eröffnungsansprache fuev präsident hans heinrich hansen

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1 Rede H. H. Hansen am 17/5 2012 FUEV-Kongress Ansprache Lassen sie mich einleiten mit einer kleinen Geschichte, die der ehemalige langjährige Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Hans Dietrich Genscher vor vielen Jahren einmal öffentlich erzählte. Genscher besuchte Michail Gorbatschow in Verbindung mit den 2+4- Verhandlungen in Moskau. Auf der Treppe begegnen ihm 3 Aussenminister der damaligen Europäischen Wirtschafts-Gemeinschaft, der EWG, die Gorbatschow unter der Leitung des Außenministers von Luxemburg besucht hatten. Als der deutsche Außenminister Genscher das Büro von Gorbatschow betritt, ist dieser sehr aufgeregt und erzählt Genscher in einem vorwurfsvollen Ton, der Außenminister von Luxemburg, zum damaligen Zeitpunkt Sprecher der EWG - und der große Gorbatschow suchte dabei das kleine Land Luxemburg auf einer Landkarte – der Außenminister von Luxemburg hätte ihm, Gorbatschow - und wieder zeigte er auf die Karte und die große Sowjetunion - Vorhaltungen zu seiner Außenpolitik gemacht. Darauf sagte Außenminister Genscher: Lieber Michail - das ist Europa. Nicht die Größe ist entscheidend, sondern die Identität. Leider ist das nur eine schöne Geschichte, und sie ist schon mehr als 20 Jahre alt. Ausserdem trifft die Aussage Genschers nur auf Nationalstaaten zu – die haben per se eine Identität - aber nicht auf ihre Minderheiten. Minderheiten müssen häufig hart um ihre Identität ringen. Darüber kann

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FUEV Kongress 2012 in Moskau

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Rede H. H. Hansen am 17/5 2012 FUEV-Kongress Ansprache Lassen sie mich einleiten mit einer kleinen Geschichte, die der ehemalige langjährige Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Hans Dietrich Genscher vor vielen Jahren einmal öffentlich erzählte. Genscher besuchte Michail Gorbatschow in Verbindung mit den 2+4- Verhandlungen in Moskau. Auf der Treppe begegnen ihm 3 Aussenminister der damaligen Europäischen Wirtschafts-Gemeinschaft, der EWG, die Gorbatschow unter der Leitung des Außenministers von Luxemburg besucht hatten. Als der deutsche Außenminister Genscher das Büro von Gorbatschow betritt, ist dieser sehr aufgeregt und erzählt Genscher in einem vorwurfsvollen Ton, der Außenminister von Luxemburg, zum damaligen Zeitpunkt Sprecher der EWG - und der große Gorbatschow suchte dabei das kleine Land Luxemburg auf einer Landkarte – der Außenminister von Luxemburg hätte ihm, Gorbatschow - und wieder zeigte er auf die Karte und die große Sowjetunion - Vorhaltungen zu seiner Außenpolitik gemacht. Darauf sagte Außenminister Genscher: Lieber Michail - das ist Europa. Nicht die Größe ist entscheidend, sondern die Identität. Leider ist das nur eine schöne Geschichte, und sie ist schon mehr als 20 Jahre alt. Ausserdem trifft die Aussage Genschers nur auf Nationalstaaten zu – die haben per se eine Identität - aber nicht auf ihre Minderheiten. Minderheiten müssen häufig hart um ihre Identität ringen. Darüber kann

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die FUEV als Dachorganisation europäischer Minderheiten ein Wörtchen mitreden. Die FUEV ist mit über 60 Jahren Erfahrung als europaweit tätige NGO eine Organisation, die so einiges erlebt hat. Wir haben turbulente Kongresse durchgeführt und spannende Minderheiten in ganz Europa besucht. Doch 2012 ist ein ganz besonderes Jahr: zum ersten Mal findet der größte europäische Kongress der autochthonen, nationalen Minderheiten/ Volksgruppen in der Russischen Föderation statt. Wir sind froh, dass wir es geschafft haben, rund 150 Vertreter von über 30 verschiedenen Minderheiten in ganz Europa in der russischen Hauptstadt zu versammeln. Das war eine logistische und organisatorische Aufgabe, die nicht einfach zu bewältigen war. Mein Dank gilt dabei vor allem der gastgebenden Organisation des Internationalen Verbandes der Russlanddeutschen, mit Olga Martens an der Spitze. Und vor allem ihrem Team mit den vielen Helferinnen und Helfern - sowie der FUEV-Mannschaft. Danke für euer Engagement! Man soll den Tag zwar nicht vor dem Abend loben, - doch diese offizielle Eröffnung mit so vielen hochrangingen Gästen aus der Russischen Föderation und der Europäischen Union sowie dem Europarat, und der gestrige Einstieg mit dem erfolgreich durchgeführten „Markt der Vielfalten“ gibt einen ersten, vielversprechenden Hinweis, was uns in den kommenden Tagen noch alles erwarten wird. Am heutigen Nachmittag fangen wir bereits mit einer ersten Arbeitssitzung an. Unter dem Motto „Russland, der unbekannte Vielvölkerstaat“ wollen wir uns über die Besonderheiten in diesem großen Land informieren.

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Die Russische Föderation umfasst 190 Nationalitäten, und es werden rund 239 Sprachen gesprochen. Vergleicht man diese Zahlen mit den Statistiken der Europäischen Union, dann erhält man einen plastischen Beleg für die postulierte Vielfalt der Russischen Föderation. In der EU geht man nämlich von 60 autochthonen Sprachen aus, die von über 40 Millionen Menschen gesprochen werden. Ende der 1990er Jahre konnte ich die Russische Föderation, Georgien und vor allem den Kaukasus bereisen und mir dort ein Bild über die Lage der Völker und Nationalitäten machen. Schon damals wurde mir die sprachliche und kulturelle Vielfalt der Nationalitäten klar, aber auch die Vielschichtigkeit der Herausforderungen und Probleme waren nicht zu übersehen. • Die FUEV als Nicht-Regierungs-Organisation ist immer auf der

Seite der Schwachen. • Wir stellen fest, dass einige Völker und Nationalitäten der

Russischen Föderation auch heute weiter für ihre Rechte kämpfen müssen.

• Sie stemmen sich gegen eine drohende Assimilation. • Das ist, so meinen wir, ihr gutes Recht. • Wir werden den Kongress nutzen, um auf diese Herausforderungen

aufmerksam zu machen. Wir wollen das unsere tun, um einen sachlichen Dialog in Gang zu setzen. Voraussetzung für einen sachlichen Dialog ist allerdings, dass man als Partner wahrgenommen wird. Seit den 1990er Jahren gibt es in der FUEV mehrere Mitgliedsorganisationen aus verschiedenen Regionen der Russischen Föderation.

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Wir haben 7 Mitglieder aus der Russischen Föderation in die „FUEV- Familie“ aufgenommen, die ich heute hier in diesem Rahmen besonders herzlich begrüßen möchte. Wir sind froh, dass ihr unsere Mitglieder seid und wir hoffen, dass wir die Zusammenarbeit vertiefen können. Wir freuen uns auf eine freundschaftliche und konstruktive Diskussion. • Wir haben uns dabei ein grundlegendes Ziel gesetzt: wir wollen

zuhören und lernen, aber auch fragen und kommentieren. Sicher wissen viele der 150 Gäste, die aus ganz Europa angereist sind, einiges, möglicherweise sogar viel über den Vielvölkerstaat Russland. Doch gibt es immer noch viel zu lernen. Ich selber habe den Eindruck, dass ich viel zu wenig weiß. Diese „Wissenslücke“ wollen wir mit unserem Kongress hier in Moskau ein Stück kleiner machen. Am Ende der Tage werden wir sicher sagen: es gibt noch so viel zu entdecken! Und einige von uns werden wieder kommen. • Wir sind nicht mit dem erhobenen Zeigefinger angereist, und wir

kommen auch nicht als Schulmeister – diese Attitüde ist den Minderheiten in Europa in den meisten Fällen sowieso fremd.

Wir sind gekommen als Angehörige von Minderheiten, die selbstbewusst und auf Augenhöhe für ihre Rechte einstehen. Wir möchten uns ein Bild aus erster Hand machen und sind den vielen Referenten und Experten dankbar, dass sie ihr Wissen in den kommenden Tagen mit uns teilen wollen.

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Der Themenschwerpunkt dieses Kongresses ist die Sprache. Wir können sicher von Ihren jahrzehntelangen Erfahrungen in Forschung und Praxis bei der Sprachenplanung profitieren, und wir können Ihre Erfahrungen und unsere Erfahrungen in diesem Bereich miteinander teilen. Die FUEV hat 2006 ihre Charta der autochthonen, nationalen Minderheiten/ Volksgruppen Europas verabschiedet. In dieser Charta sind 13 Grundrechte festgehalten, die für die autochthonen Minderheiten von besonderer Bedeutung sind. Wir werden hier in Moskau, nach dem Grundrecht auf Medien, Bildung und politische Partizipation, nun mit der Bearbeitung des Grundrechtes auf Sprache beginnen. • In diesem Zusammenhang freuen wir uns auch über die Beteiligung

des Europarates an unserem Kongress vertreten durch den Direktor der Abteilung für Menschenrechte Ralf-Rene Weingärtner.

Die Russische Föderation hat in den vergangenen drei Jahren intensiv mit dem Europarat zusammen gearbeitet und die Möglichkeiten einer Ratifizierung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen verhandelt. Wir sind sehr gespannt auf die Ergebnisse, die aus diesem Prozess hervorgehen. Ergebnisse, die sicher auch für die anderen Regionen Europas von großem Interesse sind. Anrede In unserem Selbstverständnis ist die FUEV die zivilgesellschaftliche Vertreterin der autochthonen Minderheiten in Europa. Jeder siebte Europäer gehört einer autochthonen Minderheit an oder spricht eine Regional- oder Minderheitensprache.

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• Die FUEV will die Stimme dieser großen Gruppe sein. • Unsere Organisation setzt sich nur aus Minderheitenvertretern

zusammen, und das heißt, wir kennen alle die Probleme und Herausforderungen aus unser aller alltäglichen Praxis.

Das Hauptziel der Kopenhagener Kriterien von 1990, die Stärkung der Zivilgesellschaft – das ist meine feste Überzeugung – wird entscheidend sein, um Europa aus der aktuellen Krise zu führen. Die FUEV ist ein aktiver Teil der Zivilgesellschaft. Auch für die Russische Föderation führt der Weg zu einem stabileren, demokratischen Staat, der aktiv von seiner Bevölkerung getragen wird, nur über die Stärkung der Zivilgesellschaft. Dieser Weg ist manchmal unbequem und schwierig. • Ich habe mich gefreut gestern in der gesellschaftlichen Kammer

Russlands den stellvertretenden Vorsitzenden der Kommission für internationale Beziehungen und nationale Minderheiten Herrn Paskachev gehört zu haben. Für die Meisten von uns aus dem Westen glaube ich war es überraschend zu erfahren wie weit die Demokratie in dieser zivilgesellschaftlichen Organisation schon entwickelt ist und wie resistent, genau wie im übrigen Europa, die Machthaber gegenüber Stärkung und Beteiligung der Zivilgesellschaft sind.

• Aber die erfolgreichsten Staaten Europas sind just durch eine starke, selbstbewusste Zivilgesellschaft auf Augenhöhe mit der Obrigkeit gekennzeichnet.

• In Europa ist ein starkes paneuropäisches, zivilgesellschaftliches Engagement gefordert.

• Das ist nicht mehr und nicht weniger als ein Garant für eine prosperierende Gesellschaft.

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Die FUEV mobilisiert und motiviert die Bürgerinnen und Bürger, sich für ihre Rechte einzusetzen. Hier gibt es auch in der Europäischen Union noch vieles nachzuholen. • Wir wollen uns auf diesem Kongress mit dem gemeinsamen Ziel

befassen, eine europaweite Bürgerinitiative zu starten. • Ziel ist es, die Bedingungen für die Minderheiten in Europa zu

verbessern. • Dafür brauchen wir eine Million Unterschriften. • Iuliu Winkler, unserem FUEV- Mitglied und Abgeordneter des

Europäischen Parlaments setzt sich mit großem persönlichen Engagement für diese Initiative ein. Dank dafür Iuliu Winkler. Wir sind gespannt auf morgen, wenn sie den Stand der Dinge erläutern.

Die FUEV hat enge und gute Kontakte ins Europäische Parlament. Es freut mich daher sehr, dass der Präsident der Intergruppe für nationale Minderheiten des Europäischen Parlaments- Csaba Tabajdi, unter uns ist und später zu uns sprechen wird. • Das Parlament in Brüssel ist ein wichtiger Fürsprecher für die

Minderheiten – wir hoffen die Kooperation weiter verfestigen zu können, mit dem Ziel, dass über dem Recht der Mehrheit der Minderheitenschutz nicht vergessen wird.

Wir haben derzeit viele spannende und ambitiöse Projekte in Arbeit – sei es die durch die EU-Kommission geförderte Kampagne für Sprachenvielfalt in Europa RML2Future oder die in wenigen Wochen stattfindende Europameisterschaft der autochthonen Minderheiten im Fußball – die Europeada. Auch unser vielversprechendes Projekt Solidarität mit den Roma oder die erwähnte Bürgerinitiative für die Besserstellung von Minderheiten in Europa sowie die vielen Veranstaltungen im Laufe eines Jahres belegen die positive Entwicklung der FUEV.

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Darüber werden wir während unserer Delegiertenversammlung noch eingehender berichten. Wer sich unser Programm für die nächsten Tage genauer anschaut, wird feststellen, dass wir uns inhaltlich sehr viel vorgenommen haben. Doch wir legen auch Wert darauf, dass wir Zeit haben, uns diese schöne und faszinierende Stadt Moskau mit den vielen Möglichkeiten, die sie bietet, genauer anzuschauen. Die kulturellen Angebote von der Führung und dem Besuch einer Aufführung im Bolschoi Theater, Zirkus und Roma-Theater sind fantastisch – danke, Olga, dass du schier Unmögliches möglich gemacht hast. Lassen sie uns gemeinsam einige schöne, lehrreiche und intensive Tage in Moskau verbringen, um dann nach Hause zu fahren mit dem Gefühl, dass wir unsere Verschiedenheiten nicht nur anerkennen, sondern dass wir uns mit ihnen ausgesöhnt haben und dass wir sie mögen, ja mehr noch: dass wir einander mögen in unserer Verschiedenheit. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.