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Daniela Gretz Martin Huber Nicolas Pethes Epochen und Gattungen kultur- und sozialwissenschaften

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Daniela GretzMartin HuberNicolas Pethes

Epochen und Gattungen

kultur- undsozialwissenschaften

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© 2008 FernUniversität in Hagen

Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften 03532 - 4 - 01 - S 1

Inhalt 1

Inhalt

Vorwort ........................................................................................................... 2

1. Gattungsstrukturen und Epochenbilder.......................................................... 3

1.1 Probleme literaturwissenschaftlicher Kategorisierung............................. 3

1.2 Epochen und Gattungen ........................................................................... 5 1.2.1 Epochenschwellen ........................................................................... 5

1.2.2 Gattungsfunktionen ....................................................................... 12

2. Modelle der Literaturgeschichtsschreibung................................................. 18

2.1 Die akademische Literaturgeschichtsschreibung.................................... 18 2.1.1 Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung

im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ........................ 18 2.1.2 Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung nach 1945............... 22

2.2 Der Kanon ............................................................................................. 29 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution ................................................. 32

3.1 Die Entstehung des modernen Literaturbegriffs ........................................ 32

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel ...... 36 3.2.1 Epik................................................................................................ 36 3.2.1.1 Epische Strukturelemente und Subgenres......................... 36 3.2.1.2 Gattungsgeschichte des modernen Romans ...................... 40 3.2.2 Lyrik .............................................................................................. 44 3.2.2.1 Lyrische Strukturelemente und Subgenres........................ 44 3.2.2.2 Geschichte der modernen Lyrik

im Spiegel ihrer Poetologie........................................................... 60 3.2.3 Drama ............................................................................................ 65 3.2.3.1 Dramatische Strukturelemente und Subgenres ................. 65

3.2.3.2 Geschichte des modernen Dramas im Kontext seiner Aufführungspraxis ................................... 72

3.3 Die Grenzen des triadischen Gattungsmodells .......................................... 77

2 Vorwort

Vorwort

Der vorliegende Studienbrief bietet Ihnen, nachdem Sie in Kurs 03531 über die Struktur des Fachs informiert wurden und bevor Sie in Kurs 03532 mit den kon-krete literaturwissenschaftliche Arbeitsweisen vertraut gemacht werden, einen Überblick über die wichtigsten Entwicklungsstufen und Textformen der deutsch-sprachigen Literatur von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. So zutreffend es ist, daß literarische Texte sich nicht vollständig in die mit den für diese Stufen bzw. Formen stehenden Etiketten beklebten Schubladen einordnen lassen, so wenig ist es ohne derartige Hilfskonstruktionen möglich, sich über Lite-ratur wissenschaftlich auszutauschen. Die Kenntnis literarischer Gattungen und Epochen gehört damit zum unerläßlichen Grundwissen jeder Literaturwissen-schaftlerin und jedes Literaturwissenschaftlers – und sei es, daß dieses Grundwis-sen nur dazu dient, sich kritisch von den angebotenen Strukturen distanzieren zu können. Im Regelfall werden Ihnen die hier präsentierten literaturhistorischen Zusammenhänge aber im weiteren Studienverlauf helfen, die in späteren Modulen thematisierten Zeiträume in ihrem ästhetischen Selbstverständnis einzuordnen und Ihre Analyse einzelner Werke auf eine begrifflich gesicherte Grundlage zu stel-len.

Der digitale Studienkurs gliedert sich hierzu in zwei Großabschnitte, deren erster aus den hier vorliegenden schriftlichen Ausführungen zu den Begriffen ‚Epoche’ und ‚Gattung’ sowie der Darstellung ihrer wichtigsten Stationen bzw. Ausfor-mungen in den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten besteht. Den zweiten Teil des Studienkurses bilden die insgesamt fünf Videovorlesungen, die das Grundla-genwissen zu Epochen und Gattungen in Gestalt eines Durchgangs durch die deutsche Literaturgeschichte von der Empfindsamkeit bis zur Gegenwartsliteratur veranschaulichen und an konkreten Textbeispielen illustrieren. Diese konkreten Textbeispiele sind auch als Anregung zur weiteren vertiefenden Lektüre zu ver-stehen, durch die allein Sie ein lebendiges und differenziertes Bild der Entwick-lungsgeschichte und Formenvielfalt der Literatur gewinnen werden.

1.1 Probleme literaturwissenschaftlicher Kategorisierung 3

1. Gattungsstrukturen und Epochenbilder

1.1 Probleme literaturwissenschaftlicher Kategorisierung

Unter wissenschaftlichem Arbeiten versteht man die Erforschung von Phänome-nen mithilfe etablierter Methoden sowie die Erläuterung der Forschungsergebnis-se mit einer in der Fachsprache üblichen Terminologie. Beide Anforderungen – die empirische Wiederholbarkeit wie die intersubjektive Nachvollziehbarkeit – stellen eine für die Literaturwissenschaft nicht unerhebliche Herausforderung ih-res Selbstverständnisses dar. Denn die genannten Anforderungen entstammen ja einer Vorstellung von Wissenschaftlichkeit, die in erster Linie den Naturwissen-schaften verpflichtet ist. Gegenüber diesen ‚harten‘ Wissenschaften beharren die Geistes- und Kulturwissenschaften mit gutem Grund auf ihrer Eigenständigkeit. Dennoch verstehen sie sich als Wissenschaften und unterliegen daher dem An-spruch auf methodische und begriffliche Präzision.

Die Schwierigkeiten, die sich dabei ergeben, sind in der Tatsache begründet, daß es sich bei den Geistes- und Kulturwissenschaften um historische Wissenschaften handelt. Was damit gemeint ist, wird rasch deutlich, wenn man sich vor Augen führt, welches Verhältnis die empirischen Natur- und Technikwissenschaften zur Geschichte, einschließlich ihrer eigenen Fachgeschichte, haben: Die Vorstellung von wissenschaftlichem Fortschritt beruht in diesen Fächern auf der Widerlegung bisheriger Theorien durch bessere und gültigere. Insofern diese neuen Theorien beanspruchen, denjenigen Ausschnitt der Welt, den sie erforscht haben, angemes-sen abzubilden, ist eine Erinnerung an die vorangegangenen Erklärungsmodelle nicht notwendig: Sie sind widerlegt und überholt – es sei denn, man betätigt sich als Wissenschaftshistoriker und rekonstruiert die Geschichte der physikalischen, chemischen oder medizinischen Theorien.

Historische vs. empi-rische Wissenschaften

Es hat in den Naturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten einen merklichen Interessenszuwachs an solchen Fragestellungen gegeben, die zu einer Aufwertung der Disziplin der Wissenschaftsgeschichte geführt haben. Allerdings müssen sich die auf diesem Feld tätigen Wissenschaftler fragen, ob sie überhaupt noch als Na-turwissenschaftler tätig sind, wenn sie in der beschriebenen Weise die historische Dimension ihrer Fächer ausloten. Möglicherweise sind sie ja viel eher als Geistes- oder Kulturwissenschaftler tätig, wenn sie Newtons Manuskripte edieren oder nach der Entwicklung optischer Meßapparaturen im 19. Jahrhundert fragen.

Die Besonderheit derartiger historischer Wissenschaften erschließt sich daher erst, wenn man die jeweiligen Zielsetzungen geisteswissenschaftlicher Fragestellungen von denjenigen in den Naturwissenschaften abgrenzt. Der Philosoph Wilhelm Dilthey hat am Ende des 19. Jahrhunderts vorgeschlagen, diese Abgrenzung zu leisten, indem man die erklärenden von den verstehenden Wissenschaften unter-scheidet: Das Erklären der Welt beschreibt sie, wie sie nach aktuellem Wissens-tand beschaffen ist. Das Verstehen hingegen versucht, die Dimension der Bedeu-

Verstehen vs. Erklären

4 1. Gattungsstrukturen und Epochenbilder

tung von Phänomenen in den Vordergrund zu rücken und ist dadurch an sämtli-chen Artikulationsformen von Menschen interessiert. Insofern menschliche Arti-kulationen etwas bedeuten, nennt Dilthey die Methode der mit diesen Zusammen-hängen befaßten Wissenschaften „Hermeneutik“, d.h. die Lehre vom Verstehen. Und weil diese Verstehenslehre zum Teil viele Jahrhunderte zurückliegende Arti-kulationen zum Gegenstand hat, ergibt sich Dilthey zufolge als Aufgabe an die Geisteswissenschaften die Rekonstruktion der „Geistesgeschichte“: Ihre Aufgabe ist es, die Entwicklung und Traditionen menschlicher Vorstellungen und Ideen verstehend nachzuvollziehen.1

Es ist offensichtlich, daß zu diesen geistigen Hervorbringungen des Menschen auch die Literatur gezählt wurde, und die hermeneutische Methode der Geistesge-schichte war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der dominierende Ansatz in der Literaturwissenschaft. Nur hat der Verweis auf das wachsende Interesse an der Wissenschaftsgeschichte bereits gezeigt, daß sich die Trennlinien zwischen ‚har-ten‘ und ‚weichen‘ Wissenschaften nicht so deutlich ziehen lassen – zumal es ja auch auf Seiten der Literaturwissenschaft durchaus empirische Verfahrensweisen gibt, denkt man etwa an die Editionsphilologie. Vor allem aber verdeckt Diltheys Modell der Geistesgeschichte ein zentrales Problem, mit dem alle historisch arbei-tenden Wissenschaften zwangsläufig konfrontiert werden: Geschichtliche Verläu-fe sind nicht so homogen und kontinuierlich, wie sie in retrospektiven Rekon-struktionen möglicherweise mitunter erscheinen. Historische Entwicklungen, und zu diesen gehören auch die Entstehung und Ausdifferenzierung der Künste, erfol-gen zu verschiedenen Orten und Zeiten in verschiedenen Ausformungen und In-tensitäten, und daß man heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, von ‚Literatur‘ im allgemeinen und einer ‚Literaturgeschichte‘ im besonderen sprechen kann, ver-dankt sich der mittlerweile seit zwei Jahrhunderten erfolgenden mühsamen und beharrlichen Sichtung einer unüberschaubaren Serie heterogener Ereignisse, die man nun im Rückblick als Produkte schriftstellerischer Tätigkeit vereinheitlicht.

Daß der Prozeß dieser Subsumption verschiedener schriftlicher Erzeugnisse unter einen einheitlichen Begriff von Literatur in erster Linie damit beschäftigt ist, alles nicht Passende auszusortieren, um den sich ergebenden literaturgeschichtlichen Überblick überhaupt noch gewährleisten zu können, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, wie viele Autoren und Bücher es beispielsweise bereits im 18. Jahrhundert gab und wie wenige von ihnen wir heute noch kennen, selbst wenn wir uns professionell mit Literatur beschäftigen. Und auch, wenn Sie bedenken, wie viele Bücher derzeit monatlich erscheinen, wie viele Sie davon lesen können und wie viele man in zehn Jahren noch kennen wird, sehen Sie auf Anhieb, daß der Umgang mit Literatur in erster Linie ein Selektionsprozeß ist.

Geschichte als Selektion

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1 Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frank-furt/M. 1970.

1.2 Epochen und Gattungen 5

Aus literaturwissenschaftlicher Sicht dient dieser Selektionsprozeß aber nicht nur dazu, beliebige Schneisen in die Masse des Publizierten zu schlagen. Es geht vor allem darum, durch eine gezielte Selektion in dieser Masse wiederkehrende Ten-denzen und wiedererkennbare Strukturen zu identifizieren. Nur auf diese Weise stehen die de facto ja in einem ungeordneten und unkontrollierbaren Strom ent-stehenden literarischen Produkte überhaupt der wissenschaftlichen Analyse zur Verfügung. Das heißt mit anderen Worten: Auch und gerade der historische Rückblick in einer Wissenschaft bedarf systematischer Kategorien. Geschichte steht uns nicht als solche zur Verfügung, d.h. als schiere Sammlung alles jemals Geschehenen, sondern wird überhaupt nur anhand bestimmter Selektionen und Rasterungen zugänglich. Und einem wissenschaftlichen Anspruch genügen die Kriterien dieser Selektion und Rasterung, wenn sie nicht willkürlich, sondern be-grifflich definiert und theoretisch hergeleitet sind. Derartige Bestimmungen sind daher die Grundlage aller Literaturwissenschaft.

historisch vs. systematisch

1.2 Epochen und Gattungen

1.2.1 Epochenschwellen

Welche historischen und systematischen Kategorien stehen nun zur Verfügung? Zur Veranschaulichung kann man sich ein Koordinatensystem vor Augen führen, dessen x-Achse den zeitlichen Verlauf abbildet. Der einfachste Schritt, um einen Gegenstandsbereich wie die Literatur nach historischen Kriterien zu ordnen, be-stünde nun darin, auf dieser x-Achse die Erscheinungsjahre der jeweiligen Texte einzutragen. Damit ist noch nicht viel an Übersicht gewonnen, allerdings ergeben sich unter Umständen interessante Merkhilfen, setzt man etwa die Erscheinungs-jahre eines literarischen Werks in Verbindung mit Ereignissen, die im gleichen Jahr in anderen gesellschaftlichen Bereichen – etwa der Politik – geschehen sind. So würde einem vielleicht auffallen, daß Johann Wolfgang Goethes Drama Eg-mont im Jahr vor der Französischen Revolution 1789 erschienen ist, das Stück Torquato Tasso im Jahr danach, und man könnte die Frage anschließen, ob ein derartig einschneidendes gesellschaftliches Ereignis einen solchen Einfluß auf die Literatur hatte, daß es sinnvoll wäre, zwischen einer ‚vor-‘ und einer ‚nachrevolu-tionären‘ Literatur zu unterscheiden.

historische Kriterien

Dieses Beispiel wurde vor allem gewählt, weil die gerade vorgeschlagene Unter-scheidung zumindest in der deutschsprachigen Literatur unüblich ist. Gemeinhin verlegt man den literaturhistorischen Einschnitt auf einige Jahre davor, nämlich 1786, das Jahr, in dem Goethe zu seiner Italienischen Reise aufbrach und von dort mit einem gänzlich neuen Dichtungsverständnis zurückkehrte, das sich an den Prinzipien der antiken Kunst orientierte und z.B. seiner Tragödie Iphigenie auf Tauris zugrundelag. Es gibt also offensichtlich verschiedene Möglichkeiten, die Einträge auf der x-Achse zu bewerten, und im genannten Fall würde man die erste Option, die sich an der Französischen Revolution orientiert, als sozialgeschichtli-

Epochen

6 1. Gattungsstrukturen und Epochenbilder

chen, die zweite, die sich auf Goethes Literaturtheorie beruft, als ästhetischen Strukturierungsversuch bezeichnen.

In beiden Fällen bezeichnet man einen solchen strukturierenden Einschnitt auf der x-Achse als Epochengrenze, und das eben genannte Beispiel hat gezeigt, daß sol-che Epochengrenzen von ganz verschiedenen Aspekten abgeleitet werden können. Die literaturhistorischen Einschnitte auf der x-Achse lassen aber noch eine ganze Reihe weiterer Strukturierungsmöglichkeiten offen, die sich zwar nicht historisch, aber eben systematisch festlegen lassen. Hier kommt nun die y-Achse ins Spiel, auf der verschiedene Werke, die zum gleichen Zeitpunkt entstanden sind, diffe-renziert werden können. So erscheint z.B. zeitgleich mit Goethes Iphigenie 1787 auch Friedrich Schillers Drama Don Carlos. Allerdings druckt Schiller im glei-chen Jahr in der Zeitschrift Thalia auch das Romanfragment Der Geisterseher ab, während der schwäbische Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart aus seiner Festungshaft heraus einige revolutionäre Gedichte veröffentlicht. Die damit ange-sprochenen Texte unterscheiden sich nun formal so signifikant, das man ihnen auf der y-Achse sinnvoll verschiedenen Rubriken zuordnen kann, und das zumal, als sich die auf diese Weise unterschiedene Textformen auch zu den übrigen auf der x-Achse markierten Zeitpunkten nachweisen lassen. Das heißt also, daß die histo-rische Entwicklung der Literatur durchzogen ist von zwar in sich ebenfalls wan-delbaren, in ihrer Grundstruktur aber gleichbleibenden Textformen, die wir Gat-tungen nennen.

systematische Kriterien

Diese Gattungen leiten sich aus den Vorgaben der antiken Rhetorik und Poetik ab und wurden dort in die Hauptformen Epik und Dramatik aufgeteilt: Die erste be-zeichnete alle erzählenden Dichtungsformen, die zweite alle unmittelbaren Dar-stellungen von Handlungen. Daneben existieren bereits in der Antike weder er-zählende noch handelnde Textformen in Versen, die man in der Neuzeit als dritte Gattungsform der Lyrik zuordnete; hinzu kam die Ablösung des traditionell eben-falls in Versen verfaßten Epos durch Prosaerzählungen im weiteren Sinne. Inner-halb jeder dieser Gattungen gibt es jeweils eine ganze Reihe von Untergattungen und Genres, so etwa die Tragödie und Komödie auf dem Feld der Dramatik, Ode, Sonett oder Ballade auf dem Feld der Lyrik sowie die verschiedenen Prosagattun-gen Roman, Novelle oder Erzählung.

Gattungen

Alle diese Textformen, die sich zu verschiedenen historischen Zeitpunkten unter-scheiden lassen, kennen dabei natürlich auch ihre jeweilige Entwicklungsge-schichte: Manche, wie etwa die Novelle im 19. Jahrhundert, erfreuen sich zu be-stimmten Zeiten größerer Beliebtheit als zu anderen; andere wie z.B. die klassi-sche Odenform gehen mit der Zeit ganz verloren, und bestimmte Formen wie die Kurzgeschichte entstehen erst vergleichsweise spät. Ein Genre wie der Roman verfügt zudem über eine ganze Reihe weiterer Differenzierungsmöglichkeiten – in Schäferroman, Staatsroman, Schelmenroman oder Bildungsroman bis zu den ver-schiedenen Formexperimenten im modernen Roman – die zum Spiegel komplexer literaturhistorischer Entwicklungen werden. Historische und systematische Kate-

1.2 Epochen und Gattungen 7

gorien, Gattungsstrukturen und Epochenentwicklungen, greifen also stets ineinan-der und bilden daher die beiden stets simultan zu betrachtenden Koordinaten für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Literatur.

Das Bild des Koordinatensystems ist hinsichtlich des Konzepts der ‚Epoche‘ bis-lang etwas ungenau geblieben, und zwar so lange es sich an einem einzelnen Ein-trag auf der x-Achse orientierte. Ein solcher einzelner Einschnitt erlaubt zwar, wie gesehen, die Unterscheidung aller Ereignisse, die vor diesem Einschnitt passiert sind, von denen, die nach dem Einschnitt stattfinden. Der Begriff der Epoche, wie er in den historischen Wissenschaften verwendet wird, meint aber nicht den iso-lierten Zeitpunkt für eine solche vorher/nachher-Unterscheidung, sondern viel-mehr einen Zeitraum. Zur Abgrenzung eines solchen Zeitraums benötigt man mit-hin nicht einen, sondern zwei Einschnitte auf der Zeitachse. Um eine ‚Epoche‘ zu konstruieren muß man demnach, um bei unserem Beispiel zu bleiben, dem Datum der Französischen Revolution 1789 noch ein zweites an die Seite stellen, z.B. das Datum des Ausbruchs des 1. Weltkriegs 1914. Wenn man das tut, kann man zwar nach wie vor eine Zeit ‚vor‘ diesem Einschnitten und ‚nach‘ diesem Einschnitten unterscheiden, vor allem aber entsteht ein Zeitraum zwischen diesen beiden Ein-schnitten, und diese Konstruktion bezeichnen wir üblicherweise als Epoche – im Fall unseres Beispiels das sogenannte ‚lange‘ 19. Jahrhundert,2 das Schauplatz der verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umbrüche im Zuge der Entstehung der europäischen Moderne gewesen ist.

vorher/nachher

Das Denkmodell einer Epochenbildung setzt also an die Stelle zweigliedrige vor-her/nachher-Vorstellungen dreigliedrige oder, wie der Fachbegriff heißt, triadi-sche Verlaufsmodelle.3 Derartige triadische Geschichtsbilder sind uns wohlver-traut – man denke etwa an das christliche Weltbild, in dem unser irdisches Dasein von einem paradiesischen Urzustand einerseits, dem kommenden Himmelreich andererseits abgegrenzt ist. Aber auch die säkulare Geschichtsschreibung kennt triadische Epochenbildungen, etwa diejenige zwischen der Entwicklung der Landwirtschaft im Zuge der Seßhaftwerdung des Menschen und der industriellen Revolution als Auflösung der damit verbundenen Arbeits- und Lebensformen. Mediengeschichtlich wäre analog an das Zeitalter der Schrift zwischen ihrer Er-findung und dem Aufkommen der digitalen Medien zu denken.

triadisches Geschichtsmodell

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2 Allerdings ist dieses lange 19. Jahrhundert aus literaturwissenschaftlicher Perspektive gerade keine literaturgeschichtliche Epoche, sondern vielmehr Schauplatz einer ganzen Reihe, unten noch im einzelnen zu benennender, ästhetischer Strömungen. Zum Begriff des langen 19. Jahrhundert vgl.: Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte; Bd. 13; 10., völlig neu bear-beitete Auflage). Stuttgart 2002.

3 Vgl. hierzu wie zum weiteren Niklas Luhmann: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie. In: Hans-Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Frankfurt/M. 1985, S. 11-33.

8 1. Gattungsstrukturen und Epochenbilder

Derartige triadische Großeinteilungen bilden aber natürlich nur die Makrostruktur für die jeweilige Geschichtsvorstellung. Ebenso gut ist eine Aneinanderreihung mehrerer solcher triadischer Phasen denkbar, innerhalb derer die jeweiligen Vor- bzw. Nachgeschichten ihrerseits zu Epochen und d.h. abgegrenzt werden. Schon in der Mythologie und Geschichtsschreibung der Antike lassen sich entsprechende Schematisierungen der Vorgeschichte beobachten, wenn z.B. in Griechenland ein Zeitalter der Titanen von demjenigen der olympischen Götter unterschieden oder in Rom die Entwicklungsgeschichte der Menschheit vom goldenen über das sil-berne und bronzene zum eisernen Zeitalter verfolgt wird. Die traditionelle Ge-schichtsschreibung der Neuzeit bindet Epochen oftmals an die Herrschaftszeit von Königen und Kaisern, was – denkt man an das elisabethanische oder viktoriani-sche Zeitalter in England – durchaus auch gesellschaftsgeschichtlich gemeint sein kann.

Die Konstruktion spezifischer Epochen durch ihre Abgrenzung von Vorläufer- und Nachfolgephasen ist also ein Standardinstrument der historischen Beschrei-bung, mit dem aber zwei Schwierigkeiten verbunden sind. Die eine ist die in den genannten Beispielen bereits mitschwingende implizite Wertungstendenz: Ist eine Epoche als Fortschritt oder Rückfall gegenüber einer vorherigen anzusehen? Be-steht dabei ein harter Bruch oder ein fließender Übergang zwischen den einzelnen Epochen? Und ist die Abfolge der Epochen als zirkulär, zielgerichtet oder mögli-cherweise vollends kontingent anzusehen? Wählt man das Beispiel der christli-chen Heilsgeschichte, so zeigt sich, daß die beiden Epochengrenzen hier als radi-kale Brüche konzipiert werden, wobei der Übergang vom paradiesischen zum irdischen Zustand als Rückschritt und derjenige vom irdischen zum himmlischen als Fortschritt gedacht ist. Das Himmelreich ist dabei als Zielpunkt der Entwick-lung angesetzt, weist aber in seiner Wiederherstellung des paradiesischen Zu-stands durchaus auch zirkuläre Elemente auf.

Fortschritt oder Verfall

Ähnlich lassen sich auch weltliche Epocheneinschnitte deuten: So begriff sich das lange 19. Jahrhundert als fortschrittliche Epoche, die radikal mit den politischen und wirtschaftlichen Prinzipien der Ständegesellschaft gebrochen hat und zielge-richtet auf eine bessere Welt hinarbeitet. Im historischen Rückblick wäre man allerdings geneigt, eher die Kontinuitäten zwischen Vor- und Nachgeschichte der Französischen Revolution zu betonen und außerdem die Fortschrittsgewißheit des wissenschaftlichen Positivismus der Zeit sehr in Zweifel zu ziehen. Damit ist deutlich, daß Epochen auf sehr unterschiedliche Weise gedeutet werden können, und die Alternativen Kontinuität vs. Diskontinuität, Fortschritt vs. Verfall oder Teleologie vs. Kontingenz sind nur die häufigsten dieser Deutungsmuster.

Die zweite Schwierigkeit ist die eigentlich vorgeordnete und betrifft das Problem der Definition von Epochengrenzen. So plausibel es uns scheint, die Zeit vor der Landwirtschaft und nach der Industrialisierung als eigenständige Phase der Menschheitsgeschichte anzusehen, so sehr wissen wir natürlich auch, daß diese Übergänge fließend waren und sich über Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte

Kontinuität und Diskontinuität

1.2 Epochen und Gattungen 9

hingezogen haben. Für die Zeitgenossen war also unter Umständen der Epochen-einschnitt gar nicht so gravierend wie es im Rückblick scheinen will, insofern die von Tag zu Tag bestehenden Kontinuitäten die vermeintliche Explosivität der Umbrüche bei weitem aufgewogen haben.

Eine Theorie der Epochen benötigt also als Grundlage eine Theorie der Entste-hung von Neuem. Diese Theorie auf geniale Geister oder politische Großereignis-se zu gründen, greift dabei aus dem genannten Grund zu kurz: Auch im Fall eines radikalen Umbruchs können Zusammenhänge zwischen Zustand 1 und Zustand 2 beobachtet werden. Eine angemessene Theorie der Epochenbildung muß daher Kontinuitäten und Diskontinuitäten gemeinsam in den Blick nehmen, und in der sogenannten systemtheoretischen Soziologie der letzten Jahrzehnte wurde eine solche Theorie im Anschluß an die biologische Evolutionstheorie vorgeschlagen: Auch bei Darwin steht ja die Frage nach der Entstehung neuer Arten im Vorder-grund. Darwins entscheidende Idee war es dabei, nicht mehr zu fragen, wie denn überhaupt etwas Neues entstehen könne, sondern umgekehrt die Entstehung von Variationen als Normalfall zu betrachten: In Vererbungszusammenhängen modi-fizieren sich die Anlagen zwischen den Generationen beständig. Damit diese Än-derungen aber signifikant werden, müssen sie öfter auftreten als nur einmal und zufällig. Und das heißt in Darwins Terminologie: Eine Variation muß selegiert und stabilisiert werden. Erst dann wird sie nicht mehr nur noch zufällig, sondern standardmäßig weitervererbt, so daß man von einer neuen biologischen Art spre-chen kann.

Evolutionstheorie

Man sieht leicht, wie dieses Modell auf die Literaturgeschichte übertragen werden kann: Auch hier weicht ja jedes einzelne Werk zwangsläufig von den vorherge-henden ab – ansonsten würde es kaum Leser finden. Entscheidend ist aber, ob diese Abweichungen von nachfolgenden Werken aufgegriffen werden. Nur wenn weitere Autoren an den Variationsvorschlag, den ein einzelnes Werk gemacht hat, anschließen und ihn wiederholen, wird er zu einem wahrnehmbaren Strukturele-ment, und in der literaturgeschichtlichen Rekonstruktion erscheint so etwas wie eine neue Strömung. Bleibt der Variationsvorschlag unbeachtet, werden wir ihn auch im Rückblick nur als bedeutungslosen Einzelfall betrachten, bzw. eher nicht betrachten, denn im Normalfall werden derartige Einzelabweichungen von der Literaturgeschichte vergessen.

Somit gilt für die Evolutions- wie die Literaturgeschichte dieselbe Logik von Struktur und Ereignis: Jedes einzelne Werk, um bei der Literaturgeschichte zu bleiben, entsteht inmitten des jeweiligen sprachlichen, gesellschaftlichen und äs-thetischen Zusammenhangs seiner Zeit. Nur diese Kontexte geben einem Text überhaupt seinen institutionellen Ort und ermöglichen seine Verstehbarkeit. Zugleich aber sind die einzelnen Werke natürlich nicht vollständig von diesen Kontexten bestimmt, denn diese Kontexte sind ja selbst keine absoluten Gebilde, sondern setzen sich ihrerseits aus den verschiedenen anderen Artikulationsformen und literarischen Werken zusammen. Anders formuliert: So wie jedes Ereignis

Struktur und Ereignis

10 1. Gattungsstrukturen und Epochenbilder

innerhalb einer Struktur entsteht, besteht jede Struktur aus der Menge der Ereig-nisse in ihr. Keines der beiden Elemente ist dem anderen vorgeordnet oder kann unabhängig von dem anderen gedacht werden: Strukturen bedingen Ereignisse ebenso wie umgekehrt. Und genau aus diesem Grund steht es jedem einzelnen Ereignis frei, die Strukturvorgaben bis zu einem gewissen Grad zu variieren. Ge-schieht dies, greift die evolutionstheoretische Logik von Selektion und Stabilisie-rung, und sobald eine Variation stabilisiert wird, betrifft sie nicht nur einzelne Werke, sondern die Struktur als ganze. Wenn sich derart aufgrund der Etablierung einer bestimmten Variation in einer ganzen Serie von Werken zeigt, daß die Er-eignisse die Struktur modifiziert haben, kann man sinnvoll von einer neuen litera-rischen Epoche sprechen.

Epochenbildung ist also ein Prozeß, der innerhalb der kontinuierlichen Abfolge der einzelnen Ereignisse diejenigen Punkte ins Auge faßt, an dem diese Abfolge trotz ihrer Kontinuität zwischen den einzelnen Ereignissen eine Strukturverände-rung beobachtbar macht. Wichtig ist aber festzuhalten, daß diese Strukturverände-rung auf diese Weise tatsächlich nur das Resultat einer solchen Beobachtung – etwa durch einen Literaturwissenschaftler – ist. Im historischen Ablauf folgt Text auf Text und Werk auf Werk, und die Momente, zu denen Schriftsteller offensiv ein neues Zeitalter der Dichtung verkünden, sind eher selten und auch nicht im-mer wirkungsvoll. Epocheneinschnitte ergeben sich meist erst im historischen Rückblick, und sie dienen dabei weniger der Identifikation empirisch identifizier-barer und datierbarer Umbrüche. Sie sind lediglich ein Hilfskonstrukt, mittels des-sen die ansonsten unüberschaubare Masse literarischer Texte gemäß bestimmter Entwicklungskriterien geordnet werden kann. Epochen sind damit heuristische Begriffe, daß heißt sie dienen der wissenschaftlichen Arbeit, ohne daß man dabei an ihre von dieser Arbeit unabhängige ‚Wahrheit‘ oder ‚Existenz‘ glauben muß (bzw. darf). Es handelt sich um Hilfskonstruktionen, ohne die wir allerdings im Dickicht der Texte und historischen Überlieferungen nicht nur orientierungslos wären, sondern auch Schwierigkeiten hätten, uns untereinander über die jeweilige Analyse und Einschätzung eines literarischen Textes zu unterhalten: Hinsichtlich dieser Dimension eines Dialogs über Texte bilden Epochen eine gemeinsame Matrix, auf die sich Literaturwissenschaftler beziehen, auch wenn dieser Bezug oft kritisch ausfällt. Erst, wenn diese Kritiken sich aber häufen und konsensfähig werden, wird sich die Struktur dieser Matrix dahingehend verschieben, daß ein neues Modell der Epochenabfolge etabliert wird. Insofern also auch die Debatte über Epochen selbst der evolutionären Logik von Struktur und Ereignis folgt, ge-hört auch eine historische Analyse des jeweiligen Epochenverständnisses in den verschiedenen Epochen zu den Aufgaben der Literaturwissenschaft.

Heuristische Konzepte

1.2 Epochen und Gattungen 11

Hierzu gehört zunächst die systematische Unterscheidung der vier Hauptansätze nach denen in der Literaturwissenschaft Epochenbegriffe gebildet werden4: Ers-tens politik- und sozialgeschichtliche Ansätze, bei denen, wie in unserem fiktivem Anfangsbeispiel mit der Französischen Revolution, markante Daten der Ereignis-geschichte als Ausgangspunkt für die Begriffsbildung dienen. Ein Beispiel für diese Art der Begriffsbildung ist die Epoche Vormärz (1830-1848), die ihren Na-men im Anschluß an das politische Engagement der Literatur im Kontext der so-genannten Märzrevolution erhalten hat. Zweitens geistes-, ideen und mentalitäts-geschichtliche Ansätze bei denen die Entwicklung bestimmten Gedankengutes, einer bestimmten Bewußtseinshaltung oder eines bestimmten Zeitgeistes als Aus-gangspunkt für Begriffsbildung dient. Beispiele für Epochenbegriffe, die nach diesen Ansätzen gebildet wurden sind u.a. Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Romantik und Dekadenz. Drittens stilgeschichtliche Ansätze, deren Ausgangspunkt vermeintlich allen Texten einer Epoche gemeinsame Stilmerkma-le sind. Barock, Symbolismus, Jugendstil und Expressionismus sind Beispiele für Epochenbezeichnungen, die auf stilistische Besonderheiten zurückzuführen sind. Viertens und letztens annalistische Ansätze, die möglichst neutrale numerisch-kalendarische Epochenbezeichnung wählen wie Fin de siècle, Jahrhundertwende oder Gegenwartsliteratur. Auch wenn diese Epochenbegriffe zunächst unabhängig von gemeinsamen stilistischen und geistes-, ideen und mentalitätsgeschichtlichen Gemeinsamkeiten der jeweiligen Texte gebildet werden, sind mit ihnen dennoch häufig solche Epochencharakteristika verbunden. Für alle vier vorgestellten An-sätze gilt, daß weder Autoren noch Texte prinzipiell auf eine Epoche zu verrech-nen sind. So umfaßt Goethes Lebens- und Schaffenszeit (1749-1832) die übli-cherweise unterschiedenen Epochen von Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Klassik und Romantik und sein Roman Die Wahlverwandtschaften aus dem Jahr 1809 weist entsprechend sowohl Merkmale der Klassik als auch der Romantik auf. Zudem entsprechen die literarischen Epochenbegriffe zwar zum Teil den E-pochenbezeichnungen in anderen Künsten, können sich aber dennoch diesen ge-genüber nicht nur in ihrer zeitlichen Zuordnung, sondern auch in der inhaltlichen Füllung unterscheiden. Hinzu kommt, daß in anderen Nationalphilologien die Begriffe anderes besetzt sind und auch zeitlich verortet werden, was sich zum Beispiel am Gegensatz des englischen oder französischen Realismus zum spezi-fisch deutschen, bürgerlichen oder poetischen Realismus zeigen ließe. Schließlich kann sich je nachdem, welcher der vier Hauptansätze zur Begriffsbildung gewählt wird, aber auch aufgrund unterschiedlicher Begriffsbildungen innerhalb eines An-satzes, für einen bestimmten Zeitraum eine Reihe unterschiedlicher Epochenbeg-riffe ergeben. So finden sich für die Zeit um 1900 in der Literaturgeschichts-schreibung so unterschiedliche Epochenbezeichnungen wie Jahrhundertwende, Fin de siécle, Symbolismus, Jugendstil, Dekadenz und Klassische Moderne, die sich eben ganz oder teilweise zeitlich und inhaltlich überlappen.

politische, geistesge-schichtliche, stilistische und annalistische Epo-cheneinteilungen

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4 Vgl. hierzu auch: Jost Schneider: Einführung in die moderne Literaturwissenschaft, Bielefeld 1998, S. 115ff.

12 1. Gattungsstrukturen und Epochenbilder

In der deutschen Literaturgeschichte werden im allgemeinen für die moderne Lite-ratur folgende Großepochen voneinander unterschieden: Epochenüberblick

Empfindsamkeit (1740-1780)

Sturm und Drang (1765-1785)

Klassik (1785-1832)

Romantik (1795-1840)

Vormärz (1830-1848)

Realismus (1848-1890)

Naturalismus (1880-1900)

Klassische Moderne (1890-1918)

Literatur der Weimarer Republik (1918-1933)

Exilliteratur (1933-1945)

Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur (seit 1945 bis heute)

Sie alle werden im Rahmen dieser Einführung in fünf exemplarischen Vorlesun-gen weiter zu differenzieren und zu vertiefen sein.5 Problematisch an einer sol-chen Übersichtsdarstellung ist allerdings, daß sie Vollständigkeit und lückenlose Abfolge suggeriert, es de facto aber, wie Sie bereits den Jahreszahlen in Klam-mern entnehmen können, immer wieder zu Überschneidungen kommt und zudem in einer solchen vereinfachenden Übersichtsdarstellung noch eine ganze Reihe von weiteren Epochen ausgespart bleiben müssen, wie z.B. Biedermeier, Expres-sionismus und Neue Sachlichkeit, um nur drei exemplarisch zu nennen.

1.2.2 Gattungsfunktionen

Die voranstehenden Ausführungen zur Epochenbildung tragen auch zum Ver-ständnis der Funktion von Gattungen innerhalb der Literaturgeschichte bei. Denn ebenso, wie man von einer Epoche spricht, wenn man einen strukturellen Zusam-

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5 Es wird dabei im Rahmen dieser Kurseinheit nicht möglich sein, auf die unterschiedlichen Strömungen der internationalen Literatur einzugehen. Daß aber Epochen wie die Aufklärung, die Romantik oder die literarische Moderne nur im europäischen Kontext zu verstehen sind während andere, wie z.B. im Fall der französischen und deutschen Klassik, extreme Zeitab-stände voneinander aufweisen, sei zumindest angemerkt.

1.2 Epochen und Gattungen 13

menhang zwischen den einzelnen Werken eines bestimmten Zeitraums meint, so spricht man von Gattungen, wenn man strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Werken auf der formalen Ebene in den Blick nimmt. Die Logik von Struktur und Ereignis greift auch hier, insofern jedes Einzelwerk vor dem Hintergrund eines bestehenden Gattungsverständnisses verfaßt wird, gleichzeitig aber auch zur Modifikation dieses Gattungsverständnisses beitragen kann.

Dieser Zugang unterscheidet sich allerdings von einem herkömmlichen Gattungs-begriff, der davon ausgeht, daß die Literatur in mehrere klar definierbare Textsor-ten zerfällt, und der sich bis in die Antike zurückverfolgen läßt: Schon die klassi-sche Rhetorik kennt mit ihren drei Redegattungen (genera dicendi) feste Textmus-ter, deren jeweils unterschiedliche Gestalt durch den jeweiligen pragmatischen Kontext des Vortrags bestimmt werden: die Gerichtsrede, die politische Rede und die Festrede. Diese drei Redegattungen sind insbesondere durch das jeweilige Stilniveau unterschieden, das dem Anlaß angemessen von niedrig über mittel zu hoch changiert – die Festrede ist diejenige Gattung, in der elaborierter Wort-schmuck und reiche Metaphorik am ehesten am Platz sind.

Redegattungen

Diese rhetorische Niveaudifferenzierung ist literaturgeschichtlich insofern rele-vant, als sie in eine der Grundlagenschriften der abendländischen Dichtungstheo-rie, Aristoteles’ Poetik, einfließt. Aristoteles ordnet hier den ‚hohen‘ Stil der Tra-gödie und den ‚niederen‘ der Komödie zu und begründet damit eine bis ins 18. Jahrhundert hinein zu verfolgende Tradition, derzufolge bestimmte Stoffe (z.B. Konflikte an einem Königshaus) nach Darstellungsformen verlangen, die ihrer Bedeutung angemessen sind, während andere (z.B. die Wirrungen des Alltags) vergleichsweise schlicht zu halten sind.

Dramenformen

Vor allem aber grenzt Aristoteles von den dramatischen Dichtungsformen Tragö-die und Komödie weitere ab: zunächst die Epik und dann, deutlich nachgeordnet, die Dithyrambendichtung sowie das Flöten- und Zitherspiel.6 Diese Auflistung zeigt deutlich, wie wenig das Gattungsverständnis der Antike mit unserem heuti-gen zur Deckung zu bringen ist – was in erster Linie daran liegt, daß das Kunst-verständnis der Zeit noch nicht so eindeutig ausdifferenziert ist, daß man, wie wir es heute tun, deutlich zwischen Literatur und Musik unterscheiden könnte. Sobald diese Unterscheidung und damit der moderne Begriff der Literatur etabliert waren, konnte Aristoteles’ Gattungsmodell zu den drei Grundformen modifiziert werden, die bis heute geläufig sind: Epik, Lyrik und Dramatik.

Epik, Lyrik, Drama

Wenn man dabei vom Epischen, Lyrischen und Dramatischen spricht, bezeichnet man Elemente von Texten, die sich tatsächlich immer nachweisen lassen. Im 18. und 19. Jahrhundert aber zielte die Rede von Epik, Lyrik oder Dramatik auf feste Formen, die fixiert und klassifiziert wurden. Johann Wolfgang Goethe spricht in diesem Zusammenhang von den drei „Naturformen der Dichtung“ und schreibt

Naturformen der Dichtung

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6 Aristoteles: Poetik, dt. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 5.

14 1. Gattungsstrukturen und Epochenbilder

1819: „Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik, Drama.“7 Ähnliche Klassifizierungen lassen sich von G.W.F. Hegels Vorlesungen zur Äs-thetik bis zu Emil Staigers Grundbegriffe[n] der Poesie (1946) nachweisen. Die drei Naturformen werden dabei als anthropologisch fundierte Aussageweisen des Menschen begriffen und erscheinen daher gewissermaßen als naturgegeben und unwandelbar.

Skeptisch gegenüber einem solchen stabilen triadischen Gattungsmodell wird man allerdings bereits, wenn man Goethes Definition an der zitierten Stelle weiterliest: „So wunderlich sind diese Elemente zu verschlingen, die Dichtarten bis ins un-endliche mannigfaltig; und deshalb auch so schwer eine Ordnung zu finden, wo-nach man sie neben- oder nacheinander aufstellen könnte.“8 Goethe sieht hier das Problem, daß sich die Wirklichkeit nicht um die Rasterungen ihrer Theorie schert, sehr deutlich. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als insbesondere in der romanti-schen Literatur das Spiel mit Gattungsgrenzen immer populärer und der Roman als modernes Medium der Gattungsmischung gefeiert wird, läßt sich ein solches statisches Gattungsmodell kaum aufrechterhalten.

Gattungsgeschichte

Aber auch die einzelnen Gattungen sind in sich nicht so fixierbar, wie es anthro-pologische Modelle suggerieren: Unter Lyrik versteht man heute etwas ganz ande-res als noch im 17. Jahrhundert, das Drama wurde im 20. Jahrhundert um Formen erweitert, die sich nicht mehr unter die aristotelischen Prinzipien der Nachahmung oder der Handlung subsumieren lassen (denkt man etwa an Beckett oder Brecht), und die erzählenden Textformen zerfallen in so viele Genres und Subgenres, daß sie kaum noch wie eine einheitliche Gattung erscheinen. Aus diesem Grund ist auch das hier einleitend als systematische Kategorie vorgestellte Konzept der Gat-tungen historisch zu betrachten und „Gattungspoetik als Gattungsgeschichte“ zu betreiben.9

Aus einer solchen historischen Perspektive zeigen sich dann die Parallelen zwi-schen der Funktion von Gattungen und Epochen: Wie diese macht auch die Theo-rie der Textsorten ein Angebot zur Strukturierung der ansonsten unüberschauba-ren literarischen Produktionen. Gattungen sind also nicht als solche ‚existent‘, sondern übernehmen eine spezifische Funktion für die Betrachtungsweise von Literatur: Sie ordnen den historischen Bestand und etablieren Kriterien der Wie-dererkennbarkeit für neue Werke.

Gattungsfunktionen

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7 Johann Wolfgang Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe Bd. 2, hg. v. Erich Trunz. München 1982, S. 126-267, hier S. 187.

8 Ebd., S. 188. 9 Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. In: Walter Hinck (Hg.):

Textsortenlehre – Gattungsgeschichte. Heidelberg 1977, S. 27-44, hier S. 27.

1.2 Epochen und Gattungen 15

Der Literaturwissenschaftler Wilhelm Voßkamp hat daher vorgeschlagen, Gattun-gen als literarisch-soziale Institutionen zu begreifen. Dieser institutionelle Charak-ter bedeutet zunächst einmal, daß die Gattungsdefinitionen in der Weise allge-meingültig und bekannt sind, daß sich Verfasser und Leser von Texten gleicher-maßen auf sie beziehen, wenn sie Literatur produzieren oder rezipieren. Das heißt nicht, daß ein explizites ‚Regelwerk‘ existieren muß. Vielmehr ergibt sich die Verbindlichkeit des jeweiligen Gattungsverständnisses einer Zeit daraus, daß Au-toren wie Leser es immer wieder bestätigen (genau so, wie Strukturen durch Er-eignisse konstituiert werden). Dort, wo der Text eine feste Form gewinnt, einem Textschema folgt und seine Sprecher- und Hörerrolle festschreibt, dort nimmt er eine institutionelle Funktion ein: „Wir sind über einen Text orientiert, wenn wir über sein Textschema orientiert sind und damit zugleich über die Verbindlichkeit, die dieses Textschema als eine Art gesellschaftlicher Konvention in der Welt der unmittelbaren Handlungen hat.“10

Gattungsinstitutionen

Entscheidend ist nun aber auch hier, daß diese Konventionen nicht unwandelbar sind. Vielmehr kann ja jedes einzelne Werk sowohl als Bestätigung der institutio-nalisierten Konvention angelegt sein als auch gezielt von dieser abweichen. Voß-kamp nennt diesen Zusammenhang die „wechselseitige Komplementarität von Gattungserwartungen und Werkantworten“11: Ein Werk kann den geltenden Strukturen entsprechen und auf diese Weise die Erwartungen der Leser bestätigen. Oder es kann von diesen Strukturen abweichen und also die Leseerwartungen ent-täuschen. Eben diese Enttäuschung aber ist es, die – analog zur oben vorgestellten evolutionstheoretischen Logik – literaturhistorisch produktiv wird. Wenn der Ro-man im 18. Jahrhundert die Erwartung, daß er von stereotypen Charakteren er-zählt, nicht bestätigt, indem er mit einem Mal mittels psychologischer Innenschau die subjektive Entwicklungsgeschichte von Individuen zum Gegenstand wählt, so liegt in dieser Abweichung vom Gattungsschema eine entscheidende Innovation der Gattung: Die Romane am Ende des 18. Jahrhunderts reagieren auf eine gesell-schaftliche Erwartung des erstarkenden Bürgertums und werten diese höher als die Erwartungen innerhalb des Literatursystems. Wenn auf diese Weise – vor al-lem in Gestalt von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) – eine neue Romangattung entsteht, so wiederholt sich anschließend der beschriebene Prozeß: Im 19. Jahrhundert ist es der Bildungsroman, der den Leseerwartungen von Ro-manlesern zugrundeliegt, und es ist an den Romanautoren, diese Erwartungen zu bestätigen oder durch neue Romanformen – etwa das Erzählmuster einer Famili-enchronik in Thomas Manns Buddenbrooks (1900) – zu durchbrechen.

Erwartung und Antwort

Dieser Prozeß der Gattungsevolution soll später weiter vertieft werden. Für seine gattungs- wie epochentheoretische Grundlage ist die Einsicht entscheidend, daß

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10 Karlheinz Stierle: Die Einheit des Textes. In: Funk-Kolleg Literatur, hg. v. Helmut Brackert u. Eberhard Lämmert. Bd. 1. Frankfurt/M. 1982, S. 168-187, hier S. 176.

11 Voßkamp (wie Anm. 10), S. 30

16 1. Gattungsstrukturen und Epochenbilder

die Literatur sich sowohl aus historischer wie aus systematischer Perspektive in-nerhalb der Logik von Struktur und Ereignis entwickelt, und daß man diese Logik als Relation zwischen Erwartung und Antwort beschreiben kann: Literarische Werke entstehen immer in Auseinandersetzung mit ihren Vorläufern oder ganzen Traditionslinien.12 Gleichzeitig muß jedes dieser Werke aber einen erkennbaren Unterschied zu diesen Vorläufern und Traditionslinien aufweisen, wenn es nicht als bloßes Plagiat und mithin langweilig gelten will.13 Das heißt, daß Literatur immer zugleich in Kontinuität mit der Literaturgeschichte stehen (um überhaupt als Literatur erkennbar zu sein) und von dieser Literaturgeschichte abweichen muß (um als ‚originell‘ und ‚innovativ‘ zu gelten).

Innerhalb dieses produktiven Spannungsverhältnisses stellen Epochen und Gat-tungen den Rahmen dar, der die kontinuitätsorientierten Erwartungen formuliert und die Folie abgibt, vor deren Hintergrund die Abweichungen von diesen Erwar-tungen registriert werden können. Abweichungen, die wiederholt auftreten, kön-nen kanalisiert und etabliert und anschließend selbst wieder norm- und erwar-tungsbildend (und also auch: Gegenstand neuerlicher Abweichungen) werden. Das gilt für Gattungen ebenso wie für Epochen, insofern man zeigen könnte, daß jede neue Epoche sich in Abgrenzung zur Vorgängerepoche konstituiert und sich dabei ein mehr oder weniger regelmäßiger Konjunkturzyklus von Traditionalis-mus und Modernität ausbildet: So wie der Sturm und Drang die Normen der Re-gelpoetik durchbricht, reetabliert die Klassik neue Formgesetze, die dann wieder von den Romantikern abgelehnt werden usf. Welche Abweichungen man aber als neues Epochenbild oder Gattungsmodell bezeichnet und welche nicht, bleibt letzt-lich dem retrospektiven Blick der Literaturgeschichte überlassen.

Literaturhinweise

Brenner, Peter J.: Neue deutsche Literaturgeschichte. Tübingen 2004.

Gumbrecht, Hans-Ulrich/Link-Heer, Ursula (Hg.): Epochenschwellen und Epo-chenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Frankfurt/M. 1985.

Horn, András: Theorie der literarischen Gattungen. Ein Handbuch für Studierende der Literaturwissenschaft. Würzburg 1998.

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12 Der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom hat in diesem Zusammenhang sogar von einer anxiety of influence gesprochen, die darin resultiere, daß Autoren sich stets von ihren übermächtigen Vorgängern ‚freizuschreiben‘ versuchen.

13 Der argentinische Autor Jorge Borges hat diese Notwendigkeit in seiner Erzählung Pierre Menard, Autor des Don Quichotte anschaulich vor Augen geführt, wenn er einen Schriftstel-ler imaginiert, dessen literarische Leistung darin besteht, Cervantes’ Roman Wort für Wort noch einmal zu schreiben.

1.2 Epochen und Gattungen 17

Martini, Fritz: Literarische Form und Geschichte. Aufsätze zu Gattungstheorie und Gattungsentwicklung vom Sturm und Drang bis zum Erzählen heute. Stutt-gart 1984.

Volhardt, Fritz/Peter Strohschneider (Hg.): Themenheft „Epochen“. Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 49 (2002), Nr. 3

Voßkamp, Wilhelm: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. In: Walter Hinck (Hg.): Textsortenlehre – Gattungsgeschichte. Heidelberg 1977, S. 27-44

Voßkamp, Wilhelm: Gattungen. In: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, hg. v. Helmut Brackert und Jörn Stückrath, Reinbek 1992, S. 253-269.

Wagenknecht, Christian (Hg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Stutt-gart 1989.

Zymner, Rüdiger: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissen-schaft. Paderborn 2003.

18 2. Modelle der Literaturgeschichtsschreibung

2. Modelle der Literaturgeschichtsschreibung

Der am Ende des voranstehenden Kapitels erwähnte retrospektive Blick der Lite-raturwissenschaft, der die literaturhistorischen Zusammenhänge allererst erschafft, ist als eine solche standortgebundene Rekonstruktionsleistung stets von den zu einer bestimmten Zeit vorherrschenden literaturtheoretischen Überzeugungen ge-prägt. Um diese unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten der Literaturgeschichte zu veranschaulichen, soll nun ein Überblick über wichtige Stationen der Litera-turgeschichtsschreibung und ihre besonderen Ziele und Absichten gegeben wer-den. Das Augenmerk liegt dabei vor allem auf der Ideologiegebundenheit (wie auch immer verdeckt sie daherkommen mag) der verschiedenen Ansätze: Wissen wird nicht interesselos produziert, auch nicht literaturgeschichtliches. Der Litera-turhistoriker folgt bestimmten Prämissen, wählt dieses aus, läßt jenes weg, nimmt Gewichtungen vor und versucht immer auch so etwas wie einen überzeitlichen Sinnzusammenhang zu konstruieren. Dessen sollten sich die LeserInnen von Lite-raturgeschichte(n) bewußt sein, damit sie immer auch kritische Distanz halten können.

Ideologiegebunden-heit

2.1 Die akademische Literaturgeschichtsschreibung

(von Henning Herrmann-Trentepohl)

2.1.1 Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung im 19. und der ers-ten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Der Literaturwissenschaftler Jürgen Fohrmann hat dargelegt, wie seit dem 19. Jahrhundert das Schreiben von Literaturgeschichte als sozusagen nationales Er-ziehungsprojekt verstanden wurde.14 Bereits der erste moderne Literarhistoriker, Georg Gottfried Gervinus, wandte sich in seiner Geschichte der poetischen Natio-nalliteratur der Deutschen, 1835-1842 an die Nation, der er, wenn sie auch poli-tisch zerstückelt war, wenigstens ein einheitlich geistig-literarisches Fundament zu geben versuchte.

Literaturgeschichte als nationales Projekt

[Es] scheint doch endlich einmal Zeit zu sein, der Nation ihren gegenwärtigen Wert begreif-lich zu machen, ihr das verkümmerte Vertrauen auf sich selbst zu erfrischen, ihr neben dem Stolz auf ihre ältesten Zeiten Freudigkeit an dem jetzigen Augenblick und den gewissesten Mut auf die Zukunft einzuflößen. Dies aber kann nur erreicht werden, wenn man ihr die Ge-schichte bis auf die neuesten Zeiten vorführt, wenn sie aus ihr und der vergleichenden Ge-schichte anderer Völker sich selbst klargemacht wird. [...] Keine politische Geschichte, wel-che Deutschlands Schicksale bis auf den heutigen Tag erzählt, kann je eine rechte Wirkung

_________________________________________________ 14 Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern

einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und deutschem Kaiser-reich. Stuttgart 1989.

2.1 Die akademische Literaturgeschichtsschreibung 19

haben, denn die Geschichte muß, wie die Kunst, zu Ruhe führen, und wir müssen nie von ei-nem geschichtlichen Kunstwerke trostlos weggehen dürfen. Den Geschichtskünstler möchte ich doch sehen, der uns von einer Schilderung des gegenwärtigen politischen Zustandes von Deutschland getröstet zu entlassen verstände. Die Geschichte der deutschen Dichtung dage-gen schien mir mit ihrer inneren Beschaffenheit nach ebenso wählbar als ihrem Werte und unserem Zeitbedürfnis nach wählenswert. Sie ist, wenn anders aus der Geschichte Wahrhei-ten zu lernen sind, zu einem Ziele gekommen, von wo aus man mit Erfolg ein Ganzes über-blicken, einen beruhigenden, ja einen erhebenden Eindruck empfangen und die größten Be-lehrungen ziehen kann.15

Die Dichtung seiner eigenen Zeit empfand er als defizitär: „Unsere Dichtung hat ihre Zeit gehabt, und wenn nicht das deutsche Leben stillstehen soll, so müssen wir die Talente, die nun kein Ziel haben, auf die wirkliche Welt und den Staat locken, wo in neue Materie neuer Geist zu gießen ist.“16 Mit diesen für den heuti-gen Leser kaum noch nachvollziehbaren Schlußfolgerungen folgte Gervinus nur einem geschichtstheoretischen Topos, der sich schon in Hegels Ästhetik mit dem Diktum vom „Ende der Kunstperiode“ (nach Goethes Tod) und noch bei Oswald Spengler findet, der in seiner immens einflußreichen zweibändigen Abhandlung Der Untergang des Abendlandes (1918/22) der Jugend empfiehlt, nicht mehr Künstler, sondern Ingenieure zu werden. Hintergrund ist hier die besondere Ge-schichte der deutschen, als der sogenannten „verspäteten Nation“17. Nachdem es in der Zeit um 1800 durch die Dichter und Denker zur ästhetischen Erfindung der Nation als Kulturnation gekommen war, weil angesichts der deutschen Kleinstaa-terei die einheitliche politische Gestalt einer Staatsnation fehlte, setzten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Reichsgründung Bemühungen ein, aus der Kulturnation nun endlich auch eine Staatsnation zu machen und so den natio-nalen Gedanken nicht nur kulturell, sondern auch endlich politisch zu verwirkli-chen.

Das von Jürgen Fohrmann beschriebene nationale „Projekt“ läßt sich aber in teil-weise noch radikalisierter Form bis weit ins 20. Jahrhundert hinein verfolgen. Ne-ben die so immer schon politische Ausrichtung treten, vielleicht auch als Reaktion auf das fragwürdig begründete Genauigkeitsideal der akademischen Literaturge-schichtsschreibung, dann zunehmend auch irrationale, besonders rassisch geprägte bzw. rassistische Argumentationsmuster. Das läßt sich etwa am Werk des Germa-nisten Josef Nadler verfolgen. Seine 1912-1918 erschiene Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften beschrieb die Entwicklung des deutschen Volkes noch als eine Geschichte der Rassenvermischung. Aber in der vierten Auf-lage, die 1938-1941 unter dem neuen Titel Literaturgeschichte des deutschen Vol-

Völkische Literaturge-schichtsschreibung

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15 Georg Gottfried Gervinus, Geschichte der poetischen Nationallitteratur der Deutschen. Dritte umgearbeitete Ausgabe. Leipzig 1835-1842, S. 9 f.

16 Georg Gervinus: Neuere Geschichte der poetischen National-Literatur. Th 1. Leipzig 1840, S. VII.

17 Vgl. hierzu: Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes Stuttgart 1959.

20 2. Modelle der Literaturgeschichtsschreibung

kes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften erschien, beschwört Nadler entgegen aller Blutsvermischung die letztendliche Durchset-zung der nordisch-germanischen Rasse, worin sich eine deutliche Radikalisierung hin zu einer völkischen Literaturgeschichtsschreibung zeigt. Während es Nadler in der ersten Auflage noch darum ging, die Entstehung von Literatur in ihren regio-nalen Kontexten zu beschreiben und so, gerade auch als Österreicher, eine Gegen-position zu preußisch-großdeutschen Geschichtsentwürfen zu beziehen, vertritt dieser in der letzten Auflage zunehmend auch antisemitische Positionen, denn durch die (längst nicht mehr nur literarisch verstandene)‚Vermischung’ des Deut-schen mit dem Jüdischen seit dem 17. Jahrhundert, sei die Reinheit des deutschen Volkes bedroht:

Man sah das bisher eingekapselte Gastvolk langsam in den Körper des Wirtes zerfließen, eine Wirklichkeit, gegen die es keine Abwehr gab. Während das fremde unerwünschte Blut von Altersstufe zu Altersstufe immer tiefer in den Volkskörper drang nach den unentrinnbaren Gesetzen der Ahnentafel, rief man gegen das Schicksal den Willen auf. Aber so wenig der Einzelne für sich Glied eines anderen Volkes werden kann, so wenig läßt das Blut sich aus-stoßen, das uns in den Leib gezeugt wurde. Wird die Tragik dort durch den Wunsch ausge-löst, so hier durch den Widerstand. Ein Volk, das keinen inneren Widerwillen empfindet, wird Blutmischung niemals tragisch nehmen, sondern nur eines, das bleiben will, was es ist, und vom Schicksal gezwungen wird, zu werden, was es nicht sein will.18

Deutlich zeigt sich hier die Gleichschaltung des Literaturwissenschaftlers Nadler im Kontext der rassischen Ideologie des totalitären NS-Staates. Allerdings eckte Nadler schon wegen seines Katholizismus auch immer wieder beim herrschenden Regime an und galt keineswegs als linientreuer Nationalsozialist.

Ohne die wissenschaftlichen Meriten Nadlers, der sich immerhin als Herausgeber und Biograph Hamanns hervorgetan hat und sogar von bekannten Autoren wie Hugo von Hofmannsthal (der selbst jüdischer Abstammung war) geschätzt wurde, aber noch wesentlich antisemitischer gab sich der Literarhistoriker Adolf Bartels (1862-1945) in seiner Geschichte der deutschen Literatur, erschienen 1901/02. Auch er betrachtet die Literatur als „Spiegelbild“ des deutschen Wesens und der deutschen Kultur, deren Dominanz und Überlegenheit sich u.a. darin zeige, daß die deutsche Literatur Vorgängerin aller anderen nationalen literarischen Entwick-lungen sei:

Antisemitismus

Welche neuere europäische Nation hat noch ein wirkliches Volksepos auf mythischer Grund-lage wie wir Deutschen? Bei welcher fände sich ein Volksschriftsteller wie Luther? Bei wel-cher ein universaler Poet wie Goethe? Aber selbst minder bedeutende Erscheinungen sind oft von überraschender Selbständigkeit und viel früher da als die verwandten Erscheinungen bei anderen Nationen. So gibt Grimmelshausen, mag er immerhin von dem spanischen Schel-menroman angeregt sein, den ersten psychologischen Entwicklungsroman, lange vor Lasage und Fielding, und nimmt sogar die Robinsonade vorweg, so schreibt Lessing, ob er auch von

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18 Joseph Nadler: Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deut-schen Stämme und Landschaften, Bd. 1, Berlin 1939; S. 7.

2.1 Die akademische Literaturgeschichtsschreibung 21

Diderot und den Engländern Einflüsse erfahren hat, die erste wirklich moderne Tragödie (‚Emilia Galotti‘), so begründet Jeremias Gotthelf im letzten Jahrhundert den Naturalismus und die Heimatkunst, und Friedrich Hebbel schafft lange vor Ibsen das Problemdrama – von so allgemeinen in Deutschland entstehenden und dann ganz Europa nach sich ziehenden Be-wegungen wie die Romantik ganz abgesehen. [...] Das ist die große Ursprünglichkeit der deutschen Dichtung, die zuletzt auf die unverändert starke Wirkung des germanischen Blutes zurückzuführen ist.19

Und um die Stärkung und Reinhaltung dieses „germanischen Blutes“, geht es Bar-tels letztlich auch mit seiner Literaturgeschichtsschreibung. Entsprechend umreißt er die Funktion seines Werkes im Vorwort wie folgt: „[Ich mußte] jede Gelegen-heit benutzen, den Stolz auf unser deutsches Volkstum zu stärken und das natio-nale Gewissen zu schärfen – ist doch vielleicht die Zeit nahe, wo deutsche Natur und Kultur die letzte und schwerste Probe zu bestehen haben wird.“20 Wovon dabei das deutsche Blut und die deutsche Literaturgeschichte gereinigt werden muß, daran läßt Bartels keinen Zweifel, wenn er z.B. Heinrich Heine als „ver-bummelte[n] freche[n] kleine[n] deutsche[n] Jude[n]“ charakterisiert oder aber im Vorwort der dritten und vierten Auflage von 1904 gegen seine ‚jüdischen‘ Kriti-ker polemisiert: „Unser geistiges Leben darf nicht den Geschäftsinteressen einer fremden Rasse ausgeliefert werden.“21 Bartels ist nur ein weiteres von vielen Bei-spielen dafür, daß die grundlegenden Ideen der NS-Ideologie in ihren wesentli-chen Teilen u.a. in der Germanistik22 bereits lange vor 1933 vorlagen und nur noch in Details angepaßt werden mußten.

Auch ohne dabei offen antisemitisch oder nationalsozialistisch zu sein, konzent-rierte man sich in der Geistesgeschichte schon vor 1933 auf große Einzelpersön-lichkeiten, in denen sich nicht zuletzt der Geist der Nation manifestieren sollte und nach denen man entsprechend gleich ganze Epochen benannte. In seinem vierbändigen Monumentalwerk Der Geist der Goethezeit (erschien 1914-1954) versucht Hermann August Korff „die Darstellung der Zeit von 1770-1830 als ei-ner der großen, in sich zusammenhängenden geistesgeschichtlichen Einheit und einer aus sich selber folgenden Entwicklung eben jenes Geistes, den es als ‚Geist der Goethezeit‘ bezeichnet.“23 Auch ausländische Autoren suchte man in diesem Sinne für das deutsche Geistesleben zu vereinnahmen (wie etwa Friedrich Gun-dolf mit seinem auch kommerziell höchst erfolgreichen Buch Shakespeare und der deutsche Geist, zuerst erschienen 1911).

Geistesgeschichte

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19 Adolf Bartels: Geschichte der deutschen Literatur [1901/1902], 5. u. 6. Aufl., Leipzig 1909, S. 7 f.

20 Ebd., S. VII. 21 Ebd., S. X. 22 Vgl. hierzu: Eberhard Lämmert/Walter Killy/Karl Otto Conrady: Germanistik. Eine deutsche

Wissenschaft. Frankfurt 1967. 23 Hermann August Korff: Der Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der

klassisch-romantischen Literaturgeschichte. 4 Bde. Leipzig 1923-1953. Bd. 1, S. V.

22 2. Modelle der Literaturgeschichtsschreibung

2.1.2 Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung nach 1945

Nachdem die Germanistik insgesamt, besonders aber die so skizzierte Tradition der Literaturgeschichtsschreibung von der zweiten Hälfte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, wegen ihrer ideologischen nationalen Ausrichtung nach 1945 in die Kritik geriet, war deren grundlegende Revision nötig.

Der Romanist Hans Robert Jauß hat in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung Lite-raturgeschichte als Provokation24 nahezu alle systematischen Einwände gegen die klassische Literaturgeschichtsschreibung diskutiert: die Konzentration auf die Höhenkammliteratur und die Vernachlässigung vieler, nicht als ‚kanonisch‘ ange-sehener Autoren - und das alles noch im Dienste eines sich ‚national‘ gebenden Standpunktes – all dies habe dazu geführt, daß die Literaturgeschichte ihr Dasein als „Pflichtpensum des Gymnasialunterrichts“ und als Quelle für „literarische Quizfragen“25 friste. Die von Jauß und dem Anglisten Wolfgang Iser formulierte „Rezeptionsästhetik“ privilegiert dagegen den Leser als maßgebliche sinnbildende Instanz, entsprechend erscheint auch die Literaturgeschichte vom Leser als ent-scheidender Größe mitbestimmt.

Rezeptionsästhetik

Im Dreieck von Autor, Werk und Publikum ist das letztere nicht nur der passive Teil, keine Kette bloßer Reaktionen, sondern selbst wieder eine geschichtsbildende Energie. Das ge-schichtliche Leben des literarischen Werks ist ohne den aktiven Anteil seines Adressaten nicht denkbar. […] Die Geschichtlichkeit der Literatur wie ihr kommunikativer Charakter setzten eine dialogisches und zugleich prozeßhaftes Verhältnis von Werk, Publikum und neu-em Werk voraus, das sowohl in der Beziehung von Mitteilung und Empfänger wie auch in den Beziehungen von Frage und Antwort, Problem und Lösung erfaßt werden kann.26

Im Spannungsfeld von Autor, Werk und Leser, von Epochen- wie Gattungskon-vention, Erwartungshaltung der Leser, Innovationen der Autoren und deren An-nahme oder Ablehnung durch das Publikum, konstituiert sich so aus Perspektive der die Rezeptionsästhetik allererst die Literaturgeschichte in einem wechselseiti-gen Prozeß. Darin liegt aber zugleich eine Provokation gegenüber der Literatur-wissenschaft, die lange Zeit glaubte Literaturgeschichte unabhängig von den Le-sern und ihren Vorlieben (Stichwort: Trivialliteratur) schreiben zu können. In die-ser neuartigen Verbindung von Literaturtheorie und Literaturgeschichte kann die

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24 Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/M. 1970, S. 144-207. Vgl. auch: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Rainer War-ning (Hg.): Rezeptionsästhetik. 4. Auflage. München 1994, S. 126-162.

25 Jauß, (wie Anm. 24), 144. 26 Ebd., S. 169.

2.1 Die akademische Literaturgeschichtsschreibung 23

Rezeptionsästhetik, neben dem sozialgeschichtlichen Paradigma, als zweiter er-folgreicher theoretischer Neuansatz nach 1945 gelten.27

Im Zuge der zunehmenden Politisierung nach 1968 waren die ‚großen Persönlich-keiten‘ verpönt: zu oft hatte man politischen Mißbrauch mit ihnen getrieben. So entstanden unter dem Paradigma der Sozialgeschichte nicht nur die mehrbändige Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart in der DDR, sondern auch, ebenfalls mehrbändige Literaturgeschichten bei den west-deutschen Verlagen Hanser28 und Rowohlt29. Im Vorwort zur ersten Auflage der Deutschen Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart30 reflektie-ren die Autoren über die methodisch-ideologischen Grundlagen des Werks:

Sozialgeschichte

Literatur als Produkt der allgemeinen Geschichte und zugleich als spezifisch wirkender ge-schichtlicher Faktor speichert in ihren Texten historische Erfahrung, dies jedoch nicht als bloßes Dokument von etwas, das einst gewesen ist, sondern als ein Potential, das in produkti-ver Weise auf die Erfahrungen gegenwärtiger Leser zu beziehen ist.31

Erst (und nur) der Leser kann diese historisch und ästhetisch bedeutsamen Schich-ten eines Werks realisieren, soweit stimmt die Sozialgeschichte mit der Rezepti-onsästhetik überein. Darüber hinaus zeichnet sie sich dadurch aus, daß sie Litera-tur nicht nur unter innerliterarischen ästhetischen oder geistes- und ideenge-schichtlichen Aspekten darstellt, sondern sie vielmehr unter Einbeziehung der gesamten sie umgebenden Kultur und der sozialen Bedingungen ihres Entstehens zu beschreiben versucht. Dieses Verfahren reflektieren die Herausgeber von Han-sers Sozialgeschichte wie folgt:

‚Sozialgeschichte‘ wird hier nicht als Begriff für eine Sektorwissenschaft, sondern in ihrer umfassenden Bedeutung verstanden. Sie schließt also mit der Geschichte gesellschaftlichen Handelns auch politische, Wirtschafts- und Bewußtseinsgeschichte so weit ein, als dies für ein angemessenes Verständnis von Literatur erforderlich ist. Denn selbst literarische Kunst-werke oder philosophische Literatur können ohne Kenntnis jener sozialen Wirklichkeit, die sie in ihren Sprachformen stets schon zu Sinnzusammenhängen verarbeitet haben, nur unzu-reichend oder gar falsch verstanden werden. Insofern ist nicht nur pragmatische oder rein ‚unterhaltsame‘, sondern auch die sogenannte Höhenkammliteratur unmittelbar auf die histo-risch bestehenden Möglichkeiten des Bewußtseins und Handelns in der Gesellschaft bezogen. […] Zugleich aber sind literarische Texte nie schlechterdings damit identisch, und gerade die ‚hohe‘ Literatur weicht wegen ihrer ästhetischen und philosophischen besonderen Qualität

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27 Vgl. dazu besonders Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt/M. 1982 sowie Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven litera-rischer Anthropologie. Frankfurt/M. 1991.

28 Rolf Grimminger (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur München 1980 ff. 29 Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte von den Anfängen bis

zur Gegenwart. Reinbek bei Hamburg 1980ff. 30 Wolfgang Beutin u.a.: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart.

Stuttgart 1979. 31 Beutin (wie Anm. 30), S. 10.

24 2. Modelle der Literaturgeschichtsschreibung

sowohl von den Bestimmungen sozialer Praxis als auch vom Bewußtsein, das dieser zuge-ordnet zu sein pflegt, meist erheblich ab. Insofern verhält sie sich auch negativ dazu. Solche Übereinstimmungen und Differenzen zwischen der Literatur und der Lebenspraxis einer Ge-sellschaft sind für jeden Leser wichtig und daher selbst als soziale Tatsache zu bewerten: Sie steuern seinen Willen zur Lektüre, zur Teilhabe an der literarischen Kommunikation.32

Hier wird zudem deutlich, daß sich die Sozialgeschichte auch mit Texten beschäf-tigt, die nicht in die traditionelle Literaturgeschichtsschreibung aufgenommen wurden (wie etwa Literatur von Arbeitern oder Frauen).

Dem aus der feministischen Literaturtheorie heraus entwickelten Projekt, der lan-ge Zeit von der traditionellen, männlichen Literaturgeschichtsschreibung verges-senen Literatur von Frauen ihre eigene Geschichte zurückzugeben, widmen sich gleich zwei Aufsatzsammlungen. Die verdienstvolle erste, systematischere hat Gisela Brinker-Gabler herausgegeben.33 Dabei bewegt sich Brinker-Gablers Vor-haben zwischen zwei Extremen, die die Herausgeberin wie folgt markiert: entwe-der schrieben Frauen „epigonal und folgenlos“ (Hannelore Schlaffer) oder „they had a literature of their own“, wie es die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Elaine Showalter formulierte. Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann haben parallel dazu gemeinsam, die zweite Aufsatzsammlung publiziert34, die allerdings aus einer Reihe heterogener und auch in ihrer Qualität sehr unterschiedlicher Einzel-beiträge besteht.

Frauenliteratur- geschichte

Ein besonderes Verdienst der Sozialgeschichte ist schließlich die Entdeckung und Erforschung der Trivialliteratur: hier lassen sich, ästhetisch relativ unverstellt, Beobachtungen zur Mentalität breiterer Bevölkerungsschichten machen. Einen neueren Versuch, auf Grundlage der Systemtheorie Luhmanns35 die deutsche Li-teraturgeschichte in ihrer Epochenabfolge neu zu strukturieren36, hat der Bochu-mer Germanist Gerhard Plumpe mit seiner Studie Epochen moderner Literatur37

Systemtheorie

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32 Rolf Grimminger (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution. 1680-1789, 1. Teilband, München 1980, S. 7.

33 Gisela Brinker-Gabler: Deutsche Literatur von Frauen. 2. Bde. München 1988. 34 Hiltrud Gnüg/Renate Möhrmann: Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom

Mittelalter bis zur Gegenwart. Frankfurt/M. 1989. 35 Die Grundlage für Luhmanns Systemtheorie bildet immer noch „Soziale Systeme“, erschie-

nen 1984. Die Summe seiner gesellschaftstheoretischen Überlegungen findet sich in „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ (erschienen 1997). Eine gute Anthologie für Literatur- und Kulturwissenschaftler bildet neben seinem eigenen Buch „Die Kunst der Gesellschaft“ von 1995 auch die von Oliver Jahraus herausgegebe Sammlung „Aufsätze und Reden“ Niklas Luhmanns. Stuttgart 2001.

36 Zur Bedeutung der Systemtheorie Luhmanns für die Literaturwissenschaft vgl. den Aufsatz von Henk de Berg: Kunst kommt von Kunst. Die Luhmann-Rezeption in der Literatur- und Kunstwissenschaft. In: Ders./Johannes Schmidt (Hg.): Rezeption und Reflexion. Zur Reso-nanz der Systemtheorie außerhalb der Soziologie. Frankfurt/M. 2000, S. 175-221.

37 Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Opladen 1995.

2.1 Die akademische Literaturgeschichtsschreibung 25

vorgelegt. Luhmann zufolge besteht die moderne Gesellschaft aus verschiedenen Systemen, die sich selbst erhalten (Luhmann spricht hier von „Autopoiesis“) und die dazu aus ihrer Umwelt das auswählen, was sie dazu brauchen – alles Übrige bleibt allerdings als Möglichkeitshorizont bestehen. Jedes System verfügt über eine Leitdifferenz, die die Operationen innerhalb des Systems stabilisiert und ord-net: die Leitdifferenz des Wirtschaftssystems etwa heißt Zahlen/Nichtzahlen, die des Religionssystems Glauben/Nichtglauben. Während die Leitdifferenzen der anderen Systeme weitgehend akzeptiert worden sind, herrscht über die des Litera-tursystems immer noch Uneinigkeit: Luhmann selbst schlug „schön/häßlich“ vor, andere wie Gerhard Plumpe selbst und Niels Werber, „interessant/uninteressant“ bzw. „langweilig/nicht langweilig“. Jedenfalls verfügt jedes System über ein be-stimmtes „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“, das seine mög-lichst reibungslose Autopoiesis sicherstellt. Luhmanns Medienbegriff ist an dieser Stelle sehr weit gefaßt: Geld ist das Medium des Wirtschaftssystems, Macht das des Politiksystems, der Glaube ist das Medium des Wirtschaftssystems, das Kunstwerk das des Kunstsystems. Die Umwelt ‚als Ganzes‘ ist wegen ihrer uner-meßlichen Komplexität für ein System nicht greifbar. Systeme bestehen durch sinnhafte Kommunikationen, nicht durch Individuen und ihre Handlungen. Die Tatsache, daß für Luhmann Menschen („psychische Systeme“) nicht zu den Sys-temen selbst, sondern zu ihrer Umwelt gehören, hat immer wieder zu Irritationen geführt. Tatsächlich hat der Literaturwissenschaftler S. J. Schmidt in seiner der Systemtheorie verpflichteten Studie Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert38 den Menschen als „Aktanten“ wieder eingeführt und nähert sich so einer eher konventionellen, sozialgeschichtlich orientierten Literaturgeschichtsschreibung an. Daran ist an sich nichts auszusetzen, doch ver-gibt er dabei die Möglichkeit, wirklich den Kommunikationscharakter der Werke und Gattungen im Voßkampschen Sinne, also ihre Eigengesetzlichkeiten verfol-gen zu können. Luhmann wie Schmidt stimmen dennoch darin überein, daß sie den Zeitraum gegen Ende des 18. Jahrhunderts als prägend für die Ausdifferenzie-rung des Literatursystems ansehen. Nach S. J. Schmitt erweisen sich moderne Literatursysteme, wie sie sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet haben, als

weithin unplanbar, unsteuerbar und in ihrer Entwicklung immer erneut überraschend. Moder-ne Literatursysteme sind von Pluralismus und Innovation geprägt [...] Gleichwohl kollabieren Literatursysteme deswegen keineswegs, weil offenbar die hohe Interdependenz zwischen den Handlungsrollen (Produzent, Vermittler, Rezipient, Kritiker) das System auch ohne Vorlie-gen objektiver Maßstäbe stabilisiert. [] Moderne Literatursysteme werden [...] noch (?) im-mer geprägt von markanten Individuen.39

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38 Siegfried. J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1989.

39 Schmidt (wie Anm. 38), S. 12.

26 2. Modelle der Literaturgeschichtsschreibung

Plumpe dagegen schlägt vor, anstelle von Bezeichnungen wie „Klassik“, „Bie-dermeier“, „Vormärz“ oder auch „Realismus“ die Literatur der letzten zweihun-dert Jahre unter die Begriffe „Romantik“, „Realismus“, „Ästhetizismus“, „Avant-garde“ und „Postismus“ zu fassen. Damit will er auch dem Dilemma der Litera-turgeschichte entgehen, ständig außerliterarische Ereignisse und Strömungen als Epochenschwellen bemühen zu müssen. Denn für Plumpe ist die Literaturge-schichte bestimmt von einem alternierenden Wechsel zwischen Systembezug und Umweltbezug, d. h. von Epochen, die ihre Formen in der Auseinandersetzung mit dem Literatursystem selbst gewinnen, wie die Romantik oder der Ästhetizismus und solchen, die ihre Formen aus der Beschäftigung mit der Umwelt dieses Sys-tems schöpfen, wie der Realismus, der sich für Plumpe entsprechend primär auf die außerliterarische Realität beziehe.

Einen ganz eigenen literaturgeschichtlichen Ansatz hat Friedrich Kittler entwi-ckelt40. Sein Buch Aufschreibesysteme 1800/190041 verdankt sich verschiedenen Einflüssen. Es sind vor allem die französischen postmodernen Theoretiker Jaques Lacan und Michel Foucault, deren Theorien Kittler zusammenzuzwingen sucht, dazu die Ablehnung der Gesellschaftskritik, die zwei Generationen Frankfurter Schule geübt haben. Nachdem das Buch, ursprünglich eine Habilitationsschrift, zunächst fast abgelehnt worden wäre, liegt es nun in vierter überarbeiteter Auflage und mehreren Übersetzungen vor: ein ungewöhnlicher Erfolg für eine akademi-sche Abhandlung. Doch so akademisch ist diese Abhandlung gar nicht: In ihrer im weitesten Sinne medientheoretischen Stoßrichtung ist sie ebenso Heidegger wie Kittlers Vorliebe für Rockmusik und Computer verpflichtet. Computer, ob in friedlicher Absicht oder militärisch genutzt, liefern die modernen „Aufschreibsys-teme“, Federkiele und Schreibmaschinen bzw. Phonographen die der beiden ver-gangenen Jahrhunderte. Kittler geht entsprechend in seiner Variante von Litera-turgeschichtsschreibung von zwei großen epochemachenden medial bedingten Einschnitten um 1800 und um 1900 aus. Um 1800 sozialisieren Mütter ihre Söhne zu Autoren (Töchter spielen für Kittler eine weniger große Rolle). Dabei behilf-lich sind Alphabetisierungskampagnen, das Anwachsen des Leserpublikums und auch das Copyright, das Autoren wenigstens einen Teil an Gewinnen aus ihrem Werk sichert. Um 1900 sind es dann die technischen Medien, die Modelle wie Geist, Seele und Bewußtsein in Frage stellen und zunehmend bestrebt sind, Be-wußtsein maschinell nachzubauen. Moderne Datenspeicher arbeiten heute mit einer Genauigkeit, die keine Schrift erreichen konnte.

Aufschreibesysteme

Spätestens seit der zweiten industriellen Revolution mit ihrer Automatisierung von Informa-tionsflüssen erschöpft eine Analyse nur von Diskursen die Macht- und Wissensformationen noch nicht. Archäologen der Gegenwart müssen auch Datenspeicherung, -übertragung und -berechnung in technischen Medien zur Kenntnis nehmen. Gerade die Literaturwissenschaft

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40 Eine sehr gute Einführung in das Kittlersche Werk plus fundierter Kritik findet sich bei Geoffrey Winthrop-Young, Friedrich Kittler zur Einführung. Hamburg 2005.

41 Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900. München 1985.

2.1 Die akademische Literaturgeschichtsschreibung 27

kann nur lernen von einer Informationstheorie, die den erreichten technischen Stand formali-siert anschreibt, also Leistungen und Grenzen oder Grenzen von Nachrichtennetzen über-haupt meßbar macht. Nach Sprengung des Schriftmonopols wird es ebenso möglich wie dringend, sein Funktionieren nachzurechnen.42

Kittler betont hier die Machtlosigkeit allen menschlichen Handelns derartig, daß ihm den Vorwurf eines technikhörigen Antihumanismus eingetragen hat (die his-torische ‚Einbettung‘ seines Werkes auch schon das wesentlich unfreundlichere Wort von der „Geschichtskittlerung“). Der psychoanalytische Ansatz Kittlers zeigt sich daran, daß er auch den Anteil der beteiligten Familienmitglieder, be-sonders der Mutter, am Diskursnetzwerk zu bestimmen sucht.43 Bemerkenswert ist, daß Kittler trotz (oder wegen) der Hermetik seiner Bücher, die sich nur dem erschließen, der auch wirklich alle seiner Prämissen teilt, regelrecht Schule ge-macht hat: zu nennen wären hier etwa Literaturwissenschaftler wie Jochen Hö-risch, Norbert Bolz und Bernhard Dotzler.

Einen wieder anderen Weg wählt der amerikanische Literaturwissenschaftler Da-vid Wellbery für die von ihm und anderen amerikanischen Germanistinnen und Germanisten herausgegebene Neue Geschichte der Deutschen Literatur44.

Zugrundeliegt hier eine dem „New Historicism“ verpflichtete Auffassung von Geschichtsschreibung. Sie geht zurück auf den amerikanischen Shakespeare-Forscher Stephen Greenblatt, der sich seinerseits wieder auf Michel Foucault be-rufen hat.45 Einerseits argumentieren die Vertreter des „New Historicism“ we-sentlich historisch: sie widmen sich gerne abgelegenen historischen (auch außerli-terarischen) Quellen und ihren ‚Erzählungen‘, um von dort aus zu Aussagen über die literarischen Werke zu gelangen. Aber sie versuchen auch die historische Dis-tanz zu überspringen, um mit einen „Tigersprung in die Gegenwart“ (Walter Ben-jamin) Vergangenes für die Gegenwart zu aktualisieren und damit auch ein erzie-herisches Moment zu realisieren (was dem einen oder anderen Leser naiv vor-kommen mag):

New Historicism

Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur versucht zu bewahren, was das Erregende der Leseerfahrung ausmacht, den Charakter einer „Begegnung“. Wirkliche Begegnungen beför-

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42 Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme, 3., vollständig überarbeitete Auflage. München 1995, S. 519.

43 Vgl. dazu auch sein Buch: Dichter – Mutter – Kind. München 1991. 44 David Wellbery (Hg.): Eine neue Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 2007. 45 Zur Einführung in den New Historicism eignen sich besonders die (eminent gut geschriebe-

nen) Werke Greenblatts selbst (etwa: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Frankfurt/M. 1993). Eine gute Sammlung auch kritischer Stimmen zum New Historicism wurde von Moritz Baßler herausgegeben: New Historicism. Literatur-geschichte als Poetik der Kultur. Frankfurt/M. 1995.

28 2. Modelle der Literaturgeschichtsschreibung

dern Faszination und Neugierde. Sie können sogar die Bahn eines Leserlebens verändern, in-dem sie den Wunsch nach tieferer Bekanntschaft mit Autor oder Werk wecken.46

So werden in einer Reihe von Einzelbeiträgen jeweils exemplarisch historische Konstellationen herausgegriffen, die dann ausführlich expliziert werden. In „1729: Der Schweizer Arzt Albrecht von Haller veröffentlicht ein Gedicht über die Al-pen, das gelehrte Beobachtungen aus der Naturgeschichte mit poetischer Feier göttlicher Landschaft verbindet“ lenkt Helmut Müller-Sievers, ausgewiesener Experte für die vielfältigen Beziehungen zwischen Literatur und Naturwissen-schaften in der Goethezeit und im 19. Jahrhundert, die Aufmerksamkeit des Le-sers mit Albrecht von Haller auf eine Figur, die gewöhnlich in Literaturgeschich-ten nur aus Pflichtschuldigkeit genannt wird. Seine Abwertung hatte schon in der Weimarer Klassik eingesetzt und ist nach Müller-Sievers wesentlich Schillers Neid auf den im Unterschied zu ihm selbst auf dreierlei Weise Erfolgreichen ge-schuldet: war doch Haller „der bedeutendste Naturwissenschaftler seiner Zeit, einer der mächtigsten Akademiker Europas und er war ein sehr bewunderter Dich-ter.“47 In ihren besten Teilen (und der zitierte Abschnitt gehört sicherlich dazu) vermag eine solche Literaturgeschichte Einsichten zu vermitteln, die weit über eine sozialgeschichtliche Betrachtungsweise mit ihrer Betonung des Kollektiv-Politischen hinausgehen. Es erscheint allerdings fraglich, ob sie an Anspruch und Umfang traditionellere Werke wie die zweibändige Deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration48 von Gerhard Schulz zu ersetzen vermögen: in Wellberys Unternehmen scheint mir denn doch vieles eher für den Kenner geschrieben zu sein, der daraus auch die meiste Belehrung empfängt.

Als Beispiel dafür, wie deutsche Literaturgeschichte aus ausländischer Sicht für ein nicht im engeren Sinne akademisches Publikum aussehen könnte, sei ab-schließend auf die von Goethe-Biograph Nicholas Boyle für eine anglo-amerikanische, nicht unbedingt akademische Leserschaft konzipierte Literaturge-schichte German Literature: A Very Short Introduction49 verwiesen. Interessant ist ein Blick auf die Kapiteleinteilung. Nach einem Überblick über die beiden deutschen Archetypen „Bourgeois“ und „Official“ und den jahrhundertelangen Konflikten zwischen beiden faßt der Autor die gesamte deutsche Literatur vor 1781 unter der Überschrift „The Laying of the Foundations“ zusammen. Die be-sondere Bedeutung des Jahres 1781 sieht der Literarhistoriker in drei Ereignissen begründet: es erscheinen „Die Kritik der reinen Vernunft“, Schillers „Die Räuber“ und es ist auch das Todesjahr Lessings. Den Zeitraum von 1781 bis 1832, also

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46 Wellbery (wie Anm. 44), S. 14. 47 Ebd., S. 448. 48 Gerhard Schulz: Deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration.

München 1983. 49 Nicholas Boyle: German Literature. A Very Short Introduction. Oxford University Press

2008.

2.2 Der Kanon 29

dem Todesjahr Goethes, faßt er unter der Überschrift „Das Zeitalter des Idealis-mus“ zusammen und setzt es so von der ‚Epoche‘ 1832-1914 ab, die im Sinne Eric Hobsbawms das „lange 19. Jahrhundert“ vollendet. Die Geschichte Deutsch-lands, nicht nur die seiner Literatur ab 1914 ist für Boyle schließlich von „Trau-mas and Memories“ gekennzeichnet. Deutlich erkennbar werden bei Boyle die traditonellen Epochenschwellen mehr oder weniger beibehalten, aber mit philoso-phischen (Idealismus/Materialismus), politischen („Bourgeois“/„Official“) bzw. psychologischen Kategorien („Traumas“ and „Memories“) angereichert: eine Pointierung, die natürlich auch dem knappen Raum geschuldet ist (für jeden Band der Reihe „Very Short Introductions“ stehen nur etwas unter 200 kleinformatige Seiten zur Verfügung). Für einen englischen Autor wohl ebenfalls typisch ist die Privilegierung des Datums 1914: der Erste Weltkrieg ist im englischen Kultur-kreis wesentlich affektbesetzter als im deutschen (für den eher der Zweite Welt-krieg traumatisch geworden ist). Boyle wählt zudem eine sozusagen „kleindeut-sche“ Lösung: d.h., er verzichtet auf die österreichische und schweizerische Lite-ratur.

2.2 Der Kanon

Neben den ideologischen und literaturtheoretischen Vorannahmen, die jede Lite-raturgeschichte prägen, kennt jeder Versuch, die historische Entwicklung der Lite-ratur zu rekonstruieren, ein ganz basales strukturelles Problem. Dieses Problem besteht darin, daß man schlechterdings nicht alle jemals geschrieben Werke wird behandeln können und daher zur Auswahl gezwungen ist. Es gibt mithin neben dem historischen Zugriff des Epochenbegriffs und dem systematischen Zugriff des Gattungsbegriffs auch den Versuch, qualitative Kriterien für die heuristisch notwendige Selektion der relevanten Referenztext der Literaturwissenschaft aus der Masse der gesamten Literatur in Anschlag zu bringen: den Kanon.

Abgeleitet vom griech. kanōn Maßstab, Richtschnur bezeichnet der Kanon traditi-onell diejenigen Texte, die von einer Kulturgemeinschaft als wertvoll und ent-sprechend tradierenswert erachtet werden, der Kanon entspricht somit dem litera-rischen Gedächtnis der jeweiligen (National)-Kultur. Zudem hat der Kanon, wie Epochen und Gattungen, primär heuristische Funktion: er soll dem literarischen Laien (und in Form von Leselisten50 nicht zuletzt auch den Studierenden der Lite-raturwissenschaft) eine Orientierungshilfe bieten. Traditionell oblag die Entschei-dungsmacht darüber, welche Texte Einzug in den Kanon hielten, den Experten: den Literaturkritikern und den Literaturwissenschaftlern. Damit war im deutschen Sprachraum auch lange Zeit die Legitimation des Faches Germanistik verbunden:

Literarisches Gedächtnis

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50 Vgl. hierzu: Die Leseliste. Kommentierte Empfehlungen. Zusgest. von Sabine Griese u.a. Stuttgart 1994. / Wulf Segebrecht: Was sollen Germanisten lesen? Ein Vorschlag. 2. überarb. und erw. Auflage. Berlin 2000.

30 2. Modelle der Literaturgeschichtsschreibung

Germanisten waren diejenigen Wissenschaftler, die die hohe Literatur und damit den literarischen Teil des kulturellen Gedächtnis der Nation, für das interessierte bildungsbürgerliche Publikum in wissenschaftlich korrekter Form (Editionsphilo-logie) aufbereiteten. Mit dem Begriff der hohen Literatur sind aber bereits mehre grundsätzliche Probleme dieser Art von Kanonbildung verbunden: zum einen schränkt das qualitative Selektionskriterium kultureller Hochwertigkeit als exter-nes Kriterium den Literaturbegriff stark ein (so konnte auch ein Literaturhistoriker wie Bartels die Literatur jüdischer Autoren systematisch aus dem Kanon der deut-schen Literatur ausschließen), zudem sind die ins Spiel gebrachten innerliterari-schen Qualitätskriterien (wie z.B. Literarizität, Poetizität, Selbstreflexivität) oft vage und entsprechend willkürlich bestimmbar (auf dieser Ebene kommt es dann u.a. zum Ausschluß der sogenannten Trivialliteratur aus dem Kanon).

Dem entspricht auch ein weiterer Kritikpunkt der in einer breit geführten Kanon-debatte seit den 1970er und 80er Jahren innerhalb der Literaturwissenschaft aus postkolonialer und feministischer Sicht immer wieder geltend gemacht wurde: in der Vergangenheit war die Kanonbildung durch eine westliche und männliche Perspektive geprägt, was dazu führte, das ‚postkoloniale Literaturen‘ und ‚Frauen-literatur‘51 aus dem Kanon ausgeschlossen blieben und entsprechend schnell in Vergessenheit gerieten. Entsprechend läßt sich auch die Frage, welcher denn nun der einzige wahre Kanon ist, heute nicht mehr entscheiden, es gibt längst eine Kanonpluralität in der es so viele Kanons gibt, wie unterschiedliche Funktionen die diese erfüllen. Dies verdeutlicht noch einmal, daß es sich bei diesen Kanons jeweils um Konstrukte von heuristischem Wert handelt. Sie stellen stets eine funk-tionale Auswahl dar, die notwendigerweise viele Texte vergißt, die aus anderer Perspektive durchaus erinnernswert sein könnten.

Kanondebatte und Kanonpluralität

Literaturhinweise

Assmann, Aleida/Assmann, Jan (Hg.): Kanon und Zensur. Archäologie der litera-rischen Kommunikation, II. München 1987.

De Boor, Helmut/Newald, Richard: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1949ff.

Fohrmann, Jürgen: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989.

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51 Die feministische Literaturwissenschaft arbeitete sich entsprechend zunächst an der Rekon-struktion einer Frauenliteraturgeschichte ab, um die so in Vergessenheit geratenen Texte von Frauen wieder in Erinnerung zu rufen. Vgl. hierzu die bereits zitierte Literaturgeschichten von Gisela Brinkler-Gabler und Hiltrud Gnüg/Renate Möhrmann.

2.2 Der Kanon 31

Glaser, Horst Albert (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Reinbek bei Hamburg 1980ff.

Grimminger, Rolf (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Mün-chen 1980ff.

Plumpe, Gerhard: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995.

Schneider, Jost: Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. Bielefeld 1998.

von Heydebrand, Renate (Hg.): Kanon, Macht, Kultur. Theoretische, historische uns soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart 1998.

32 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

Im folgenden Kapitel sollen Ihnen die wesentlichen literarischen Gattungen, vor allem auch in ihrer historischen Entwicklung im Verlauf der Literaturgeschichte, vorgestellt werden. Ausgangspunkt ist dabei aber zunächst die Feststellung, daß auch der Literaturbegriff selbst eine Gattungsbezeichnung ist, die einem histori-schen Wandel unterliegt, d.h. was man als Literatur versteht ist eben nicht zu allen Zeiten dasselbe. In diesem Sinne soll zunächst die Entstehung unseres modernen Literaturbegriffs im 18. Jahrhundert näher in den Blick genommen werden, bevor in einem zweiten Teil des Kapitels die literarischen Gattungen im einzelnen the-matisiert werden. Dabei wird Ihnen jede einzelne der drei Großgattungen zunächst in einem ersten Unterkapitel summarisch anhand ihrer basalen Strukturmerkmale und in ihren Untergattungen vorgestellt. In einem zweiten Unterkapitel erfolgt dann jeweils exemplarisch anhand eines der Subgenres der Verweis auf die Gat-tungsevolution im Verlauf der Literaturgeschichte, der die zuvor entfalteten ver-meintlich statischen Gattungskonventionen konterkariert und so erneut als litera-turwissenschaftliche Hilfskonstrukte von lediglich heuristischem Wert ausweist.

3.1 Die Entstehung des modernen Literaturbegriffs

Wie stellen sich nun im Anschluß an diesen theoretischen Vorlauf die literaturhis-torischen Zusammenhänge im einzelnen dar? Wo läßt man diese Literaturge-schichte beginnen und welche Haupttendenzen lassen sich dabei unterscheiden? Vor der Differenzierung der einzelnen ästhetischen Strömungen, wie sie im ersten Kapitel bereits mittels der gängigen Epochenschlagworte benannt wurden, in Form von fünf digitalen Vorlesungen, stellt sich die Frage nach Entstehung und Form des Begriffs der Literatur selbst, der ja ebenfalls ein Gattungsbegriff ist und als solcher auf eine Funktionsgeschichte von Erwartung und Abweichung zurück-blickt.

Literatur als Gattungsbegriff

Einen Anhaltspunkt für diese Frage stellt die in der deutschsprachigen Literatur-wissenschaft übliche Unterscheidung zwischen der ‚älteren‘ und der ‚neueren‘ deutschen Literatur dar. Neuer ist die Literatur im Unterschied zur mittelalterli-chen Dichtung, den Texten die bis ca. 1500 in althochdeutscher und mittelhoch-deutscher Sprache entstehen. Die Entdeckung, Amerikas, die Erfindung des Buchdrucks und die Reformationen geben hinreichend Anlaß für einen derartigen Epocheneinschnitt. Zumal sich in der Folge von Luthers Bibelübersetzung im Laufe der Renaissance und des Barock die neuhochdeutsche Literatursprache aus-bildet und durchsetzt.

Ältere und Neuere deutsche Literatur

Dennoch ist von daher noch ein langer Weg bis zu unserem modernen Begriff der Literatur. Diesen kann man mit einer zweiten großen Epochenschwelle in Zu-sammenhang bringen, der sogenannten Sattelzeit, die der Historiker Reinhart Ko-

Sattelzeit

3.1 Die Entstehung des modernen Literaturbegriffs 33

selleck in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ansetzt, weil hier zwei histori-sche Großformationen wie in einem Bergsattel aneinanderstoßen: die Frühe Neu-zeit und die Neuzeit, oder, je nach Begriffswahl, die Vormoderne und die Moder-ne. Auch in der philosophischen Lehre vom Kunstschönen im allgemeinen (der Ästhetik) sowie der Theorie der Literatur im besonderen (der Poetik) ist diese Sattelzeit von einschneidender Bedeutung.

Autonomieästhetik Bis ca. 1750 läßt sich sagen, daß der Begriff der Dichtung Prinzipien verpflichtet ist, die in der Antike festgelegt wurden: dem Gebot der Mimesis (Nachahmung) einerseits, den rhetorischen Sprach- und Formregeln andererseits. Die Ästhetik des 18. Jahrhunderts definiert ihren Zugang zur künstlerischen Wirklichkeit an-ders. Er vollzieht sich über die Natur, nicht über die rhetorische Technik: Vor al-lem die Anschauung als Naturanschauung nimmt einen anderen Stellenwert ein. Die grundsätzlich neue Perspektive auf die Kunst wird aber vor allem durch den Wechsel von der Heteronomie (d.h. der Fremdbestimmung der Kunst) zur Auto-nomie (d.h. heißt Selbstbestimmung der Kunst) in der Lehre vom Schönen er-zeugt: Kunst ist nun nicht mehr auf die Wiederholung antiker Muster festgelegt sowie religiösen und moralischen Prinzipien verpflichtet, sondern schöpft ihre Formregeln und Prinzipien aus sich selbst – sie gibt sich, das bedeutet das griechi-sche Wort autonomía, selbst das Gesetz.

Ästhetik im 18. Jahrhundert Modell Kunst Wirklichkeit

Heteronomie

(Fremdbestimmung, Regelpoetik)

Imitatio

(Orientierung an Autoritäten)

Autonomie

(Selbstbestimmung,

autonome Ästhetik)

Mimesis

(Naturnachahmung)

Phantasie

(schöpferische Einbildungskraft)

Dieser Wandel setzt mit Johann Christoph Gottscheds Critischer Dichtkunst 1730 ein, einer der letzten Regelpoetiken, in der aber bereits die Theologie durch die Vernunft als oberste Instanz zur Wahrheitsfindung ersetzt wird. Der Philosoph Alexander Baumgarten erweitert in seinen Vorlesungen Aesthetica 1750 das Er-kenntniskonzept der zeitgenössischen Schulphilosophie, wie sie vor allem von Christian Wolff vertreten wird, zu einer Ästhetik, die in der Verbindung von Ver-nunft und der Individualität sinnlich-ästhetischer Wahrnehmung gedacht ist.

34 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

Hier beginnt ein Prozeß der Emanzipation des Denkens hin auf eine Autonomie des Subjekts. Wenn auch Gottsched noch normativ argumentierte und in seiner präskriptiven Poetik Literatur als Anwendung des aufklärerischen Denkens defi-niert, etabliert er dennoch einen neuen Realitätsbegriff, der sich an der Kategorie der Natürlichkeit orientiert. Als ‚natürlich‘ gilt etwa ein alltagsnaher Briefstil der vom guten Geschmack getragen wird. Mit diesem ‚Geschmack‘ zieht eine durch-aus flexible Kategorie in Poetik und Ästhetik ein, die nichts anderes bedeutet, als daß ein von einer bestimmten sozialen Gruppe anerkannter Redestil zur Norm erhoben wird. In der Auseinandersetzung mit Gottsched fordern dann die Schwei-zer Bodmer und Breitinger bereits poetische Freiräume etwa für das Wunderbare und leiten damit die Entdeckung der affektiv-emotionalen Anteile in der Aufklä-rung ein, die u.a. Lessing in der affektiven Einbindung des Publikums in der Kon-zeption des bürgerlichen Trauerspiels einlöste.

Subjekt, Geschmack, Fiktion

Mit dem Ausbau der Emotionalisierung der Sprache und der Darstellung der Af-fekte in der Empfindsamkeit entsteht eine radikal neue Konzeption von Literatur. Die Autonomisierungsprozesse haben nun auch die Dichtung selbst erreicht. Dichtung hat nicht mehr nur die Funktion in aufklärerisches Denken und Handeln einzuüben. Dichtung besetzt im Gegenteil gerade die Felder, die vom theoreti-schen Denken nicht erfaßt werden, etwa die sogenannten dunklen Seelenkräfte oder starke Emotionen, wie Liebe und Leidenschaft, und versucht damit den ‚gan-zen Menschen‘ zu erfassen.

Dieser Prozeß hat aber auch weitgehende Folgen für die Rezeption und Interpreta-tion von Literatur: Da literarische Texte nicht mehr zwingend mit Bedeutungen operieren, die bereits im theoretischen Denken der Kultur vorhanden sind, sind ihre möglichen Bedeutungen nicht mehr vorhersagbar und potentiell unendlich vielfältig: „Literarische Texte werden nunmehr als (was sie schon immer waren) interpretationsbedürftig konzipiert und können auch dem Mitglied derselben Kul-tur fremd erscheinen“.52 Auch der Sprachstil wird individualisiert und ist nicht mehr an die soziale Gruppenkategorie des ‚guten Geschmacks‘ gebunden.

Interpretation

Die Aufwertung des Individuums gegenüber der Topik des literarischen Systems bringt nun das Gesamtsystem in Bewegung: Das Genie, so die zeitgenössische Ansicht, dichtet nicht nach Regeln und Schemata, sondern aus seiner eigenen Phantasie, aus der Kraft seiner naturgegebenen Imagination heraus: Natürliche Unmittelbarkeit statt rhetorischer Technik lautet nun die Devise. Diese Natürlich-keit findet ihren Ausdruck z.B. in Symbolen, die als Stilmittel die im Barock noch dominierende, nun aber als künstlich betrachtete, Allegorie ersetzen: eine Blume, die Taube oder das Kreuz treten an diese Stelle von Personifikationen wie Frau Minne, Mutter Natur oder die Justitia mit ihren Attributen Binde und Waage. Die hohe Wertschätzung Vergils als Schulautor für ganze Jahrhunderte seit der Antike

Genieästhetik

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52 Michael Titzmann: Poetik. In: Literaturlexikon. Begriff, Realien, Methoden. Bd. 14., hg. v. Volker Meid. Gütersloh, München 1993, S. 216-222, hier S. 220.

3.1 Die Entstehung des modernen Literaturbegriffs 35

wird abgelöst durch den vermeintlich ‚natürlichen Homer‘. In Goethes Werther trägt der Titelheld Homers Werke in einer Taschenausgabe bei sich und ersetzt damit den legendären gälischen Sänger Ossian, einen der Modedichter des Sturm und Drang. Wenn aber Homer (wie auch Shakespeare) zum Leitbild lebendiger und natürlicher Dichtung wird, so kann Originalität keine Errungenschaft der Neuzeit sein: Sie scheint also prinzipiell immer möglich – wird aber jeweils histo-risch anders konzipiert. Mit der Orientierung an den Griechen hatten sich nur die historischen Vorbilder verschoben. Wenn Goethe seine Schwierigkeiten mit dem Nibelungenlied artikuliert, das unnötige Reimgeklingel und die vielen Flick- und Füllverse beklagt, wird sichtbar, daß die Einstellung zum Vers und zum Reim sich gewandelt hat: Rhetorische Technik allein genügt nicht mehr, wenn Goethe an die Heldendichtung zeitgenössische ästhetische Maßstäbe anlegt.

Regelpoetik bedeutet die strikte Kopplung bestimmter Gattungen und Schreibwei-sen an bestimmte ästhetische Verfahren. Das Postulat der Poetik einer ästheti-schen Moderne hingegen lautet Abweichung und ästhetische Innovation, und also der eigenen ästhetischen Autonomie Ausdruck zu verleihen. Voraussetzung hier-für ist die Ausdifferenzierung der Kunst zu einem eigenständigen gesellschaftli-chen Teilbereich, die sich u.a. in dem Konzeptwechsel vom Künstler als abhängi-gem Agent der höfischen Repräsentationskultur durch das Leitbild des Künstlers als Originalgenie ausdrückt. Friedrich Schiller formuliert im Anschluss daran im deutschen Sprachraum die neue Freiheit des Künstlers 1784 in einem Werbetext für seine Zeitschrift Rheinische Thalia explizit wie folgt: „Ich schreibe als Welt-bürger, der keinem Fürsten dient. […] Nunmehr sind alle meine Verbindungen aufgelöst. Das Publikum ist mir jetzt alles, mein […] Souverain, mein Vertrau-ter.“53 Die Freiheit des Künstlers ist also keine absolute. Wohl wird der Fürst ab-gesetzt, aber durch einen neuen Souverän ersetzt, das Lesepublikum.

Autonomie und Ökonomie

Bereits das auf die Genieperiode folgende ästhetische Konzept der Klassik, das in Abgrenzung zur empfindsamen Subjektivität die Dämpfung individueller Affekte und die Nobilitierung der Humanität propagiert, macht deutlich, daß Autonomie der Kunst nicht immer Affektsteigerung und Revolte bedeuten muß. Denn die Konzepte müssen sich im literarischen Feld auch gegeneinander behaupten und letztlich entscheidet der neue Souverän, das Lesepublikum, d.h. der literarische Markt, über die Lebensdauer der Kunstkonzepte wesentlich mit. Und so blicken wir denn auch ab 1770 auf eine Entwicklungsreihe von poetischen und ästheti-schen Konzepten zurück, die ganz unterschiedliche Innovationen setzen. Dies markieren für das 19. Jahrhundert allein schon die Namen der literarischen Strö-mungen: Romantik, Biedermeier, Vormärz, Realismus, Naturalismus.

Vor diesem Hintergrund ist der nächste historische Wendepunkt in der Kunsttheo-rie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verstehen: die Parole l’art pour

L’art pour l’art

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53 Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe Bd. 22. Weimar 1958, S. 93ff.

36 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

l’art bedeutet Widerstand gegen die bürgerliche Moral und Vermarktung der Kunst. Statt den Bürger in tröstliche Freiheitsversprechen einzulullen, setzt diese Form der ästhetischen Autonomie auf den Ästhetizismus als Lebensform und be-reitet einer reinen Poesie den Weg. Poésie pure, das meint eine Sprachkunst, die von der alltagssprachlichen Logik weitgehend emanzipiert ist und in den Gedich-ten von E.A. Poe, Charles Baudelaire, Stéphane Mallarmé und Stefan George ein-gelöst wird. Im 20. Jahrhundert wird diese kritische Absetzung von einer ‚bürger-lichen‘ Kunst und Ästhetik von den Avantgarde-Bewegungen (Expressionismus, Futurismus, Dadaismus, Surrealismus) fortgeführt, die – wie schon der Name sagt – in sich den Anspruch auf permanente Innovation als eine spezifische moderne Form der Kunstästhetik tragen. Beide ästhetischen Konzeptionen von Autonomie, die ‚bürgerliche‘ Form der Kunstautonomie und die radikale Avantgarde tragen wechselweise zur kulturellen Vergesellschaftung bei, bedingen sich gegenseitig und haben mittlerweile ein stabiles gesellschaftliches Teilsystem ausgebildet.

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epo-chenspiegel

3.2.1 Epik

3.2.1.1 Epische Strukturelemente und Subgenres

Abgeleitet vom griechischen èpos „Wort, Rede, Erzählung“, handelt es sich bei der Epik um erzählende Literatur. Die Epen der Antike, die von Göttern und Hel-den berichteten, waren, da sie von sogenannten Rhapsoden mündlich vorgetragen wurden, zur besseren Memorierung noch in Versen verfasst (in der Regel in He-xametern). Dies gilt im deutschen Sprachraum eingeschränkt auch noch für die mittelalterlichen Heldenepen wie das Nibelungenlied oder Wolfram von Eschen-bachs Parzival und diese Tradition des Versepos setzte sich noch bis hin zu Klop-stocks Messias (1748-1773) fort. Unter anderem im Anschluß an die Erfindung des Buchdrucks und den damit verbundenen Wechsel von der kollektiven mündli-chen Rezeptionssituation zur stillen Einzellektüre schriftlicher Texte, dient der Begriff der Epik seit dem 18. und 19. Jahrhundert jedoch zur Bezeichnung der nun nicht mehr rhythmisch gebundenen, erzählenden, fiktionalen Literatur, für die der sich nun herausbildende moderne Roman zu einer Art Leitgattung wird.

Epik

Das entscheidende gemeinsame Strukturelement epischer Texte ist die Mittelbar-keit der Rede, die Geschehnisse werden uns durch einen Erzähler vermittelt, und damit sozusagen aus zweiter Hand präsentiert. Die Darstellung erfolgt dabei meist im sogenannten epischen Präteritum, das jedoch seiner grammatischen Funktion als Vergangenheitsform entbunden, der Vermittlung einer fiktiven Gegenwart dient und somit Anzeichen für die Fiktionalität epischer Text ist. Dem entspricht, daß der Erzähler die Ereignisse nicht bloß (re)konstruiert, sondern auch antizipiert und kommentiert. Entsprechend erfolgt die Analyse epischer Texte über die Un-

Mittelbarkeit

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 37

tersuchung der Art und Weise, wie der Erzähler dies tut. (Vgl. hierzu den Kurs 03533 „Methoden der Textanalyse“.)

Neben der zuvor zitierten älteren Form des Epos zählen zur Epik u.a. die folgen-den Untergattungen oder Genres, die wiederum eine Reihe von Subgenres ausbil-den: das Volksbuch, der Roman, die Erzählung, die Novelle, das Märchen, die Sage, die Legende, die Anekdote und die Kurzgeschichte.

Subgenres

Das Volksbuch stellt dabei eine Übergangsform zwischen Epos und Roman dar, stilistisch ähnelt es bereits weitgehend dem modernen Roman und ist weitgehend in nicht gebundener Rede verfaßt, inhaltlich handelt es sich jedoch häufig um die Prosaauflösungen traditioneller Epen (wie. z.B. des Nibelungenlieds) oder Samm-lungen alter Volkserzählungen unterschiedlicher Herkunft unter einem vereinheit-lichenden neuen Namen (z.B. Eulenspiegel).

Volksbuch

Der Roman, dessen Gattungsgeschichte im folgenden Kapitel näher ausgeführt wird, ist heute die wohl bekannteste und beliebteste der epischen Gattungen. Ne-ben der stilistischen Differenz zum Epos, daß es sich eben nicht um gebundene Rede, sondern um eine Prosaerzählung handelt, gibt es auch eine entscheidenden inhaltliche Unterschied zum Epos: die Protagonisten des modernen Romans sind in der Regel nicht mehr Götter und Heroen wie in der Antike, oder adelige Ritter wie im Mittealter, sondern bürgerliche Helden in der Auseinandersetzung mit den alltäglichen, prosaischen Verhältnissen, mit denen sich vor allem im 18. und 19. Jahrhundert, also in der Blütezeit des modernen Romans, das bürgerliche Publi-kum identifizieren konnte. In diesem Sinne charakterisiert Hegel in seinen Vorle-sungen über die Ästhetik (1818-1828) die entscheidende Grundkonstellation der „modernen bürgerlichen Epopöe“ wie folgt:

Roman

Eine der gewöhnlichsten und für den Roman passendsten Kollisionen ist [...] der Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse sowie dem Zufalle äußerer Umstände [...]. – Was die Darstellung angeht, so fordert auch der eigent-liche Roman wie das Epos die Totalität einer Welt – und Lebensanschauung, deren vielseiti-ger Stoff und Gehalt innerhalb der individuellen Begebenheit zum Vorschein kommt, welche den Mittelpunkt für das Ganze abgibt.54

Insofern ist die Entstehung der Gattung Roman konstitutiv mit der Formierung der modernen Individualität verbunden, entsprechend konstatiert Walter Benjamin „Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit [...]“55 und Georg Lukacs deutet in seiner Theorie des Romans (1916/20) diesen gar als „Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit“56 des modernen Menschen. Zu

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54 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke, Bd. 15: Vorlesungen über die Ästhetik III. Frank-furt/M. 1986, S. 393.

55 Walter Benjamin: Krisis des Romans. Zu Döblins „Berlin Alexanderplatz“ (1930). In: Ders.: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2. Frankfurt/M. 1988, S. 437-443, hier S. 437.

56 Georg Lukacs: Theorie des Romans (1916/20).

38 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

den entsprechenden Subgenres und deren historischer Entwicklung vergleichen Sie bitte das folgende Kapitel zur Entwicklungsgeschichte des modernen Romans.

Formal ist der Roman von den anderen epischen Formen vor allem durch seine Länge unterschieden, die z.T. dazu führt, daß um eine bessere Lesbarkeit zu ge-währleisten, einzelne Kapitel unterschieden werden. Als eine Art inhaltlich und stilistisch kaum definierter Sammelbegriff für kürzere epische Formen dient im Gegensatz dazu die Erzählung, die in der Regel aber in ihre Subgenres weiter aus-differenziert wird.

Erzählung

Die wohl bekannteste Form der Erzählung stellt die vom italienischen novella „kleine Neuigkeit“ abgeleitete Novelle dar. Entscheidend für die Formierung der Gattung war der Novellenzyklus Decamerone (1353) von Giovanni Boccaccio. Bereits hier ist die Unterteilung in eine Rahmen- und eine Binnenerzählung kon-stitutiv: in der Rahmenerzählung flüchtet eine Gruppe von italienischen Adeligen vor einer Pest-Epidemie auf ein Ladgut, wo diese sich zur Ablenkung und Unter-haltung abwechselnd kleine Geschichten erzählt, die dann die entsprechenden Binnenerzählungen ausmachen.

Novelle / Novellenzyklus

Von besonderer Bedeutung für die literaturwissenschaftliche Beschreibung der Gattung ist dabei eine dieser Binnenerzählungen Boccaccios geworden, innerhalb derer ein verarmter Adeliger, dessen einziges Gut sein über alles geliebter Falke ist, der geliebten Dame, um ihr Herz zu gewinnen, eben diesen Falken zum Essen serviert. Im Anschluß an die Lektüre dieser Novelle durch Schriftsteller Paul Hey-se im 19. Jahrhundert im Vorwort zu dessen Novellenschatz (1871) und seiner entsprechenden Falkentheorie, spricht man in der Literaturwissenschaft bis heute zuweilen vom ‚Falken‘ der Novelle, um die für diese Gattung signifikante Leit-motivtechnik zu umschreiben.

Falkentheorie

Boccacios Novellenzyklus mit der geselligen Gesprächssituation in der Rahmen-handlung diente in der Folge lange als Muster für eine Reihe von einschlägigen Novellenzyklen, deren bekanntester in deutscher Sprache wohl Goethes Unterhal-tungen deutscher Ausgewanderter (1795) sind, deren Rahmenhandlung sich auf die Französische Revolution bezieht. Auf Goethe geht dann auch ein weiteres gängiges literaturwissenschaftliches Beschreibungsmerkmal im Zusammenhang mit der Novelle zurück, spricht dieser doch davon, daß der Kern der Novelle im-mer eine „sich ereignete unerhörte Begebenheit“ sei.

Unerhörte Begebenheit

In Goethes Werk, u.a. in Romanen wie Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) oder die Wahlverwandtschaften (1809) integriert, findet sich dann auch die Ein-zelnovelle als eine entscheidende Neuerung, die für die deutsche Form der Novel-le (die sich vor allem im sogenannten poetischen oder bürgerlichen Realismus besonderer Beliebtheit erfreute) stilbildend sein sollte. Neben diesen neuen Ein-zelnovellen, die die Aufteilung in Rahmen und Binnenerzählung innerhalb der Einzelnovelle jedoch meist beibehielten (Storm: Der Schimmelreiter, 1888), gibt es aber auch weiterhin den klassischen Novellenzyklen, in dem nun aber die

Einzelnovelle

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 39

mündliche Erzählsituation in der Rahmenhandlung zum Teil, wie z.B. in Gottfried Kellers Die Leute von Seldwyla durch andere Formen der Rahmengebung (wie den Bezug zum allen Figuren gemeinsamen Wohnort Seldwyla bei Keller) ersetzt werden kann.

Das Märchen, die Sage, die Legende und die Anekdote als ursprünglich anonyme und volkstümliche Genres erlangten vor allem im Kontext der Begründung der Germanistik als deutscher Volkskunde durch die Gebrüder Jakob und Wilhelm Grimm zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine literarische Aufwertung. Diese wür-den nun zunächst systematisch gesammelt und in Form von Anthologien wie Grimms Kinder- und Hausmärchen (1812/15) in schriftlicher Form veröffentlicht. Dabei können die einzelnen Versionen der phantastischen mündlichen Volkser-zählungen, die sich ja gerade durch ihre Variabilität auszeichnen, sich deutlich voneinander unterscheiden, wobei allerdings der Erzählkern, also Handlungsfolge, Figurenkonstellation, Motive und Bildsymbole, weitgehend erhalten bleibt. Paral-lel zu dieser Verschriftlichung der Volksmärchen durch die Gebrüder Grimm u.a. erfolgte in der Romantik eine Literarisierung des Genres in Gestalt des romanti-schen Kunstmärchens, das im Gegensatz zum Volkmärchen eben nicht zunächst kollektiv mündlich tradiert wurde, sondern von einem individuellen Autor in schriftlicher Form ausgearbeitet wurde. Inhaltlich kann sich das Kunstmärchen dabei an Motiven des Volksmärchens orientieren, oder aber im Zuge der romanti-schen Befreiung der dichterischen Phantasie, originell das Phantastisch-Wunderbare hervorbringen sowie diese schöpferischen Vorgang durch Fiktionali-tätsteigerung und –störungen selbstreflexiv einholen. Zudem kann auch eine zu-sätzliche Orientierung an den anderen volkstümlichen Formen wie Legende und Sage erfolgen.

Märchen

Bei der Legende (von mlat. legenda, Pl. von legendum „das zu Lesende“) handelt es sich um eine volkstümliche Darstellung einer vorbildhaften, (quasi) ‚heiligen‘ Lebensgeschichte (oder einzelner Episoden aus dieser) im Anschluß an die christ-liche Hagiographie. Die Sage ist seit Grimms Anthologie Deutsche Sagen (1816-18) eine Sammelbezeichung für knappe, volkstümliche Erzählungen, die im Ge-gensatz zu den Märchen jedoch eine genaue Lokalisierung und Datierung aufwei-sen und entsprechend bestimmte Personen, Örtlichkeiten, Ereignisse oder Natur-erscheinungen mit magischen und mythischen Elementen assoziieren und letztere über diese Verbindung mit bereits Vertrautem als wahr ausweisen.

Legende / Sage

Die Anekdote (von gr. anékdota „nicht Herausgegebenes“), zeichnet sich formal durch eine überraschende Steigerung oder Wendung (Pointe) aus. Diese dient da-zu eine historische Persönlichkeit oder aber eine fiktive, typisierte Gestalt zu cha-rakterisieren oder die tieferen Zusammenhänge einer historischen oder fiktiven, merkwürdigen aber möglichen Begebenheit zu enthüllen. Inhaltlich ist die damit der Novelle verwandt. Zur Kunstform wurde die Anekdote von Heinrich von Kleist in seinen Berliner Abendblättern (1810/11) weiterentwickelt.

Anekdote

40 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

Eine im Gegensatz zu diesen älteren, ursprünglich volkstümlichen epischen Kurz-formen ist die Kurzgeschichte eine genuin moderne Erfindung, die sich am Vor-bild der amerikanischen short story orientiert, deren produktive Rezeption in Deutschland erst durch Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Ilse Eichinger und Alf-red Andersch nach 1945 einsetzt. Die Kurzgeschichte zeichnet sich neben dem geringen Umfang von zumeist wenigen Seiten durch eine starke Verdichtung des Geschehens, die Typisierung der Personen, die Neutralisierung und Anonymisie-rung der Umgebung, die Fokussierung alltäglicher Details, die in einer unerwarte-ten Wendung auf den Lebenszusammenhang verweisen, sowie einen offenen Schluß aus.

Kurzgeschichte

3.2.1.2 Gattungsgeschichte des modernen Romans

Wie stellt sich die damit differenzierte Großgattung der Epik nun dar, wenn man ihrer in der Neuzeit populärste Ausformung, den Roman, in seiner historischen Entwicklung verfolgt. Schon im 16. und 17. Jahrhundert entstehen hier neue Text-typen wie etwa der Prosa-Reiseroman oder der barocke Schelmenroman. Explosi-onsartig fächert sich das Spektrum der Gattungen in der erzählenden Dichtung seit dem 18. Jahrhundert auf: der Briefroman, der psychologische Roman und der Entwicklungsroman, im 19. Jahrhundert der Gesprächsroman, ebenso Formen wie der Zeitroman oder der Gesellschaftsroman entstehen als inhaltliche wie funktio-nale Ausdifferenzierungen.

Im Kontext der Ausbildung einer modernen Gesellschaft, deren Mitglieder die potentielle Chance haben, ihren Platz selbst zu bestimmen, hat das Erzählen im Gegensatz zur mittelalterlichen Ständegesellschaft immer weniger die Funktion, in Formen der kollektiven Identität einzuüben. Im Mittelpunkt erzählerischer Tex-te seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stehen dagegen Prozesse der Individuation und Sozialisation, die das komplizierte Verhältnis von Ich und Gesellschaft an deren Berührungsstellen beobachtet: Kindheit, Jugend, Sozialisation, Familie, gelingende oder mißlingende Integration in die Sozialgemeinschaft, materielles Glück. Im modernen Roman entstehen dafür die idealen Vermittlungsformen.

Individuation und Sozialisation

Spannenderweise stehen am Anfang dieser neuen Erzählprozesse u.a. die Pietis-ten, eine noch radikal religiös strukturierte Binnengesellschaft mit ihrer allabend-lichen religiösen Selbstbeobachtung im Tagebuch. Aus dieser Form der Selbstbe-obachtung entwickelt sich das moderne Tagebuch, mit dem der Schreiber Zwie-sprache hält (und eben nicht mehr mit Gott) wie auch die Form der modernen Au-tobiographie, für die J.J. Rousseau in seinen Confessions (1782) das Muster grundgelegt hat. Im Tagebuch wie in der Autobiographie versucht der Autor sich selbst genau zu beobachten und beim Niederschreiben den erlebten Ereignissen eine sinnhafte Struktur zu geben, also einzelne Erlebnisse plausibel miteinander zu verknüpfen und darüber eine konsistente Lebensgeschichte aufscheinen zu las-sen. Die Autoren erschreiben sich ihr Leben und werden dabei gleichsam selbst zu

autobiographisches Schreiben

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 41

ihrer eigenen literarischen Figur. In diesen Texten bilden sich allererst neues Be-wußtsein (und auch die technische Fähigkeit) für die erzählerische Einfühlung in die Psyche einer literarischen Figur aus. Nicht ganz zufällig ist es, daß zwei der bahnbrechenden Romantexte für die Erneuerung der Figurenpsychologie nämlich Goethes Werther (1774) und Karl Phillip Moritz’ Anton Reiser (1784) auf der Grenze von Autobiographie und Roman geschrieben sind und sich eigenes Erle-ben mit der Psychologie der literarischen Figur immer wieder überlappt. Dazu paßt auch die Form der Erzählung in Briefen, die ausgehend von Samuel Richard-sons Pamela die europäische literarische Öffentlichkeit fasziniert. Briefe bieten ähnlich wie das Tagebuch durch ihr Kommunikationsmodell als Gespräch mit einem Abwesenden, der als gegenwärtig imaginiert wird, vielfältige Möglichkei-ten zur Selbst- und Fremdbeobachtung.

Goethe und Moritz wählen zwar unterschiedliche Erzählerpositionen – Werther schreibt Briefe aus der Ich-Perspektive, Anton Reiser wird von einem Erzähler im Modus der dritten Person erzählt. Mit dem Einsatz spezifisch neuer Darstellungs-formen des subjektiven körperlichen und sinnlichen Erlebens gelingt es jedoch beiden Romanen, die erzählte Figur der Leserin und dem Leser so unmittelbar nahe zu bringen, wie wir das seither von der Literatur geradezu erwarten. Was heute in jedem Kurs für creative writing gelehrt wird, ist um 1770 eine revolutio-när neue Perspektive für die deutschsprachige Literatur: Die Protagonisten werden primär durch ihre Gefühle, Schilderungen ihrer Emotionen und Sinneswahr-nehmungen als individuelle psychische Charaktere plastisch erzählt.

psychologisches Erzählen

Gleichwohl haben beide Romane auch zur Etablierung von Distanzierungsformen beigetragen, mit deren Hilfe eine intersubjektive psychologische Figurendarstel-lung möglich wird. Moritz siedelt Anton Reiser durch den Untertitel „ein psycho-logischer Roman“ bewußt in der Nähe zu den psychologischen Fallstudien an, die er gleichzeitig im Magazin für Erfahrungsseelenkunde veröffentlicht. Zu diesen Darstellungsformen gehört z.B. der Wechsel von Innen- und Außenperspektive. Schließlich ist hier auch die wiederentdeckte Herausgeberfiktion wichtig, die ei-nerseits Authentizität suggeriert, andererseits Autorfigur und Protagonist deutlich trennt und so Möglichkeiten zur perspektivischen Bewertung der Figur in Form einer Distanzierung gegenüber dem Leser eröffnet.

Zugleich mit der Emotionalisierung des Erzählens über die Protagonisten entsteht im 18. Jahrhundert eine komplett entfaltete Erzählerfigur, die über alle Register des humoristischen Erzählens verfügt, und dabei gleichzeitig eine permanente Reflexion des Erzählvorganges und ein Nachdenken über das Erzählen selbst un-ternimmt. Auch für diesen zweiten Entwicklungsstrang ist die englische Literatur modellbildend. Henry Fieldings Tom Jones (1749) und vor allem Lawrence Ster-nes Tristram Shandy (1759-1767) bereiten den Boden für das humoristisch-selbstreflexive Erzählen, wie es dann vor allem bei Jean Paul (Die unsichtbare Loge 1793, Hesperus 1795) weitergeführt hat.

42 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

Dabei dominieren in der säkularisierten, funktional ausdifferenzierten Gesell-schaft Erzählmuster, in deren übergeordnete Strukturzusammenhänge das Ich der literarischen Figur eingebettet wird. Hierzu gehören Elemente wie Glück, Liebe, Bildung und Sozialisation, die je nach Gewichtung neue Gattungsformen – Bil-dungsroman, Entwicklungsroman, Künstlerroman oder Historischer Roman – ausbilden. Neben den strukturellen Gestaltungsmöglichkeiten verschiebt sich in den Jahren von 1770 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der Schwerpunkt in der Schreibweise mehrfach: Nachdem sich zunächst das Interesse des Romans auf den Menschen selbst richtete, wandelt sich das anthropologische Interesse hin zum „Transzendentalroman“,57 der mit symbolischen Verbindungen, der Potenzierung der Hauptgeschichte in Spiegelungen, Träumen, Gedichten und Märchen arbeitet. Als Schlüsseltexte für diese Entwicklung gelten neben Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), Hölderlins Hyperion (1797/98), Novalis’ Heinrich von Of-terdingen vor allem die beiden weiteren Romane von Goethe, Die Wahlverwandt-schaften (1809) und Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821/29). In Goethes letztem Roman gibt es bereits einen ausgeprägten Detailrealismus, der im Erzählen des Biedermeier (Eduard Mörike, Jeremias Gotthelf) und Realismus (Fontane, Gustav Freytag) weiter ausgebaut wird.

Romantischer Trans-zendentalroman

Mit Gottfried Kellers Grünem Heinrich (1854/1855) und Adalbert Stifters Der Nachsommer (1857) wird die realistische Erzählweise auf den Bildungsroman angewandt, und der realistische Entwicklungsroman ausgebildet. Erzähltexte des Realismus orientieren sich entweder an der Geschichte (als Historischer Roman) oder an der Gegenwart (als Zeitroman). Der Zeit- oder Gesellschaftsroman, noch weiter ausdifferenziert in den Eheroman, ist (in der Nachfolge von Flaubert und Balzac) bemüht, den ambivalenten Anspruch der Gesellschaft darzustellen, alle Lebensbereiche – und insbesondere das Privatleben – zu durchdringen (Fontane, Effi Briest, 1895).

Realistischer Entwicklungsroman

Hier zeichnet sich bereits eine Entwicklung ab, die den Roman der Moderne ab 1900 dominieren wird. Gelingende Sozialisation, Liebesglück und wirtschaftli-cher Wohlstand wandern in den Gegenstandsbereich der Unterhaltungsliteratur ab, die im 19. Jahrhundert insbesondere in der exponentiell gesteigerten Nachfra-ge nach dem Feuilletonroman und der Novelle gedeckt wird. Die ‚hohe‘ Literatur widmet sich zunehmend der mißglückten Sozialisation, den pathologischen Indi-viduen. Zum Roman der Moderne um 1900 gehört das Bewußtsein um den Einfluß der Naturwissenschaften (z.B. auf dem Gebiet der Wahrnehmungspsycho-logie) und der Technik selbst auf die Welt. Der Mensch beherrscht immer mehr die Gesetzmäßigkeiten der Welt, dabei verliert er aber jegliche feste Sinnsysteme. Welt wird zur Konstruktion, besteht aus offenen Möglichkeiten, die jeder anders subjektiv erlebt und ist nicht mehr sinnhaft zu erklären. Eine mimetisch-

Moderner Roman

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57 Manfred Engel: Der Roman in der Goethezeit. Stuttgart 1993.

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 43

realistische Darstellung der Welt ist allenfalls dann noch angebracht, wenn sie zugleich den Konstruktcharakter sichtbar macht.

Erzählerisch wird diese Herausforderung verschieden gelöst, etwa so, daß der Leser innerhalb eines Montageromans zum Herrscher über den Text gemacht wird (R.M. Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge) und ihm auch Sinn-stiftung überlassen wird. Weiter kann die erzählte Welt als ein Spielfeld reiner Möglichkeiten konstituiert werden (Franz Kafka: Der Prozeß), bei Musils Der Mann ohne Eigenschaften auch als Daseinsexperiment. Oder aber der moderne Roman weist das Erzählte selbst explizit als Fiktion aus und macht so die Kon-struktion offen sichtbar (Max Frisch: Meine Name sei Gantenbein, 1964)

Daneben entstehen unter dem Einfluß der amerikanischen Erzählavantgarde (John Dos Passos, William Faulkner) der Großstadtroman (Alfred Döblin: Berlin Ale-xanderplatz, 1929) sowie nach dem Zweiten Weltkrieg experimentelle Romane wie Wolfgang Koeppens Tauben im Gras (1951) oder Arno Schmidts Zettels Traum (1970), der in seiner polyphonen Struktur Karl Gutzkows schon um 1850 formulierte Forderung nach einem „Roman des Nebeneinander“ einzulösen sucht. Auch der Kriminalroman hat als verdeckter Gesellschaftsroman eine längere Gat-tungsgeschichte im auslaufenden 19. und 20. Jahrhundert (Wilhelm Raabe: Stopf-kuchen 1891, Friedrich Glauser: Wachtmeister Studer 1935, Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker, 1950, Wolf Haas: Komm, süßer Tod, 1998).

Experimenteller Roman

Statt der expliziten Berufung auf Autoritäten als Legitimation des eigenen Erzäh-lens nimmt die Literatur seit dem 18. Jahrhundert in mehr oder weniger verdeck-ten Zitaten Bezug auf andere literarische Texte (etwa Fontane und Keller auf Goe-the). Die klassische Moderne (um 1920) entwirft vor dem Hintergrund sich auflö-sender fester Gattungsmuster noch offenere Texte, wie den Montageroman (Berlin Alexanderplatz), der seine Textkohärenz u.a. über das Ausschneiden von Kontex-ten (Dekontextualisieren) und Neuplazieren dieser Zitate im eigenen Text (Rekon-textualisieren) konstruiert. Intertextuelle Bezüge gewinnen für die Literatur des 20. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung und Thomas Mann ist für diese Form von schöpferischer Originalität durch intertextuelle Bezüge auf die unterschied-lichsten Texte und kulturellen Kontexte (Mythen, Bilder, Musik) wohl das heraus-ragende Beispiel (Joseph und seine Brüder, Der Zauberberg, Dr. Faustus). Nach diesem vielfach nachgeahmten Muster werden manche Texte zu ‚Intertextualitäts-romanen‘, wie etwa Günter Grass kontrovers diskutiertes Buch Ein weites Feld (1997), das die deutsche Wiedervereinigung und eine Auseinandersetzung mit Fontanes Werk (v.a. Effi Briest) strukturell verkoppelt.

Literaturhinweise

Genette, Gérard: Die Erzählung. Aus d. Französ. v. Andreas Knop. Mit einem Vorwort hg. v. Jochen Vogt. München 1994.

44 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1955.

Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 1999.

Stanzel, Franz K.: Typische Formen des Romans. Göttingen 1964.

Stanzel, Franz.: Theorie des Erzählens. Göttingen 1979.

Jolles, André: Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen 1974.

Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen. Stuttgart 2002. (Reclams Uni-versal Bibliothek, 18187)

3.2.2 Lyrik

3.2.2.1 Lyrische Strukturelemente und Subgenres

Die Gattungsbezeichnung Lyrik leitet sich vom griech. lyra „Leier“ ab, dem Na-men des Instrumentes, das den Gesang in der Antike begleitete. Im Rekurs auf diesen ursprünglichen Entstehungskontext zeichnen sich lyrische Text durch eine starke musikalische Strukturierung über Wortklang, Reim, Versform und Rhyth-mus aus. Als weitere Merkmale der Lyrik gelten neben der relativen Kürze, deren hohe semantische Dichte und die unvermittelte Einzelrede eines sogenannten lyri-schen Ich. Das letzte Merkmal eines subjektiven Ausdrucks ist eng mit der Ent-stehung der sogenannten Erlebnislyrik im 18. Jahrhundert verbunden, die das Ly-rische als authentische, unmittelbare und direkte Selbstaussprache des dichteri-schen Subjekts und seiner subjektiven Erlebniswelt verstand, was dazu führt das die Lyrik als wirkliche Gattungsbezeichnung im Rahmen des triadischen Gat-tungsmodells nun retrospektiv erst für die Lyrik ab dieser Zeit Anwendung findet. In der Literaturwissenschaft wird allerdings durchaus kontrovers diskutiert, ob damit nicht eine unzulässige historische Verengung des Gattungsbegriffs stattfin-det, zumal alle aufgeführten Merkmale nicht auf alle lyrischen Formen gleicher-maßen zutreffen, man denke nur an nicht-versifizierte Formen der Prosalyrik oder aber an das Dinggedicht, indem das lyrische Ich ganz oder weitgehend zurücktritt. Insofern ließe sich ein enger Gattungsbegriff, der sich im Kontext der Erlebnisly-rik ausbildet, von einem weiteren, als einer Art Sammelbezeichnung für alle Ge-dichte unterscheiden, also auch für solche, die sich stärker an traditionellen Form-elementen (wie Metrum, Vers, Strophe, Reim) orientieren und eine Reihe von typischen Subgenres ausbilden.

Lyrik

Bei der Lyrikanalyse nimmt entsprechend die Formanalyse einen relativ breiten Raum ein. Die kleinste formale Einheit eines Gedichtes ist das sogenannte Met-rum (von griech. métron „Maß“) oder Versmaß. Prinzipiell lassen sich drei unter-schiedliche Verslehren, Metriken oder Prosodien unterscheiden, die auch die kon-krete Gestalt der Metren bestimmen. In der antiken Tradition herrschte das quanti-

Metrum / Metrik

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 45

tierende Prinzip vor, man unterscheidet dementsprechend je nach Silbendauer zwischen langen und kurzen Silben, aus denen sich die Metren jeweils zusam-mensetzen. Im deutschen Sprachraum führte Martin Opitz in seinem Buch von der Deutschen Poeterey 1624 im Gegensatz dazu das akzentuierende Prinzip ein, dass nach Silbenschwere und somit zwischen betonten und unbetonten Silben oder Hebungen und Senkungen unterscheidet und damit der Stammsilbenbetonung im Deutschen entgegenkommt. Allerdings lassen sich mit dem Mittel der sogenann-ten Tonbeugung auch durchaus von der Normalbetonung abweichende Betonun-gen legitimieren, um Abweichungen vom gewählten Metrum zu vermeiden. In der romanischen Tradition ist in Abgrenzung davon das silbenzählende Prinzip aus-schlaggebend, wobei allerdings häufig das Mittel der Elision (bei dem, z.B. wenn zwei Vokale unmittelbar aufeinander folgen, ein Laut weggelassen wird) Ver-wendung findet, um die Zahl der Silben in einem Vers zu verringern und so das gewählte Versmaß aufrecht zu erhalten.

Im Anschluß an das akzentuierende Versprinzip sind die gängigsten Metren der deutschen Lyrik, die beiden alternierenden Versmaße Jambus und Trochäus, wo-bei beim Jambus (x-)58 eine betonte auf eine unbetonte Silbe (Bsp. ge-léhrt), beim Trochäus (-x) eine unbetonte auf eine betonte Silbe folgt (Bsp. Lé-ben), sowie der Daktylus (-xx), bei dem auf eine betonte Silbe zwei unbetonte (Bsp. Ré-gen-schirm), und der Anapäst (xx-) bei dem auf zwei unbetonte Silben eine betonte folgt (Bsp. Pa-ra-díes). Seltener kommt noch der Spondeus (- -) vor, bei dem zwei betonte Silben unmittelbar aufeinander folgen (Bsp. É-féu).

Der Vers als die nächstgrößere metrische Einheit wird formal in unterschiedliche Bereiche unterteilt: den Auftakt (eine Eingangssenkung vor der ersten Hebung), das Versinnere und den Versausgang (die sogenannte Kadenz). Die Art des Versausgangs betreffend differenziert man noch weiter zwischen einer stumpfen oder auch männlichen Kadenz, bei der der Vers mit einer Hebung endet und einer klingenden oder auch weiblichen Kadenz, bei der der Vers mit einer Senkung en-det. Bei der Gedichtanalyse und der formalen Transkription des Gedichts wird eine weibliche Kadenz mit einem w, einen männliche mit einem m markiert. Zu-dem spricht man von einem katalektischen Schluß, wenn eine Silbe des letzten regulären Versfußes fehlt, von einem akatalektischen Schluß, wenn am Ende ein vollständiger Versfuß steht und einem hyperkatalektischen Schluß, wenn am Ende eine Silbe überzählig ist.

Vers

Aus den unterschiedlichen metrischen Traditionen heraus haben sich jeweils auch charakteristische Verstypen gebildet. Aus der antiken Tradition stammen der He-xameter, der Pentameter und das elegische Distichon. Als Hexameter bezeichnet man einen Vers der aus sechs Versfüßen besteht, wahlweise sechs Daktylen mit katalektischem Schluß, oder zwei Daktylen mit vier weiteren Versfüßen, Spon-

Hexameter

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58 Im Kontext dieses Studienbriefes steht bei der schematischen Darstellung der Metren ein - für eine betonte, ein x für eine unbetonte Silbe.

46 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

deen oder (im deutschen. Hexameter) Trochäen. [Dies entspricht folgender sche-matischer Darstellung: -x(x)/-xx/-x(x)/-x(x)/-xx/-x].

Bsp.: „Blumen reicht die Natur, es windet die Kunst sie zum Kranze.“

Ein Pentameter (der trotz der irreführenden Bezeichnung auch aus sechs Versfü-ßen besteht) ist im Anschluß daran ein Vers in dem die dritte und vierte Hebung unmittelbar aufeinander folgen, wodurch sich eine Zäsur, ein Einschnitt ergibt. [Schematische Darstellung: -x(x)/-xx/-//-x(x)/-xx/-x.]

Pentameter

Aus der Kombination eines Pentameters und eines Hexameters ergibt sich schließ-lich ein Doppelvers, den man als Distichon bezeichnet.

Distichon

Bsp. Schiller, Das Distichion

Ím Hexámeter steígt des Spríngquells flüssige Säule, Ím Pentámeter dráuf fällt sie melódisch heráb.

Vgl. dazu als ein zweites Bsp. auch die Parodie von Mathias Claudius:

Im Hexameter zieht der ästhetische Dudelsack Wind ein; Im Pentameter drauf lässt er ihn wieder heraus.

Distichen finden vor allem in zwei unterschiedlichen Gedichtgattungen Verwen-dung: in Epigrammen und Elegien. Das Epigramm (im Deutschen auch Sinnge-dicht genannt) ist eine Gedichtform, die aus wenigen, zuweilen auch nur aus ei-nem Distichon besteht und in der formal und gedanklich konzentriert, meist in antithetischer Form, eine prägnante Sinndeutung zu einem Sachverhalt oder Ge-genstand gegeben wird, wobei sich teilweise noch die ursprüngliche antike Be-deutung des Epigramms als Aufschrift bzw. Inschrift rudimentär erhalten hat. Die Elegie hingegen setzt sich immer aus mehreren sogenannten elegischen Distichen zusammen und ist inhaltlich als ein Gedicht mit klagendem und wehmütigen Ton bestimmt. Goethes Römische Elegien (1795) und Hölderlins Brot und Wein (1800/01) sind wohl die bekanntesten aus elegischen Distichen gebildeten Ele-gien. In der Moderne, in der die inhaltliche Bestimmung des Genres wichtiger wird als die formale, finden sich mit Rilkes Duineser Elegien (1923) und Brechts Buckower Elegien (1953/54) aber auch Adaptionen der Gattung, die statt der klas-sischen Distichen sogenannte freie Rhythmen verwenden, das sind metrisch unge-bundene reimlose Verse von beliebiger Zeilenlänge, bei denen aber bestimmte rhythmische oder metrische Modelle immer wiederkehren (wie z.B. Hexameter-schlüsse in Rilkes Duineser Elegien) und die sinngemäß in verschiedene lange Versgruppen gegliedert sind.

Epigramm / Elegie

Der Alexandriner und der Vers comunn, die beide aus der silbenzählenden franzö-sischen Tradition stammen, sind zwei weitere Versmaße, die auch in der deut-schen Lyrik (vor allem aber den versifizierten Formen des Dramas) gebräuchlich

Alexandriner / Vers comunn

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 47

sind. Beim Alexandriner handelt es sich um einen Zwölf- oder Dreizehnsilber mit einer Zäsur nach der dritten Hebung und a- oder hyperkatalektischem Schluß. [Schematische Darstellung: x-/x-/x-//x-/x-/x-(/x).]

Bsp.: „Du síehst, wohín du síehst nur Eítelkeít auf Érden.“

Der Vers comunn ist ein gereimter jambischer Elfsilber mit Zäsur nach der zwei-ten Hebung [Schematische Darstellung: x-/x-//x-/x-/x-/x].

Bsp.: „Mein Gótt, mein Gótt // Du zéntnerst stéte Lást“.

Mit dem Blankvers, einem aus fünf jambischen Versfüßen bestehenden, reimlosen Vers, hat schließlich auch eine Versform aus der englischsprachigen Tradition Einzug in den deutschen Sprachraum gehalten. Wie sein Vorbild der blank vers findet er vor allem im versifizierten Drama Verwendung. Eingeführt wurde der Blankvers in Deutschland u.a. durch Lessings Nathan der Weise:

Blankvers

Es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach!

Im Gegensatz zu den zuvor genannten Versmaßen ist der sogenannte Knittelvers eine genuin altdeutsche Versform, die zunächst vor allem in Epos und Drama Verwendung fand. Abgeleitet von knüttel (Knotiges, Knorriges), bezeichnet der Knittelvers allerdings zunächst primär (im Vergleich zu den klassischen antiken und französischen Versformen) schlecht gebaute Versformen. Man unterscheidet den sogenannten strengen vom freien Knittelvers. Der strenge Knittelvers ist ein meist alternierender acht- oder neunsilbiger Vierheber, mit Paarreimbindung, wie ihn am kunstvollsten Hans Sachs verwandte. Im freien Knittelvers hingegen herrscht Füllungsfreiheit, d.h. es können mehrere Senkungen aufeinander folgen, oder auch ganz wegfallen, so daß der freie Knittel aus bis zu 15 Silben bestehen kann.

Knittelvers

Bsp. Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, 1808

Da steh ich nun, ich armer Tor! (c) Und bin so klug als wie zuvor; (c) Heiße Magister, heiße Doktor gar, (d) Und ziehe schon an die zehen Jahr’ (d) Herauf, herab und quer und krumm (e) Meine Schüler an der Nase herum – (e)

Mit dem Reim, also dem Gleichlaut zweier Silben, ist so bereits ein weiteres we-sentliches Strukturelement der Lyrik erwähnt worden und Sie werden sich fragen, was die Buchstaben in den Klammern nach jedem Vers des letzten Beispiels be-deuten. Diese dienen eben zur schematischen Darstellung der Reimfolge in einem Gedicht, wobei das erste Reimwort und die Folgereime mit dem Buchstaben a, das zweite ebenso wie die entsprechenden Folgereime mit b usw. bezeichnet wer-

Reim

48 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

den. Eine einzelne reimlose Zeile in einem ansonsten durchgereimten Gedicht bezeichnet man als Waise (x).

In der Folge sollen systematisch die wichtigsten Reimarten und -formen unter-schieden nach der Qualität, der Quantität und der Stellung des Reims im Vers vorgestellt werden. Bei der Qualität, also der Klangart des Reims läßt sich zu-nächst zwischen dem reinen Reim (mit Gleichklang der Silben) und einem unrei-nen Reim unterscheiden, bei dem der Klang nur ähnlich ist. Ein berühmtes Bei-spiel für einen unreinen Reim, der durch Goethes Frankfurter Dialekt bedingt sein könnte, ist das „Ah neige, Du Schmerzensreiche“ aus Gretchens Monolog im Faust I. Beim Schüttelreim liegt eine chiastische Stellung der Reimwörter vor (Nachtlicht – lacht nicht), während der rührende Reim im Gleichklang eines oder mehrere Wörter vom letzten Vokal an besteht (Wirtes – schwirt es). Bei einem bloßen Gleichklang der Vokale spricht man hingegen von einer Assonanz (Leib – leicht). Und ein sogenannter grammatischer Reim liegt vor, wenn sich eine Reim-folge aus flektierten Formen desselben Wortstammes zusammensetzt (schreibt – bleiben – schreiben – bleibt). Was die Quantität des Reims angeht so läßt sich zwischen dem einsilbigen, sogenannten männlichen, dem zweisilbigen, weibli-chen (klingen - singen) und dem dreisilbigen, gleitenden Reim (schallende – wal-lende) differenzieren. Nach der Reimstellung lassen sich schließlich zunächst Reime am Versende von Reimen im Versinneren unterscheiden. Bei der Reimstel-lung am Versende läßt sich noch weiter in Paareim (aabb), Kreuzreim (abab), um-armenden Reim (abba), verschränkten Reim (abcabc), Schweifreim (aabccb) und Kettenreim/Terzinenreim (ababcbcdc) differenzieren. Bei der Stellung im Versin-neren spricht man von einem Binnenreim, Sonderformen sind hier der Schlag-reim, bei dem der Gleichklang zwischen zwei unmittelbar aufeinander folgenden Wörtern besteht (quellende, schwellende Nacht) und der Stabreim, der Gleich-klang im Wortanlaut (Wein der Weisheit), der auch als Alliteration bezeichnet wird. An dieser Stelle sei der Vollständigkeit halber noch eine Besonderheit lyri-scher Texte erwähnt, die dann vorliegt, wenn eine syntaktische Einheit durch das Versende getrennt und auf zwei Verse verteilt wird, hier spricht man von einem sogenannten Zeilensprung, oder Enjambement.

Reimarten und Reimformen

Daneben ist auch noch die gehäufte Verwendung von rhetorischen Figuren und Tropen zur sprachlichen Verdichtung ein charakteristisches Kennzeichen lyri-schen Sprechens. Hierzu vergleichen Sie bitte einführend das Kapitel 1.1.1. im Studienbrief 03534 „Literaturtheorie“ und vertiefend das Kapitel 5 „Rhetorik“ im Studienbrief 03531 „Grundlagen, Arbeitsweisen, Hilfsmittel der Literaturwissen-schaft“, vor allem aber das entsprechende Glossar, in dem die wesentlichen Figu-ren und Tropen im einzelnen aufgeführt sind.

Ein weiteres wesentliches Strukturelement der Lyrik ist die Unterteilung in Stro-phen und auch hier läßt sich wiederum eine Reihe von traditionellen Strophen-formen unterscheiden, von denen in Folge eine Auswahl kurz vorgestellt werden soll.

Strophe

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 49

Alkäische Odenstrophe

Aus der Antike stammen die drei klassischen Formen der Odenstrophe; die alkäi-sche, die sapphische und die asklepiadische Odenstrophe. Bei der alkäischen O-denstrophe handelt es sich um eine vierversige Strophe, die sich aus zwei Elfsil-bern mit Mittelzäsur, einem jambischen Neunsilber und einem aus je zwei Dakty-len und zwei Trochäen bestehenden Schlußvers zusammensetzt.

x/-x/-x//-xx/-x/-

x/-x/-x//-xx/-x/-

x-/x-/x-/x-/x

-xx/-xx/-x/-x

Bsp.: Hölderlin, Die Götter, 1800

Du stiller Aether! Immer bewahrst du schön Die Seele mir im Schmerz, und es adelt sich Zur Tapferkeit vor deinen Strahlen, Helios! Oft die empörte Brust mir.

Die sapphische Odenstrophe, die nach der griechischen Lyrikerin Sappho (um 600 v. Chr.) benannt wurde, setzt sich aus drei Elfsilbern, sogenannten sapphischen Versen und einem Adoneus genannten Schlußvers, der aus je einem Daktylus und einem Trochäus besteht, zusammen.

Sapphische Odenstrophe

-x/-x/-xx/-x/-x

-x/-x/-xx/-x/-x

-x/-x/-xx/-x/-x

-xx/-x

Bsp.: Heinrich von Platen, Kassandra, 1832

Deinem Los sei’n Klagen geweiht, Europa Aus dem Unheil schleudert in neue Schrecknis Dich ein Gott stets; ewig umsonst erflehst du Frieden und Freiheit

Die asklepiadische Odenstrophe, benannt nach dem griech. Lyriker Asklepiades aus dem 3. Jh. v. Chr., weist eine Reihe von Varianten auf, deshalb sei hier stell-vertretend eine der bekanntesten Formen zitiert. Diese besteht aus zwei Zwölfsil-bern, einem Sieben- und einem Achtsilber:

Asklepiadeische Odenstrophe

50 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

-x/-xx/-//-xx/-x-

-x/-xx/-//-xx/-x-

-x/-xx/-x

-x/-xx/-x/-

Bsp.: Hölderlin, Lebenslauf, 1826

Größeres wolltest auch du, aber die Liebe zwingt All uns nieder, das leid beuget gewaltig Doch es kehret umsonst nicht Unser Bogen, woher er kommt.

Als einfache Faustregel für die erste Bestimmung von Odenstrophen gilt, daß es in der Regel (von der es natürlich Ausnahmen geben kann) zunächst genügt, bei vierzeiligen Strophen ohne Endreim die Silbenzahlen der Verse zu zählen. Sind es 11+11+9+10 Silben handelt es sich um eine alkäische Odenstrophe, bei 12+12+7+8 Silben liegt eine asklepiadeische und bei 11+11+11+5 Silben eine sapphische Odenstrophe vor.

Wie der Name schon sagt, fanden Odenstrophen seit der Antike meist in Oden (griech. odé „Gesang, Lied“) Verwendung. Es handelt sich hierbei um eine Fami-lie von Gedichtformen, die vor allem bei feierlichen Anlässen und zur Darstellung erhabener Gegenstände Verwendung findet. Man unterscheidet hierbei unter ande-rem die Einzelverwendung eines alkäischen, asklepiadeischen oder sapphischen Odenmaßes in Form einer sogenannten Monodie von längeren Odenformen, die sich durch die regelmäßige Kombination von individuellen mit den geregelten Odenstrophen auszeichnet. In der deutschen Literatur hatten Odenformen vor al-lem im Zuge der Griechenlandbegeisterung um 1800 bei Klopstock und Hölderlin Konjunktur, und in deren Gefolge im 19. Jahrhundert beim epigonalen Münchener Dichterkreis und bei August von Platen, sie sind ansonsten aber eher selten anzu-treffen. Einige späte Wiederbelebungsversuche der Odenform finden sich jedoch noch in der klassischen Moderne, bei Rudolf Alexander Schröder und Rudolf Bor-chardt.

Monodie / Ode

In Form und Inhalt eng mit dem Subgenre der Ode verwandt ist die Hymne (griech. hymnos „Lobgesang“). Bei dieser lyrischen Untergattung handelt es sich um einen feierlichen Lob- und Preisgesang, der, in der Tradition der biblischen Psalmen, göttlichen oder anderen übergeordnete Instanzen (z.B. dem Vaterland) huldigt. Ein stilbildendes Beispiel der Gattung in Deutschland ist Klopstocks Frühlingsfeyer (1759/1771).

Hymne

Aus der italienischen Tradition stammen die beiden Strophenformen Stanze und Terzine. Die Stanze, eine aus acht Elfsilbern, die sich nach dem Schema abababcc reimen, bestehendes Strophenmaß, war die dominante Strophenform der klassi-

Stanze

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 51

schen italienischen Epik, erfreute sich aber in Deutschland um 1800 als lyrische Strophenform besonderer Beliebtheit.

Bsp.: Johann Wolfgang von Goethe, Faust I (Zueignung), 1808

Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. Versuch’ ich wohl euch diesmal festzuhalten? Fühl’ ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt? Ihr drängt euch zu! Nun gut, so mögt ihr walten, Wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt; Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert Vom Zauberhauch der euren Zug umwittert.

Die Terzine wurde im 14. Jahrhundert vom italienischen Dichter Dante Alghieri in dessen Divina Comedia entwickelt und besteht aus drei Versen, im italieni-schen aus Elfsilbern, die Endecasillabos genannt werden, in der deutschen Varian-te handelt es sich um fünfhebige, alternierende Verse, die aus zehn oder elf Silben bestehen können. In aus Terzinen aufgebauten Gedichten reimen sich die Verse über die Strophengrenze hinweg mittels eines sogenannten Ketten- oder Terzinen-reims (Reimschema: ababcbcdc …) und am Ende des Gedichts wird eine einzel-stehende Verszeile ergänzt, damit der letzte Mittelreim nicht isoliert steht.

Terzine

Bsp.: Johann Wolfgang von Goethe, Im ernsten Beinhaus, 1827

Im ernsten Beinhaus war’s wo ich beschaute Wie Schädel Schädeln angeordnet paßten; Die alte Zeit gedacht’ ich, die ergraute. Sie stehn in Reih’ geklemmt’ die sonst sich haßten, Und derbe Knochen die sich tödlich schlugen Sie liegen kreuzweis, zahm allhier zu rasten.

Chevy-Chase-Strophe

Aus der englischsprachigen Tradition stammt die Chevy-Chase–Strophe, die nach volkstümlichen, altenglischen Ballade The Hunting in the Cheviot Hills benannt wurde. Sie besteht aus vier alternierend vier- und dreihebigen Versen, die mit Kreuzreim verbunden sind.

Bsp.: Theodor Fontane, Archibald Douglas, 1856

Ich hab’ es getragen sieben Jahr, Und ich kann es nicht tragen mehr, Wo immer die Welt am schönsten war, Da war sie öd’ und leer.

Die Chevy-Chase-Strophe ist eine Form der Volksliedstrophe, wobei der Begriff lediglich als eine Art Sammelbezeichnung für meist vier-, seltener sechszeilige, drei- und vierhebige, fast immer gereimte und mit wechselnden Kadenzen verse-hene Strophen in einfacher Sprache dient. Diese Strophenform wird u.a. im münd-

Volksliedstrophe

52 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

lich übertragenen Kinderlied und in Kirchenliedern benutzt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte u.a. die von den Romantikern Achim von Arnim und Clemens Brentano herausgegebene Volkslied-Anthologie Des Knaben Wunderhorn zu ei-ner literarischen Wiederentdeckung dieser einfachen Form der Lyrik. In der Folge sollen eine Reihe unterschiedlicher Beispiele die Vielfalt dieser Strophenform illustrieren:

Bsp. 1: Matthias Claudius, Der Mond ist aufgegangen, 1771

Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar. Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus dem Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar.

Bsp. 2: Joseph v. Eichendorff, Das zerbrochene Ringlein, 1813

In einem kühlen Grunde Da geht ein Mühlenrad Mein liebste ist verschwunden, Die dort gewohnet hat,

Bsp. 3: Ingeborg Bachmann, Bleib, 1956

Die Fahrten gehn zu Ende, der Fahrtenwind bleibt aus. Es fällt dir in die Hände ein leichtes Kartenhaus.

Volksliedstrophen fanden in Volksliedern, aber auch im lyrischen Subgenre der Ballade (vom ital. ballata „Tanzlied“) Anwendung, die ursprünglich in Gestalt der Volksballade interessante, bemerkenswerte oder wundersame Geschichten in lyri-scher Form erzählte. Im Sturm und Drang und in der Klassik wurde die Gattung als Kunstballade von Gottfried August Bürger (Lenore, 1774), aber auch von Goethe und Schiller (u.a. im sogenannten „Balladenjahr“ 1797) aufgegriffen und zur Ideenballade weiterentwickelt (Der Zauberlehrling, Die Bürgschaft).

Ballade

Das romanische Gegenstück zur Ballade ist die Romanze. Die entsprechende Ro-manzenstrophe besteht aus vier trochäischen Versen, im Kreuzreim oder halben Kreuzreim, mit wechselnden Kadenzen. Durch die Romanzenübersetzungen Jo-hann Gottfried Herders wurde die Romanzenstrophe und die Gattung der Roman-ze auch in die deutsche Literatur eingeführt. Besonderer Beliebtheit erfreute sich die Romanze aber in der Romantik.

Romanze

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 53

Bsp.: Johann Gottfried Herder, Gazul und Zaida, 1778

Reich gezieret mit Geschenken Seiner schönen Lindaraja, Reiset ab der tapfre Gaul, Geht nach Gelves zum Turniere.

Das Ghasel (arab. gazal „Gespinst“) schließlich ist eine orientalische Strophen- und Gedichtform, die aus 6-30 vierhebigen Langzeilen besteht, die den Reim des ersten Verses in jeder geraden Zeile aufnimmt, die übrigen, ungeraden Zeilen bleiben ungereimt (Reimschema: aabacada). Das Ghasel wurde im Zuge der ro-mantischen Orient-Begeisterung 1803 durch Friedrich Schlegel in Deutschland bekannt gemacht und in der Folge u.a. durch Friedrich Rückert und August von Platen gepflegt, auch Goethe ahmt es in einigen Gedichten des West-Östlichen Divan frei nach.

Ghasel

Zu guter Letzt soll noch die wohl prominenteste und variationsreichste lyrische Gattung etwas ausführlicher vorgestellt werden: das Sonett. Es handelt sich um eine vierzehnzeilige, ursprünglich italienische Gedichtform, die allerdings in vie-len Sprachen nachgebildet worden ist und sich dabei weiter ausdifferenziert hat. Die italienische Grundform des Sonetts, das sogenannte Petraca-Sonett besteht aus Elfsilbern, sogenannten Endecasillabos, die in Form zweier Quartette (vierzei-liger Strophen) und zweier Terzette (dreizeiliger Strophen) angeordnet sind, die allerdings durch ein komplexes Reimschema abab abab (bzw. abba abba) cdc dcd (bzw. cde cde) miteinander verbunden sind. Im französischen oder Ronsard-Sonett findet sich abweichend davon der Alexandriner als Grundvers und das ab-weichende Reimschema abba abba ccd ede. Als deutsches Sonett wird gelegent-lich ein Sonett bezeichnet, das auf die Durchreimung der Quartette verzichtet (ab-ba cddc), allerdings ist dies kein Reimschema, das auf deutsche Sonette be-schränkt wäre und auch nicht alle Sonette in deutscher Sprache folgen diesem Reimschema.

Sonett

Ursprünglich ist mit der elaborierten Form des Sonetts auch ein spezifischer in-haltlicher Aufbau verbunden: Im ersten Quartett wird eine These formuliert, im zweiten Quartett die entsprechende Antithese vertreten, während in den beiden Terzetten These und Antithese konzentriert zusammengefaßt und schließlich zur Synthese gebracht werden. Ein gutes Beispiel für diese inhaltliche Struktur ist Goethes Natur und Kunst (1802):

Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen Und haben sich, eh man es denkt, gefunden; Der Widerwille ist auch mir verschwunden, Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.

Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen! Und wenn wir erst in abgemeßnen Stunden

54 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden, Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.

So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen: Vergebens werden ungebundne Geister Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muß sich zusammenraffen; In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

Eine Sonderform stellt schließlich das englische Sonett, das sogenannte Shakes-peare-Sonett dar, wie im Deutschen ist der Grundvers ein fünfhebiger Jambus und es wird auf Durchreimung verzichtet, allerdings werden die vierzehn Zeilen auf drei Quartette im Kreuzreim und ein Reimpaar verteilt (abab cdcd efef gg).

Sonettenzyklus / Sonettenkranz

Sonette werden häufig zum Sonetten-Zyklus verbunden, wobei sich als besondere Form der sogenannte Sonettenkranz etabliert hat, der meist aus fünfzehn Sonetten besteht, von denen die ersten vierzehn jeweils die Schlußzeile des vorhergehenden Sonetts als Anfangszeile wiederaufnehmen und das erste Sonett die Schlußzeile des vierzehnten Sonettes als Anfangzeile verwendet, so daß eine zyklische Struk-tur, ein Kranz, entsteht. Das fünfzehnte Sonett, auch Meistersonett genannt, setzt sich schließlich aus den Anfangszeilen der vierzehn anderen Sonette zusammen.

Die lange Tradition, die das Sonett als lyrische Gattung durch die Jahrhunderte und die unterschiedlichen Sprachräume entwickelt hat und seine strenge Form haben den (inzwischen vielzitierten) Mißmut des zeitgenössischen Lyrikers Ro-bert Gernhardt erregt, der diesen allerdings selbst in Sonettform präsentierte und damit seinerseits wieder die Tradition des Metasonetts, des Sonetts über Sonette beerbte:

Metasonett

Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs

Sonette find ich sowas von beschissen, so eng, rigide, irgendwie nicht gut; es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen, daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut hat, heute noch so’n dumpfen Scheiß zu bauen; allein der Fakt, daß so ein Typ das tut, kann mir in echt den ganzen Tag versauen. Ich hab da eine Sperre. Und die Wut darüber, daß so’n abgefuckter Kacker mich mittels seiner Wichserein blockiert, schafft in mir Aggressionen auf den Macker. Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert.

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 55

Ich tick es echt nicht. Und wills echt nicht wissen: Ich find Sonette unheimlich beschissen.

Inhaltliche Subgenres

Neben diesen unterschiedlichen Gedichtformen lassen sich auch inhaltlich noch eine Reihe von Subgenres der Lyrik unterscheiden, deren wichtigste abschließend noch kurz zusammengefaßt werden sollen.

Als Gedankenlyrik (oder Ideenlyrik) bezeichnet man Gedichte, in denen Reflexi-onen meist philosophisch-weltanschaulicher Art vorgetragen werden, allerdings geht es im Gegensatz zur Lehrdichtung nicht um die objektive Vermittlung welt-anschaulicher Werte, sondern vielmehr um das Moment der subjektiven Reflexi-on. Ein Beispiel für Gedankenlyrik ist Andreas Gryphius wohl berühmtestes So-nett Es ist alles eitel (ca. 1630), in dem exemplarisch das für die christlich inspi-rierte Barocklyrik typische Vanitas-Motiv vorgeführt wird:

Gedankenlyrik

Du siehst, wohin du siehst nur Eitelkeit auf Erden. Was dieser heute baut, reist jener morgen ein: Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiese sein Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden:

Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden. Was itzt so pocht und trotzt ist Morgen Asch und Bein Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein. Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Taten Ruhm muß wie ein Traum vergehn. Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch bestehn? Ach! was ist alles dies, was wir für köstlich achten,

Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind; Als eine Wiesenblum, die man nicht wiederfind’t. Noch will was ewig ist kein einig Mensch betrachten!

Einen literaturgeschichtlichen Höhepunkt der Gedankenlyrik stellen jedoch Fried-rich Schillers sogenannte philosophische Gedichte (Die Götter Griechenlands, 1783; Die Künstler, 1789; Das Ideal und das Leben, 1795; Der Spaziergang 1795) dar.

Bei der Erlebnislyrik handelt es sich um Lyrik, die im Gegensatz zur Gedankenly-rik unmittelbar auf ein authentisches Erlebnis zurückgeführt werden kann, das mittels sprachlicher, symbolischer und ästhetischer Gestaltung künstlerisch objek-tiviert und nachvollziehbar gemacht wurde. Wie einleitend bereits bemerkt, ist Erlebnislyrik damit an die Entwicklung moderner Subjektivität um 1800 gebun-den und folglich primär in dieser Zeit zu beobachten. Der Begriff ist durch seine

Erlebnislyrik

56 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

emphatische Verwendung in der Forschungsgeschichte gegen Ende der 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts (u.a. in Wilhelm Diltheys Das Erlebnis und die Dich-tung59) umstritten, wurde doch häufig versucht, die dieser Form der Lyrik zugrundeliegenden Erlebnisse direkt auf Biographie oder Psyche der Autoren zu-rückzuführen, ohne dabei das lyrische Ich als textinterne Instanz zu berücksichti-gen, wodurch der Konstruktionscharakter der Erlebnislyrik zu wenig Beachtung fand (vgl. Sie dazu auch die Forschungsgeschichte zu Goethes Wanderes Nacht-lied im folgenden Kapitel). Inbegriff der Erlebnislyrik sind bis heute Goethes Ses-senheimer Gedichte aus den 1770er Jahren. Als Bespiel sei hier exemplarisch das Mailied (1771) herausgegriffen, das die Einheit von Ich und Natur im Gefühl der schwärmerischen Liebe zelebriert:

Wie herrlich leuchtet Mir die Natur! Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die Flur!

Es dringen Blüten Aus jedem Zweig Und tausend Stimmen Aus dem Gesträuch.

Und Freud und Wonne Aus jeder Brust. O Erd, o Sonne! O Glück, o Lust!

O Lieb, o Liebe! So golden schön, Wie Morgenwolken Auf jenen Höhn!

Du segnest herrlich Das frische Feld, Im Blütendampfe Die volle Welt.

O Mädchen, Mädchen, Wie lieb ich dich! Wie blickt dein Auge! Wie liebst du mich!

So liebt die Lerche Gesang und Luft, Und Morgenblumen Den Himmelsduft,

_________________________________________________

59 Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Leipzig 1906.

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 57

Wie ich dich liebe Mit warmem Blut, Die du mir Jugend Und Freud und Mut

Zu neuen Liedern Und Tänzen gibst. Sei ewig glücklich, Wie du mich liebst!

Gelegenheitsdich-tung / Casualpoesie

Ein weiteres inhaltlich bestimmtes Subgenres der Lyrik ist die Gelegenheitsdich-tung bzw. Casualpoesie, die als Auftragsarbeit durch ihren jeweils ganz konkret zu benennenden Entstehungskontext und Anlaß bestimmt (Geburts-, Namens-, Hochzeitstag oder Begräbnis) und stark an den entsprechenden rhetorische Kon-ventionen orientiert ist, womit sie sich stark von der Subjektivität der Erlebnisly-rik abgrenzt. Besonderer Beliebtheit erfreute sich die Gelegenheitsdichtung im höfischen Kontext, mit dem neuen autonomen und subjektiven Dichtungsver-ständnis der Goethezeit verlor sie jedoch an Bedeutung. Als Beispiel dient hier ein Neujahrsgedicht das der Dichter Salomon Hase dem braunschweigischen Fürsten 1655 übereichte:

Pappierenes New=Jahres=Geschencke. Das ist: Augustisch=Fürstlich=Braunschweig=Lünäburgisches Ruhm= und Tugend A.B.C.

Vor= und rückwerts vollenkommen zu lesen / Wann die zweybedeutende Buchstaben in ihre Ein=bedeutende auffgelöset werden / Nemlich: W in UV. oder VU. X in CS. GS. und VS. Y i II. und Z in SS.

In aller Einfalt gedichtet / unzierlich geschrieben / und in Unterthänig= und demütigem Ge-horsam übergeben / Von Salomone Hasaeo [...]

Vorwerts.

Augustus Begierig Christ=Dienender Ehre / Fürcht Gott Hertz=Indringlichst: Käzzerisch Lehre Meidt; Nichtiget Offenbahr Päpstisches Quärcken.

Oder:

(Furcht Gottes Hagt Inniglich: Käzzerisch Lehre Meidt; Namentlich Ostermahl Päpstlerey Quählet.) Regiert Sein Thun Vorsichtig: Vermaledeyet Unfriede: Clar Schreibet: Guts Schaffet: Vernewet Schutz Jederman; Ja Schulen Stifft.

Gott woll’ ihn stärcken! Von Gott erwählet.

58 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

Oder: Rückwerts.

Schrifft Samlen Ist Immerdar Seine Verrichtung: Seine Gnade Scheint Clärlich; Und Unser Vernichtung Treweiferig Straffet Rechts Quellende Probe. Ohn Niemandes Mangel Lehrt Kräfftig Im Hertzleid: Giebt Frölich; Erduldet Des Creutzes Bürd' Allzeit.

So ehret / so mehret Augustisches Lobe!

Das sogenannte Dinggedicht ist eine letzte weitere, inhaltlich bestimmte Untergat-tung der Lyrik, in der ein Ding, ein Gegenstand, ein Objekt sowie seine Wahr-nehmung, Erfahrung, Deutung und Wertung im Mittelpunkt steht, wobei das lyri-sche Ich als wahrnehmende Instanz ganz oder zumindest weitgehend zurücktritt. Meist findet dabei eine sukzessive Abstraktion vom eigentlichen Gegenstand statt, dem eine weitergehende symbolische Bedeutung zugeschrieben wird. In der deut-schen Literatur treten Dinggedichte vor allem im 19. und 20. Jahrhundert in Er-scheinung, eins der bekanntesten Dinggedichte des 19. Jahrhunderts, neben Con-rad Ferdinand Meyers Der römische Brunnen, ist Eduard Mörikes Auf eine Lam-pe, aus dem Jahr 1846, an dessen Schlußsatz sich ein Jahrhundert später gar eine philosophische Diskussion zwischen Emil Staiger und Martin Heidegger ent-spannte60:

Dinggedicht

Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du, An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier, Die Decke des nun fast vergeßnen Lustgemachs. Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht, Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn. Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form - Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein? Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.

Im 20. Jahrhundert belebte Rainer Maria Rilke u.a. mit Der Panther und Archäi-scher Torso Apollos in seinen Neuen Gedichten (1907/08) diese Gattungstradition eindrucksvoll neu.

Eine ganz eigene Form der modernen Lyrik, die an dieser Stelle noch kurz vorge-führt werden soll, ist die Konkrete Poesie. Die Bezeichnung geht auf Eugen Gom-ringer zurück, der den Begriff 1953 in Analogie zur Konkreten Kunst und deren abstrakter Darstellungsweise bildete. Das charakteristische Merkmal der konkre-ten Poesie ist im Anschluß daran auch der weitgehende Verzicht auf das Wort als

Konkrete Poesie

_________________________________________________

60 Vgl. dazu: Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturge-schichte. Zürich 1955, S. 7-42 und Martin Heidegger: Zu einem Vers von Mörike. Ein Brief-wechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger. In: Trivium 9, 1951, S. 1-16

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 59

Bedeutungsträger, statt dessen wird im Rekurs auf das konkrete Material der Sprache (Wörter, Silbe, Buchstaben) eine Aussage unmittelbar veranschaulicht. Dies kann wie bei Gomringer in Form visueller Dichtung, aber auch wie bei Ernst Jandl in Gestalt akustischer Dichtung, in Form sogenannter Lautgedichte erfolgen. Beide charakteristischen Spielarten der Konkreten Poesie sollen abschließend noch anhand von Beispielen illustriert werden:

Eugen Gomringer, Schweigen, 1954

Schweigen schweigen Schweigen Schweigen schweigen Schweigen Schweigen Schweigen Schweigen schweigen Schweigen

Schweigen schweigen Schweigen

Reinhard Döhl, Apfel, 1956

Ernst Jandl, Schtzngrmm, 1966

schtzngrmm schtzngrmm t-t-t-t t-t-t-t grrrmmmmm t-t-t-t s------c------h tzngrmm tzngrmm tzngrmm grrrmmmmm schtzn

60 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

schtzn t-t-t-t t-t-t-t schtzngrmm schtzngrmm tssssssssssssssssssss grrt grrrrrt grrrrrrrrrt scht scht t-t-t-t-t-t-t-t-t-t scht tzngrmm tzngrmm t-t-t-t-t-t-t-t-t-t scht scht scht scht scht grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr t-tt

3.2.2.2 Geschichte der modernen Lyrik im Spiegel der Poetologie

Entrhetorisierung und Subjektivierung

Die Literaturwissenschaftler identifizieren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-derts die Entstehung der Erlebnislyrik als Revolution des bisherigen Dichtungs-verständnisses, da nun gebundene Sprachformen an individuelle Expression ge-koppelt werden. Denn natürlich hatte es bereits zuvor, vor allem im 17. Jahrhun-dert, eine höchst lebendige Produktion von Gedichten gegeben. Die barocke Lyrik ist dabei aber noch ganz in das rhetorische Regelwerk, wie es Martin Opitz in sei-nem Buch von der deutschen Poeterey (1624) festschreibt, orientiert und begreift die Dichtkunst als artifizielles Spiel mit den verschiedenen Stilmitteln und Sprachformen.

In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird dieses auf Kunstfertigkeit beruhen-de Lyrikverständnis hinsichtlich der Naturerfahrung – bei Barthold Hinrich Bro-ckes, Albrecht von Haller oder Matthias Claudius – erweitert, bis dann in den empfindsamen Freiheitsoden Friedrich Gottlieb Klopstocks sowie der Liebeslyrik des Sturm und Drang alle Formgesetze der Dichtung von den Eruptionen subjek-tiven Erlebens durchbrochen werden. Goethes Gedicht Prometheus als program-matischer Anschluß an denjenigen Halbgott, der die Autorität der Götter zuguns-ten der Beförderung menschlicher Fähigkeiten infrage stellte, und seine Seesen-heimer Lieder, in denen das persönliche Liebeserlebnis eine bis dahin unbekannte

Erlebnislyrik

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 61

sprachliche Form findet, gelten daher als Beginn der modernen deutschsprachigen Lyrik in Form der Erlebnislyrik.

In der Folge soll nun wie angekündigt – die Lyrik als literarische Kurzform er-laubt dies – die Geschichte der modernen Lyrik anhand dreier Gedichte von Goe-the, Ernst Jandl und Gottfried Benn exemplarisch vorgeführt werden, um das je-weils wechselnde poetologische Selbstverständnis der entsprechenden Zeit anzu-deuten. Eines der bekanntesten Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe ist das folgende:

Ein gleiches.

Über allen Gipfeln Ist Ruh’, In allen Wipfeln Spürest Du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur! Balde Ruhest Du auch.

Dieses Gedicht gehört zu den populärsten in deutscher Sprache; kein anderes deutsches Gedicht ist über 100 mal vertont und in alle Kultursprachen der Welt übersetzt worden, unzählige Deutungen wurden zu ihm geschrieben. Diese Popu-larität verdankt sich auch der Entstehungsgeschichte des lyrischen Kunstwerks. Verfasst wurde das Gedicht am 6. September 1780 auf dem Kickelhahn (Gickel-hahn) bei Ilmenau (Thüringen), wo Goethe die Verse mit Bleistift an die Bretter-wand einer Jagdhütte schrieb. Diese Genese machte das Gedicht in der Rezeption nicht nur zu einem paradigmatischen lyrischen Gedicht, sondern auch zu einem Gelegenheitsgedicht par excellence, das von einem durch die Abendstimmung überwältigten Originaldichter mangels Papier eben an die Holzwand geschrieben wurde. Daß der Kickelhahn als magischer Ort zugleich zum Wallfahrtsort für Goetheverehrer nach dessen Tod wurde, versteht sich von selbst. Den Gedanken, daß Goethe den Text zuhause bereits fixiert haben könnte und ihn nur noch an die Bretterwand geschrieben haben könnte, mochte niemand auch nur denken.

Ursprungsmythos

Wir wissen nicht, wie es wirklich war, doch zeigt die Editionsgeschichte des Ge-dichts, daß Goethe der lebensweltliche Kontext nicht so wichtig war. Goethe hat das Gedicht in seiner zweiten Werkausgabe bei Cotta 1815 autorisiert publiziert. Dort steht das Gedicht nun abweichend von der Inschrift der Holzwand unter dem Titel Ein gleiches. und wird dadurch fest an den Kontext des vorangegangenen Liedes gebunden. Das Vorgängergedicht heißt Wandrers Nachtlied „Der du von dem Himmel bist…“. Dieser Kontext macht „Über allen Gipfeln …“ ebenfalls zum Nachtlied eines Wanderers. Goethe löst das Gedicht 35 Jahre nach der Ent-stehung für den Druck aus dem Zusammenhang seiner Entstehung und literarisiert das lyrische Gebilde im Kontext eines topischen Sinnzusammenhangs in der Ge-dichtausgabe. Für unseren Fragezusammenhang heißt das: Selbst wenn das Ge-dicht spontan entstanden sein sollte, der Autor selbst verwischt diese Spur in der

Editionsgeschichte

62 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

Werkausgabe bewußt und möchte es dezidiert nicht als pragmatisches Situations-gedicht verstanden wissen. Vielmehr betont er durch den Titel den Status des Ge-dichts als ästhetisches Kunstwerk, das die Interpreten seither fasziniert hat.

Auf einzigartige Weise verknüpft das Gedicht Klang, Reim, freie Rhythmik und Metrik, die sich in kein Ordnungsschema bringen läßt, mit Elementen der Natur-dichtung, die nach dem Seinsstufenschema ganz im Sinne des alten topischen Be-schreibungssystems angeordnet sind (Unbelebt-anorganisch „Gipfel“, unbelebt-organisch „Wipfel“, belebt-tierisch „Vögelein“, belebt-menschlich „Du“). In die-ser paradigmatischen Reihe von Ruhezuständen repräsentieren die Elemente durch ihre Anordnung die Gegenüberstellung „Ruhe der Natur“ – „Nicht-Ruhe des Menschen“. Solange der Mensch noch nicht ruht (wobei die „Ruhe“ gewollt in der semantischen Ambivalenz zwischen Schlaf und Tod verbleibt), ist er der Natur entgegengesetzt. Das Gedicht bringt also in seiner ästhetischen Struktur „das Bewusstsein der Einheit in der Verschiedenheit von Mensch und Natur zum Ausdruck“.61

Zugleich ist Goethes Gedicht aber aufgrund seiner Popularität auch Gegenstand zahlreicher Nachdichtungen und Parodien geworden. Eine dieser Anverwandlun-gen durch Ernst Jandl besticht nicht nur durch seine besondere ästhetische Konse-quenz, sondern zeigt auch, wie sich das Dichtungsverständnis auf dem Weg in die literarische Moderne wandelt:

ein gleiches über allen gipfeln ist ruh in allen wipfeln spürest du kaum einen hauch […]

ÜBE! rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr A! lllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll (eng) iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii ppp- FEHL NIE! ssssst rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr («uuuhii») NNNA! lllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll EEE! nnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnn WIPP!

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61 Werner Strube: Über Kriterien der Beurteilung von Textinterpretationen. In: Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte, hg. v. Lutz Danneberg u. Friedrich Vollhardt. Stuttgart 1992, S. 185-209, hier S. 197.

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 63

–––––– –––––– –––––– FEHL’N’S? –––––– («püree») ssst! du! –––––– »kau meinen (hhhhhhhhh) auch…« […]

Ernst Jandl verwandelt Goethes Gedicht 1970 in ein Lautgedicht und unterwan-dert dabei komplett dessen Bedeutungsstruktur. Er löst die Sprache bis auf die Ebene der Phoneme auf und setzt sie neu zusammen. Alles ist Konstruktion, die ‚konkreten‘ Laute selbst machen das Gedicht aus, die Semantik der Textvorlage spielt dabei keine Rolle mehr. In der Gedichtanthologie Der künstliche Baum stellt Jandl auf einer Doppelseite sein Lautgedicht dem Gedicht Goethes, das er bis auf die moderne Kleinschreibung unverändert zitiert, gegenüber. In dieser An-ordnung greift Jandl den Titel ein gleiches mehr- und hintersinnig auf. Jandls Ge-bilde ist einerseits „ein gleiches“ – eben eine moderne Variation von Goethe –, andererseits ist das Lautgedicht offensichtlich etwas „anderes“.

konkrete Poesie

Bei genauerer Betrachtung stellt man fest, daß Jandl die Buchstaben von Goethes Gedicht (überallengipfelnistruhinallenwipfelnsprürestdukaumeinenhauch…) un-verändert in ihrer Reihenfolge belassen hat, durch eigenwillige Vervielfachung und die Ausprägung neuer Sinneinheiten jedoch eine neue Lesart realisiert. Jandls Neuschöpfung ist zugleich ein Beispiel für die schöpferische Funktion der herme-neutischen Differenz zwischen ‚klassischem‘ Text und seinem heutigen Leser. Jandl nimmt Goethes Text die Autorität, will das Gedicht dabei aber nicht auf eine Eindeutigkeit reduzieren, sondern „transponiert es in eine Vieldeutigkeit“62. Da-bei zerstört sein Kunstwerk die Vorlage nicht, nutzt sie aber pietätlos – und er-schafft darüber eine im besten Sinne postmoderne Dichtung.

Jandls Bearbeitung von Goethes Gedicht erlaubt es daher, Erlebnislyrik und kon-krete Poesie als zwei Extrempole im Dichtungsverständnis der deutschen Litera-turgeschichte zu markieren: Das eine scheint zur Deutung der Worte als Ausdruck eines subjektiven Zustands aufzurufen, das andere führt alle solche Deutungsver-suche von Sprache ad absurdum und betrachtet Lyrik als reines Klangerlebnis.

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62 Wulf Segebrecht: J. W. Goethe. ‚Über allen Gipfeln ist Ruh‘. Texte, Materialien, Kommen-tar. München 1978, S. 119.

64 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

Zwischen diesen beiden Extrempolen kennt die Geschichte der Lyrik zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch eine Zwischenstufe, auf der die subjekitive Erlebnisdi-mension ebenfalls schon überwunden, die sprachliche Artistik aber noch nicht ganz Selbstzweck geworden sondern explizit auf eine Theorie der Dichtung bezo-gen ist. Hierzu sei Gottfried Benn als Beispiel angeführt:

Ein Wort

Ein Wort, ein Satz -: aus Chiffren steigen erkanntes Leben, jäher Sinn, die Sonne steht, die Sphären schweigen, und alles ballt sich zu ihm hin.

Ein Wort - ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, ein Flammenwurf, ein Sternenstrich - und wieder Dunkel, ungeheuer, im leeren Raum um Welt und Ich.

Benns in Reim und Metrik ästhetisch exakt komponiertes Gedicht von 1941 ist ein Beispiel für die poetologische Dichtung. Damit bezeichnet man Texte, die ihre eigene Poetik zum Thema machen und also selbstbezüglich zu lesen sind. Ein Wort thematisiert den Entstehungsprozeß eines Gedichtes. Benn spielt dabei auf den Beginn des Johannesevangeliums an: „Am Anfang war das Wort.“ Diese An-spielung verweist wiederum auf die Szene im Studierzimmer am Beginn von Goe-thes Faust I. Faust stockt hier bei der Übersetzung des griechischen Worts lógos, verwirft zunächst die Varianten „Wort“, „Sinn“, „Kraft“ und entscheidet sich schließlich für die Bedeutung „Tat“. Demgegenüber kehrt Benn zum Wort als Ausgangspunkt der Welt zurück, setzt aber eine dezidiert moderne Wendung an. Benns Huldigung an die Kraft des Wortes kann nicht dauerhaft eine sinnhafte Welt erzeugen, „ein Wort, ein Satz“ kann diesen Sinnzusammenhang nur mo-menthaft in der Kunst bieten. Letztlich ist die Kunst bei Benn monologisch, das Subjekt bleibt zurück „im leeren Raum um Welt und Ich“. Gegen diese Leere kann das Subjekt zwar mit der Kunst bestehen, wird dadurch aber in einem prekär zirkulären Modell zu seinem eigenen Schöpfer. Benns Gedicht markiert somit ein Ende des Autonomisierungsprozesses der Kunst.

poetologische Dichtung

Literaturhinweise

Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse. 2. Auflage. Stuttgart1997.

Friedrich, Hugo: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehn-ten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Reinbek 1967.

Holznagel, Fanz Josef: Geschichte der deutschen Lyrik. Stuttgart 2004.

Kayser, Wolfgang: Geschichte des deutschen Verses. Zehn Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten. 3. Auflage. München 1981.

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 65

Lamping, Dieter: Moderne Lyrik. Eine Einführung. Göttingen 1991.

Wagenknecht, Christian: Deutsche Metrik. Eine historische Einführung. 3. durch-ges. Auflage. München 1993.

3.2.3 Drama(tik)

3.2.3.1 Dramatische Strukturelemente und Subgenres

Der Gattungsbegriff Drama bzw. Dramatik leitet sich ab vom griech. dráma „Handlung, Schauspiel“. Kennzeichnend für das Drama ist entsprechend die Un-mittelbarkeit der Darstellung einer Handlungsfolge, die von Schauspielern in Re-de und Gegenrede auf einer Bühne inszeniert wird. Neben Dialog und Monolog sind die Einteilung in Akte und Szenen bzw. Aufzüge und Auftritte und die Re-gieanweisungen, die die Aufführung antizipieren, die wesentlichen Strukturele-mente des Dramas. Dieses ist also konstitutiv an die (imaginierte) Aufführungssi-tuation gebunden, auch wenn gelegentlich Autoren ihre Schauspiele von vornher-ein als reine Lesedramen konzipieren oder manche Stücke sich letztlich als ‚un-aufführbar‘ erweisen. Entsprechend sollte eine Dramenanalyse interdisziplinär angelegt sein und nicht nur aus literaturwissenschaftlicher Perspektive den Dra-mentext selbst, sondern auch aus theater- und medienwissenschaftlicher Perspek-tive die entsprechende Aufführungspraxis berücksichtigen.

Drama(tik)

Wie die Epik hat auch die Dramatik ihren Ursprung bereits in der Antike. Aus den kultischen Opferspielen zu Ehren des Dionysos entwickelt sich mit dem Dithy-rambos zunächst eine Form des Chorliedes zur Begleitung des Rituals, aus der schließlich durch die Ergänzung von Stoffen aus Heldensagen und den Auftritt eines Schauspielers (griech. hypokrités „Antwortender“) als Gegenpart zum Chor die Urform der Tragödie (griech. tragōdía; urspr. ‚Bocksgesang‘) entsteht.

Tragödie

Theoretisch eingeholt hat auch diese Entwicklung Aristoteles in seiner fragmenta-risch überlieferten Poetik, in der er die folgendenden drei Handlungselement als charakteristisch für die Tragödie ausweist: peripétia (Perepetie: den Umschlag vom Glück in das Unglück), anagnōrisis (Anagnorisis: die Wiedererkennung bzw. den Übergang von der Unkenntnis zu Kenntnis) und páthos (Pathos: schwe-res Leid, das durch die Erkenntnis bedingt wird). Im Mittelpunkt der Handlung steht jeweils ein fehlerhafter Held der durch hamartía (eine Verfehlung) einen Schuldkonflikt mit tragischen Folgen verursacht. Die Funktion der Tragödie ist für Aristoteles katharsis, die Läuterung des Publikums durch Anteilnahme am Schicksal der Figuren:

Handlungselemente

66 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

Die Tragödie ist die Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung [...], die Jammer [éleos Mitleid] und Schaudern [phóbos Furcht, Schrecken] hervorruft und hierdurch eine Reinigung (kátharsis) von derartigen Zuständen bewirkt.63

Neben der Tragödie hat sich in der Antike in Verbindung mit dem Dionysoskult mit der attischen Komödie im 5. Jahrhundert v. Chr. auch bereits die zweite Grundform der Gattung Drama entwickelt. Im Gegensatz zur Tragödie, die sich dadurch auszeichnet, daß es sich bei dem der Handlung zugrundeliegenden dra-matischen Konflikt um einen tragischen, d.h. unlösbaren Konflikt (meist von öf-fentlicher oder politischer Relevanz) handelt, dessen sich die betroffenen Perso-nen zunächst nicht bewußt sind, der ihnen aber im Verlauf des Dramas schmerz-lich bewußt wird, was zum katastrophalen Ende führt, ist der Grundkonflikt (meist eher privater, individueller Art, typisch ist hier z.B. die Hochzeit mit Hin-dernissen) in der Komödie prinzipiell lösbar. Allerdings erscheint er den beteilig-ten Personen zunächst ebenso dramatisch, da sie sich dieser Lösbarkeit zunächst nicht bewußt sind, die Auflösung erfolgt dann jedoch sukzessive im Verlauf der Komödie, an deren Ende entsprechend, nicht eine Katastrophe, sondern die Lö-sung des Konflikts steht. Infolgedessen ist die Wirkung der Komödie nicht tra-gisch, sondern in erster Linie komisch. Damit korrespondiert, daß Aristoteles die Darstellung von guten Menschen der Tragödie und der Komödie die von schlech-ten Menschen zuordnete, die so zum Objekt des Verlachens werden. Entsprechend ist bereits in der Antike auch die Sprache der Figuren in Tragödie und Komödie unterschiedlich, der Tragödie entspricht der hohe Stil, der Komödie hingegen der niedere Stil.

Komödie

drei Einheiten / Ständeklausel

Im deutschsprachigen Raum ist neben der aristotelischen Dramenkonzeption zu-nächst vor allem Gottscheds Dramenverständnis stilbildend, das dieser neben der zentralen Orientierung an Aristoteles, auch im Rückgriff auf Horaz, die italieni-schen Humanisten und die französischen Klassizisten (Corneille, Racine) entwi-ckelte. Ein wesentliches Element von Gottscheds Dramentheorie ist die Vorschrift der Einhaltung der sogenannten drei Einheiten, die auf die Poetik des Aristoteles zurückgeht. Sie beinhaltet, daß jedes Drama eine einheitliche, geschlossene Hand-lung mit Anfang, Mitte und Ende besitzen muß (Einheit der Handlung), an einem einzigen überschaubaren Ort spielen soll (Einheit des Ortes) und eine angemesse-ne zeitliche Ausdehnung nicht überschreiten darf (Einheit der Zeit) – bei Aristote-les ist es ein einziger Sonnenumlauf. Dies alles dient dazu, der Wahrscheinlichkeit der dramatischen Darstellung Plausibilität zu verleihen. Signifikant ist bei Gott-sched auch die Systematisierung der aristotelischen Zuordnung von unterschiedli-chen Charakteren zu Tragödie und Komödie in der sogenannten Ständeklausel, die besagt, daß in der Tragödie nur die höheren Stände, im Lustspiel nur die nie-deren Stände auftreten dürfen, was wohl primär humoristische Spielarten der Kri-tik am Adelsstand in Form der Komödie verhindern sollte.

_________________________________________________

63 Aristoteles: Poetik. Griech./dt. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994, S. 19.

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 67

Ein weiteres Strukturmerkmal der klassischen deutschen Dramentheorie bei Gott-sched ist die Orientierung an Horaz’ Fünfaktschema, die ihren bekanntesten Aus-druck jedoch später unzeitgemäß in Gustav Freytag Technik des Dramas (1863) gefunden hat, wo dieser den pyramidalen Bau des Dramas veranschaulicht:

pyramidaler Aufbau

Durch die beiden Hälften der Handlung, welche in einem Punkt zusammenschließen, erhält das Drama, – wenn man die Anordnung durch Linien verbildlicht, – einen pyramidalen Bau. Es steigt von der Einleitung mit dem Zutritt des erregenden Moments bis zu dem Höhepunkt, und fällt von da bis zur Katastrophe. Zwischen diesen drei Teilen liegen die Teile der Stei-gung und des Falles. Jeder dieser fünf Teile kann aus einer Szene oder aus einer gegliederten Folge von Szenen bestehen, nur der Höhepunkt ist gewöhnlich in einer Hauptszene zusam-mengefaßt. Diese Teile des Dramas, a) Einleitung, b) Steigerung, c) Höhepunkt, d) Fall oder Umkehr, e) Katastrophe, haben jeder Besonderes in Zweck und Baurichtung. Zwischen ihnen stehen drei wichtige szenische Wirkungen, durch welche die fünf Teile sowohl geschieden als verbunden werden. Von diesen drei dramatischen Momenten steht eines, welches den Be-ginn der bewegten Handlung bezeichnet, zwischen Einleitung und Steigerung, das zweite, Beginn der Gegenwirkung, zwischen Höhepunkt und Umkehr, das dritte, welches vor Eintritt der Katastrophe noch einmal zu steigern hat, zwischen Umkehr und Katastrophe. Sie heißen hier: das erregende Moment, das tragische Moment, das Moment der letzten Spannung. Die erste Wirkung ist jedem Drama nötig, die zweite und dritte sind gute, aber nicht unentbehrli-che Hilfsmittel.64

Unzeitgemäß erscheint die Dramentheorie Freytags, weil bereits um 1800 u.a. in Lessings bürgerlichen Trauerspielen, die die Ständeklausel außer Kraft setzten, indem sie die bürgerliche Familie und ihre Privatsphäre zum Schauplatz von tra-gischen Handlungen im Kontext von Standeskonflikten und unter dem Einfluß von Adelswillkür machten, eine Modernisierung der dramatischen Form einsetzte. Der Literaturwissenschaftler Volker Klotz hat diesbezüglich zwischen der offenen und der geschlossenen Form im Drama unterschieden.65 Auch diese idealtypische Unterscheidung korrespondiert mit der Ausdifferenzierung des modernen Litera-

geschlossene und offene Form

_________________________________________________

64 Gustav Freytag: Die Technik des Dramas. Darmstadt 1969, S. 102. 65 Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. München 1960.

68 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

tursystems, läßt sich die offene Form, die in England durch Shakespeare etabliert wurde, doch für Klotz in Deutschland zum ersten Mal im Sturm und Drang, u.a. in Goethes Götz von Berlichingen (1773) beobachten. Die geschlossene Form ordnet Klotz Aristoteles, dem französischen Klassizismus und der Aufklärung zu, wobei deren Vorstellungen im deutschen Sprachraum systematisch in Gottscheds Dra-mentheorie zusammengefaßt werden. Die geschlossene Form zeichnet sich primär durch die Einhaltung der drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung, den Aufbau eines Spannungsbogens (Exposition, steigende Handlung, Klimax, Peripetie, fal-lende Handlung mit retardierenden Moment und Katastrophe oder Lösung) und die Konzentration auf wenige Personen auf der Bühne (in der Regel maximal drei Personen pro Auftritt) aus: ein Ausschnitt aus dem Handlungsgeschehen wird als Ganzes präsentiert. Demgegenüber kennzeichnet die offene Form die Negation der wesentlichen Merkmale der geschlossene Form: die Nicht-Einhaltung der drei Einheiten, eine Episodenstruktur, entsprechend ein Bilder- statt eines Spannungs-bogens und das gleichzeitige Auftreten einer Vielzahl von Personen auf der Büh-ne: das Ganze wird in Ausschnitten dargestellt. Wie bei allen idealtypischen Un-terscheidungen sind beide Formen so in der Literatur nur selten anzutreffen, in den meisten Dramen lassen sich sowohl Merkmale der offenen wie auch der ge-schlossenen Form nachweisen.

Synthetisches und analytisches Drama

Eine weitere zentrale heuristische literaturwissenschaftliche Unterscheidung ist die zwischen dem synthetischen und dem analytischen Drama. Das synthetische Drama oder Zieldrama setzt mit einem Konflikt ein, der zielstrebig bis zum Ende hin auf der Bühne entwickelt wird. Klassische Beispiele sind hier zum einen Sophokles Antigone (442 v. Chr) und zum anderen im deutschen Sprachraum Les-sings Emilia Galotti (1772). Das analytische Drama oder auch Enthüllungsdrama dagegen, deckt einen bereits in der Vergangenheit liegenden, jedoch noch verbor-genen oder unbekannten Konflikt, der, weil er in der Vorgeschichte liegt, auch nicht unmittelbar theatralisch dargestellt wird, im Lauf der Handlung sukzessive auf. Das klassische Beispiel ist natürlich Sophokles König Ödipus (425 v. Chr.), in der deutschen Literatur jedoch Heinrich von Kleists Der zerbrochene Krug (1811), wobei hier die Tendenz des analytischen Dramas zur kriminalistischen Ermittlung folgerichtig, wie später auch in Peter Weiss Die Ermittlung (1965), in eine Gerichtsverhandlung mündet.

Versdrama und Prosadrama

Bei der literaturwissenschaftlichen Dramenanalyse steht zunächst einmal natürlich die Analyse des Dramentextes im Vordergrund. Hier ist zunächst die Unterschei-dung von Versdrama und Prosadrama von Interesse. Antike und klassizistische Dramen waren zunächst Versdramen, in der antiken Tradition war der jambische Trimeter das gängige Vermaß (sechs Hebungen, die mit je einer einsilbigen Sen-kung alternieren), eine Nachbildung dieses Vermaßes im Deutschen findet sich allerdings selten, u.a. im Monolog der Helena im dritten Akt des zweiten Teils von Goethes Faust. Das charakteristische Versmaß für Dramen war im Deutschen im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert jedoch der Alexandriner, bis Lessing in Nathan der Weise 1779 den Blankvers aus der englischen Dramentradition impor-

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 69

tierte, der von da an zum dominierenden Metrum des deutschen Versdramas wur-de. Allerdings entwickelte sich um 1800 zugleich auch, wiederum exemplarisch in Lessings Lustspielen (Minna von Barnhelm, 1767), als Alternative das Prosadra-ma, daß im 19. und 20. Jahrhundert sukzessive an Bedeutung gewann.

Abgesehen von der Frage, ob es sich um eine Vers- oder Prosadrama handelt, ist, was den Dramentext angeht, auch die Unterscheidung in Haupttext (die dramati-schen Figurenrede) und Nebentext (sogenannte Paratexte, wie Titel, Untertitel des Stückes, Personenverzeichnis (dramatis personae), Vorrede etc., vor allem aber die Bühnen- und Regienanweisungen) zu unterscheiden. Der Nebentext kann, zusammen mit Aufzeichnungen über historische Aufführungen, für den Litera-turwissenschaftler ein wichtiges Mittel zur Annäherung an die plurimediale Auf-führungssituation darstellen.

Haupt- und Neben-text

Dialog / Stichomythie

Weiterhin ist in der Dramenanalyse vor allem die Struktur der Figurenrede als Darstellungsmodus des Dramas genauer zu untersuchen. Hier läßt sich zunächst zwischen Dialog und Monolog als grundlegenden Modi unterscheiden, wobei vor allem auch die Länge und Dynamik der Redebeiträge aufschlußreich sein kann. Wechseln sich zum Beispiel Rede und Gegenrede von Vers zu Vers bzw. Zeile zu Zeile ab, so bezeichnet man dies als Stichomythie (Zeilenrede), bei der noch wei-tergehenden Verteilung eines Sprechverses oder eines Satzes auf mehrere Perso-nen spricht man von einer Hemi-Stichomytie oder einer Antilabe. Beide Formen der Stichomythie sind geeignet Lebhaftigkeit und Spontanität im Rahmen der zum Teil monotonen Wechselrede des Dramas zu erzeugen, sie können jedoch auf der Ebene der Figurencharakterisierung zudem höchst unterschiedliche Funktion ha-ben: ergänzen sich die Redebeiträge wechselseitig, erzeugt dies Harmonie und ist ein Anzeichen für die relative Übereinstimmung zwischen den am Dialog beteilig-ten Personen, wird das gegenseitige Ins-Wort-Fallen allerdings als Form der Un-terbrechung inszeniert, deutet dies eher auf grundlegende gedankliche oder emoti-onale Unstimmigkeiten zwischen den Figuren hin.

Auch die dem Dialog korrespondierende Form des Monologs kann im Drama durchaus unterschiedliche Funktionen erfüllen. Als dramatischer Monolog, dient er wiederum der Figurencharakterisierung, indem er den Figuren Gelegenheit bie-tet ihr Innenleben auszubreiten. Als Übergangsmonolog kann er dazu beitragen zwei einzelne Szenen oder Auftritte miteinander zu verknüpfen. Als sogenannter epischer Monolog hat er schließlich die Funktion, diejenigen Anteile der Hand-lung, die weder auf der Bühne direkt gezeigt werden können, noch als verdeckte Handlung hinter der Bühne für das Publikum durch die Geräuschkulisse wahr-nehmbar gemacht werden können, erzählend einzuholen. Diese berichtete Hand-lung kann entweder, wenn es sich um zur direkt gezeigten Handlung parallele und räumlich nahe Ereignisse handelt, in Form einer Teichoskopie oder Mauerschau vermittelt werden, bei der eine der beteiligten Figuren über eine Mauer hinweg (oder im modernen Drama auch durch ein Fenster hindurch) diese Handlung ver-folgt und für die anderen an der Szene beteiligten Figuren, aber nicht zuletzt auch

Monolog

70 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

für das Publikum kommentiert. Oder aber, wenn es sich um eine bereits abge-schlossene Handlung handelt, die sich zwischenzeitlich ereignet hat und für die Haupthandlung relevant ist, in Form eines Botenberichts erzählt werden. In beiden Fällen handelt es sich häufig um Ereignisse, die auf der Bühne technisch nur schwer inszenierbar wären, wie z.B. Schlachten und Schiffsuntergänge in See-stürmen, oder deren Inszenierung moralischen Anstoß erregen könnte, wie z.B. ein Mord.

Eine Sonderform des Monologs stellt zudem die sogenannte Parabase dar, die in der Antike eine Standardszene in Komödien war, in deren Kontext der Chor seine Masken abnahm und sich direkt ans Publikum wandte (griech. parábasis „Abwei-chung“), auch wenn der Chor und damit diese Form der Parabase mit der Zeit aus dem Drama verschwand, wurde der Begriff jedoch beibehalten, um Szenen zu charakterisieren, in denen eine Bühnenfigur sich direkt ans Publikum wendet. Damit wird die Grenze der dramatischen Kommunikation überschritten und die dramatische Illusion gestört, was (vor allem im modernen Drama seit der Roman-tik) mit Formen dramatischer Selbstreflexion einhergehen kann.

Parabase

Aufschlußreich für die Analyse von Dramen ist zudem auch eine Untersuchung der jeweiligen Figurenkonstellation im gesamten Drama, oder der konkreten, so-genannten Konfiguration in den einzelnen Szenen, da einzelne Figuren oder Figu-rengruppen u.a. dazu dienen, den dramatischen Grundkonflikt in verteilten Rollen zur Anschauung zu bringen.

Figurenkonstellati-on / Konfiguration

Im Verlauf der Literaturgeschichte haben sich die beiden dramatischen Grund-formen des Dramas der Antike, die Tragödie und die Komödie, in eine Reihe von Subgenres weiter ausdifferenziert. So kommt es im 18. Jahrhundert im Zusam-menhang mit der Herausbildung der offenen Dramenform zur Herausbildung der Tragikomödie als Hybridform, die sich durch eine Mischung von tragischen und komischen Elementen auszeichnet, die die dramatische Handlung gleichermaßen tragisch wie komisch erscheinen läßt.

Tragikomödie

In der Folge sollen abschließend noch die prominentesten Subgenres des Dramas kurz vorgestellt werden. Als historisches Drama oder Geschichtsdrama wird eine Untergattung des Dramas bezeichnet, in der realhistorische Zusammenhänge auf der Bühne inszeniert werden. Vor der Einführung des deutschen Trauerspiels durch Lessing, in Barock und Aufklärung war die Geschichte neben dem Mythos die wichtigste Quelle der Tragödie (z.B. in Andreas Gryphius Leo Armenius, 1650). Neben der Verarbeitung historischer Stoffe kennzeichnet das Geschichts-drama vor allem aber die der Inszenierung zugrundeliegende Geschichtsauffas-sung (z.B. die Verklärung als heroische Vorgeschichte oder aber die über Ähn-lichkeiten zur Gegenwart motivierte Vorstellung einer Wiederholung der Vergan-genheit), die jeweils auch für die Deutung des Dramas von Interesse ist.

Historisches Drama Geschichtsdrama

Die Commedia dell’arte, eine im Italien des 16. Jahrhunderts entwickelte Steg-reifkomödie, die den in Wandertruppen in ganz Europa umherziehenden Berufs-

Commedia dell’arte

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 71

schauspielern keinen feststehenden Text vorgab, sondern nur Typen und stereoty-pe Handlungsabläufe, die spontan auf der Bühne variiert und sprachlich ausgestal-tet wurden, ist vor allem als improvisierte Aufführungspraxis von Interesse. Im deutschen Sprachraum steht sie damit in einem starken Kontrast zu formbetonten, klassizistischen Dramentheorie Gottscheds. Zudem führt die Commedia dell’arte als Typenkomödie, mit ihren in Italien fast sprichwörtlich gewordenen Typen: dem Dottore, einem schwatzhaften, gelehrten Pedanten aus Bologna, oder dem Pantalone, dem einfältigen Vater, dem vornehmen Kaufmann und dem geprellten Ehemann aus Venedig, die Tendenz der Komödie zur Typisierung der Figuren geradezu meisterhaft vor.

Das Volksstück ist eine zunächst spezifisch österreichische Sonderform des Lust-spiels, die sich mit einer didaktisch-volkserzieherischen Intention an ein breites Publikum wendet. Dabei wird eine aus dem Volksleben entnommene Handlung in schlichter, leicht verständlicher Form, oft auch mit Stegreif-Einlagen oder mit Einlagen von Musik inszeniert, wobei jedoch stets auch Gesellschafts-, Charakter- und Sprachkritik geübt werden. Stilprägend sind die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden Wiener Lokalpossen von Ferdinand Raimund (Der Alpenkönig und der Menschenfeind, 1828) und Johann Nepomuk Nestroy (Einen Jux will er sich machen, 1842) geworden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-derts und im frühen 20. Jahrhundert knüpfen im gesamtdeutschen Sprachraum u.a. Ludwig Thoma, Ödon von Horváth, Marieluise Fleißer und Carl Zuckmayer an diese Tradition an. Eine Erneuerung und Weiterentwicklung des Volksstücks fin-det sich seit den 1960er Jahren u.a. bei Rainer Werner Fassbinder und Franz Xa-ver Kroetz. In populärer Form werden Volkstücke bis heute auch in sogenannten Volkstheatern (u.a. in Berlin, Hamburg und Köln) aufgeführt, die so dem Theater ein neues Publikum erschließen.

Volksstück

Eine weitere in diesem Fall epochenspezifische Sonderform des Dramas, stellt das sogenannte lyrische Drama des Fin de siècle dar. Im Unterscheid zu den seltenen lyrischen Dramen des 18. Jahrhunderts (wie z.B. Goethes Proserpina, 1778) han-delt es sich hierbei nicht um Textvorlagen für eine Oper oder ein Singspiel, son-dern um einen dramatischen Einakter, in dem das klassische Handlungselement des Dramas zugunsten der psychologischen Innendarstellung der Hauptperson, die häufig in monologischer Form erfolgt, zurückgedrängt wird. Zudem zeichnet sich das lyrische Drama des Fin de siècle durch eine stark stilisierte, lyrische Sprache und den verstärkten Einsatz von rhetorischen Figuren und Tropen aus. Als Meister des lyrischen Dramas gilt der Österreicher Hugo von Hofmannsthal, dessen Der Tor und der Tod (1890) das wohl berühmteste Beispiel für dieses dramatische Subgenre sein dürfte.

Hofmannsthal hat außerdem über seine Zusammenarbeit mit dem Komponisten Richard Strauss bei der Entstehung des Rosenkavalier 1911 das Libretto als ei-genständige literarische Untergattung einer Komödie für Musik begründet, da hier erstmals Text und Musik in einem gleichberechtigten Verhältnis zueinander ste-

Libretto

72 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

hen, während zuvor die Komponisten häufig selbst ihre Opernlibretti schrieben und diese als bloßes Beiwerk betrachteten. In der Folge kam es dann mit dem Ge-spann Bertolt Brecht und Kurt Weill sowie der Arbeitsgemeinschaft zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze zu einer Fortsetzung dieser Traditi-on der Zusammenarbeit von renommierten Autoren und Komponisten.

Einen grundlegenden Bruch in der Geschichte des Dramas markiert Bertolt Brechts Konzeption des epischen Theaters, die sich von der aristotelischen und lessingschen Einfühlung und der damit einhergehenden Wirkungsabsicht der Ka-tharsis radikal verabschiedet. Vielmehr soll der Zuschauer erleben, daß das Dar-gestellte auch anders möglich ist, daß er (vor allem auch politische) Handlungs-möglichkeiten hat, daß er etwas verändern kann. Ein solches Theatererlebnis darf nicht als perfekte Illusion präsentiert werden, sondern muß den Zuschauer auf Distanz halten. Diese Distanz soll durch den sogenannten ‚Verfremdungseffekt‘ erzeugt werden, der aus Illusionsbrechungen wie einem Ansager oder einem kommentierenden Erzähler und zusätzlichen Informationen durch Spruchbänder, Plakate, Chöre, Projektionen bestehen kann. Das Dokumentartheater wiederum ist eine Sonderform des politischen Theaters in den 1960er Jahren, die zwar an die politische Wirkungsabsichten von Brechts ‚epischem Theaters‘ anschließt, aber von dessen faktischer Wirkungslosigkeit enttäuscht, auf eine neue Form der Dra-matik setzt, die (mehr oder weniger unverändert) historisch-authentische Szenen oder Quellen auf die Bühne bringt. (Peter Weiss, Die Ermittlung, 1965) und damit auch mit dem Geschichtsdrama verwandt ist.

Episches Theater

Im Rekurs auf das neue Medium des Rundfunks bildet sich schließlich 1924 das Hörspiel als neuartiges dramatisches Subgenre heraus, bei dem die dramatische Inszenierung mit verteilten Sprecherrollen im Rundfunk ausgestrahlt wird und somit auf die akustische Wahrnehmung beschränkt bleibt. International für Furore sorgte die Erstausstrahlung des bis heute wohl bekanntesten Hörspiels, von H.G. Wells War of the Worlds am 30.10.1938, da sich anschließend eine Reihe von New Yorker Bürgern, die wegen des Angriffs der Marsianer besorgt waren, mit der Polizei in Verbindung setzte. Vor allem nach dem zweiten Weltkrieg diente das Hörspiel einer Reihe junger deutscher Autoren wie Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Günter Eich und Heinrich Böll als zusätzliche Einnahmequelle und erfreute sich nicht zuletzt deshalb eines regelrechten Booms.

Hörspiel

3.2.3.2 Geschichte des Dramas im Spiegel seiner Aufführungspraxis

Unmittelbarkeit und Performativität

Theater ist die Kunstform, in der unmittelbar vor dem Zuschauer Handlung entwi-ckelt wird. Kein distanzierendes Kommunikationsmedium, wie das gedruckte Buch oder der Film, vermittelt zwischen dem theatralen Akt und dem Zuschauer. Im Theater wird Sprache unmittelbar zur Handlung und selbst sprachloses Han-deln, kann Teil der Literatur werden – man denke nur an das sprechende Erröten, Erbleichen oder die stummen Tränen der Heldinnen und Helden auf der Bühne.

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 73

Eine Perspektive auf das Theater als performative Kunst per se setzt deshalb ein Interesse voraus, das weit über den geschriebenen Theatertext hinausgeht. Zur Aufführung eines Theaterstücks gehört mehr als nur der Text; das unspielbare Lesedrama ist dabei der Grenzfall, der die Regel bestätigt. In diesem Regelfall einer aufführungsgebundenen Rezeption kommt zu den Worten des Autors die körperliche Präsenz der Schauspieler hinzu, insbesondere ihre Stimmen und Ges-ten, die ein Regisseur aufeinander abzustimmen hat. Hierzu tritt noch das visuelle Erlebnis, das Beleuchtung und Szenenbild erzeugen, sowie zusätzlich die Hinter-grundgeräusche oder die Musik.

Im Zusammenspiel von Szene, Beleuchtung und Musik, Wort, Kostüm, Bewe-gung, hervorgebracht von kostümierten Schauspielern werden hochkomplexe Zei-chensysteme entfaltet, die kulturell und historisch variieren. Unter dieser Perspek-tive ist die Gattungsgeschichte des deutschsprachigen Theaters stets auch eine Kulturgeschichte historischer Zeichensysteme, Rituale und Institutionen. Eine der umfassendsten Theaterformen hatte die Kultur des Barock (ca. 1620-1720) entwi-ckelt, dessen theatrum mundi als Abbild und Sinnbild der Welt funktionierte. In der Praxis des höfischen Festes fielen theatrale Darstellung und Selbstdarstellung des eigenen sozialen Ranges zusammen. So wurde in Wien am 13. und 14. Juli 1668 als Höhepunkt des Hochzeitsfestes von Kaiser Leopold I. mit Margarita von Spanien als Gesamtkunstwerk Pietro Antonio Cestis Oper Il pomo d’oro mit etwa 1000 Personen in einem eigens dafür errichteten Theater aufgeführt. In die Auf-führung integriert waren nicht nur professionelle Sänger und Musiker, sondern eben auch der gesamte Hof bis hin zum Kaiser selbst. Die barocke Oper war nicht nur Kunst, sondern politische Repräsentation, in der sich die Gesellschaft ihrer selbst vergewisserte. Zu dieser Form der barocken höfischen Selbstdarstellung gehörte es, daß die Grenzen zwischen Bühne und sozialem Leben verschwammen.

Barockes Welttheater

Gegenüber dem barocken Konzept von Welt als einem einzigen Schauspiel mit Gott als allmächtigem Regisseur, der am Ende zwischen Schein und Sein zu un-terscheiden weiß, bildet sich im späten 18. Jahrhundert ein Theaterbegriff heraus, der auf einzelne, konkret abgrenzbare soziale Prozesse abzielt. Mit Theaterstücken wie Gotthold Ephraim Lessings Miss Sara Sampson (1755) und Emilia Galotti (1772) etabliert sich ein Typus von Theater, der auf die Inszenierung von Wirk-lichkeit durch einzelne soziale Gruppen – hier das Bürgertum – setzt. Im Mittel-punkt der Theaterstücke stehen Prozesse der Selbstinszenierung dieser Gruppen, denn das Theater in seiner unmittelbaren Wirkung ist besonders dafür geeignet, programmatische Konzepte von Individualität, sozialer oder politischer Identität zu vermitteln. Die Geschichte des deutschsprachigen Dramas bietet hierfür eine lange Beispielkette von den Humanitätskonzepten der klassischen Weimarer Dramen (Friedrich Schiller: Maria Stuart), über das soziale Drama (Georg Büch-ner: Woyzeck, Gerhart Hauptmann: Die Weber), Vorstellungen eines neuen Men-schen im Expressionismus (Ernst Toller: Die Wandlung) bis hin zu politischen Botschaften in den Dramen Bert Brechts (Die heilige Johanna der Schlachthöfe).

Bürgerliches Trauerspiel

74 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

Moralische Schaubühne vs. Nummernrevue

Dabei war das praktizierte Theater in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weit von dem entfernt, was uns heute mit Blick auf kanonische Theatertexte (Lessing, Goethe, Schiller) und das Reformprojekt des Theaters der Weimarer Klassik durch die Brille des bildungsbürgerlichen 19. Jahrhunderts projiziert wird. Theater war keineswegs die Sittenschule und moralische Anstalt im Sinne Friedrich Schil-lers. Diese Dramentexte haben nur einen verschwindend geringen Anteil an der tatsächlichen Fülle von Gattungen und theatralen Formen, die die Spielpläne der Zeit füllten. Die Theaterpraxis bot vielmehr ein auch thematisch breites Spektrum: von lateinischen Passionsspielen, Puppenspielen, französischen Opern und Sing-spielen bis zu Schäferspielen, Fastnachtsschwänken, Ballett und Pantomime. Ein Theaterabend um 1780 hatte einiges mit der Spektakelästhetik eines ‚Event‘ im 21. Jahrhundert gemeinsam. Theaterabende dauerten etwa vier Stunden und waren ‚Nummernprogramme‘, die aus wohl aufeinander abgestimmten Einzelteilen be-standen und das gesprochene Wort nie ohne Begleitung von Musik oder Tanz auf die Bühne stellten: Nach einer Sinfonie oder Ansprache an das Publikum folgte ein kurzes Vorspiel, Ballett oder eine Illumination. Nach einem weiteren Inter-mezzo schloß sich das Hauptstück des Abends an. Erneut getrennt durch eine Sin-fonie, endete die Aufführung mit einem rührenden Nachspiel oder einem Ballet und den Schlußreden. Theater war ein sozialer Treffpunkt für gemischte Unterhal-tung und Zerstreuung ebenso wie ein öffentlicher Raum, in dem es möglich und erlaubt war, intensive Gefühle zu erleben und diese auch nach außen zu zeigen.

Literaturwissenschaftler interessieren sich entsprechend auch für die Wirkungs-konzeptionen der Dramen, die mit der bewußt offen gehaltenen Grenze zwischen Rolle und Person arbeitet. Im antiken Theater bezeichnet persona die Gesichts-maske der Schauspieler, mit der die Rolle typisiert wurde. Aufgrund der medialen Unmittelbarkeit und theatralen Illusion vergessen die Zuschauer für die Dauer des Spiels, zwischen Person und Rolle zu unterscheiden. Dies ist die Grundlage für die Wirkungsdisposition des Theaters, deren Kern seit der Antike eine psycholo-gische Konzeption ist. Der Katharsis-Lehre aus Aristoteles’ Poetik zufolge sollte die Tragödie Jammer und Schauder hervorrufen und den Zuschauer darüber von diesen Affekten befreien. Die Dramenkonzeption der Aufklärung verändert diese von Aristoteles tradierte Konzeption: Lessing fordert, daß sich der Zuschauer in das Unglück des Helden hineinversetzen soll, um so selbst Mitleid zu entwickeln. Das Theater des 18. Jahrhunderts möchte über eine rationale Steuerung der Lei-denschaften die Affekte in tugendhafte Fertigkeiten (die Empathie) ummünzen.

Wirkungsästhetik

Auch der Zuschauer selbst und die veränderten Funktionen, die ihm zugedacht werden, sind ein Forschungsfeld. Kulturhistorisch aufschlußreich ist es zu beo-bachten, wie der Zuschauer im 18. Jahrhundert zunächst als ein wesentlicher Teil des Theaterprozesses wahrgenommen wurde, denn die Wahrnehmung der Zu-schauer untereinander im beleuchteten Zuschauraum und ihre gemeinsame emoti-onale Reaktion auf das Spiel gehören mit zum Theaterabend. Davon geben uns zahlreiche Rezeptionszeugnisse über Theatertumulte Zeugnis. Im 19. Jahrhundert wird der Zuschauer im Konzept des bürgerlichen Theaters (Guckkastenbühne)

Bürgerliches Illusionstheater

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 75

wieder ruhiggestellt und ins Dunkel des Zuschauerraums verbannt. Erst im Kon-text der Avantgardebewegung der Jahrhundertwende um 1900 wird der Zuschauer wiederentdeckt.

Episches Theater der Verfremdung Bert Brechts Versuch, die Unmittelbarkeit des Theaters durch bewußte Verfrem-

dung zu brechen, bildet hier eine Gegenposition. Brecht hält den Zuschauern Schilder mit der Aufschrift „Glotzt nicht so romantisch“ entgegen und macht so eine „kulinarische“ Rezeptionshaltung unmöglich. Durch Elemente der epischen Informationsvermittlung (Lieder, Ansager) und Verfremdungseffekte (reflexive Kommentare und Zitate) versucht aber auch er, die gewünschte Wirkung beim Zuschauer zu erreichen – nur besteht diese Wirkung eben nicht mehr in der Er-zeugung einer Illusion über die Realität, sondern im Ansatz zu ihrer Analyse.

Zeitgleich zu Brecht entwickeln sich Formen des interaktiven Theaters, die mit der Rampe als Grenze zwischen Darstellern und Publikum brechen und in Gestalt der perfomances seit den 1950er Jahren den Zuschauer zum aktiven Teil des Kunstprozesses erheben – oder sogar zu ihrem Gegenstand, wie in Peter Handkes Publikumsbeschimpfung (1966).

performances

An diesem kleinen Ausschnitt aus der Theatergeschichte zeigt sich zugleich die enge Verbindung der literarischen Kultur an die Aufführung, denn im Kontext des Theaters und anderer semiöffentlicher Kreise wie Salons und Lesezirkel wurden auch andere Gattungen, vor allem lyrische Gedichte, dargeboten. Aus heutiger Sicht, die zumeist von der stillen, vereinzelten Lektüre von Romanen und Gedich-ten ausgeht, ist es wichtig zu wissen, dass gerade auch am Beginn der modernen Lyrik um 1770 die Rezeption dieser neuen ‚empfindsamen‘ Texte im performati-ven Kontext einer Lesung im gemeinsamen Kreis stand. Klopstock reiste von Zir-kel zu Zirkel, wurden dort wie heute ein Popstar empfangen, um dann Oden oder Teile aus dem Messias vorzutragen. Nur vor dem Hintergrund derartiger gemein-samer Lektüreerlebnisse, die über textuelle Performanz eine Gruppenidentität her-gestellt haben, wird die berühmte Szene aus Goethes Die Leiden des jungen Wer-thers (1774) möglich, in der Lotte und Werther nach einem Gewitter am offenen Fenster mit einem einzigen symbolischem Zeichen („Klopstock“ ) ihre Gefühle kommunizieren:

Performanz in Epik und Lyrik

[…] sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge thränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meine und sagte – Klopstock! Ich versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Loosung über mich ausgoß.

An dieser kleinen Szene läßt sich noch einmal festhalten: Nicht nur das Theater, auch Erzähltexte und Lyrik arbeiten mit Mitteln der Performanz (Blicke, Tränen, Berührungen). Mit diesen performativen Anteilen konstituiert Literatur eine Form von Handlung, die sich auf soziales Handeln bezieht und dabei diese Wirklichkeit oft erst herstellt. Ohne die entsprechende Literatur gäbe es keine (oder zumindest eine andere) Vorstellung und damit auch eine andere Lebenspraxis von Freund-schaft, Familie und ‚empfindsamer‘ Liebe. Der Erzähltext Werther stellt auf diese

Theatralität

76 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

Weise Merkmale empfindsamen Verhaltens aus (gefühlsbetonte Naturbetrachtung auf der Basis von gemeinsamen Lektüremustern) und repräsentiert damit für die zeitgenössischen Leserinnen und Leser zugleich das sozialkommunikative Hand-lungsmuster ‚Empfindsamkeit‘.

Die wissenschaftliche Forschung hat für diese Phänomene der besonderen Beto-nung von Körperlichkeit, Wahrnehmung und Inszenierung in Literatur, Kunst und Alltagskultur den Begriff Theatralität geprägt. Mit Theatralität werden Elemente der Aufführung zusammengefaßt, die zwar für das Theater typisch sind, aber auch unabhängig von Formen des etablierten Theaters in der Kultur anzutreffen sind, etwa in Festen und gesellschaftlichen Ritualen. Ins Blickfeld geraten dabei insbe-sondere jene bedeutsamen kulturellen Ereignisse, in deren Vollzug vor ihren Mit-gliedern und vor Fremden sich die Gesellschaft ihrer gemeinschaftlichen kulturel-len Traditionen und Identität versichern können.

Aspekte der Theatralität betreffen also nicht nur das Spiel auf dem Theater, son-dern jede Form von Performanz in der Kultur und im öffentlichem Leben. Gerade in der literarischen Kultur spielen heute performative Aspekte und die Bezugnah-me auf sie wieder zunehmend eine wichtige Rolle. Wer sich moderne Lautgedich-te oder Formen der Inszenierung von unmittelbarer Lautkunst und Literatur in einem poetry slam vor Augen und Ohren führt, dem wird sogleich klar, daß neben Schrift und Text performative Faktoren eine entscheidende Rolle in Produktion und Rezeption von Literatur spielen: eben die Aufführungssituation.

Literaturhinweise

Asmuth, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse. 6. aktual. Aufl. Mün-chen/Weimar 2004.

Fischer-Lichte, Erika: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart. 2 Bde. Tübingen 1990.

Klotz, Volker. Geschlossene und die offene Form im Drama. München 1960.

Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. 11. Auflage. München 1997.

Rochow Christian: Das bürgerliche Trauerspiel. Stuttgart 1999. (Reclams Univer-sal-Bibliothek; 17617)

Szondi, Peter: Das lyrische Drama des Fin de siècle. Frankfurt 1975.

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 77

3.3 Die Grenzen des triadischen Gattungsmodells

Wie Ihnen vielleicht bereits aufgefallen sein wird, gibt es eine Reihe von Text-formen, die sich nicht ohne weiteres unter eine dieser drei Großgattungen Epik, Lyrik und Drama(tik) und deren entsprechende Subgenres subsumieren lassen, wie z.B. den Aphorismus, den Brief, das Tagebuch, den Reisebericht, den Essay, die Biographie und das Sachbuch. Im deutschen Sprachraum hat sich zur Be-zeichnung dieser nicht-epischen, nicht-lyrischen und nicht-dramatischen Formen der Begriff Gebrauchsliteratur66 eingebürgert, der darauf abzielt, daß all diese Formen ursprünglich in einem alltäglich-pragmatischen Kommunikationskontext gebraucht wurden und eben nicht innerhalb der literarischen Kommunikation an-gesiedelt waren. In der neueren Forschung hat sich als Alternative zur Bezeich-nung Gebrauchsliteratur auch der Begriff der faktualen Literatur etabliert, der ak-zentuiert, daß es sich bei dieser Art von Texten eben nicht um fiktionale Texte handelt, sondern um solche, die (zumindest in erster Linie) auf reale Begebenhei-ten Bezug nehmen. Dem entspricht auch die im englischen Sprachraum (aller-dings primär nur für Sachbücher) gebräuchliche Bezeichnung Non-Fiction. Aller-dings kann auch im Bereich der Gebrauchsliteratur oder der faktualen Literatur das Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität nicht nur im Vergleich der doch sehr heterogenen Textformen, sondern durchaus auch innerhalb einer Textform, was deren konkrete Ausformungen angeht, sehr unterschiedlich ausfallen. Denn zum einen ist es im Verlauf der Literaturgeschichte in jeweils unterschiedlichen Epochen zu einer Literarisierung dieser Gattungen gekommen, so hat sich z.B. der Brief in der Empfindsamkeit (u.a. bei Gellert) zur einer auf Natürlichkeit abzie-lenden Kunstform entwickelt, die sich u.a. auch im neuen epischen Subgenre des Briefromans manifestierte. Zum anderen hat seit den 1960er Jahren in der litera-turwissenschaftlichen Forschung eine systematische Erweiterung des Literatur-begriffs stattgefunden. Insofern ist die Literaturwissenschaft auf ein vierte Hilfs-kategorie zur gattungsmäßigen Erfassung dieser Textformen angewiesen, selbst wenn die Bezeichnungen Gebrauchsliteratur und faktuale Literatur vor dem Hin-tergrund des Gesagten in gewisser Hinsicht als in sich widersprüchlich erscheinen und zudem nicht auf gemeinsame Gattungsmerkmale der unterschiedlichen Text-formen abzielen und insofern eher einer bloß formalen Sammelbezeichnungen für ‚Verschiedenes‘ entsprechen, unter die all jenes zu subsumieren ist, das sich nicht mit den traditionellen literarischen Gattungsbezeichnungen erfassen läßt.

Gebrauchsliteratur / fakutale Literatur

Vom griechischen aphorízein „abgrenzen, definieren“ leitet sich mit dem Apho-rismus die kürzeste Form der Gebrauchsliteratur ab. Es handelt sich um einen iso-lierten und pointierten (eventuell auch elliptischen) Prosasatz, in dem oft auf hin-tersinnig-humorvolle Weise (im Rekurs auf rhetorische Stilmittel wie Antithese, Paradox, Chiasmus und Parallelismus) ein Gedanke prägnant formuliert wird, der häufig im Gegensatz zum common sense steht. Von Schlegel wurde der Aphoris-

Aphorismus

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66 Ludwig Fischer u.a. (Hg.): Gebrauchsliteratur. Methodische Überlegungen und Beispielana-lysen. Stuttgart 1976.

78 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

mus auch als ‚Sprichwort des gebildeten Menschen‘ bezeichnet, er unterscheidet sich vom Sprichwort jedoch u.a. durch die individuell zuschreibbare Autorschaft. Der wohl bekannteste Aphorist der deutschen Literatur ist der Göttinger Mathe-matiker und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), mit seinen ‚Sudelbücher‘ genannten Aufzeichnungen, aus diesen stammt u.a. auch folgender exemplarischer Aphorismus: „Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeck-te, machte eine böse Entdeckung.“ Neben Lichtenberg gehören auch Goethe mit seinen Maximen und Reflexionen, Friedrich Schlegel, Marie von Ebner-Eschenbach, Friedrich Nietzsche, Karl Kraus und Elias Canetti zu den Meistern dieser kleinsten literarischen Form.

Der Essay, der vom frz. essai und engl. essay „Versuch“ ableitet, ist ebenfalls eine pointierte, geschliffene und gelehrte, aber zugleich unsystematische Form der Darstellung eines (meist aktuellen) Themas in relativ kurzer Form. Auch wenn es bereits Vorformen in der Antike gibt, markieren Michel de Montaignes Essais von 1580 einen Meilenstein in der Entwicklung der Gattung. Im deutschen Sprach-raum wird die Gattung im Rekurs auf überwiegend englische Vorbilder aus dem Kontext der moralischen Wochenschriften erst im 18. Jahrhundert u.a. bei Lich-tenberg und Karl Philipp Moritz prominent, im 19. Jahrhundert setzen Alexander von Humboldt und Friedrich Schlegel die Tradition fort, eine reglerechte Blütezeit hat der Essay allerdings im beginnenden 20. Jahrhundert, da er zum einen in sei-ner skeptischen, dynamischen und offenen Form geeignet erscheint die moderne Erfahrungswirklichkeit abzubilden und zum anderen literarischen Autoren auch die Möglichkeit zur Popularisierung in den Feuilletons der Zeitschriften bietet. Zudem hält der Essay nun auch Einzug in den zeitgenössischen Roman (so bei Thomas Mann, Herrmann Broch und Robert Musil).

Essay

Der Brief, abgeleitet vom lateinischen breviarium „kurzes Schriftstück“ ist eine in der Regel datierte kurz schriftliche Mitteilung von einem Absender an einen oder mehrere Adressaten, der als Ersatz für eine mündliche Aussprache dient und ent-sprechend tendenziell dialogischen Charakter hat. Im 16. und 17. Jahrhundert wurden Briefe streng nach rhetorischen Konstruktionsvorgaben verfaßt zu denen u.a. eine festes Dispositionsschema zählte, das salutatio (Anrede), exordium (Ein-leitung) narratio (Darstellung des Sachverhalts) petitio (die Begründung des An-liegens) und conclusio (Schluß) umfaßte. Erst die Reformen im 18. Jahrhundert durch Gellert (Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, 1751) führten zu einem individuelleren und stärker an der Alltagsprache orientierten Briefstil, den man allerdings auch als eine Form der künstlich produzierten Natürlichkeit beschreiben kann. Im Anschluß an dieses Dogma der Natürlichkeit und die Ge-schlechterrollen der Zeit rückten von nun an vor allem auch Frauen als Brief-schreiberinnen in den Blick:

Brief

War der Brief seit altersher ein Mittel der Kommunikation und der Selbstdarstellung, der Mitteilung von Fakten, des Dialogs mit anderen Menschen und ein Bild der eigenen Seele (e-

3.2 Die literarischen Gattungen und ihre Geschichte im Epochenspiegel 79

pistola imago animi), so wurde er im 18. Jahrhundert zunehmend wichtig als Ausdruck weib-lichen Lebens und Erlebens.67

Berühmte Briefschreiberinnen des 18. Jahrhunderts sind: Bettine von Arnim, Ka-roline von Günderode, Anna Luise Karsch und Rahel Varnhagen.

Da auch literarische Autoren meist sehr rege Briefschreiber sind, können deren Briefwechsel, die, wenn es sich um kanonisierte Schriftsteller handelt, überliefert, archiviert und zuweilen auch ediert wurden, als wichtige Quellen zu Leben und Werk dienen, wenn auch hierbei stets Momente der Selbstinszenierung Berück-sichtigung finden müssen.

Das Tagebuch (lat. diarium) dient der Fixierung von subjektiven, oft intimen Ge-danken, Gefühlen, Einfällen, Träumen und Erwartungen in chronologischer Form und ist damit primär ein Medium der Selbsterfahrung und der Dokumentation des eigenen Lebens. Damit ist die Entstehung des Genres an die Herausbildung des modernen Individuums in der Empfindsamkeit und der sich anschließenden bür-gerlichen Kultur des 18. Jahrhunderts gebunden, in der das Tagebuch dann größe-re Verbreitung fand. Viele literarische Autoren dachten schon zu Lebzeiten an die Veröffentlichung ihrer Tagebücher (wie Friedrich Hebbel und Thomas Mann). Für die biographische Recherche im Zusammenhang mit einer literaturwissen-schaftlichen Arbeit können diese Tagebücher eine wichtige Quelle sein, allerdings bleiben auch hier die Aspekte der Selbstinszenierung und Selbstzensur zu berück-sichtigen. Besonders bekannt geworden sind, aufgrund der extremen Entstehungs-situation, Tagebücher aus der Zeit des Dritten Reiches, wie das Tagebuch der An-ne Frank und die Tagebücher des Romanisten und jüdischen Intellektuellen Vic-tor Klemperer, jüngst aber vor allem Walter Kempowskis Großprojekt Echolot Ein kollektives Tagebuch, in dem dieser die Tagebucheinträge einer Vielzahl höchst unterschiedlicher Deutscher aus der Zeit von 1933-1945 versammelte.

Tagebuch

Die gegenwärtig beliebtesten Genres der faktualen Literatur sind wohl die Auto-biographie und die Biographie. Abgleitet vom griech. auto „selbst“, bios „Leben“ und graphein „schreiben“ handelt es ich bei der Autobiographie oder Selbstbio-graphie um die retrospektive Darstellung des eigenen Lebens, während bei der Biographie ein unabhängiger Autor die Lebensgeschichte eines anderen Men-schen erzählt. Entsprechend herrscht in der Autobiographie eine Darstellung der inneren Entwicklung vor, die immer auch von Selbstzensur und Selbstinszenie-rung begleitet sein kann, während die Biographie um Objektivität und Faktentreue bemüht ist, jedoch auch zu Psychologisierungen neigt. Als Frühform des autobio-graphischen Schreibens gelten Augustinus Confessiones (397) im deutschen Sprachraum sind auch die Tagebücher der Pietisten als Vorformen der Gattung

Autobiographie und Biographie

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67 Barbara Becker-Cantarino: Leben als Text – Briefe als Ausdrucks- und Verständigungsmittel in der Briefkultur und Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Frauen Literatur Geschichte. Schrei-bende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Hiltrud Gnüg und Renate Möhr-mann. Frankfurt/M. 2003, S. 129-146, hier S. 129.

80 3. Literaturgeschichte und Gattungsevolution

anzusehen. Zu zentralen Modellen des Genres sind dann einerseits, durch ihre Begründung der modernen Individualität, Jean-Jacques Rousseaus Confessiones (1782/89) und andererseits, aufgrund der Reflexion des Verhältnisses von faktua-len und fiktionalen Anteilen des autobiographischen Schreibens, Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1811-14, 1833) geworden. Häufig bleibt die Autobiographie aber auch auf die Darstellung nur eines Lebensabschnittes, häufig die Kindheit oder Jugend, beschränkt, wie z.B. in Theodor Fontanes Meine Kinderjahre (1849), Walter Benjamins Berliner Kindheit um 1900 (1930) oder in Elias Canettis Die gerettete Zunge, Geschichte einer Jugend (1977). Im 20. Jahr-hundert zeichnet sich das Genre zunehmend durch eine Selbstproblematisierung (vor allem des Verhältnisses von Fakten und Fiktionen), sowie eine Neigung zur Autoreflexivität und eine Tendenz zur Fragmentarisierung aus, während im 21. Jahrhundert vor allem im Bereich der Biographie eine Popularisierung und Trivia-lisierung der Gattung in einer wahren Flut von Prominenten-Biographien zu beo-bachten ist.

Auch der Reisebericht gehört tendenziell in den Bereich der autobiographischen Prosa, da er Auskunft über einen Teil des Lebens einer realen Person gibt und in diesem Kontext häufig die Bedeutung des Reisens für Selbsterfahrung und Per-sönlichkeitsbildung betont wird. Der wohl berühmteste Reisebericht dieser Art und damit stilbildend dürfte wohl Goethes Italienische Reise (1766-1788) sein. Neben diesem Aspekt der Selbsterfahrung spielt im Reisebericht aber vor allem die Fremderfahrung eine entscheidende Rolle, die in Gestalt von Informationen über Land und Leute (im touristischen Stil von Apodemiken und Reiseführern oder aber mit wissenschaftlich-ethnologischem Anspruch vorgetragen) oder aber in Form von Reflexionen über das Verhältnis von Selbst- und Fremderfahrung thematisiert werden kann. Entsprechend lassen sich eine Reihe von heterogenen Subgenres unterscheiden. Zunächst inhaltlich und historisch: die Pilgerberichte des Mittelalters, die Berichte über Kavaliers- und Bildungsreisen, aber auch über die großen Weltumsegelungen im 18. Jahrhundert (Forster, Reise um die Welt, 1777) und schließlich Kolonial- und Auswanderergeschichten im 19. und 20. Jahrhundert. Aber auch stilistisch ist eine Ausdifferenzierung zu beobachten: in Reiseberichten, in Tagebuchform (Böll, Irisches Tagebuch, 1957), in Gedichtform (Heinrich Heine, Reisebilder 1826-31), in Form einer Sammlung von Briefen (Ida v. Hahn-Hahn, Orientalische Briefe, 1844) und schließlich in Montageform, wie in Hubert Fichtes Petersilie. Die afroamerikanischen Religionen. Santo Domingo, Venezuela, Miami, Grenada (1980).

Reisebericht

Literaturhinweise

Belke, Horst: Literarische Gebrauchsformen. Opladen 1973.

Fischer, Ludwig u.a. (Hg.): Gebrauchsliteratur. Methodische Überlegungen und Beispielanalysen. Stuttgart 1976.