fordern bereits wieder neue AKW. Wie und vor allem wie schnell der politische Prozess laufen wird, ist schwierig vorauszusagen. Momentan gehen die Gesetzesvorschläge von Doris Leuthard in die Vernehmlassung. Im Sommer 2013 gibt es den definitiven Vorschlag des Bundesrates und darauf folgt die Parlamentsdebatte. Falls der «geordnete» Atomausstieg als eines der zentralen Elemente der Vorlage das Parlament überstehen wird, werden die Adlaten der Atomstromwirtschaft und die so genannten Wirtschaftsverbände wohl dagegen das Referendum ergreifen und es kommt in etwa 2015 zu einer Volksabstimmung. Bis dahin bleibt alles beim Alten und vor allem bleibt unklar, wohin die Reise geht.
Der «Plan Leuthard»Bundesrätin Leuthard und ihr Bundesamt haben wenig Neues erfunden. Mussten sie auch nicht. Die «Ener
Der «Plan Leuthard» ist eine energiepolitische Schlaumeierei und dient der Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke – auf Kosten all unserer Sicherheit!
Der «Plan Leuthard» ist ein mehrheitsfähiger Einstieg in die Energiewende!
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gieperspektiven 2050», so heisst das neue Konzept, ähnelt den alten Perspektiven aus dem Jahre 2007. Schon damals hatte Energieminister Moritz Leuenberger vorgerechnet, dass der Atomausstieg mit erneuerbaren Energien und effizienterem Stromeinsatz möglich ist. Trotzdem überzeugt Doris Leuthard, insbesondere in einem Punkt: Sie kommuniziert besser und verkauft geschickter. Sie redet nicht nur vom Atomausstieg, sondern von der gesamten Energieversorgung, also auch von Mobilitätsreduktion, Gebäudesanierungen und Klimaschutz. Und sie stellt klar, dass die Wende ein langer Prozess sein wird, dass wir jetzt die Weichen stellen müssen und Zeit brauchen, dass ihr erstes Massnahmenpaket nur ein Anfang sein kann und später mehr nötig sein wird. Es braucht auf allen Seiten Kompromisse, und auch wir als KonsumentInnen müssen diesen Weg mitgehen. So weit so gut.
Ziele in weiter Ferne Bis im Jahr 2050 will Bundesrätin Leuthard den Gesamtenergieverbrauch um einen Drittel senken und der Stromverbrauch soll ab 2020 stabil bleiben. Das ist aus 2000WattSicht zu wenig, aber pro Kopf und mit weiterem Bevölkerungs und Wirtschaftswachstum immerhin ein 4000WattZiel. Was dabei auf und missfällt, ist die Verschiebung der Zielerreichung nach hinten. So soll in den nächsten zehn Jahren, also während ihrer Amtszeit, quasi kaum etwas geschehen, ab 2030 bis 2050 jedoch fast die gesamte Wirkung erzielt werden. Lange politische Prozesse in Ehren: Fakt ist, dass die wirklich zielführenden Massnahmen auf die nächste PolitikerInnenGeneration verschoben werden. Langfristziele ohne verbindliche
Zwischenziele und vor allem ohne Massnahmen sind wertlos und politische Schlaumeierei.
Griffige Massnahmen fehlenDoris Leuthard gibt denn auch unumwunden zu, dass ihr Massnahmenpaket nicht genügt, um die Ziele zu erreichen. Dazu seien weitere Massnahmen ab 2020 nötig. Was sie für die nächsten zehn Jahre vorschlägt, ist demzufolge leidlich wenig: Die Verstärkung des Bisherigen und die Einführung dessen, was wir aus EUKompatibilität sowieso tun müssen. Auf neue wirk same und effizientere Massnahmen, wie zum Beispiel eine Energielenkungsabgabe, sollen wir weitere zehn wohl eher zwanzig Jahre warten. Eine weitere Tatsache ist, dass es keine verbindlichen Abschaltdaten für die fünf Atomkraftwerke geben soll. Womit es auch unwahrscheinlich bleibt, dass die einheimischen Potenziale an Erneuerbaren konsequent und rasch erschlossen werden. Die grossen Staatsstromer jedenfalls machen bisher gute Mine zum bösen Spiel. Sie wollen weder mithelfen, die dezentrale Versorgung mit erneuerbaren Energien voranzubringen, noch sind sie bereit, ernsthafte Stromsparmassnahmen mitzutragen. Was sie interessiert, ist der möglichst lange Betrieb ihrer UraltAKW – auf Kosten all unserer Sicherheit – sowie der Ausbau der Stromdrehscheibe Schweiz und die Auslandsinvestitionen.
Am Ende gehts ums GeldWie immer wird es in der politischen Ausmarchung am Ende ums Geld gehen. Die GegnerInnen der Energiewende werden der Bevölkerung mit hohen Kosten Angst einflössen. Dabei werden sie geflissentlich die Erblasten des nuklearen Vermächtnisses verschweigen und nur von teuren Erneuerbaren reden. Einfach ist die Kostenabschätzung für die Energiewende in der Tat nicht. Verschiedene haben es trotzdem getan. Die Zahlen liegen bei 35 bis 100 Franken pro Person und Jahr. Gemessen am durchschnittlichen Jahreseinkommen ein Pappenstiel. Denn dafür gibt es mittelfristig eine zukunftsfähige, sichere und umweltfreundliche Energieversorgung ohne Restrisiko. Je früher wir damit beginnen, desto eher werden wir als Exportnation und Innovationsplatz auch volkswirtschaftlich profitieren und neue Arbeitsplätze schaffen.
Vom GlasDer Plan Leuthard ist aus heutiger Sicht vor allem ein gut verkaufter Einstieg in die Energiewende. Die langfristige Zielsetzung ist einigermassen richtig, was fehlt sind die wirksamen Massnahmen mit Anreizumkehr. Als definitives Signal zum Hebel umlegen, reicht der Vorschlag noch nicht. Trotzdem, es gibt mehr Argumente für diesen dosierten, hoffentlich mehrheitsfähigen Einstieg in den Ausstieg als dagegen. Am Geld kann es im reichsten Land der Welt nicht liegen und die Zeit arbeitet zweifelsohne für die Wende. Denn diese kommt – so oder so. <
Zusammensetzung des Energieverbrauchsauf der Basis des Massnahmenpakets des UVEK
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n Wasserstoff
n Biogas als Treibstoff
n Flüssige Biotreibstoffe
n Flugtreibstoffe
n Diesel
n Benzin
n Biogas, Klärgas
n Umgebungswärme
n Solarwärme
n (Industrie-)Abfälle
n Holz
n Fernwärme*
n Kohle
n Erdgas
n Heizölprodukte o. Treibstoffe
n Elektrizität*
1960 1970 2000 2010 2020 2035 2050
Quelle: Prognos 2012
PJ TWh
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Thorsten Staake, Dozent an der ETH Zürich & Leiter des Bits to Energy Labs
Thorsten Staake ist Dozent an der ETH Zürich und Leiter des Bits to Energy Labs, einer Gemeinschaftsinitiative von ETH Zürich und Universität St. Gallen. Er beschäftigt sich insbesondere mit Informationssystemen zur Erfassung und Beeinflussung von Energieverbräuchen. Derzeitige Schwerpunkte bilden Smart-Grid- und Smart-Metering-Systeme und deren Kombination mit Konzepten aus dem Bereich Behavioral Economics. Infos unter www.bitstoenergy.ch.
INTERVIEW MIT DR. THORSTEN STAAKE, RESEARCH DIRECTOR BITS TO ENERGY LAB
«Energie muss kein langweiliges Produkt bleiben»
E&U: Dr. Thorsten Staake, die Schweizer Energiever-sorgung wird sich massiv verändern. Wo wird sich am meisten tun?
« Den grössten Anteil am Energieverbrauch machen mit zirka 2/3 die fossilen Erdölbrennstoffe, Gas und sonstige Treibstoffe aus. Ich bremse die Euphorie des Wandels ungerne, aber an dieser Dominanz wird sich in den nächsten zwei Jahrzehnten wenig ändern. Dafür wird sich beim Strom vieles verändern, zum Beispiel bei der Einbindung von Windstrom, Photovoltaik, WärmeKraftKopplungsanlagen etc. Am meisten bewegen wird sich der EnergieeffizienzBereich, und das nicht nur bei der Elektrizität, sondern auch bei der Wärmenutzung. »
Welche Technologien haben das grösste Potenzial?
« Ein übergreifender Trend ist unverkennbar: Die Informations und Kommunikationstechnologie wird sowohl auf der Erzeuger als auch auf der Verbraucherseite ein grosses Effizienzpotenzial heben. Dabei denke ich an Lösungen, die die Endverbraucher zu einem bewussten und effizienten Einsatz von Energie motivieren. Solche Lösungen integrieren den Nutzer und «nehmen ihn mit». Energie muss kein langweiliges Produkt bleiben. »
Was ist die Rolle der Energieeffizienz?
« Der Energieeffizienz kommt die grösste Bedeutung zu. Dies ist auch der Energiestrategie des Bundes zu entnehmen. Eine eingesparte Kilowattstunde ist ohne Frage die umweltfreundlichste und häufig auch eine kostengünstige. Versorgungsunternehmen spielen eine wichtige Rolle. Sie kennen ihre Kundschaft und
stehen in Kontakt mit ihnen. Allerdings muss ein regulatorischer Rahmen entstehen, damit sich Effizienzbemühungen – also der Verzicht auf Umsatz im ehemaligen Kerngeschäft – auch finanziell auszahlen. »Sie arbeiten als Direktor des «Bits to Energy Lab» an der Forschung zu «smart meters», die auch Bun-desrätin Leuthard einführen will. Wie profitieren Kundschaft und Stromverkäufer?
« Die Zähler motivieren zum Energiesparen und helfen, Strom dann zu nutzen, wenn er kostengünstig und umweltfreundlich zur Verfügung steht. So kann der Verbrauch um durchschnittlich 3 bis 4% gesenkt werden. Engagierte Nutzer können aber deutlich mehr sparen. Auf der anderen Seite müssen die Versorger auf einen Teil ihres Ertrags verzichten, da sie ja weniger Strom verkaufen. Hier sollte ein Mechanismus geschaffen werden, sodass sich Energieeffizienz für alle Beteiligten lohnt. »
Wie sehen Sie das Potenzial der Energiewende für KMU oder für neue Arbeitsplätze in der Schweiz?
« Hier sehe ich erhebliches Potenzial. Die Nachfrage an energieeffizienten Anlagen für die Energiewandlung und verteilung ebenso wie für die Produktion physischer Güter wird auch im Ausland steigen. Davon wird die exportorientierte Wirtschaft profitieren. Weiter rechne ich damit, dass sich der Markt für neue Energiedienstleistungen sehr positiv entwickeln wird. Die Rahmenbedingungen für Startups und junge Unternehmen sind in der Schweiz ja bekanntlich sehr gut. Die neue Energiestrategie motiviert also auch zur Innovation. »
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Nur Mut, Frau Bundesrätin!
ERSTES MASSNAHMENPAKET ENERGIESTRATEGIE 2050 – ENERGIEEFFIZIENZ & ERNEUERBARE
Von SABINE VON STOCKARProjektleiterin Atom&Strom
Die Entscheidung ist historisch: Im Mai 2011 verkündete Bundesrätin Doris Leuthard den Schweizer Atomausstieg. Die neue, bundesrätliche Energiestrategie 2050 befindet sich bis Ende Januar 2013 in der Vernehmlas
sung. Endlich werden die Segel in Richtung saubere Stromversorgung gesetzt. Bei der konkreten Umsetzung hapert es allerdings: Es braucht verbindliche Abschaltdaten und einen überzeugten Einstieg in die saubere Stromproduktion.1
Bitte ganz aussteigen Abschaltdaten für die bestehenden Schweizer AKW sind für den geordneten, schrittweisen Ausstieg und die Energiewende unerlässlich. AKW werden mit zunehmendem Alter immer unsicherer, denn sie wurden ja ursprünglich für den Betrieb von 40 Jahren konzipiert. Das letzte Schweizer AKW sollte dementsprechend 2034 vom Netz. Der Bundesrat entschied zwar, keine neue AKW zu bauen, doch die bestehenden sollen trotzdem «so lange sie sicher sind» am Netz bleiben. Die AKWBetreiber wollen allerdings auf Teufel komm raus ihre alten schon längst amortisierten Goldesel möglichst lange am Netz behalten
– Sicherheit hin oder her. Abschaltdaten setzen diesem gefährlichen Spiel ein Ende.
Für die Energiewende braucht die Branche auch Planungssicherheit. Mit Abschaltdaten weiss der AKWBetreiber, wie lange sein Kraftwerk am Netz bleiben darf – davon ausgehend, dass es die Atomaufsicht bis dahin als sicher einstuft. Der Betreiber kann so die Unternehmensstrategie frühzeitig anpassen: Gibt es Abschaltdaten, können die Rückstellungen für den strapazierten Weiterbetrieb der Atomkraftwerke in eine neue Strategie fliessen und der Produktionspark kann auf erneuerbare Energien umgestellt werden. Die Politik ist also gefordert, einen klaren zeitlichen Rahmen zu setzen. Diese Signale aus der Politik sind auch für Industrie und Dienstleister wichtig: Sie können sich so frühzeitig auf neue Rahmenbedingungen einstellen und etwa Massnahmen zur Erhöhung der Effizienz oder die Produktion von Erneuerbaren im eigenen Betrieb einleiten. Der beschlossene Ausstieg ähnelt im Moment also eher einem fahrlässigen Auslaufen lassen – und dies auf Kosten der Sicherheit und der Planungssicherheit der Akteure.
Bitte ganz in Erneuerbare einsteigen Damit Energiewende und Atomausstieg nicht auf halbem Weg stecken bleiben, braucht es einen konsequenten Einstieg in die saubere Stromproduktion. Ziel ist, die Schweiz 100% mit erneuerbarem Strom zu versorgen. Zwar wurde schon 2007 die kostendeckende Einspeisevergütung (KEV) eingeführt. Damit erhalten Wind, Sonnen, Biomasse, Wasserkraft und Geothermieanlagen eine Investitionsgarantie. Mit Erfolg: Wenige Tage nach Anmeldungsbeginn gab es schon viel mehr angemeldete Anlagen, als Geld vorgesehen war. Würden heute alle Anlagen bewilligt, die auf der KEVWarteliste sind, so könnten die AKW Mühleberg und Beznau 1 abgeschaltet werden.
Am meisten Anlagen auf der KEVWarteliste hat die Photovoltaik. Ausgerechnet Solarstrom soll nun weiterhin mit angezogener Handbremse gefördert werden. Könnten alle Investitionswilligen ihre Anlagen realisieren, so wäre die Energiewende schon längst im Gange. Denn Dächer gibt es in der Schweiz genug: 52m2 pro EinwohnerIn nämlich, wovon sich 25 m2 für die solare Nutzung besonders eignen. 12m2 reichen,
Mit der neuen Energiestrategie 2050 des Bundes steht die Schweiz an der Wende zu einer sauberen Stromversorgung. Doch die bundesrätliche Vorlage macht nur eine halbe Wende: Es fehlen verbindliche Abschaltdaten für die bestehenden AKW. Zudem soll auf einen ungebremsten Zubau bei der Photovoltaik und die sofortige Einführung einer Lenkungs-abgabe verzichtet werden.
12m2 Dachfläche pro SchweizerIn reichen, um 25% des Stromverbrauchs mit Solarstrom zu decken. Heute haben wir 52m2 Dachfläche pro Person.
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um 25% der heutigen Stromversorgung mit Sonne zu decken (heute sind es 0,01%). Obwohl die Gestehungspreise von Solarstrom in den letzten Jahren stark gesunken sind, ist die Schweiz im Vergleich zu den umliegenden Ländern das Schlusslicht. Projekte dümpeln auf der Warteliste, anstatt umgesetzt zu werden (siehe auch S. 14/15).
Das Effizienzpotenzial ausschöpfenDas Effizienzpotenzial ist riesig und noch lange nicht ausgeschöpft: Jede dritte Kilowattstunde geht in der Schweiz in wartenden Kaffeemaschinen, ineffizienter Beleuchtung oder anderem Betrieb ohne Nut zen verloren. Mit freiwilligen Massnahmen alleine – das sollte mittlerweile klar sein – geschieht nicht viel. Aber mit einem Belohnungssystem, etwa einer Lenkungsabgabe, wird Otto Normalverbraucher sein Verhalten ändern. Er wird sich effiziente Geräte anschaffen, LEDBeleuchtung installieren und den Computer ausschalten, wenn er aus dem Haus geht. Indem er seinen Stromkonsum tief hält, wird seine Stromrechnung tief ausfallen. Jedenfalls tiefer als diejenige von Werner Vielverbraucher, der weiterhin seine drei Computer laufen lässt, mit einer Elektroheizung sein Haus auf 22 Grad Celsius heizt und immer den Tumbler braucht. Da beide Ende Jahr gleich viel von der Lenkungsabgabe rückvergütet bekommen, wird Otto Normalbürger von der Stromlenkungsabgabe profitieren, während Werner Vielverbraucher tief in die Tasche greifen muss. Die Lenkungsabgabe ist keine Steuer, da das ganze Geld rückvergütet wird (fiskalquotenneutral) und gibt einen preislichen Anreiz für jede Konsumentin und jeden Konsumenten, keine unnötige Kilowattstunden
aus der Steckdose zu beziehen. Eine Lenkungsabgabe ist das Instrument, um den Stromverbrauch in der Schweiz zu stabilisieren, respektive zu senken. Deshalb sollte sie sofort eingeführt werden.
Es braucht mehr, Frau LeuthardDen Schweizer Atomausstieg schaffen wir. Problemlos. Und er ist eine Chance. Denn wenn die Weichen neu gestellt werden, kann die Schweiz mit 100% erneuerbarem Strom versorgt werden. Die Volkswirtschaft wird dadurch nachhaltig angekurbelt und Zehntausende neuer Arbeitsplätze werden geschaffen. Die Umweltministerin Doris Leuthard hat die Chance erkannt. Nebst viel Mut und Rückgrat braucht es nun entsprechend griffige Massnahmen, damit die Energiewende kein frommer Wunsch bleibt. <
Die neue 100PRO-Broschüre
Geschätzte E&U-Leserinnen und -Leser, wir freuen uns sehr, Ihnen in dieser Ausga-be unseres Magazins die neue Broschüre der Umweltverbände beilegen zu dürfen. «100PRO erneuerbar» ist machbar. Wir können uns vollständig mit Strom aus ein-heimischen und erneuerbaren Quellen ver-sorgen, auch dank der Effizienz. Wenn wir wollen. Wie das funktioniert, sehen Sie in der beigelegten Broschüre. Zusätzliche Broschüren können Sie unter www.energiestiftung.ch oder telefonisch unter 044 275 21 21 bestellen.
1 Bis zum Redaktionsschluss lag die definitive Vernehmlassungsvorlage nicht vor. Die Eckwerte waren allerdings schon bekannt.
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10 Energie & Umwelt 3/2012
Die Energiestrategie 2050 hat den Anspruch, eine umfassende Strategie zu sein und be-inhaltet auch unsere Mobilität, die einen Drittel des Energieverbrauchs ausmacht. Diese Wichtigkeit spiegelt sich aber in keiner Weise in den vom Bundesrat vorgeschlagenen Massnahmen. Für die SES ist klar: Es braucht mehr, viel mehr, um das Steuer im Mobi-litätssektor herumzureisen.
Viel Hoffnung statt griffige Massnahmen
ERSTES MASSNAHMENPAKET ENERGIESTRATEGIE 2050 – BEREICH MOBILITÄT
Von BERNHARD PILLERSES-Projektleiter
Die Energiestrategie 2050 des Bundesrats ist eine Gesamtenergiestrategie, auch wenn oft nur über den Stromsektor, respektive den Atomausstieg diskutiert wird. Es sei einmal mehr erwähnt, dass sich der Gesamtenergieverbrauch aus drei Sektoren zusammensetzt:
Mobilität, Wärme (Heizen/Warmwasser), Strom. Dabei ist der Verbrauch im Mobilitätssektor höher als im Stromsektor.
Ein Drittel Energie für die MobilitätDer Verkehr ist heute in der Schweiz die grösste Energieverbrauchsgruppe. 311’090 TJ Energie wurde 2011 in der Schweiz im Verkehrssektor verbraucht. Das entspricht 86,4 TWh oder 36,5% des Endenergieverbrauchs. Knapp 96% des Energiebedarfs im Mobilitätssektor wird mit Erdölprodukten gedeckt. Dieser Anteil liegt seit 1970 konstant zwischen 95% und 97%. Die Mobilität ist für 60% des Erdölverbrauchs verantwortlich. Rechnet man noch die graue Energie mit ein, ist die für die Mobilität eingesetzte Energie noch viel höher.
Unangetasteter MobilitätssektorAngesichts der hohen Relevanz des Mobilitätssektors am Gesamtenergieverbrauch sind die vom Bundesrat vorgeschlagenen Massnahmen eindeutig zu schwach. Ihre Wirkung bewegt sich im kaum messbaren Bereich, zudem sind sie sehr oft auf der freiwilligen und auf der Informationsebene – sprich, sie setzen auf individuelle, freiwillige Verhaltensänderung und weniger auf harte, wirksame politische Massnahmen.Ein Teil der Massnahmen, welche unter dem Bereich Mobilität aufgeführt sind, gehört gar nicht dorthin, und es sind Massnahmen, deren Wirkung sich im Promillebereich bewegen. Massnahmen wie zum Beispiel Effizienzvorgaben für die Strassenbeleuchtung sind gut und auch richtig, haben aber mit der ungebremst wachsenden Mobilität wenig bis nichts zu tun. Sinn macht es auch, geeignete Flächen (Lärmschutzwände, Dächer) von Strassen für die Solarstromproduktion zu nutzen. Aber auch hier: Solche Massnahmen tragen nichts zur Problemlösung im Bereich Mobilität bei.
Griffige Massnahmen fehlenWirklich griffige Massnahmen und Instrumente, wie eine CO2Lenkungsabgabe, ein umfassendes MobilityPricing oder etwa Massnahmen im Luftverkehrssektor, wie eine massive Ticketsteuer, sind nirgends zu finden.
Klar wurde eine CO2Abgabe auf Treibstoffe im Parlament schon mehr als einmal abgelehnt. Wird aber so wie jetzt eine neue Energiestrategie in Angriff genommen, ist es aus SESSicht zwingend notwendig, wirksame Massnahmen, auch wenn sie umstritten sind, wieder ins Massnahmenpaket aufzunehmen.
Der richtige WegDas Ziel muss eine massive Reduktion des Energieverbrauchs im Mobilitätssektor sein. Dazu sind sechs Tugenden notwendig:
Verbrauchsanteile 2011 in ProzentenEin Drittel der Energie wird vom Mobilitätssektor verbraucht.
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Tugend 1: VerkehrsvermeidungWeniger Verkehr muss erste Priorität haben, sowohl im Personen wie auch im Güterverkehr. Hierfür ist eine gezielte Strukturpolitik elementar. In einer Stadt in der westlichen Zivilisation verursacht eine Person pro Jahr gut 1200 Zielbewegungen. Diese Anzahl ist seit Jahren relativ konstant. Was sich änderte, sind die Entfernungen. Längere Distanzen bei gleichbleibender Anzahl Wegstrecken hat mit der Zerstörung räumlicher Strukturen zu tun, sprich der Zersiedlung in der Fläche und mit einer im Verhältnis unglaublichen Verbilligung der motorisierten Mobilität. Die Strassenkapazitäten dürfen deshalb nicht weiter ausgebaut werden.
Tugend 2: Förderung nichtmotorisierter VerkehrHierfür braucht es eine Raumpolitik der kurzen Wege. Nur so kann der Anteil der zu Fuss und mit dem Fahrrad zurückgelegten Wege deutlich erhöht werden.
Tugend 3: Ausbau des öV, vor allem lokalIn den Städten muss der öffentliche Verkehr (öV) ausgebaut werden, vor allem Trams, die eine mehr als doppelt so hohe Beförderungskapazität wie die Busse haben. Ein isolierter öVAusbau ohne den motorisierten Individualverkehr (MIV) massiv zu reduzieren, ist dabei nicht zielführend. Dies führt lediglich zu mehr Gesamtmobilität.
Tugend 4: autofreie Orte und StädteSpeziell verdichtete Orte, Städte und Stadtteile sind
prädestiniert für autofreie Zonen. Autos sind nicht für die Städte gemacht und Städte nicht für Autos gebaut.
Tugend 5: Viel weniger FlugverkehrDer Flugverkehr muss teurer und deutlich weniger werden. Die Einführung einer Kerosinsteuer ist längst überfällig. Ausserdem braucht es eine Sondersteuer auf Kurzstreckenflüge unter 1000 km Distanz.
Tugend 6: Reduktion des GüterverkehrsDer Güterverkehr muss massiv reduziert werden. Hierbei können hohe Energiesteuern und / oder eine ökologische Steuerreform hilfreich sein. Die LSVA muss massiv erhöht werden!
SES-ForderungenAus diesen Tugenden ergeben sich für die SES folgende politische Forderungen:
n Mobilität muss – mittels einer hohen Treibstofflenkungsabgabe – teurer werden: sowohl auf der Strasse, als auch auf der Schiene und in der Luft.
n Der Ausbau des lokalen und überregionalen öV ist an einen gleichzeitigen Abbau der MIVKapazitäten zu koppeln.
n Forcierter Ausbau der Infrastruktur für den Langsamverkehr.
n Keine Subventionierung des MIV, ergo: auch keine Subventionierung von Elektrofahrzeugen. <
Bleibt der motorisierte Individualverkehr (MIV) so unangetastet wie in der Energiestrategie 2050 vorgesehen, werden wir weiterhin über Jahrzehnte solche Bilder von vor allem autogerecht gebauter Verkehrsinfrastruktur haben.
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Von RAFAEL BRANDE&U-Redaktor
Wir SchweizerInnen decken unseren Energiebedarf zu drei Vierteln mit fossilen, endlichen Energien. Weniger Heizöl, Benzin, Diesel und Gas zu verbrauchen, ist fürs Klima und eine lebenswerte Zukunft unserer Kinder von immenser Bedeutung. Was wir heute betreiben,
ist ein «heisses Spiel mit der Erde». Reto Knutti, Professor am Institut für Atmo sphäre und Klima der ETH Zürich, spricht Klartext: «Die Erwärmung der Erde um höchstens 2 Grad ist das Beste, was wir erreichen, und das Schlimmste, was wir tolerieren können.»1 Dass es – angesichts Klimaerwärmung und Ressourcenverschwendung – ernster, irgendwann sehr ernst wird, begreifen allmählich immer mehr Politike rInnen, allen voran Doris Leuthard. Unsere Bundesrätin hat mit der AtomKatastrophe in Fuku shima erkannt, dass wir aus der Hochrisikotechnologie Atom energie aussteigen müssen. Sie betont, dass der Atomausstieg nur gelingt, wenn dieser auch ein Einstieg in die Energiewende ist. Die Bundesrätin weiss auch, dass sich der Schweiz wirtschafliche Chancen und Innovationen eröffnen.
Wer sich die Anteile am fossilen Energieverbrauch vor Augen führt (48% Verkehr, 27% Haushalte, 12% Dienstleistungen, 11% Industrie, 2% Rest) weiss, wo ansetzen: Grösster Handlungsbedarf, sprich ein immenses Effizienzpotenzial besteht beim Verkehr und im Gebäudebereich (Haushalte/Industrie).2 Der Bundesrat gibt der Politik nun seine Energieziele vor: Gemäss Energiestrategie 20503 soll der Gesamtenergieverbrauch (inkl. Strom) im Bereich «Gebäude» gegenüber der Trendentwicklung um rund 35 TWh sinken. Mit dem nun vorliegenden, ersten Massnahmenpaket – so die Berechnungen – sinkt der Gesamtenergieverbrauch aller Schweizer Gebäude bis 2050 aber nur um 23,4 TWh (= 67% Zielerreichung), beim Strom um 9,5 TWh (= 69% Zielerreichung).
Massnahmen gut, alles gut?Die vorgeschlagenen Massnahmen im Bereich «Gebäude» sind insgesamt gut und werden Wirkung zeigen. Im Mittelpunkt steht dabei mehr Geld fürs nationale Gebäudeprogramm. Wer in Energieeffizienz und Erneuerbare investiert, soll mit Förderbeiträgen entsprechend unterstützt werden. Als weitere zentrale Massnahmen sind die Anpassung des Steuer rechts für energetische Sanierungen und die Revision der so genannten MuKEn (Mustervorschriften der Kantone im Energiebereich) geplant. Hierfür sind die Kantone zuständig, respektive die Konferenz Kantonaler Energiedirektoren (EnDK). Die EnDK unterstützt die neue Energiestragie 2050 und hat kürzlich folgende Stossrichtung definiert:4
n Neubauten sollen sich ab 2020 ganzjährig möglichst selbst mit Wärmeenergie versorgen und zur eigenen Stromversorgung beitragen.
n Die Sanierung von bestehenden Gebäuden soll forciert und die Verwendung von Strom für Elektroheizungen und für die Warmwasseraufbereitung ab 2020 gar verboten werden.
n Die Wärmeversorgung kantonseigener Bauten soll bis 2050 zu 100% ohne fossile Brennstoffe auskommen, und der Stromverbrauch soll um 20% gesenkt werden.
Die Instrumente liegen auf dem Tisch. Die Gebäude und Haustechnik ist erprobt und gereift. Und nicht nur die Massnahmen, sondern auch steigende Energie kosten für Heizöl und Strom werden dafür sorgen, dass sich der Energiebedarf im Gebäudebereich bis 2050 reduzieren wird. Die Ziele lassen sich aber nur teilweise erreichen. Das stellt der Bundesrat ja selber fest. – Es braucht also mehr...
In die Zukunft mit 2000-Watt-QuartierenDer Gebäudebereich lässt sich nicht isoliert betrachten: Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Konsum sind eng miteinander verknüpft. Was nützt ein MinergieHaus im Grünen, wenn dafür umso mehr Autokilometer gefahren werden? Drei Beispiele von nachhaltig geplanten Quartieren zeigen, wie der Weg hin zur 2000WattGesellschaft weitergehen muss.
In der Schweiz gibt es 1,64 Mio. Gebäude. Sie verbrauchen 49% der fossilen Energie und 37% des Schweizer Stroms. Trotz gutem ersten Massnahmenpaket lassen sich die Ziele der Energiestrategie 2050 nur zu zwei Dritteln erreichen. Minergie&Co. alleine werden es also nicht richten: Es braucht integrale Ansätze, die Wohnen, Arbeiten, Mobilität sowie Freizeit und Konsum einander wieder näher bringen. Drei Beispiele von nachhaltig geplanten Quartieren weisen den Weg zur 2000-Watt-Gesellschaft.
Minergie&Co. alleine werden es nicht richten
ERSTES MASSNAHMENPAKET ENERGIESTRATEGIE 2050 – BEREICH «GEBÄUDE»
1 NZZ am Sonntag, 29.11.2009.2 Energiepolitik der EnDK, Eckwerte und Aktionsplan, www.endk.ch.3 Faktenblatt 1, Erste Massnahmen Energiestrategie 2050, 18.4.20124 www.2000watt.ch/data/downloads/2kW-Bilanzierungskonzept2012.pdf5 www.2000watt.ch/data/downloads/Zertifikat_2000-Watt-Areale_120903.pdf
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GreenCity.ZürichMit GreenCity.Zürich (ehemals Industriegebiet SihlMa negg) ist auf rund 82’200m2 ein Quartier ge plant, das nach 2000WattZielen er richtet werden soll. Das Areal wird von der LosingerMarazzi AG in Zusammenarbeit mit der Nüesch Development AG und dem Hochbaudepartement der Stadt Zürich entwickelt. Als erstes Quartier schweizweit hat es von EnergieSchweiz für Gemeinden das Zertifikat «2000WattAreal – Pilotphase» erhalten (s. Textbox). Ab 2013 soll gebaut werden. Geplant sind 13 Neubauten im MinergiePEcoStandard, was garantiert, dass die graue Energie auf ein Minimum reduziert wird. Die Nutzfläche von insgesamt 161’500m2 soll zu je einem Drittel für Wohnungen und Büros, der Rest für sonstiges Gewerbe, Schulen und Parkplätze genutzt werden. Das Areal wird dereinst zu 100% mit erneuerbarer Energie für Heizung und Kühlung versorgt. Die Stromerzeugung ist ebenfalls zu 100% erneuer bar (90% Wasserkraft, 10% Photovoltaik). Das Quartier hat mit SBahn und Bushaltestelle gute Anbindung an den öffentlichen Verkehr (öV).
Richti-Areal WallisellenAuf 2000WattKurs ist auch das Zürcher RichtiAreal auf dem ehemaligen Industriegelände zwischen Bahnhof Wallisellen und Einkaufszentrum Glatt. Die Allreal Generalunternehmung AG realisiert dort seit März 2010 auf 72’000m2 ein Quartier mit Wohnraum für rund 1200 BewohnerInnen und über 3000 Arbeitsplätzen. Sämtliche Gebäude erfüllen den MinergieStandard. Das RichtiAreal ist ebenfalls bes tens per öV erschlossen. Zwar werden im Bereich «Erstellung» die Zielwerte überschritten. Wird aber – wie beabsichtigt – der Strombedarf zu 100% erneuerbar abgedeckt, werden die Richtwerte im Bereich «Betrieb» deutlich unterschritten. Insgesamt ist das RichtiAreal 2000Wattfähig und kann die Ziele gemäss SIAEffizienzpfad und 2000WattGesellschaft erreichen.
Ecofoubourgs, SchlierenDerzeit entsteht in Schlieren (ZH) das ers te Schweizer EcofaubourgsQuartier. Ab 2013 sollen die 98 Wohneinheiten in MinergiePEco bezugsbereit sein. Das Pilot projekt will mit Dienst leis tungen wie Kinder hort, Quartierladen mit RegioProdukten, eBike und Car
sharing, Familiengärten und Gemeinschaftsräumen eine neue Form des Zusammenwohnens schaffen. Für Heizung und Warmwasser werden ausschliesslich Erneuerbare genutzt. Investor und Bauherr ist die Next Immobilier SA. Die Grundidee stammt von der französischschweizerischen Gesellschaft HKA, welche sich vorwiegend im sozialen Wohnungsbau engagiert. Die Mietpreise sollen durchschnittlich sein.
Mobilität und Konsum als KnackpunkteSolche Quartiere weisen den weiteren Weg und zeigen, dass Inves toren, Stadtbehörden und die EinwohnerInnen zur Energiewende beitragen wollen. Die Ge bäude erreichen vorbildliche Zielwerte. Es gibt An sätze, damit Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Konsum wieder näher rücken. Als Knackpunkte bleiben Mobilität und Konsum, wo bis 2050 (gemäss Bilanzierungkonzept) aufs 3LiterAuto, gleichbleibende Dis tanzen und weniger graue Energie gehofft wird. Mehr Verkehr, mehr Wohn fläche, mehr Elektro geräte etc. könnten die Einsparungen im Gebäudebereich mehr als zunichte machen. Solche «ReboundEffekte» gilt es im Auge zu behalten. <
Zertifikat «2000-Watt-Areal»EnergieSchweiz für Gemeinden und die Fachstelle 2000-Watt-Gesellschaft hat mit einer Projektgruppe ein Zertifikat «2000-Watt-Areal» entwickelt, das auf dem SIA-Effizienzpfad (Merkblatt 2040) und dem Absenkpfad der 2000-Watt-Gesell-schaft basiert. Das Zertifikat wird vorerst für zwei Jahre als Pilotprojekt geführt. Die Quartiere werden von ArealberaterInnen begleitet und geprüft. Für Erstellung, Betrieb und Mobilität sind in den drei Bereichen «Primärenergie nicht erneuer-bar», «Treibhausgasemissionen» und «Primärenergie gesamt» entsprechende 2000-Watt-Zielwerte zu erfüllen.4
GreenCity.Zürich: Eine Vision soll Wirklichkeit werden (www.greencity.ch).
Richtistrasse
Konradstrasse
Richtip
latz
Richtiarkade
Einkaufszentrum Glatt
Bahnhof Wallisellen
Favrew
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Escherweg
Richtiring
Industriestrasse
Richti-Areal: nachhaltiges Quartier mit vielerei Qualitäten (www.richti.ch).
Ecofoubourgs: nachhaltiges, soziales Wohnen (www.ecofaubourgs.com).
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Von FELIX NIPKOWSES-Projektleiter Strom&Erneuerbare
Schweizerinnen und Schweizer sehen sich gerne als innovatives und fortschrittliches Volk. Nicht ganz zu Unrecht: Immerhin können wir mit Stolz auf ein im internationalen Vergleich gut ausgebautes öffent
liches Verkehrssystem oder auf eine der höchsten AluRecyclingquoten blicken. Auch der Strommix ist nicht ohne: Dank der Pionierleistung einiger SchweizerInnen besteht er zu 55% aus Wasserkraft. Seither hat sich wenig getan: Weniger als 1% des Stroms besteht heute aus neuen erneuerbaren Energien.
Schweiz im Abseits?Es stellt sich die Frage, wo der Pioniergeist von damals geblieben ist. In den letzten Jahren hat sich die Schweiz schwer ins Abseits manövriert. Bei den neuen erneuerbaren Energien wie Photovoltaik und Windkraft markiert sie das Schlusslicht im europäischen Vergleich. Belgien, ein Land, das in letzter Zeit nicht mit politischer Stabilität glänzte, liegt nach Deutschland und Italien auf Platz drei im Gesamtranking. Sogar das einige Breitengrade nördlicher als die Schweiz gelegene Tschechien produziert pro EinwohnerIn 10 Mal mehr Strom aus Photovoltaik als die Schweiz. Und auch Luxemburg lässt uns links liegen: Trotz ähnlich hoher Bevölkerungsdichte produziert das Land rund 12 Mal mehr Windstrom pro Kopf.
Verpassen wir den Anschluss in einem so wichtigen Wirtschaftssektor wie der erneuerbaren Stromproduktion? Werden wir am Ende auf Gas oder sogar neue Atomkraftwerke setzen müssen, weil wir nicht rechtzeitig vorsorgen? In einer Umfrage der Boston Con
sulting Group im Auftrag des Stromfirmenverbandes VSE gaben nur 17% der befragten Energiefirmen an, den Ausbau von erneuerbaren Energien mit konkreten Projekten voranzutreiben.1 Die Schweizer Stromer, vor allem die grossen Konzerne, setzen auf Dreckstrom im Ausland statt auf einheimische Erneuerbare.2
Aufholen ist möglich!Solarenergie ist die Technologie mit dem grössten Zubaupotenzial in der Schweiz. Neben der Wasserkraft wird sie das zentrale Standbein einer sicheren und sauberen Stromversorgung sein. In der Schweiz stehen rund 25 Quadratmeter (m2) Dachfläche pro EinwohnerIn zur Verfügung, die sich für eine solare Nutzung eignen. Würden 12m2 davon genutzt, so liesse sich ein Viertel des Schweizer Strombedarfs mit Photovoltaik decken. Bis 2035 müssten hierfür jährlich 0,6m2 pro EinwohnerIn auf die Dächer geschraubt werden.3 Das ist ambitioniert, aber möglich! Deutschland hat von 2006 bis 2011 im Schnitt 1m2 pro EinwohnerIn und Jahr und das Bundesland Bayern im selben Zeitraum sogar knapp 2,5m2 pro EinwohnerIn und Jahr installiert. Der Schweizer Vorteil: Dank der Alpen, die Strahlungsverhältnisse wie in Spanien bieten, sowie der südlicheren Lage verfügen wir über erheblich bessere Voraussetzungen als unser Nachbarland.
Apropos Bayern: Der dortige Umweltminister Marcel Huber stellt in Aussicht, dass bis 2021 bayernweit 1500 Windkraftanlagen erstellt werden.4 Bayern ist von der Grösse und Bevölkerungsdichte her mit der Schweiz vergleichbar. In der Schweiz stehen heute gerade mal 30 Windanlagen. 400 Anlagen könnten rund 1,5 TWh Strom produzieren – so viel wie die Umweltverbände und die SES in ihren Szenarien für 2035 vorschlagen.
DIE PRODUKTION VON WIND- UND SONNENSTROM IM VERGLEICH
Schweiz ist das SchlusslichtDie Schweizerische Energie-Stiftung SES hat untersucht, wo die Schweiz im Vergleich mit umliegenden Ländern bei der Produktion von neuen erneuerbaren Energien steht. Das Resultat ist klar: Die Schweiz liegt – weit abgeschlagen – auf dem letzten Platz. Exemplarisch wurde die Stromproduktion aus Photovoltaik- und Windkraftwerken pro EinwohnerIn für das Jahr 2011 untersucht.
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Politik muss umdenkenDas Rezept ist denkbar einfach: Um den Stromverbrauch der Schweiz decken zu können, muss die Produktion des Atomstroms mit Energieeffizienz und mit erneuerbaren Energien ersetzt werden. Doch der Zubau der neuen Erneuerbaren wird durch die Politik künstlich blockiert: Käme es zur «Entdeckelung» der kostendeckenden Einspeisevergütung (KEV), so könnte die Warteliste abgebaut und in reale Stromproduktion umgewandelt werden. Mitte September waren es bereits 18’906 Photovoltaik und 509 Windprojekte mit einem Produktionspotenzial von knapp 3 Milliarden Kilowattstunden pro Jahr.5 Das entspricht der Jahresproduktion des AKW Mühleberg.
Bis zum Redaktionsschluss war anzunehmen, dass der Bund in seiner Energiestrategie 2050 den KEVDeckel nur teilweise aufheben will. Ausgerechnet für Photovoltaik, der Technologie mit dem grössten Potenzial in der Schweiz, soll weiterhin eine Begrenzung des
Zubaus gelten – und zwar auf sehr tiefem Niveau. Damit wird das riesige Potenzial ignoriert und der Zubau ohne Grund verzögert.
Die SES fordert die Schweizer Politiker und die Stromwirtschaft auf, beim Zubau erneuerbarer Energien endlich vorwärts zu machen. Die Schweiz soll nicht das Schlusslicht bleiben! <
Zu dieser Kampagne hat die SES ein kurzweiliges Video produziert. Es ist ab Anfang Oktober auf www.energiestiftung.ch verfügbar.
Der Einfach- und Übersichtlichkeit halber sowie aufgrund der verfügbaren Daten wur-den die Nachbarländer sowie einige weitere umliegende Länder gewählt. Der Einbezug aller europäischen Länder würde das Ergebnis nicht verändern: Die Schweiz könnte höchstens einzelne Länder wie Rumänien oder Malta knapp schlagen. Alle anderen sind weiter als wir. So produziert z.B. Slowenien mit 29 kWh pro Kopf rund anderthalb Mal so viel Strom aus Photovoltaik wie die Schweiz.
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700600500400300200100Stromproduktion pro Einwohner 2011 800 kWh
1 Deutschland
2 Italien
3 Belgien
4 Niederlande
5 Österreich
6 Tschechien
7 Frankreich
8 Luxemburg
9 Schweiz
1 Schweizer Stromwirtschaft zwischen Abwarten und Aktivismus. Standortbe-stimmung der Schweizer Energieversorgungsunternehmen. The Boston Consulting Group und Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE, Juni 2012.
2 Siehe dazu auch SES-Medienmitteilung vom 19.7.2012: «Axpo produziert den dreckigsten Strom» auf www.energiestiftung.ch.
3 Ausgehend von heutiger Technologie und heutigen Einwohnerzahlen.4 ENERCON, Magazin für Windenergie Nr. 2/12.5 Gemäss swissgrid, Stand 12. September 2012.
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Von MARKUS KÜHNIInformatik-Ingenieur ETH
Schon in den Anfangsjahren war Atomkraft viel zu teuer. Im Wettbewerb mit Kohle und Öl hatte sie trotz horrender staatlicher Subventionen keinen ökonomischen Vorteil [1].
Gross, grösser, billigerDie Hersteller versuchten zwar, mit einer rasanten Vergrösserung (Skalierung) der Anlagen mehr Wettbewerbsfähigkeit herzustellen. Dabei verloren sie je doch grundlegende Sicherheitsprinzipien aus den Augen. Wenn man die Reaktorleistung verachtfacht, dann wird auch das Volumen des Kerns, des Kühlmittels etc. ungefähr verachtfacht. Bei achtfachen Volumen (Kubik) steigen die Oberf lächen nur vierfach (Quadrat), die Distanzen nur zweifach (linear). Dies hat Auswirkungen auf die Sicherheit, weil bei der Kühlung oft die Oberf lächen und bei mechanischen Einwirkungen die Distanzen eine wichtige Rolle spielen.
Ultimatives Beispiel ist eine fortgeschrittene Kernschmelze. Sie sammelt sich halbkugelförmig an und frisst sich nach unten. Bei achtfacher Leistung ist auch die Nachzerfallswärme achtfach. Diese muss aber über eine nur vierfache Oberfläche abgeführt werden, die Temperaturen steigen enorm an. Die Schmelze eines grossen Reaktors frisst sich deshalb durch alle Materialien, auch durch Beton. Das Containment wird durchbrochen und radioaktive Stoffe werden freigesetzt [2].
Redefinition der SicherheitsprinzipienDieses und andere Probleme der Skalierung von Reaktoren hat man spätestens 1965 (Brookhaven WASH740 Reevaluation) erkannt, zuerst zu vertuschen versucht und schliesslich grundlegende Sicherheitsprinzipien «redefiniert», um sie dem Unwiderlegbaren anzupassen. Während vorher behauptet wurde, das Containment würde die Bevölkerung schützen,
was auch immer im Innern passiere, wurde nun festgehalten, dass eine ausreichende Kühlung des Kerns immer sichergestellt sei. Als dies in Zweifel gezogen wurde, hat man diverse NotkühlungsExperimente an einem (man kann es schon fast erraten) kleinen ModellReaktor (LOFT) von gerade einmal 50 Megawatt durchgeführt (zum Vergleich: Beznau hat 1130 MW, Leibstadt 3600 MW) [2]. Unfehlbarkeitsdogma beim ReaktordruckbehälterAls Konsequenz der «Redefinition» der Sicherheitsprinzipien musste logischerweise auch der Reaktordruckbehälter als «unfehlbar» eingestuft werden. Wenn dieser grossflächig bricht, kann keine Kernkühlung mehr durchgeführt werden. Das Material des Druckbehälters aber reagiert je nach seiner Temperatur unterschiedlich auf Belastungen. Bei hoher Temperatur ist der Stahl zäh und kann plastische Verformungen aufnehmen. Bei tiefer Temperatur hingegen ist er spröd und brüchig. In der Nuklearindustrie geht man davon aus, dass nur bei einem so genannten «Sprödbruch» ein grossflächiges, abruptes Versagen des Druckbehälters möglich ist. Bei hoher Temperatur werden hingegen nur begrenzte Leckgrössen erwartet, die von den Sicherheitssystemen verkraftet werden (ausreichende Nachspeisung von Kühlwasser).
Neutronenversprödung: Druckbehälter wird ständig brüchigerDie Sicherheit von Druckbehältern ist ein altes Thema. Nach schlimmen Unfällen vor allem im 19. Jahrhundert hat man viel dazugelernt. Dieses «Sicherheitsgefühl» darf aber keineswegs unüberlegt auf die nukleare Anwendung übertragen werden. Denn es kommt ein gravierendes technologiespezifisches Problem hinzu: die so genannte «Neutronenversprödung». Durch das StrahlenBombardement wird der Druckbehälter ständig brüchiger.
Bis ans LimitBeim Reaktordruckbehälter von Beznau 1 lag die so genannte justierte SprödbruchReferenztemperatur im Neuzustand (1969) noch bei 1°C, heute liegt sie bei zirka 88°C. Der ganze Reaktordruckbehälter muss also ohne Unterbruch mindestens 88°C heiss sein
DROHT EIN SPRÖDBRUCH IM DRUCKBEHÄLTER?
In Beznau 1 steht der älteste Reaktor der Welt. Sein Reaktordruckbehälter ist aus un-ausgereiftem Material hergestellt. Die Neutronenversprödung führt dazu, dass der Be-hälter immer brüchiger wird. Noch nie war ein so alter, so grosser Reaktordruckbehälter so lange so stark bestrahlt worden. Wir betreiben in der Schweiz einen weltweit erst-maligen Freifeldversuch in Reaktoralterung!
Beznau 1: Freifeldversuch in Reaktoralterung!
Zur Person: Markus Kühni (1969) ist dipl. Informatik-Ing. ETH, Unternehmer (nicht im Energiebereich) und Arbeitgeber, Vater zweier Töchter (2004/2008), lebt mit der Familie im Eigenheim in der Stadt Bern (Alarmzone 2 des AKW Mühleberg).
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und bleiben, solange er druckbelastet wird. Der Druckbehälter von Beznau 2 hatte schon ein wesentlich weiterentwickeltes Material. Seine SprödbruchReferenztemperatur entwickelte sich von 10°C auf heute schätzungsweise 62°C [3].Gemäss Schweizer Gesetzgebung muss ein Reaktor unverzüglich ausser Betrieb genommen werden, wenn seine SprödbruchReferenztemperatur 93°C erreicht [4]. Bei Beznau 1 wird dieser Wert nach Angaben des ENSI bei 60 Jahren Betriebszeit erreicht werden [3]. Die Axpo hat inzwischen bekräftigt, man strebe 60 Jahre Betriebszeit an. Man will also kaltblütig bis ans gesetzliche Limit gehen, und der AxpoChef spricht derweil ungeniert von «absoluter Sicherheit» [5].
Nur im Computer simuliertDas Gegenstück zum obenstehenden Grenzwert ist die Annahme, dass die se SprödbruchReferenztemperatur niemals unterschritten wird (solange der Behälter unter Druck steht). Im Normalbetrieb ist dies kein Problem, bei Störfällen hingegen – wenn notfallmässig kaltes Wasser eingeschossen wird – wird es kritisch. Mittels Computermodellen versuchen die Betreiber, sämtliche Szenarien vorauszuberechnen. Das Problem ist auch hier, dass man solche Störfälle niemals unter wirklich realistischen Bedingungen testen kann. Deshalb basieren
die Computerprogramme auf Annahmen und Modellversuchen und sagen wild unterschiedliche Ergebnisse voraus, wie eine OECDStudie aufzeigte. Die Resultate für die Versagenswahrscheinlichkeit des Druckbehälters, abhängig von der SprödbruchReferenztemperatur, variierten um einen Faktor 20 bis 50, die Voraussagen der Wärmeflüsse sind ein einziger SimulationsSalat [6]!
Auch das ENSI spricht in seiner Beurteilung von «Skalierungsproblemen», «grosser Streuung», etc. Trotzdem wird am Schluss versichert, dass die Modellierung «geeignet ist, ausreichend konservative Ergebnisse zu erzielen». Bleibt noch zu erwähnen, dass die Berechnungen durch die Firma AREVA, dem Weltmarktführer in Nukleartechnologie, durchgeführt wurden. Nicht gerade die Definition eines unabhängigen Instituts [3].
Sprödbruch nicht ausgeschlossen«Für die Behälterwand wird die SprödbruchAusschlussbedingung nicht erfüllt», schreibt das ENSI dann fast noch im Nachsatz. Die Berechnungen zeigen eine zu starke Abkühlung der versprödeten Behälterwand. Das ENSI stellt es so dar, als gelte diese Aussage erst bei 60 Betriebsjahren. Wenn man aber die vorausgesagte Versprödung im selben ENSIBericht vergleichend hinzuzieht, scheint die Limite bereits heute erreicht [3]. Dadurch wird nicht nur die Sicherheit von Beznau 1 arg in Frage gestellt, sondern auch das ge setzliche Ausserbetriebnahmekrite rium mit seinem offenbar zu hohen Grenzwert.
Wir betreiben in der Schweiz einen weltweit erstmaligen Freifeldversuch in Reaktoralterung. An einem der am welt weit bevölkerungsreichsten Reaktorstandorten. Wollen wir das wirklich? <
Literatur[1] Steven Mark Cohn, 1997, Too Cheap to Meter[2] David Okrent, 1981, Nuclear Reactor Safety, On the History of the Regulatory Process[3] ENSI, Sicherheitstechnische Stellungnahme zum Langzeitbetrieb des Kernkraftwerks Beznau,
Block 1 und 2, 2010[4] Verordnung des UVEK über die Methodik und die Randbedingungen zur Überprüfung der Krite-
rien für die vorläufige Ausserbetriebnahme von Kernkraftwerken (SR 732.114.5)[5] Tagesanzeiger «Beznau ist Weltklasse», 11.3.2012 (online)[6] NEA-Report NEA/CSNI/R(99)3, Comparison report of RPV Pressurized Thermal Shock – In-
ternational Comparative, Assessment Study (PTS ICAS), Committee on the Safety of Nuclear Installations, Nuclear Energy Agency, 1999
Beznau 1: Die Betreiberin Axpo ist sich sicher, dass das älteste AKW der Welt noch lange am Netz bleiben wird! Zwei interessante Sendungen sind zu finden unter: www.videoportal.sf.tv/video?id=94d3ba76-16f5-4f9a-85a7-ef0364937b8c (Tagesschau vom 12.12.1969) und www.videoportal.sf.tv/video?id=0c689e9b-520f-46f2-a392-c2954a6f4763 (10vor10, im Innersten des ältesten AKW).
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18 Energie & Umwelt 3/2012
Per Ende Juni ist Marcos Buser aus der Eidgenössischen Kommission für nukleare Sicher-heit (KNS) zurückgetreten. Sein Rücktritt sei eine Frage des Gewissens, die Vorwürfe sind happig. «Etwas stimmt nicht im Atomstaat Schweiz!» – Ein Interview über die Hinter-gründe und Machenschaften bei der Standortsuche nach einem Atommüll-Tiefenlager.
ZUM RÜCKTRITT VON MARCOS BUSER, GEOLOGE UND NUKLEAREXPERTE
Interview von RAFAEL BRANDE&U-Redaktor
E&U: Warum sind Sie aus der Eidg. Kommission für nukleare Sicherheit (KNS) zurückgetreten?
« Im Verlauf der letzten Jahre musste ich feststellen, dass die Rollen, die den verschiedenen Institutionen im Bereich der atomaren Endlagerung zugewiesen sind, nicht sauber wahrgenommen werden. Dies gilt in erster Linie für die Überwachungsbehörde ENSI und das Bundesamt für Energie (BFE), das für den Sachplan geologische Tiefenlager zuständig ist. Beide Institutionen tanzen nach den Vorgaben der Nagra. Dies führt dazu, dass eine sachbezogene unabhängige Beurteilung von EndlagerProjekten auch seitens der Behörden nicht erwünscht ist. Die KNS ist mit ihrer unabhängigen Meinung immer öfters aufgefahren. So kann man auf die Dauer nicht arbeiten. »
E&U: «Etwas stimmt nicht im Atomstaat Schweiz», schreiben Sie auf sonntagonline.ch. Herrschen bei unserer Atomaufsicht japanische Verhältnisse?
« Zumindest sind wie in Japan Abhängigkeiten vorhanden, welche unabhängige staatliche Prüfinstanzen behindern oder verunmöglichen. Vor allem im Bereich der Abfallentsorgung. Schwer wiegt in diesem Zusammenhang der Mangel an fachlicher Kompetenz, der vor allem beim BFE dramatisch ist. Aber auch beim ENSI fehlt es den für die Endlagerung zuständigen Wissenschaftlern an praktischer Erfahrung. Der wissenschaftliche Markt im Bereich der atomaren Entsorgung wird von der Nagra monopolisiert und ist bei den unabhängigen Experten total ausgetrocknet. Vor allem der Bund hat in diesem Bereich die Entwicklung verschlafen. Es herrscht diesbezüglich ein massiver Nachholbedarf. »E&U: BFE und ENSI seien von der Nagra abhängig. Sie sprechen sogar von Filz. Was muss sich ändern?
« Institutionelle Abhängigkeiten lassen sich über den Prozess der ‹Kaperung der Behörden›, auf englisch ‹regulatory capture›, treffend beschreiben. Fehlende Kompetenz aber auch Bequemlichkeit führen bei den Behörden dazu, dass sie das Feld der Industrie überlassen, die sie eigentlich kontrollieren müssten. Diese lässt sich nicht zweimal bitten und reisst die Planung der Endlagersuche an sich. So erstaunt es nicht, dass in der Schweiz die Nagra die Drehbücher schreibt, nach denen die Standortsuche ablaufen soll. Und die Behörden nicken die eingebrachten Vorschläge dann
«ENSI und BFE tanzen nach den Vorgaben der Nagra»
Marcos Buser, Geologe und Spezialist für nukleare Abfälle
Der 63-jährige Geologe und Sozialwissenschaftler Marcos Buser beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit dem Thema Endlager. Buser ist Autor des Buchs «Mythos Gewähr», Mitglied diverser Fachkommissionen und ist der Verfasser der vom Bund in Auf-trag gegebenen «Literaturstudie zum Stand der Markierung von geologischen Tiefenlagern». Marcos Buser war Mitglied der Eidgenössischen Kommission für nukleare Sicherheit (KNS), die als neutrale Stelle Zweitgutachten zur Atomsicherheit und der Tiefenlagersuche abgibt. Erst noch im Dezember 2011 wurde Marcos Buser für vier weitere Jahre in der KNS bestätigt. Per Ende Juni 2012 gab er seinen Rücktritt aus der KNS bekannt.
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brav ab. Ein solcher Prozess ist inakzeptabel und für die Glaubwürdigkeit des Prozesses Gift. »E&U: Bei der Standortsuche für ein Atommüll-Tiefenlager herrscht gros ses Misstrauen: Was läuft alles schief?
« Seit vierzig Jahren erleben wir, wie der Standortwahlprozess aus dem Hintergrund manipuliert wird, und jedes Mal wieder abstürzt. Auch das Sachplanverfahren hat diesen Teufelskreis nicht durchbrechen können. Die Nagra steuert weiterhin das Verfahren. Gravierend ist, dass der Öffentlichkeit vorgemacht wird, das Verfahren sei fair, transparent und ergebnisoffen. Dies lässt sich durch Fakten widerlegen. Damit schaden Nagra und zuständige Behörden der Glaubwürdigkeit des Prozesses massiv. Einmal mehr kommen die alten Strukturdefizite zum Vorschein. Die Nagra ist Teil der Atomwirtschaft und handelt in deren Auftrag und im Auftrag kurzfristiger Interessen. Es ist zentral, dass die Standortwahl explizit unter dem Primat der Sicherheit und der Glaubwürdigkeit steht. Daher sollte ernsthaft geprüft werden, ob die heute gewählte Struktur im Bereich der atomaren Entsorgung diesen Anforderungen genügt. »
E&U: Sie verstehen Ihren Rücktritt nicht als Protest, sondern als Frage des Gewissens: Welches sind Ihre For-derungen, was muss nun geschehen?
« Mein Rücktritt aus der KNS erfolgte aus ethischen Gründen. Ich bin seit letztem Jahr in der Lage, das ‹System› zu lesen. Ähnlich wie bei elektronischem Verkehr entstehen auch beim Planspiel ‹Sachplan geologische Tiefenlager› Spuren, die sich sehr wohl deuten lassen. Es geht einfach nicht an, die Leute hinters Licht zu führen. Was kann man nun aber machen? Zunächst sollten die Untersuchungen
bei der Triade NagraENSIBFE in aller Breite und Tiefe erfolgen. Nicht nur anhören tut hier Not, auch das Überprüfen des Schriftverkehrs, namentlich über EMail.
Grundsätzlich zu überprüfen ist die Struktur des Entsorgungsprogramms, die zu einer Loslösung der Nagra von swissnuclear führen sollte, damit endlich eine korrekte Bearbeitung des Entsorgungsprogramms möglich wird. Zugleich muss die Rolle des Prozessführers, des BFE, grundsätzlich neu überdacht werden. Weiter sind die Forschung und Entwicklung aus den Klauen der Nagra zu befreien: Regulatorische und unabhängige Forschung muss zwingend möglich werden, also Forschung, die nicht von der Nagra kontrolliert wird, wie dies derzeit der Fall ist. Dann gehören junge Fachleute ausgebildet, mit Praxiserfahrung, damit auch eine kompetente Kontrolle und Überwachung sichergestellt werden kann. Und schliesslich braucht es Glaubwürdigkeit im Prozess und bei den Leuten, die darin involviert sind. Ohne kompetente, integre und glaubwürdige Personen an der Spitze wird sich dieser Prozess nie erfolgreich realisieren lassen. »
Händetrocknen in Unschuld
2009 – Im Schulhaus war man nervös, denn die Schweinegrippe war im Anzug. Darum mussten eiligst die Stoffhandtücher und Stückseifen entfernt und durch Dispenser mit Papier-Towels und Flüssigseife-Spender ersetzt werden. Im Übereifer wurden auch die Endlos-Stoffrollen in den Toiletten durch Papier-Spender ersetzt. Die Schweinegrippe kam und ging wieder. Die Papier-Towels blie-ben. Jeden Abend schleifte der Hauswart aus jeder Toilette einen grossen Plastiksack mit blütenweissem, leicht feuchtem Papier.2010 – Das «Handelsblatt» zitiert eine deut-sche Studie: «Es wurden Warmluft-Hände-trockner, Stoffhandtuchrollen, Zellstoff-Papier-handtücher und Recycling-Papierhandtücher betrachtet. Das System Zellstoff-Papierhand-tücher hat sich als vergleichsweise ökolo-gisch nachteilig ergeben. [..] Für den nicht öffentlichen Bereich empfehlen wir die Aus-stattung mit Stoffhandtuchsystemen.»2011 – Eine MIT-Studie «Ökobilanz von Hän-detrocknungs-Systemen»1 ergab, dass das Stoffhandtuch dem Papierdispenser (egal, ob mit Neu- oder Recycling-Papier gefüllt) in jeglicher Hinsicht überlegen ist. Die fol-genden Zahlen aus dieser Studie gelten für einmal zwei Hände trocknen:
2012 – Die Buchhaltung zeigt, dass das Fül-len der Dispenser mit Papier teurer ist als früher das Auswechseln der Stoffrollen. Eine Rückkehr zum alten System wäre dreifach angezeigt: Die Händetrocknenden hatten die Stoffrollen viel lieber. Sie sind günstiger und die Ökobilanz ist ebenfalls besser.Der Schulleiter wird gebeten, wenigstens in den Toiletten wieder Stoffrollen montieren zu lassen. Seine Antwort ist ernüchternd: Baulich hat er im Schulhaus keine Befehlsge-walt. Der Ersatz der Stoffrollen-Halter durch Papier-Dispenser war von Vorgesetzten an-geordnet worden. Der Schulleiter mag wegen einer solchen Lappalie nicht mit den Vorge-setzten diskutieren.Lappalie? Wenn 1000 Personen während 40 Schulwochen täglich einmal die Hände waschen, so würde der Wechsel vom Papier-Dispenser auf die Stoffrolle jährlich 46 GJ Energie oder 900m3 Wasser sparen! Allein die eingesparte Energie entspricht bei 20 Rp./kWh einem Betrag von Fr. 2600.–. Na also: «Kleinvieh macht auch Mist!»
1 http://msl.mit.edu/publications/ MIT_ExecutiveSummary_German.pdf
ENERGIE- IDIOTISCHWalter Wildi ist aus dem Beirat Entsorgung zurückgetreten
Nach Marcos Buser hat Mitte August ein weiterer hochkarätiger AKW- und Atommüllentsorgungs-kenner ein Gremium der Nuklearsicherheit verlassen: Walter Wildi, 1999–2001 im Vorsitz der Ex-pertenkommission Entsorgungskonzepte EKRA und 1997–2007 Mitglied der Kommission Sicherheit Kernanlagen KSA (2002–2007: Präsident) trat aus dem Beirat Entsorgung aus, dem er seit 2009 an-gehörte. In seinem Brief an Bundesrätin Leuthard begründet er den Rücktritt mit der «unverantwort-lichen Sicherheitskultur». Der Sachplan Nukleare Entsorgung werde heute in einer Art geführt, in welcher Grundanliegen der nuklearen Sicherheit nicht gebührend berücksichtigt werden. Er betont, dass solche Projektschwächen zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr korrigiert werden können. «Damit gehen wir einem Entsorgungsprojekt mit klaren Abstrichen bzgl. nuklearer Sicherheit ent-gegen», warnt Wildi in seinem Brief. Zum vollständigen Rücktrittsschreiben:
www.klar-schweiz.com/cms/images/stories/aktuell/Wildi-Demission-Beirat.pdf
Der Pegasos-Skandal
Die so genannte Pegasos-Studie wurde 2004 fertiggestellt und kam zum Schluss, dass die Erdbebengefahr an den Schweizer AKW-Standorten massiv unterschätzt werde. Susan Boos hat nun in der WOZ vom 12. Juli 2012 unter dem Titel «Der Pegasos-Skandal» brisante Details veröffentlicht und aufgezeigt, wie die Erdbebengefährdung der Schweizer AKW massiv kleingerechnet wurde. Der Be-richt soll bald öffentlich zugänglich sein.
Stoff-Rolle Papier neu Recycling-Papier
Energieverbrauch 220 kJ 450 kJ 290 kJ
Wasserverbrauch 17 Liter 40 Liter 40 Liter
CO2 äquivalent 11 g 15,5 g 15,8 g
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Abbau der KEV-Warteliste – energieintensive Betriebe bleiben verschont
Die UREKN will über eine Erhöhung der KEV die Warteliste abbauen. Allerdings sollen die energieintensiven Betriebe voll ständig von der KEV befreit werden. Würden alle auf der Warte liste
stehenden Projekte (Stand 12.9.12) realisiert, könnten rund 5 Milliarden Kilowattstunden Strom produziert werden – fast so viel wie zwei Atomkraftwerke liefern. Allein die 509 Wind und 18’906 PhotovoltaikProjekte könnten so viel Strom wie ein AKW bringen. Die SES begrüsst die Absicht, die Warteliste abzubauen, kritisiert aber die Befreiung der stromintensiven Betriebe.
Zur Mitteilung der UREKN: www.parlament.ch/D/mm/2012/Seiten/mmurekn20120821.aspx
Atomenergie ist weltweit rückgängig
Die Atomstromproduktion hatte ihren Höhepunkt in der 90erJahren. Ihr Anteil lag bei 17%. 2011 sind es gerade noch
11%. Mycle Schneider porträtiert zwanzig Jahre nach seinem ersten Report eine Atomindustrie, die unter den Einflüssen der Weltwirtschaftskrise, den Folgen von Fukushima, starken Konkurrenten sowie unter ihren eigenen Planungs und Managementproblemen leidet. Der Report wurde von der SES unterstützt. Mehr dazu finden Sie unter:
www.energiestiftung.ch/aktuell/archive/2012/07/10/ worldnuclearenergystatusreport2012.html
Obama: Amerikaner sollen Sprit sparen
Ab 2025 sollen amerikanische Neuwagen nur noch halb so viel Sprit verbrauchen als heute. Das heisst, dass sie bis dann mit durchschnittlich 4,3 Litern pro 100 Kilometer auskommen müssten. Zum Vergleich: 2011 lag der Verbrauch bei 8,6 Litern. Ziel dieses doch sehr ehrgeizigen Plans ist es, unabhängiger von ausländischem Öl zu werden. Mit diesen neuen Verbrauchsvorgaben könnten insgesamt rund 1,7 Billionen Dollar gespart werden, wie das Weisse Haus vorrechnete. Der Haken: Ausgerechnet für benzinfressende Offroader (SUV) gelten Ausnahmen. Während PW jährlich 5% sparen sollen, müssen die SUV gerade mal um 3,5% herunterfahren.
Grösstes Super-GAU-Risiko in Westeuropa
Bisher hatten wir Glück! Denn nukleare Unfälle wie in Tschernobyl oder Fukushima sind weit häufiger zu erwarten als bislang angenommen, wie Wissenschaftler des MaxPlanckInstituts errechnet haben. Mit dem aktuellen Kraftwerks bestand könnte ein solcher GAU etwa einmal in 10 bis 20 Jahren auftreten und ist damit rund 200 Mal häufiger als in der Vergangenheit geschätzt. Die Forscher fordern aufgrund ihrer Erkenntnisse eine tiefgehende Analyse und Neubetrachtung der Risiken, die von Atomkraftwerken ausgehen.
Mehr dazu: www.mpich.de/index.php?id=34298&type=0
SES-Filmtipp: «No Man’s Zone – Mujin chitai»
Fukushima – Kaum jemand kannte den Ort vor dem 11. März 2011. Inzwischen steht der Ort als weiteres Mahnmal für den Irrsinn der Atomtechnologie. Der Regisseur Toshi Fujiware hat sich eingehend damit beschäftigt, wie eine solche Katastrophe überhaupt filmisch eingefangen werden kann. Die Szenerie ist irreal: Ein Mann wandert durch die 20KilometerZone um das havarierte AKW von Fukushima. Kirschbäume blühen, die Natur zeigt sich idyllisch. Die radioaktive Strahlung ist unsichtbar. Der Film schafft es, uns die Katastrophe von Fukushima noch einmal nahe zu bringen.
» seit 6. September in ausgewählten Schweizer Kinos» ab 4. Januar 2013 bestellbar unter: www.trigonfilm.org
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SES am ENSI-Forum in Brugg
Am 4. September lud das ENSI zu einem «öffentlichen Forum» ein. Die SES, Greenpeace, WWF, NWA und sortir du nucléaire wehrten sich gegen die Form des Anlasses, weil
eine ernsthafte Diskussion so nicht möglich war. SES und Greenpeace forderten vergeblich umfangreiche ExpertenHearings. Die Forderungen an ENSI, UVEK und ans Parlament sind klar: Schärfere gesetzliche Vorgaben für die Aufsichtsbehörden (Abschalten bis geflickt!), eine fundierte Zweitmeinung (4AugenPrinzip), den Ausbau der KNS und eine neue Sicherheitskultur beim ENSI. Lesen Sie mehr dazu auf:
www.energiestiftung.ch/aktuell/archive/2012/09/04/akwsicherheitistkeinsmalltalkthema.html
Kim Kerkhof ist neuer SES-Praktikant
Am 17. September hat Kim Kerkhof sein Jahrespraktikum bei der SES begonnen. Kerkhof stammt ursprünglich aus Freiburg im Breisgau und lebt seit 2007 in Zürich, wo er auch seinen Bachelor in Politikwissenschaften und Geographie gemacht hat. Als erster Praktikant wird er ein Jahr
bei der SES bleiben und 100% angestellt sein: 80% davon als Strom&AtomPraktikant und 20% als Projektverantwortlicher Koordination im Atommüllbereich.
SES-Stellungnahme zum Atommüll-Entsorgungs-programm
Ende September 2012 geht die Anhörung über diverse AtommüllBerichte zu Ende. Grundsätzlich ist die SES der Meinung, dass das heutige Konzept der Tiefenlagerung unausgereift ist: Die offenen technischen Fragen müssen sofort gelöst und die Langzeitfragen berücksichtigt werden. Die konkreten Forderungen der SES finden Sie unter:
www.energiestiftung.ch/atommuell/
Mustervortrag «Der Schweizer Atomausstieg»
Die Energiewende ist nicht aufzuhalten. Die Endlichkeit fossiler Rohstoffe, der Klimawandel und die Atomrisiken machen sie unvermeidlich. Da die SES des Öftern angefragt wurde, was denn nun die nächsten Schritte sind und wie eine saubere und sichere Stromversorgung aussehen soll, steht neu ein Mustervortrag zum Thema auf der SESWebsite zum Download bereit. Download des Vortrags unter:
www.energiestiftung.ch/energiethemen/energiepolitik/energiewende
Die Ansprüche an ein Unterrichtsthema sind hoch: Spannend soll es sein, fordernd und aktuell. Die Fragestellungen sollen aus der Lebensrealität der Schülerinnen und Schüler gegriffen sein und zudem zukunftsrelevant, sowohl für die Lernenden selbst als auch für die Gesellschaft. Das Thema Energie erfüllt diese Anforderungen allesamt und bietet darüber hinaus auch Gelegenheit zur Bildung für nachhaltige Entwicklung. Denn kaum ein anderes Thema verschränkt die drei Dimensionen der nachhaltigen
Entwicklung (Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft) derart stark und kom-plex ineinander wie das Thema Energie. Die Wechselwirkungen zwischen den drei Bereichen sind zahlreich, und die Bedürfnisse widersprechen sich oft. So werden die Lernenden mit Fragen konfrontiert, auf welche es keine einfachen Antworten gibt. Plötzlich sind sie aufgefordert, vernetzt und vorausschauend zu denken und selbst aktiv zu werden. Denn es gilt, Kompetenzen für eine nachhaltige Zukunft aufzubauen. Damit es Lehrpersonen, aber auch Schulbetrieben als Ganzes, leichter fällt, Energie zum Thema zu machen, hat die Stiftung Umweltbildung Schweiz in Zusammenarbeit mit der SES ein entsprechendes Themen-dossier veröffentlicht. Dort finden Interessierte alles von fixfertigen Un-terrichtseinheiten, über Lehrmittel und Fachliteratur bis hin zu ausser-schulischen Lernorten und Beispielen von gelungenen Energieprojekten. Das Themendossier Energie gibt es online unter www.umweltbildung.ch/themendossiers, ausserdem Broschüren für Lehrpersonen unter www.umweltbildung.ch/service/download/ («Umweltbildung für die Schule – Lernen für Gegenwart und Zukunft» und «Umweltbildung für die Schule – Tipps und Links für den Unterricht»).
Philip Herdeg, Stiftung Umweltbildung Schweiz
NEUES THEMENDOSSIER ENERGIE FÜR LEHRPERSONEN
Lernen voller EnergieFoto: Katrin Cryer
SES-INTERN
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GROSSE GASKRAFTWERKE SIND FOSSILE RELIKTE AUS DER VERGANGENHEIT
Von BERNHARD PILLER und LINDA ROSENKRANZ
WärmeKraftKopplungsanlagen – kurz WKK1 – sind kleine Wundermaschinen. Mit Gas betrieben, produzieren sie gleichzeitig Strom und Wärme. Werden solche kleinen Anlagen dezentral genutzt und mit Biogas, am besten mit Gas aus organischen Abfällen, betrieben, so machen sie ökologisch durchaus Sinn. Doch die Technologie fristet in der Schweiz – ganz im Gegensatz zu Deutschland – noch ein MauerblümchenDasein.
Photovoltaik und WKK – das ideale PaarDoch das könnte sich ändern, sobald der Schweizer Strom dezentral und erneuerbar produziert wird.
Denn dann machen viele kleine dezentrale WKKAnlagen grossen Sinn, sorgen für Netzentlastung und bieten Versorgungssicherheit. Wenn die Photovoltaik bis zu einem Drittel der Stromproduktion ausmacht, braucht es für das Winterhalbjahr entsprechende Ausgleichsmassnahmen.
Der Solarstromanteil in Deutschland liegt heute schon bei 5 Prozent. An Spitzentagen zur Mittagszeit produziert die Sonne gar mit einer Leistung von 20’000 MW – das ist ein Drittel der Stromnachfrage in Deutschland. Die Solarstromproduktion ist im Winter natürlich einiges kleiner. Genau dann helfen dezentrale WKKAnlagen: Sie produzieren mit einem Wirkungsgrad von 95 Prozent Strom und Wärme zugleich. Das Gas treibt den Generator an, der Strom produziert. Dabei fällt Abwärme an, die z.B. fürs Beheizen einer Siedlung genutzt werden kann. In einem
Dezentrale WKK leistet wichtigen Beitrag zur EnergiewendeDie zukünftige Schweizer Stromversorgung wird gänzlich anders gestaltet sein als die heutige. Sie wird kleinräumiger, dezentraler und erneuerbar sein. Die dezentrale Wärme-Kraft-Kopplung (WKK) wird eine tragende Rolle spielen, da sie gleichzeitig Strom und Wärme für Gebäude produziert. Zentrale grosse Gaskraftwerke hingegen erscheinen wie Dinosaurier aus einer vergangenen Zeit: Sie sind aus Ressourcen- wie auch aus Effizienz-gründen nicht zukunftsfähig.
Jüngstes Beispiel für die ideale Kombination von Photovoltaik und Wärme-Kraft-Kopplung ist die Umweltarena in Spreitenbach von Kompogas-Erfinder Walter Schmid: Das Block-Heiz-Kraftwerk (BHKW) der Umweltarena nützt das Biogas der eigenen Kompogasanlage zur Strom- und Wärmeversorgung.
Fotos: www.umweltarena.ch
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dezentralen System sind Photovoltaik und dezentrale WKK über den Jahresverlauf als ideales Paar für die Stromproduktion zu sehen.
Das Gasnetz als SpeicherSowohl die Stromproduktion aus Windkraft und Solaranlagen soll und wird in naher Zukunft nicht nur in der Schweiz massiv zunehmen. Bei sehr hohen Produktionsspitzen muss dieser Strom zwischengespeichert werden.2 Mittels Elektrolyse lässt sich dereinst mit Wind und Solarstrom Wasserstoff herstellen und anschliessend durch die Zugabe von Kohlendioxid in Methan umwandeln und als erneuerbare Energie ins Gasnetz einspeisen.
WKK für dicht bebaute StrukturenEine hohe Relevanz beim Entscheid pro oder contra WKKAnlagen haben die Besiedlungsdichte und Baustruktur: WKKAnlagen sollten ausschliesslich dort stehen, wo sich die Abwärme nutzen lässt, d.h. dort, wo dichte Siedlungen oder alte und historische Bauten stehen. Vor allem in Altstädten und Siedlungen machen WKKAnlagen also viel Sinn. Werden WKKAnlagen mit Sonnenkollektoren auf dem Dach kombiniert, ergibt sich ein perfektes System. Während ein Gebäude aus dem
Jahre 1975 noch 22 Liter HeizölÄquivalente pro Quadratmeter benötigt, sind es bei einem MinergieNeubau noch 3,8 Liter. Das heisst, WKKAnlagen machen in modernen EinfamilienNeubauten keinen Sinn, weil diese zu wenig Wärme benötigen.
GUD sind ineffizientEin wesentlicher Grund, der für dezentrale WKKAnlagen und gegen grosse zentrale Gaskraftwerke (GUD)3 spricht, ist die vollständige Wärmenutzung von WKKAnlagen. Seit einiger Zeit wird in der Schweiz mit dem Bau von grossen GUDKraftwerken geliebäugelt. In aller Regel ist dabei von 400 MegawattAnlagen die Rede. Solche Kraftwerke haben einen elektrischen Wirkungsgrad von etwa 60 Prozent. Die immense Menge an Abwärme kann in der näheren Umgebung nicht oder nur minim genutzt werden. Der Wärmetransport über lange Distanzen macht aus Effizienzgründen keinen Sinn. Grosse zentrale Gaskraftwerke stehen auch im Widerspruch zu der von Bundesrätin Doris Leuthard angedachten erneuerbaren und dezentralen Energiezukunft.
Sie sind nichts anderes als fossile Relikte, die verhindert werden müssen. <
Die Trans Adriatic Pipeline
Die AXPO-Tochter EGL AG plant zusammen mit europäischen Partnerfirmen eine Erd-gaspipeline für Gas aus Aserbaidschan durch Griechenland und Albanien, unter der Adria hindurch, nach Süditalien zu bauen. Die EGL ist an der Trans Adriatic Pipeline (TAP) AG mit 42,5% beteiligt und begründet ihr Pipeline-Engagement mit der Versorgungssicherheit für Europa. Aber man muss wissen: Die EGL besitzt Gas-Kombikraftwerke beziehungsweise Anteile an solchen in Italien. Ausserdem sind die In-vestitionen der EGL in die Gastransportinfra-struktur sowie in Gaskraftwerke in Italien im Kontext der AXPO-Stromstrategie in der Schweiz zu sehen. Sprich: möglichst wenig Investitionen in erneuerbare Energien und möglichst viel in konventionelle nicht erneu-erbare Stromerzeugung.
Da die AXPO-AKW-Schiene in der Schweiz nun glücklicherweise gescheitert ist, macht es aus AXPO-Logik umso mehr Sinn, fossilen Strom in Italien zu erzeugen und diesen zu-künftig in die Schweiz zu importieren. Diese Strategie ist weder nachhaltig noch zukunfts-fähig. Sie ist höchst durchsichtig und aus SES-Sicht unverantwortlich.
Auch in Süditalien ist die geplante Pipeline höchst umstritten. Es ist geplant, dass die Pipeline in San Foca, unweit von Lecce, an der Küste ankommt. An dieser Stelle hat es vor-gelagerte Seegraswiesen. San Foca ist einer der schönsten Orte Apuliens mit etwa 3000 TouristInnen in der Hochsaison. Das Projekt könnte zu einem Präzedenzfall für die An-siedlung von in der Region geplanten Kohle-kraftwerken und Industriekomplexen in einer ursprünglichen und von der Landwirtschaft geprägten Region werden. Erstmals weltweit kommt eine Gasleitung direkt in einem Erho-lungsgebiet an. 1,5 km entfernt befindet sich das WWF-Naturreservat Cesine.
AKTUELL
1 Unter Wärme-Kraft-Kopplung (WKK) versteht man die kombinierte Produktion von Wärme und Strom. Mittels eines Generators wird Strom produziert, und die Abwärme dieser Anlage wird zum Heizen und zur Warmwasserproduktion genutzt. Solche Anlagen gibt es von ganz klein (Ein- oder Zweifamilienhaus) bis zu mittelgross, zum Beispiel für eine Genossenschaftssiedlung, oder ein dicht bebautes Quartier.
2 Natürlich macht es keinen Sinn, überschüssigen Windstrom von der Nordsee in die Schweiz zu leiten, um damit Pumpspeicherwerke in Alpentälern zu befüllen – weder aus Effizienz- noch aus Naturschutzüberlegungen.
3 GUD = Gas-und-Dampfturbinen-Kraftwerk
Erneuerbares Gas im Erdgasnetz
Heute werden WKK-Anlagen in der Regel mit fossilem Erdgas befeuert. Dies ist aufgrund der End-lichkeit von Erdgas und aus Klimaschutzgründen nicht zukunftsfähig. Doch es findet bereits eine punktuelle Verschiebung zu erneuerbarem Gas statt, die sich in Zukunft noch verstärken wird. In Zürich beispielsweise werden zukünftig mit Biogasanlage sowie einer Klärschlammverbren-nungsanlage grosse Mengen Biogas produziert. Dieses Biogas wird vollumfänglich ins Erdgasnetz eingespiesen. Bei Erdgas Zürich kann die Kundschaft bereits heute beliebige Anteile Biogas bestel-len – je nach Wunsch auch 100 Prozent. Im Winter 2011/2012 entschieden sich schon 13 Prozent der KundInnen, mindestens zum Teil mit Biogas zu heizen. In den kommenden Jahren soll der Bio-gasanteil im gesamten Netz von Erdgas Zürich 5 Prozent der gesamten Gasnachfrage decken. Das ist noch sehr wenig, aber der Anteil an erneuerbarem Gas lässt sich bedeutend steigern.
Sihlquai 67CH-8005 ZürichTel. ++ 41 (0)44 275 21 21Fax ++ 41 (0)44 275 21 [email protected] 80-3230-3
www.energiestiftung.ch
«Neue Grosskraftwerke in der Schweiz, egal ob Gas oder Atom, sind auf
absehbare Zeit nicht wirtschaftlich.»
Urs Meister, Energieexperte bei der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse
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