essen, trinken und ein dach über dem kopf...friedensnobelpreisträger nathan...
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Ihr Ausgangspunkt war die Sorge
für die Armen, die sozialen Rand-
gruppen, die sich am Ende des
19. Jahrhunderts in den Städten als
Folge von Industrialisierung und
Landflucht gebildet hatten. Das
Überangebot an Arbeitskräften be-
dingte niedrige Löhne.
Wer seine Arbeitsstelle verlor,
dem drohte der Ruin, da soziale
Sicherungssysteme damals noch
nicht existierten. Um den Lebens-
unterhalt der Familien zu sichern,
waren oft auch die Mütter berufstä-
tig; Kinderarbeit war an der Tages-
ordnung. Auch das Bettelwesen war
weit verbreitet.
Die Bayerische Evangelisch-Lu-
therische Kirche hatte 1849 als erste
aller evangelischen Kirchen in
Deutschland einen Erlass vorgelegt,
in dem ihrer Geistlichkeit und den
Kirchengemeinden die soziale Frage
ans Herz gelegt wurde. Darin hieß
es: „Die innere Mission, deren Auf-gabe darin besteht, die leiblichenund geistlichen Notstände des evan-gelischen Volkes nach allen Seiten
Sorge für die Grundbedürfnisse des Lebens
Essen, Trinken und einDach über dem Kopf
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Die 125-jährige Geschichte der Inneren Mission München
ist eine Geschichte der tätigen Nächstenliebe.1801: Johann Balthasar
Michel, Weinwirt und Pferde-
händler aus der Pfalz, erhält –
auf Geheiß des bayerischen
Königshauses – als erster
Protestant in München das
Bürgerrecht.
1838: In München wird der
„Protestantische Armenver-
ein“ gegründet.
Fünf Waisenkinder in
Feldkirchen, deren Mutter auf
der Flucht an Typhus starb
(1948).
thasar Michel, ein Weinwirt und Pferdehändler aus
der Pfalz – auf Geheiß des bayerischen Königshauses
das Bürgerrecht erhalten hatte, war die Zahl der Pro-
testanten schnell gewachsen. Bereits 1821 wurde für
die Armen unter ihnen ein so genannter „Almosen-
pfleger“ von der Münchner evangelischen Gemein-
de eingestellt. 1838 wurde der „Protestantische Ar-
menverein“ gegründet.
Als die Innere Mission am 26. März 1884 vom da-
maligen Münchner Dekan Karl Buchrucker ins Le-
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hin zu erforschen und durch die Verkündigung desgöttlichen Wortes und die Handreichung brüderli-cher Liebe zu heben, ist eine Lebensfrage unsererZeit. (…) Die Not ist zu einer unermeßlichen und fastunglaublichen Höhe herangewachsen, und das so hochgesteigerte Elend der Armen und Verwahrlosten imVolke forderte auch in gleicher Weise gesteigerteTeilnahme und Abhilfe.“
Seit im Jahre 1801 in der damals rein katholischen
Stadt München der erste Evangelische – Johann Bal-
Das „Evangelische Eck Münchens“: Seit 1906 war der Verein für Innere Mission hier an der Ecke Mathilden-/Landwehrstraße
zu finden. Nebenan residierte der Handwerkerverein, es gab einen Schriftentisch und ein christliches Hospiz.
sche Christen. Das Stadtleben war
von einer breiten Oberschicht ge-
prägt. Dies kam der Arbeit der Inne-
ren Mission zugute. Ein Großteil der
rund 2.000 Mitglieder, die der Verein
um die Jahrhundertwende hatte,
waren Männer aus der Staatsver-
waltung, dem Offizierskorps, den
Hochschulen, den Banken, dem Un-
ternehmertum und wohlhabende
Witwen. Die Arbeit der Inneren Mis-
sion resultierte schnell in der Grün-
dung von stationären Hilfeeinrich-
tungen, die zum Teil noch heute be-
stehen, wie demAltenheim imWest-
end oder dem Löhe-Haus mit seinen
vielfältigen Aufgaben in der Bluten-
burgstraße. Von Anfang an aber
kam der punktuellen, direkten und
auch aufsuchenden Hilfe für Bedürf-
tige eine große Bedeutung zu.
ben gerufen wurde, baute sie stark
auf die Arbeit des Armenvereins und
auf das Wirken des 1848 gegründe-
ten Evangelischen Handwerkerver-
eins auf. Dieser eröffnete 1870 ein
Vereinshaus in der Landwehrstraße
und gliederte ihm eine „Herberge
zur Heimat“, ein Übernachtungs-
heim für herumziehende Handwer-
ker, an. Das „Evangelische Eck“, das
um diese Gebäude herum entstand,
war eine Keimzelle des Protestantis-
mus in München. Dort hatten dann
auch die ersten Vereinsgeistlichen
der Inneren Mission ihren Sitz.
München war im 19. Jahrhundert
von einer kleinen, beschaulichen
Residenzstadt zu einer Großstadt mit
rund 500.000 Einwohnern gewor-
den; davon waren 70.000 evangeli-
1848: Der „Evangelische
Handwerkerverein“ wird
gegründet.
1870: Am Evangelischen Eck
in der Mathildenstraße
entsteht die evangelische
„Herberge zur Heimat“, ein
Übernachtungsheim für
herumziehende Handwerker.
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Ruhe und Beschaulichkeit prägten die Atmosphäre im Altenheim im Westend.
abzogen, auch wohl dann und wann einer, der tätlichvorgehen wollte...“
Über die Möglichkeit zu helfen, schrieb er: „So gutes gehen wollte, ist doch vielen geholfen worden. (…)Zum Aufsuchen der Leute blieb dem Vereinsgeistli-chen freilich noch keine Zeit. Aber ich denke mitDankbarkeit meiner Hilfsarbeiter: Was haben diesetrefflichen Männer Jahr für Jahr, Tag für Tag fürGänge und Besuche zu machen gehabt, Straßen aufund ab, in die Wohnungen des Elends und in die desReichtums, wenn es galt, besondere Gaben oder Für-sprache für einen besonderen Fall zu erbitten. Undebenso sei mit großem und bewunderndem Dank un-serer Gemeindeschwestern des Armenvereins ge-dacht. Neben anderen steht mir vor Augen die klei-ne Schwester Hedwig Köhler aus Bayreuth, die Haus-haltungsschwester, in allen unseren Armenfamilienwohlbekannt, unermüdlich in Krankenpflege, an Wo-chenbetten, im Beischaffen von Unterstützungen,Haushaltungsgegenständen, Betten, Kleidung und Kin-derschuhen, und das alles in der Selbstverständlich-keit eines Dienstes um Jesu willen...“
Und weiter: „Es war schon ein Großes, dass wir ei-ne Schreibmaschine anschafften, nicht ohne Beden-ken, ob das nicht ein Luxus sei, dessen Ausgabe sichnicht verantworten ließe. Vielgestaltig war die zuführende Korrespondenz: Anfragen nach dem Ver-bleib von Familienangehörigen, meist jugendlichen,und Rückfragen von solchen ans Elternhaus, Fragenund Bitten um irgend welche Berufsversorgung,Stellengesuche, Versöhnungsversuche zwischen Ehe-gatten, zwischen Eltern und Kindern, oft ergreifen-de Schuldbekenntnisse nach seelsorgerlicher Aus-sprache, Anfragen ins Ausland für dort Weilendeoder dorthin Verreisende, auch was bereits die per-sönliche Aussprache zu Tage gefördert hatte, fandseinen Niederschlag im schriftlichen Verkehr, fürden Seelsorger ein reiches Arbeitsfeld zumal bei Ir-renden, Zweifelnden und Verzagten.“ Etwa 5.000 Fäl-le pro Jahr registrierte der Vereinsgeistliche um die
Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. 39
Die Anfangsjahre der Inneren Mission
1888 beschrieb der erste Vereinsgeistliche, Pfarrer
Karl Ostertag, die Aufgabe des neuen Sozialwerkes
in seinem Jahresbericht so: „Die Kirche übte von An-fang an Liebesthätigkeit, und die schönsten Blätterder Kirchengeschichte sind die mit den Werkenchristlicher Barmherzigkeit beschriebenen. (…)(Jetzt), als die zu lange unbemerkt gebliebenenWunden im Volksleben mit einem Male offen dala-gen, rafften sich die christlichen Kreise von un-fruchtbaren Klagen zu rettenden Thaten auf und be-gannen nach dem Vorbilde des größten Leibes- undSeelenarztes Samariterdienste an dem Volke zuthun. (…) Die freiwillige evangelische Liebesthätig-keit zur Wiederaufrichtung und Erhaltung christli-chen Glaubens und Lebens wurde in dem Namen derInneren Mission zusammengefaßt.“
Der spätere Oberkirchenrat D. Karl Prieser, der von
1903 bis 1912 die Stelle des 1. Vereinsgeistlichen be-
kleidete, beschrieb seine Arbeit in diesen Jahren
rückblickend so: „Den Vormittag über, oft bis überdie Mittagszeit hinaus, war Sprechstunde zu halten.Mancher Arzt oder Rechtsanwalt hätte über einsolch gefülltes Vorzimmer sich freuen können. Waszogen da alles für Menschenschicksale an einem vo-rüber: Die zerrütteten Ehen, die verkrachten Exis-tenzen, die hungernden Künstler, die nie anerkanntenErfinder, der stellungslose Kaufmann, der von den El-tern ungerecht und hartherzig verstoßene Sohn, derim Zustand der Ernüchterung jede Besserung gelo-bende Trinker, der Hochstapler, der auch im herun-tergekommenen Zustand seine Allüren nicht verleug-nen kann, und dann die viele wirkliche Not, die abge-härmten Frauen, die verlassenen Mütter, die Alten,deren niemand mehr sich annehmen mag, Leute, dieaus glänzenden Verhältnissen bettelarm gewordenwaren, Böse und Gute, Wahrhaftige und Heuchler,Verzweifelte und Leichtfertige, in wirklicher See-lennot Anklopfende und um einen frommen Spruchnicht Verlegene, solche, die mit augenblicklichemSelbstmord drohten und dann mit 2 Mark befriedigt
Konsolidierung um die
Jahrhundertwende
Die Innere Mission hatte zu dieser
Zeit aber bereits ihre Lehrjahre hin-
ter sich und war zu einem sozialen
Faktor in der Münchner Stadtgesell-
schaft geworden. Pfarrer Prieser
schrieb im Jahresbericht 1906/1907:
„Der Verein Innere Mission wird (...)mit der in den letzten Jahren über-aus vielgestaltig angewachsenen, all-gemeinen Wohlfahrtspflege in einsgerechnet. Wir dürfen es als einenbemerkenswerten Sieg christlicherIdeen betrachten, daß der Gedankeder allgemeinen Hilfeleistung unddes berechtigten Anspruchs an sieim Bewusstsein unseres Volkes soreale Gestalt gewonnen hat.“
Allerdings spürt die kirchliche So-
zialarbeit zusehends auch die Kon-
kurrenz der weltlichen Organisatio-
nen und betont die eigenen
Wurzeln. Prieser: „Die humanitäreLiebesarbeit hat von der kirchlichendie Wege und Mittel gelernt, aberihr Objekt sucht sie wo ganz andersals wir. Die hat es mit dem Leib zutun; ihr Ziel liegt im Diesseits.An die Stelle des Geistlichen trittder Arzt oder Volkswirtschaftler;an die Stelle der Religion tritt dieBildung. (...) Demgegenüber bringtdie Religion vielmehr das Bestehinzu; sie lehrt alle Liebeserweiseerkennen als den Abglanz der ewigenVaterliebe Gottes, der auch seineverlassenen Kinder nicht vergessenhat, sondern Gebete erhört undLiebe austeilt mit reicher und güti-ger Hand.“
Die Berufung auf den biblischen
Auftrag hindert die Innere Mission
aber nicht daran, neue Erkenntnisse
und Methoden entschlossen zu über-
nehmen: Ein wichtiger Schritt in den
Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war
die Straffung der eigenenOrganisati-
on. Pfarrer Prieser formuliert das in
seinem Bericht zum 25-jährigen Be-
stehen der InnerenMissionMünchen
1909 so: „Mit der fortschreitendenOrganisation wuchs ihr Bekanntwer-den, wuchsen die Aufgaben, die Geld-mittel und noch mehr ihre Inan-spruchnahme. Im Kampf mit dem Bet-tel und ungerechtfertigten Forderun-gen, in der Mühe um Erlangung vonArbeitsgelegenheit und Versorgung,im Aufsuchen verschämter und darumbitterster Armut kann allein einefestgefügte und tadellos laufendeOrganisation Ersprießliches leisten.“
Neben der Arbeit in den festen An-
laufstellen der Inneren Mission im
Stadtgebiet spielte die aufsuchende
Sozialarbeit und Seelsorge eine im-
mer wichtigere Rolle. Dafür leistete
der inzwischen angestellte Stadtdia-
kon entscheidende Beiträge. Für das
Jahr 1906 beispielsweise hielt Prieser
aus der Arbeit seines Diakonskolle-
gen Karl Müller folgendes fest: „In1.664 Hausbesuchen und Berufsgän-gen hat er die nötigen Ermittlungenbetrieben. Für 39 verwahrloste undverlassene Kinder mußte die Unter-bringung in Anstalten besorgt wer-den. 90 Mädchen, die zwei- odermehrmals illegitim geboren hatten,wurden durch den Diakon besuchtund beraten. 55 wilde Ehen suchtenwir zu bürgerlicher und kirchlicher
„Im Kampf mit dem Bettel
und gegen bitterste Armut
kann allein eine festgefügte
und tadellos laufende Organi-
sation Ersprießliches leisten.“
Karl Prieser, 1. Vereinsgeist-
licher von 1903 bis 1912
1906: Stadtdiakon Karl Müller
hat 1.664 Hausbesuche
gemacht, 39 verwahrloste
Kinder untergebracht und
von 55 wilden Ehen 26 zur
bürgerlichen und kirchlichen
Eheschließung veranlasst.
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ne wichtige Hilfe für Trinker ist die Pflege derchristlichen Gemeinschaft, um den Neugewonnenendie Geselligkeit des alten Wirtshauslebens zu erset-zen und die Mitglieder reger miteinander zu verbin-den. Ihr dienen auch gemeinsame Sonntagsausflügeund gegenseitige Besuche. Als sehr notwendig hatsich mehr und mehr die Arbeit an den Frauen und Fa-milien der Trinker herausgestellt. Hier finden beson-ders die dem Verein angehörigen Frauen ein weitesWirkungsfeld. Die Arbeit hat mit vielen Schwierig-keiten und Mißverständnissen nicht nur von Seitender Trinker selbst zu rechnen. Doch wiegt eine demElend entrissene Trinkerfamilie unendlich viel auf.“ 41
Eheschließung zu bringen, was in 26 Fällen gelungenist. Vielfach wurde die Tätigkeit des Diakons auchzur Vermittlung von Lehrlingsstellen und sonstigerArbeitsbeschaffung und Stellenvermittlung in An-spruch genommen. Die uns von der Polizei überlasse-nen Adressen von neuzugezogenen jungen Männernwerden, soweit möglich, vom Diakon aufgesucht unddie Leute auf den Anschluß an den EvangelischenHandwerkerverein oder den Christlichen Verein jun-ger Männer hingewiesen.“ Als wichtige Aufgabe siehtdie Innere Mission in diesen Jahren auch die Hilfe für
süchtige Menschen an und arbeitet eng mit dem
Blau-Kreuz-Verein München zusammen. Prieser: „Ei-
Originalunterschrift: „Prinz und Prinzessin Ludwig im Knabenheim“. Die Majestäten besuchten das Löhe-Haus des Öfteren.
Rückschläge durch Ersten
Weltkrieg und Geldentwertung
Die aufblühende Arbeit der Inneren
Mission München wurde durch den
erstenWeltkrieg, die politischen Um-
wälzungen nach dem Fall der Mo-
narchie und die horrende Geldent-
wertung der Jahre 1922/23 schwer
belastet. Dr. Hilmar Schaudig, der
von 1912 bis 1925 1. Vereinsgeistli-
cher war, schreibt über diese Zeit:
„Zu Beginn meiner Arbeit erlebteich sonnige Friedenstage, in denenuns schwere finanzielle Sorgen fastunbekannt waren. Dann der Welt-krieg, dann die Narrheit der Rätere-publik und dann die Zeiten der Infla-tion, welche unser Vermögen und dasunserer großzügigen Wohltäter zu-sammenschmelzen ließ, und dann kamdie Zeit, da man wieder mühsam auf-zubauen versuchte, was in einemJahrzehnt zusammengestürzt war.“
In den Berichten für die Jahre
1917 - 1920 schreibt Schaudig: „Vie-le suchen beim Verein Rat und Hilfein äußeren und inneren Nöten. Wirtun Blicke in großes verschuldetesund unverschuldetes Leid. Durch dieenge Verbindung des Vereins für In-nere Mission mit dem Protestanti-schen Armenverein kann in äußererBedrängnis rasch Hilfe gebrachtwerden, wo die öffentliche Armen-pflege zu langsam arbeitet oder woverschämte Armut ängstlich sich vorden neugierigen Augen der Welt zuverbergen sucht. Ebenso haben sichim Laufe der Jahre auch die nahenBeziehungen zum EvangelischenHandwerkerverein bewährt. (…) Ob-
dachlose Männer können wir in derHerberge unterbringen. Lehrlingensteht das 40 Plätze zählende Lehr-lingsheim offen. Im Hospiz findendie Gäste christliche Hausordnungund verspüren etwas vom christli-chen Geist.“
Schaudig berichtete in einem
Rückblick anlässlich des 50. Jahres-
tages der Gründung der Inneren
Mission (1934) aber auch davon,
wie immer wieder unerwartete Spen-
den eintrafen. „Es hat sich immer
wieder gezeigt, dass in München die
edle Gilde der fröhlichen Geber
nicht ausstirbt.“ Wesentlich für die
Arbeit der Inneren Mission wurde
auch die Unterstützung von Chris-
ten aus dem Ausland. „Von Chica-
go, von Rio de Janeiro und aus der
Schweiz flogen uns wertvolle Brief-
lein ins Haus.“
Der schwedische Erzbischof und
Friedensnobelpreisträger Nathan
Söderblom, der weitsichtig die Kon-
takte der lutherischen Kirchen in
Europa untereinander förderte, lud
Schaudig zu einer Bitt- und Werbe-
reise in sein Land ein. „Unsere so
sehr in Anspruch genommene
Hauptkasse konnte sich erholen und
ihren Anforderungen genügen.“
Neuer Aufbruch und Bedräng-
nis durch Weltwirtschaftskrise
und NS-Staat
Mitte der zwanziger Jahre konsoli-
dierte sich die Arbeit der Inneren
Mission wieder. Der Verein wurde
Gastgeber für die „Erste kontinenta-
1922/23: Die horrende
Geldentwertung läßt das
Vereinsvermögen – und das
der Wohltäter – drastisch
zusammenschmelzen.
„Der aus dem Zusammen-
bruch wiedererstandene
Staat hat als Wohlfahrtsstaat
zur Bekämpfung der Massen-
nöte des Volkes eine umfas-
sende öffentliche Fürsorge
aufgebaut.“
1. Vereinsgeistlicher Friedrich
Wunsiedler in seinem
Jahresbericht von 1926.
1932: In diesem Notjahr gibt
die Innere Mission im
Mathildenhospiz täglich bis
zu 20.000 Essensportionen
aus.
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ne Hoffnung. (…) Ach, es waren ja so nüchterne Din-ge, die man von uns erbat: ein Lebensmittelpaket, ei-ne Speisenmarke, Kleider und Schuhe, Betten undKohlen oder ein Nachtquartier...“
Und weiter: „Vor allem dies eine Wort stand voruns: Winterhilfe. Im Sommer mußten jeweils schondie Pläne dafür gemacht werden. Da galt es Spei-sungsstellen einzurichten. Wärmestuben wurden er-öffnet, wo die, denen es daheim an Kohlen fehlte, vorder Kälte Schutz suchten, auch gegen Abend eineTasse Milch und ein Stück Brot empfingen. Fürwahr,es mußte einem ans Herz gehen, wenn man sah, wiedie vielen Männer und Frauen in ihrer schlechtenKleidung geduldig frierend vor den Türen standen,um dieser kleinen Gaben willen.“
Die Innere Mission stemmte sich gegen jede Not,
die an ihre Pforten klopfte: Alleine im Mathilden-
hospiz in der Münchner City werden im Notjahr
1932 täglich bis zu 20.000 Essensportionen ausge-
geben, wie im Jahresbericht von 1932 zu lesen ist. 43
le Konferenz für Innere Mission und Diakonie“. Der
Vereinsgeistliche ist Mitglied des städtischen Wohl-
fahrtshauptausschusses und der „Arbeitsgemein-
schaft der freien und öffentlichenWohlfahrtspflege“
und kann dort die kirchlichen Belange einbringen.
Und die öffentliche Anerkennung für die Arbeit der
Inneren Mission drückte sich auch dadurch aus,
dass der Vereinsgeistliche vom Reichsminister des In-
nern zum Beisitzer der Filmprüfungskammer beru-
fen wurde. „Mit Staunen verfolgt man die Fort-
schritte der Filmtechnik und sieht, welche wertvol-
len Bildungselemente hier beschlossen liegen“,
schreibt Pfarrer Schaudig.
Sein Nachfolger Dr. FriedrichWunsiedler kann im
Jahresbericht 1926 zufrieden feststellen: „Der ausdem Zusammenbruch wiedererstandene Staat hatals Wohlfahrtsstaat zur Bekämpfung der Massen-nöte des Volkes eine umfassende öffentliche Für-sorge aufgebaut. (…) Die Innere Mission und die an-deren großen Verbände der freien Fürsorge sinddurch die neue Wohlfahrtsgesetzgebung des Rei-ches und der Länder als wichtige und unentbehrlicheGlieder in den großen Organismus der Fürsorge miteingeschaltet.“ In diese frühe sozialstaatliche Idylle
schlägt dann der Blitz der schwarzen Börsentage En-
de Oktober 1929 und der folgendenWeltwirtschafts-
krise ein. Wichtige Spender der sozialen Arbeit ver-
loren ihre Vermögen. Die Arbeitslosigkeit nahm la-
winenartig zu; die Bedürftigen hatten oft nicht ein-
mal mehr das Existenzminimum zur Verfügung.
Pfarrer Friedrich Hofmann, der von 1932 bis zum
Ende des Krieges 1. Vereinsgeistlicher der Inneren
Mission war, beschreibt in einem Beitrag für das 50-
jährige Jubiläum 1934 die Jahre der schlimmsten
Not so: „Elend und Verwahrlosung waren zu alltägli-chen Bildern geworden, die uns auf der Straße zu je-der Stunde des Tages entgegentraten. Wenn wir amMorgen früh unsere Büros in der Mathildenstraßeaufsuchten, standen und saßen sie schon am Gang undauf den Treppen, die Vielen ohne Obdach, ohne Nah-rung, ohne Kleidung, ohne Arbeit, ohne Glauben, oh-
Die Winterhilfe versorgte die frierenden Menschen in
München mit Nahrungsmitteln, Kleidern und Kohlen.
Mitglieder der Kirchengemeinden
wurden mobilisiert, um Spenden zu
verteilen, Kohlen auszuladen und zu
verteilen und andere Hilfe zu über-
bringen. Die Innere Mission organi-
sierte einen Jugenddienst und später
einen Freiwilligen Arbeitsdienst, der
Arbeitslosen eine Aufgabe gab und
Bedürftigen vielfache Hilfe leistete.
Die Nationalsozialisten, die im Ja-
nuar 1933 an die Macht kamen, be-
anspruchten solch innovative Ar-
beitsgebiete für sich und inkorpo-
rierten sie in ihr System, den Reichs-
arbeitsdienst.
Und Friedrich Hofmann begrüßte
zunächst das sozialstaatliche Han-
deln der neuenMachthaber und sah
die Innere Mission als genuin kirch-
liche Aufgabe. In der Festschrift zum
50-jährigen Bestehen des Vereins
1934 schreibt er: „Welche Zukunftwird unserem Werk beschiedensein? Wird es für die Innere Missi-on auch künftig noch Arbeit undAufgaben geben? (...) Überflüssigwird die Innere Mission und ihrWerk nie sein, weil und solange siesich als Lebensäußerung der Kircheweiß und fühlt. Sie wird sich im neu-en Staat klarer als in früheren Jah-ren auf ihre eigentliche Bestimmungbesinnen müssen, die Wichern ‚diefreie Liebestätigkeit des heilerfüll-ten Volkes zur Verwirklichung derchristlichen und sozialen Wiederge-burt des heillosen Volkes’ nennt.“
Die Gleichschaltung sozialer Ar-
beit durch die braune Diktatur ging
aber viel weiter als Hofmann ge-
dacht hatte. Bereits 1934 änderten
1934: Die Nationalsozialisten
ändern das Sammlungsge-
setz: Die freien Wohlfahrts-
verbände dürfen nur noch bei
eigenen Mitgliedern Geld
sammeln.
1939: Im letzten Friedensjahr
betreibt die Innere Mission
noch sechs Einrichtungen mit
insgesamt 468 Plätzen.
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die Nationalsozialisten das Samm-
lungsgesetz: Die freien Wohlfahrts-
verbände durften nun nur noch bei
den eigenen Mitgliedern Sammlun-
gen abhalten. Damit verlor auch die
Innere Mission München eine wich-
tige Finanzierungsquelle. Der Verein
hoffte trotzdem, wenigstens die Ju-
gendhilfe im alten Rahmen erhal-
ten zu können. Das durchkreuzte
der nationalsozialistische Staat
ebenfalls und der Inneren Mission
blieben nur noch Vormundschaften
für körperlich und geistig behinder-
te Kinder.
Die Bahnhofsmission, die die In-
nere Mission 1933 übernommen
hatte, musste auf Druck der Natio-
nalsozialisten aufgelöst werden. Ih-
re Arbeit übernahm die „National-
sozialistische Volkswohlfahrt“. Der
Verein für Arbeiterkolonien hatte
1894 Herzogsägmühle gegründet.
Die Einrichtung wurde 1936 vom
nationalsozialistisch geprägten
„Landesverband für Wanderdienst
in Bayern“ übernommen, nachdem
nicht zuletzt die nationalsozialisti-
sche Politik dem ehemaligen Träger
die wirtschaftliche und ideelle
Grundlage entzogen hatte. Trotz des
Drucks aber gibt die Innere Mission
nicht auf. 1939 wird zu den beiden
Vereinsgeistlichen Friedrich Hof-
mann und Leonhard Henninger ein
dritter berufen: Pfarrer Johannes
Zwanzger ist für das zunehmend
wichtige Gebiet der Altenfürsorge
zuständig.
Im letzten Friedensjahr 1939 be-
treibt die Innere Mission noch sechs
Lehrlingsheim in der Magdalenenstraße sowie das
Erholungsheim Lindenhof bei Murnau. Im Krieg
wird ein Teil der Gebäude beschädigt oder zerstört;
viele Mitarbeiter müssen an die Front.
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Einrichtungenmit insgesamt 468 Plätzen: das Säug-
lings- und Kinderheim Löhe-Haus in der Bluten-
burgstraße, Kindergarten und Altenheim im West-
end, das Mädchenerziehungsheim Feldkirchen, das
Das Sekretariat der Hauptverwaltung des Vereins in der Mathildenstraße. Die Aufnahme entstand 1934.
Die Münchner Bahnhofsmission – die 1897 als erste ökumenisch arbeitende Bahnhofsmission des Deutschen Reichs
gegründet worden war – muss auf Druck der Nationalsozialisten geschlossen werden.
„Doch kann sich der Kern der Inne-ren Mission in München, was die ei-gene Mitarbeiterschaft, das Fach-wissen und die Vereinsstrukturenbetrifft, erhalten und über den Zu-sammenbruch des Dritten Reichshinwegretten“, urteilt Basilios My-
lonas, Mitarbeiter der Inneren Mis-
sion seit 1992, der 2002 eine um-
fangreiche Dissertation „Der
Wiederaufbau der verbandlichen
Sozialen Arbeit in München am
Beispiel der Inneren Mission Mün-
chen 1945 - 1955“ an der Universi-
tät Augsburg vorgelegt hat. Hof-
mann wurde nach dem Krieg im
Entnazifizierungsverfahren von der
Spruchkammer als unbelastet ein-
gestuft, weil er viele positive Refe-
renzen vorweisen konnte – unter
anderem von Probst Grüber.
Neue Chancen für die
kirchliche Sozialarbeit nach
demWeltkrieg
Das Ende des zweiten Weltkriegs
brachte für die Überlebenden zu-
nächst eine Phase purer Lebenssi-
cherung mit sich. Ein Stück Brot, ei-
ne gespendete abgetragene Jacke,
eine Adresse, die Hilfe versprach –
für viele blieb über Monate, für
manche über Jahre die Sicherung
des einfachsten Lebensbedarfes das
vornehmliche Ziel. Ströme entwur-
zelter Menschen zogen durch
Deutschland und Europa. Bald aber
wurde auch sichtbar, dass der Über-
lebenswille von Millionen nie ge-
ahnte Kräfte freisetzte. Der Wunsch,
etwas Neues aufzubauen und die
Zeit der Tyrannei undMenschenver-
achtung auch innerlich zu überwin-
den, bewirkte auch eine Neubesin-
nung auf uralte Werte. Das kam den
Kirchen und den konfessionellen
Wohlfahrtsverbänden zugute.
Pfarrer Leonhard Henninger (Jahr-
gang 1908), der als 1. Vereinsgeistli-
cher die Innere Mission München
vom Oktober 1945 bis 1976 wesent-
lich prägte, beschreibt den Umbruch
von der Diktatur zur langsam auf-
blühenden zweiten deutschen De-
mokratie aus dem Blick der Kirche
so: „Nachdem Gott der deutschenChristenheit in der nationalsozialis-tischen Zeit 12 Jahre das Bekennenund Kämpfen abverlangt hatte, er-wartete er nach 1945 postwendend
1937: Die Jugend- und
Freizeitenkirche in Eichenau
wird eingeweiht, um die
evangelische Jugendarbeit
trotz der Beschränkungen
durch die braunen Machtha-
ber fortzuführen – die erste
und einzige Kirche ihrer Art in
ganz Deutschland.
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„Geprägt durch mein Elternhaus, ist mirdie Arbeit der Inneren Mission München vonKindheit an vertraut. Durch Mutter undVater wurde mir eine innere Lebenslinievorgezeichnet. Verkündigung und die Werkeder Barmherzigkeit gehören in der Kircheunaufgebbar zusammen.“
Friedgard Habdank, Tochter von Friedrich Hofmann, dem 1. Vereinsgeistlichender Inneren Mission in der Zeit zwischen 1931 und 1945
Der Landeskirche und der Inneren Mission gelang
es aber, auch mit Hilfe von Sympathisanten im Par-
teiapparat, Henninger vor dem Zugriff der braunen
Machthaber zu schützen.
Henningers persönliche und politische Integrität
war ein wichtiger Faktor beim schnellen Wiederauf-
bau der Strukturen der Inneren Mission nach dem
Kriege. Er war ein wichtiger Ansprechpartner für die
amerikanische Besatzungsmacht und für die neue
demokratische Verwaltungsspitze in München. Ba-
silios Mylonas schreibt dazu: „Beide konfessionellenVerbände (Innere Mission und Caritas) konntenschon zu einem sehr frühen Zeitpunkt die eigenenArbeitsbereiche ausdifferenzieren und gegenübermöglichen Konkurrenten abgrenzen. Dabei zeigte dieMünchner Innere Mission von Anfang an einen er-staunlichen Pragmatismus, was die Auswahl ihrer Tä-tigkeiten anbelangte. Sie verfiel nicht in kaum reali-sierbare Utopien, sondern beschränkte sich zu-nächst vor allem auf Arbeitsfelder, die dringendstim Interesse der Bevölkerung abgedeckt werden 47
von uns das Lieben in einem nicht gekannten Ausmaßin den Jahren, in denen die Not wirklich apokalypti-sche Ausmaße hatte.“
Henninger war seit 1935 bereits 2. Vereinsgeistli-
cher der Inneren Mission sowie Bezirksjugend- und
Krankenhauspfarrer. Er stand von Anfang an in in-
nerem und oft auch äußerem Gegensatz zum Na-
tionalsozialismus und versuchte, einen Rest an un-
abhängiger kirchlicher Jugendarbeit zu retten: Ein-
zigartig im damaligen Deutschen Reich blieb die Er-
richtung der Jugend- und Freizeitenkirche in Eiche-
nau, in der sich die Münchner Gemeindejugend zwi-
schen 1937 und 1940 noch treffen konnte. Dann un-
tersagte das nationalsozialistische Regime auch die-
se Treffen: Die kirchliche Jugendarbeit war in die Hit-
lerjugend zwangsaufgelöst worden. Der Geheimen
Staatspolizei war die Gesinnung Henningers be-
kannt. In einem Gestapo-Bericht vom 29. Februar
1940 heißt es: „Er ist als einer der typischen Vertre-
ter der Bekenntnisfront anzusprechen, dem die Be-
lange der Kirche höher stehen als die des Staates.“
Die Evangelische Jugend- und Freizeitenkirche in Eichenau wurde am 4. Juli 1937 feierlich eingeweiht. Vom Hauptbahnhof
aus fuhr ein Sonderzug; es kamen rund 4.000 Besucher. Der Gottesdienst musste mit Lautsprechern übertragen werden.
schreibt er: „Nach dem Zusammen-bruch 1945 schwoll der Strom de-rer, die Hilfe brauchten, an wie niezuvor in der deutschen Geschichte.In normalen Zeiten war in unserembayerischen Land knapp 1 Prozentder Bevölkerung hilfsbedürftig.Nach dem 2. Weltkrieg waren es 33Prozent und nach dem hereinkom-menden Flüchtlingsstrom 40 Pro-zent. In normalen Zeiten betrug dasVerhältnis der Erwerbstätigen zuden Erwerbsunfähigen 50 zu 50.Nach 1945 waren nur noch 36 Pro-zent erwerbsfähig. Früh um 7 Uhrstanden oft schon 300 bis 400Hilfssuchende bei unserer Hilfs-werkstelle Schlange und waren froh,wenn sie ein Stück Brot und ein paarKartoffeln bekamen.“
Schon in den ersten Tagen nach
Kriegsende vereinbarten Caritas und
Innere Mission den sofortigen Be-
ginn einer Lebensmittelsammlung.
Die Innere Mission sammelte in den
evangelischen Dekanaten Oettin-
gen, Nördlingen und Wassertrüdin-
gen im Donau-Ries. Henninger:
„Wochenlang starteten um Mitter-nacht dreimal in der Woche Lastzü-ge ins Ries, fuhren von Gemeinde zuGemeinde, luden den ganzen Tag bisin die Nacht Kartoffeln und andereLebensmittel auf und kamen voll be-laden gegen 5 Uhr morgens im Hofdes Löhe-Hauses an. Viele tausendZentner konnten hauptsächlich anAlte, Kranke und Kinder verteiltwerden...“ Die gespendeten Eier, But-
ter und Fett kamen beispielsweise
auch den Kriegswaisen im Feldkir-
chener Kinderheim zugute.
Gemeinden in den Dekanaten
Oettingen, Nördlingen und
im Donau-Ries sammeln
Lebensmittel für die Stadt-
bewohner, um die größte
Not in der Nachkriegszeit zu
lindern.
1945: 33 Prozent der
bayerischen Bevölkerung
sind hilfebedürftig; mit an-
schwellendem Flüchtlings-
strom steigt die Zahl auf
40 Prozent an.
48
mussten. (…) Dass die Ausweitungder Arbeitsfelder zu diesem frühenZeitpunkt die Innere Mission finan-ziell nicht überforderte, verdanktsie der Spendenfreudigkeit derMünchner Bevölkerung.“
Ein Stück Brot
und ein paar Kartoffeln
Die Wertschätzung Henningers
kommt auch dadurch zum Aus-
druck, dass er als einer der ersten So-
zialexperten des neuen deutschen
Staates in die USA eingeladen wird.
Die gewonnenen Einsichten sichern
der Inneren Mission einen Moderni-
tätsvorsprung. In seiner Schrift zum
100. Jubiläum der Inneren Mission
1984 beschrieb Henninger die bis-
herige Geschichte und legte dabei
besondere Aufmerksamkeit auf die
Notjahre nach dem Kriege, in denen
er auch zahlreiche Chancen sah. So
Pfarrer Henninger, genannt: „Bivi“, war
von 1935 bis 1976 als 2. und 1. Vereins-
geistlicher der Inneren Mission tätig.
tisch mit etwa den Worten: ‚Alles in mir freut sich,dass ich auch noch helfen kann’ (...) Nicht seltenwarfen Frauen und Jugendliche ihre Goldringe undHalsketten in den Opferstock.“
Das zweite Jahr nach dem Krieg wurde für den Ver-
ein ein besonders wichtiges Jahr, denn die Besat-
zungsmacht genehmigte jetzt offiziell die Spenden
aus dem Ausland, die auch vorher schon in Einzel-
fällen viel Not gelindert hatten. Da die meisten die-
ser Gaben Sachspenden waren, kamen Güter ins
Land, über die die einheimische Bevölkerung schon
lange nicht mehr verfügt hatte. Ein wichtiger Ne-
beneffekt war, dass dadurch die deutschen Kontakte
ins Ausland ausgeweitet werden konnten. Das Jahr
49
„Da gab es in einem Dorf vor München die schöneÜbung, dass Erwachsene und Kinder nicht zum Got-tesdienst gingen, ohne einen Scheit Holz mitzubrin-gen für frierende, alte und kranke Münchner. (...)Aber auch die Münchner selber halfen den ausge-bombten und hereingeströmten Flüchtlingen in ein-drucksvoller Weise. Rund eine halbe Million Beklei-dungsstücke, rund 46.000 Möbelstücke und großeMengen an Hausrat konnte unsere Hilfswerkstellein den ersten Jahren nach 1945 verteilen. Das wa-ren schon bewegte Jahre, die nicht nur von riesigerNot, sondern auch von einem großartigen Helferwil-len gezeichnet waren. Da kamen Lehrlinge zu unsund brachten ihren ersten Lohn, da kamen Arbeits-lose und legten ein paar Mark auf unseren Schreib-
Getroffen, aber nicht zerstört: Das Löhe-Haus nach dem Bombentreffer im Oktober 1943. Verletzt wurde niemand.
1946 festigte auch die Zusammenar-
beit zwischen der Inneren Mission
und der Stadt. Wichtige gemeinsame
Hilfsprojekte waren die Volksküchen
(alleine die Innere Mission gibt
22.000 Essensportionen pro Tag aus
und fährt sie in alle Stadtteile), die
Wärmestuben, die Flüchtlingsbe-
treuung und der Beginn der Schul-
speisungen aus Schweizer Spenden.
Jetzt beginnt auch die Reparatur
und der Wiederaufbau der zerstör-
ten Häuser: Von den 18 Objekten
waren im Krieg elf restlos zerstört
worden, fünf teilweise, eines wurde
ausgeplündert und nur das Erho-
lungsheim Lindenhof, im bayeri-
schen Oberland bei Murnau gele-
gen, hatte den Krieg ohne Schaden
überstanden. Um die Arbeit wieder
aufnehmen zu können, mietet der
Verein außerhalb Münchens Heime
für Kinder, Jugendliche und Alte an.
Die Bahnhofsmission, die nach dem
Krieg zunächst in Laim Anlaufstelle
für Tausende von Flüchtlingen war,
bezieht im zerstörten Hauptbahnhof
eine Baracke; 100 notdürftige Über-
nachtungsmöglichkeiten gibt es
dort. Einer der heimkehrenden Sol-
daten schreibt der Inneren Mission:
„Nach der Ankunft zwischen denRuinen eines ehemaligen Hauptbahn-hofs ging von der Baracke der Evan-gelischen Bahnhofsmission der Geistaus, der es gerade uns so wertmacht, nach Deutschland zurückzu-kehren. So bin ich denn, der ich inGefangenschaft mir immer so armvorkam, innerlich reich geworden,weil ich, ohne zu suchen, Menschenfand, für die Heimat, Glaube und
1945: Von den 18 Gebäuden
des Vereins sind nach dem
Krieg elf restlos zerstört, fünf
teilweise.
1946: In München entstehen
die Volksüchen, um die notlei-
dende Bevölkerung zu versor-
gen. Allein die Innere MIssion
gibt pro Tag 22.000 Essens-
portionen aus.
1948: München hat wieder
fast 800.000 Einwohner. Drei
Jahre früher waren es noch
weniger als 500.000 gewesen.
50
Aufrichtigkeit noch einen Begriffbedeuten. Damit besteht die Hoff-nung, dass Ruinen und Schutt all-mählich verschwinden und damitauch die Schatten unserer Tage.“
Und sechzig Jahre nach Kriegsen-
de erreichte ein Brief die Geschäfts-
stelle, in dem sich eine mittlerweile
79-jährige Dame für die Hilfe der
Bahnhofsmission bedankte. Die ge-
bürtige Berlinerin schrieb folgendes:
„Sehr geehrte Damen und Herren,bei Erhalt dieses Briefes werden Siesich sicherlich wundern. Es ist eineAngelegenheit, die ich schon längsterledigen wollte und die mir sehr amHerzen liegt.
Ich gehöre der älteren Generationan und muss zurückgreifen auf dasJahr 1945 im August. Als mein Mannaus englischer Kriegsgefangen-schaft entlassen wurde – das musstein den früheren Heimatort erfolgen(in diesem Fall Oldenburg in Olden-burg/Niedersachsen), war natürlichkein Geld für die Fahrkarte vorhan-den. Sie, als Innere Mission, habendas Geld für die Fahrkarte aufge-bracht, wofür ich Ihnen noch heutesehr dankbar bin. Insofern schuldeich Ihnen noch etwas. Das wäreselbstverständlich auch im Sinnemeines Mannes gewesen, den ich lei-der nach einer schweren Krankheitverloren habe. Wir haben oft darü-ber gesprochen. Durch Herzogsäg-mühle bin ich auf Ihre Anschrift ge-stoßen. Die beigefügten 100 Eurosind eine kleine Wiedergutmachung.Vielleicht können Sie damit eineähnliche Hilfe leisten.“
51
Von der Armenfürsorge
zur Fachbetreuung
Die Innere Mission nimmt in den folgenden Jahren
eine Reihe von Arbeitsfeldern dazu. Ende 1947 ist die
Zahl der Mitarbeiter von 70 gleich nach dem Kriege
bereits auf 400 gewachsen. Zu Beginn des Jahres
1948 hat München wieder fast 800.000 Einwohner.
Die Vorkriegszahl lag bei 850.000 – bei Kriegsende
war sie auf 500.000 gesunken. Viele der Neuzugezo-
genen sind Flüchtlinge, die aus evangelischen Ge-
bieten des ehemaligen Deutschen Reiches stammen.
Auf den evangelischen Wohlfahrtsverband in der
Stadt kommen dadurch weitere Aufgaben zu: In
Großhadern entsteht ein Flüchtlingsheim und der
Verein übernimmt das Heimkehrer-Genesungsheim
in Niederpöcking. Durch die Währungsreform im
Mai 1948 verlieren die Wohlfahrtsverbände viel
Geldvermögen. Die Innere Mission kann aber ihre
Belegschaft halten. Allerdings erhalten die Mitar-
beiter ab Juli ein gekürztes Gehalt und erklären sich
mit Abtretungen zugunsten der Betreuten bereit. Ih-
re Treue hilft dem Verein, auch diese schwierige Zeit
zu überstehen.
Dieser profitiert zudem von der Gründung eines
Diakonissen-Mutterhauses nach dem Kriege, da die
Schwestern über ein hohes Fachwissen und eine ho-
he Motivation verfügen, aber – unabhängig von ih-
rer jeweiligen wirtschaftlichen Situation – keine fi-
nanzielle Vergütung für ihre tägliche Arbeit bekom-
men. Basilios Mylonas wertet in seiner Doktorarbeit
das Jahr 1948 als wichtiges Übergangsjahr für die
soziale Arbeit: „Von jetzt an beginnt für die Politikund Gesellschaft der langsame und schrittweise Wegin die Normalität der jungen Bundesrepublik. Auchfür die Innere Mission gehen damit die Zeiten desImprovisierens zu Ende.“
Es beginnt eine Zeit, in der sich der Dienst an den
Armen im klassischen Sinne hin zur Fachbetreuung
von Menschen in besonderen Problemlagen verla-
gert. Materielle Hilfe, seelische Stützung und geist-
liche Stärkung gehen dabei ineinander über. Basilios
Mylonas hat den Wiederaufbau der verbandlichen
sozialen Arbeit in München in den ersten zehn Jah-
ren nach dem Kriege exakt beschrieben. Er kommt
zu folgendenWertungen in Bezug auf die Innere Mis-
sion: „Als Teil der Evangelischen Kirche konnte sieüber den Zusammenbruch hinaus ihre Arbeit fort-führen. Es spielte dabei keine Rolle, dass die Bevöl-kerung Münchens mehrheitlich katholisch war. Be-reits der Druck des ‚Dritten Reiches’ hatte vielesfrüher Trennende zwischen beiden Konfessionen auf-gehoben und einer guten Zusammenarbeit in den fol-genden Jahren den Weg geebnet.“
„Ein für die Innere Mission wichtiges Ereignis die-ser Zeit ist auch die Anbindung der Anstalt Herzog-sägmühle an den Verein, gelang es ihr doch damit,endgültig aus der Beschränkung ihrer Tätigkeit aufMünchen auszubrechen.(...) Daneben engagiert sichdie Innere Mission intensiv in der neuen Arbeitsge-meinschaft der freien Wohlfahrtspflege und wird
„Eine kleine Spende für die Innere Mission“ – mit diesem
Spruch sammelten Konfirmanden noch bis weit in die 70-er
Jahre für die Arbeit des Vereins. Heutzutage haben die
Sammelbüchsen aus Blech nahezu ausgedient.
dort für die nächsten Jahre Motorder Zusammenarbeit und des Aus-tausches der Verbände untereinan-der.(…) Es beginnt in dieser Zeitauch die Stunde eines immer stär-ker werdenden Staates, der mit Hil-fe der Besatzungsmacht Rahmen-bedingungen für die Gesellschaftsetzt, bei denen soziale Belange nureine Nebenrolle spielen.(...) Diefreie Wohlfahrtspflege, und mit ihrauch der Münchner Verein der In-neren Mission, werden zum Kostgän-
ger der Stadt und des Staates.(...)Im Jahr 1955 sind alle Schäden derKriegszeit, sowohl was die baulich-materielle als auch was die in-haltlich-ideelle Substanz betrifft,überwunden. Der Verein ist stärkerals jemals zuvor in seiner Geschich-te. Er ist in den alten und auch invielen neuen Arbeitsfeldern erfolg-reich tätig.(...) Was die eigene Mit-arbeiterschaft angeht, kann dieMünchner Innere Mission auf einpositives Klima verweisen. Sie profi-tiert auch von einer von ihr selbstmit angestoßenen neuen Sammlungs-ordnung. Somit hat sie gute Voraus-setzungen für die vielen neuen
Aufgaben im Jugendbereich, derBetreuung psychisch kranker Men-schen und die anderen Aufgabenge-biete, die im Zuge der Entwicklungder jungen Bundesrepublik noch aufsie zukommen werden.“
Neue Armut in einem
reichen Land
Die sichtbaren Folgen des 2.Welt-
Kriegs werden in der Bundesrepublik
Deutschland – anders als im Osten
des Landes – schneller überwunden
als gedacht. Ende der 50-er Jahre
sind die meisten Menschen, die kei-
ne dauerhaften gesundheitlichen
Kriegsschäden erlitten haben, in
Lohn und Brot. 1959 liegt die Ar-
beitslosenquote bereits unter drei
Prozent. Der Begriff des Wirtschafts-
wunders taucht auf; zehn Jahre spä-
ter ist die Vollbeschäftigung erreicht.
Im Jahresdurchschnitt 1970 werden
nur 149.000 Arbeitslose (0,7 Prozent)
registriert. Der Arbeitsmarkt ist leer
gefegt. Darunter leidet auch der Aus-
bau des sozialen Sektors. Denn Ar-
beit gibt es auch in diesem Bereich
genug.
„Im Jahr 1955 sind die
Schäden der Kriegszeit,
sowohl was die baulich-
materielle als auch die inhalt-
lich-ideelle Substanz betrifft,
überwunden.“
Basilios Mylonas, langjähriger
Mitarbeiter der Inneren Missi-
on und des Evangelischen
Hilfswerks, in seiner Doktor-
arbeit.
1959: Die Arbeitslosenquote
liegt unter drei Prozent. Alle
sprechen vom Wirtschafts-
wunder.
1977: Das Münchner Arbeits-
losenzentrum wird als erste
Beratungseinrichtung dieser
Art in Bayern gegründet.
1979: Die Innere Mission
eröffnet in der Zenettistraße
die Teestube „komm“, einen
Treffpunkt für obdachlose
Männer.
52
„Ich bin froh, dass ich mich von denStreetworkern der Teestube ‚komm’ habebreitschlagen lassen und nach mehreren Jah-ren Obdachlosigkeit im Juni in ein Wohn-heim eingezogen bin. Seitdem geht es mirviel besser. Ich weiß, dass der Sprung zumAlleinewohnen nicht leicht ist, wenn manjahrelang ‚Platte gemacht’ hat. Deshalbwill ich mich auf jeden Fall noch ein Jahrnachbetreuen lassen.“
Werner H., Klient der Teestube „komm“
einzelnen Träger differenziert sich immer mehr.
Neue wissenschaftliche Erkenntnisse beleben und
fundieren die Sozialarbeit. Ein gesellschaftlicher En-
thusiasmus macht sich breit, dass früher oder spä-
ter eine Lösung für alle sozialen Probleme gefunden
werden könne.
53
Beratungsdienste für Erziehungs-, Ehe-, Familien-
und allgemeinen Lebensfragen, Kindertagesstätten
und Heime der Jugendhilfe, Schulen und Internate,
Behindertenhilfe, Altenhilfe, psychosoziale Hilfen
und die Betreuung ausländischer Arbeitnehmer wer-
den vom Verein auf- oder ausgebaut. Die Arbeit der
In der Teestube „komm“ in der Zenettistraße können obdachlose Menschen ihre Wäsche waschen, eine Mahlzeit zubereiten
oder einfach nur ihre Zeit verbringen. Die Pädagogen beraten sie, wie sie vom Leben auf der Straße wegkommen.
Das Münchner Arbeitslosenzentrum (MALZ) hat sich in den Jahren seines Bestehens zu einer wichtigen Institution in der
Stadt entwickelt – hier ein Foto mit der SPD-Politikerin Adelheid Rupp (2.v.r.) aus dem Jahr 2003.
mand, dass eines nicht sehr fernen
Tages von einer ‚neuen Armut’ die
Rede sein wird.
Mitte der 70-er Jahre sind in der
Bundesrepublik infolge konjunktu-
reller Krisen wieder eine Million
Menschen arbeitslos. 1977 wird in
München das erste Beratungszen-
trum für Arbeitslose in Bayern von
einem arbeitslosen Soziologen und
einer Sozialpädagogin gegründet:
Das Münchner Arbeitslosenzen-
trum (MALZ) versteht sich als Bera-
tungs-, Kontakt- und Bildungszen-
trum und wird ein Modell für ähnli-
che Einrichtungen in ganz Deutsch-
land. Die Innere Mission übernimmt
1980 die Trägerschaft. Als die Ein-
Aber es gibt Randgruppen in der
Gesellschaft, für die die Wohlfahrts-
verbände weiterhin die Grundbe-
dürfnisse des Lebens – Essen, Trin-
ken und ein Dach über dem Kopf –
sichern müssen, da sie sich aus eige-
ner Kraft nicht helfen können. Die
Innere Mission eröffnet 1979 in der
Zenettistraße eine Teestube für ob-
dachlose Männer; später kommt ein
Treffpunkt für Frauen in der Drei-
mühlenstraße hinzu. Streetworker
beginnen ihre Arbeit und suchen
diejenigen auf, die aus der Gesell-
schaft herausgefallen sind. Das dy-
namische Tempo der wirtschaftli-
chen Entwicklung fordert zusätzli-
che Opfer. Eine wachsende Zahl von
Menschen kommt ‚einfach nicht
mehr mit’. Noch ahnt aber kaum je-
1995: Die diakonia Dienstleis-
tungsbetriebe werden ge-
gründet – das erste Projekt in
gemeinsamer Trägerschaft
des Evangelischen Dekanats-
bezirks München und der
Inneren Mission.
1997: Im wiedervereinten
Deutschland gibt es mittler-
weile wieder 4,3 Millionen
arbeitslose Menschen.
54
Im Jahr 2009 feiert das GebrauchtWarenhaus der diakonia in der Landshuter Allee 38
sein zehnjähriges Bestehen. Gebraucht wird das Warenhaus heute mehr denn je.
tun. Zudem entstehen Arbeitsplätze für Menschen,
die keine Chance mehr auf dem allgemeinen Ar-
beitsmarkt hatten. Durch persönliche Begleitung,
Qualifizierungsmaßnahmen und Vermittlungsbe-
mühungen, bei denen Arbeitgeber direkt angespro-
chen werden, gelingt es, viele von ihnen wieder für
den ersten Arbeitsmarkt fit zu machen.
Auch die Wohnungslosenhilfe der Inneren Missi-
on wird weiter ausgebaut. Es geht dabei nicht nur
darum, Wohnraum zu finden, sondern die Bedürfti-
gen durch persönliche und therapeutische Beglei-
tung auf ein Leben in Selbstständigkeit und Selbst-
verantwortung vorzubereiten. Prominente wie der
Münchner Modeschöpfer Rudolph Moshammer en-
gagieren sich für diese Arbeit, spenden Gelder, ver-
mitteln Sponsoren und werden Fürsprecher für sie in
der Öffentlichkeit. Nach seinem gewaltsamen Tod
hilft der von ihm gegründete Verein „Licht für Ob-
dachlose“ immer wieder tatkräftig weiter. „Dank sei
allen, die unsere Spenden sinnvoll verwenden und
tatkräftig umsetzen“, sagt der Vereinsvorsitzende
Florian Besold beim Überreichen eines Schecks. 55
richtung 1997 ihr 20-jähriges Bestehen feiert, gibt es
im inzwischen wiedervereinigten Deutschland be-
reits wieder 4,3 Millionen Arbeitslose. „Zunehmen-
de Perspektivlosigkeit, komplizierte Sozialgesetzge-
bung und steigende Verarmung lassen die Nachfra-
ge an sozialpädagogischer und rechtlicher Beratung
ständig anwachsen“ heißt es dazu im „Diakonie-Re-
port“, der 1995 gegründeten Vierteljahreszeitung
der Inneren Mission.
1995 steht eine weitere Neugründung an: Der
Evangelische Dekanatsbezirk München und die In-
nere Mission gründen die gemeinnützige „diakonia
Dienstleistungsbetriebe GmbH“ – die gemeinsame
Trägerschaft eines Projektes hatte es bis zu diesem
Zeitpunkt nicht gegeben. Vier Jahre später eröffnet
die diakonia in der Landshuter Allee 38 das Ge-
brauchtWarenhaus, das die Angebote der traditio-
nellen Kleiderkammer ergänzt. Menschen in Not
können hier für geringes Geld das Notwendigste an-
schaffen. Und Bürger der Stadt haben die Möglich-
keit, mit nicht mehr gebrauchten Möbeln, Elektro-
geräten, Kleidern oder ähnlichem etwas Gutes zu
Das Frauenobdach „Karla 51“ bietet erstmals eine Unterkunft für wohnungslose Frauen in München. Dass es dafür einen
dringenden Bedarf gibt, zeigen die Belegungszahlen: Die Zimmer in dem Haus sind stets alle belegt.
Nach den positiven Erfahrungen
in der Frauenteestube entsteht mit
Karla 51 erstmals eine Übergangs-
unterbringung für wohnungslose
Frauen in der Landeshauptstadt. Die
Einrichtung mit ihren 40 Zimmern
in der Nähe des Hauptbahnhofs ist
stets voll belegt. Sechs fest angestell-
te Sozialpädagoginnen und rund 30
Ehrenamtliche helfen und beraten.
Das Bodelschwingh-Haus, ebenfalls
in der Nähe des Hauptbahnhofs,
bietet strafentlassenen Männern ein
Dach über dem Kopf, umfassende
soziale und rechtliche Beratung und
Hilfe bei der Vermittlung in Arbeit.
Jeder Bewohner muss an den päda-
gogischen Angeboten teilnehmen
und die Ursachen seiner Straffällig-
keit zu erkunden versuchen. Ihre Ar-
beit an den Ärmsten der Armen or-
ganisiert der Verein 2003 in einer ei-
genen gemeinnützigen Gesellschaft,
dem neugegründeten Evangelischen
Hilfswerk München.
Um die Jahrtausendwende leben
in Bayern rund 500.000 Haushalte
(9,3 Prozent) in Armut. Nach Defi-
nition der EU sind das „Einzelperso-
nen oder Familien, deren (materiel-
le, kulturelle und soziale) Mittel der-
art gering sind, dass sie von Lebens-
weisen, die in einem Mitgliedsstaat,
in dem sie leben, als Mindeststan-
dard gelten, ausgeschlossen sind“.
Das Evangelische Hilfswerk hilft,
wo es geht, beispielsweise durch ihr
Nachbarschaftsbüro an der Nord-
heide im Münchner Norden oder
durch andere Treffpunkte in sozia-
len Brennpunkten der Stadt. Um der
Vereinsamung und Isolierung ent-
gegenzuwirken und Selbsthilfekräf-
te zu aktivieren, werden niedrig-
schwellige Angebote wie Treffpunk-
te für Senioren, Mutter-Kind-
Gruppen, Frühstücksgruppen, Floh-
märkte, Sommerfeste, Ausflüge zu
kulturellen Ereignissen und Nach-
mittagsbetreuung mit Hausaufga-
benhilfe angeboten.
In verschämter Armut leben über-
all im Land insbesondere alleiner-
ziehende Mütter, ältere Frauen und
alt gewordene Immigranten. Innere
2008: Die Bahnhofsmission
verzeichnet 16.644 Bera-
tungsgespräche pro Jahr,
das macht im Durchschnitt
46 Gespräche am Tag.
„Armut ist auch eine große
Hypothek für die nächste
Generation. Wer in prekären
Verhältnissen lebt, wird auch
bei der Bildung der Kinder
sehr viel vorsichtiger planen.“
Sabine Walper, Armuts-
forscherin an der Ludwig-
Maximilians-Universität.
56
„Im Juni 1997 stand ich kurz davor, meineWohnung zu verlieren. Bei KARLA 51 bekamich innerhalb von zwei Stunden ein Zimmer.Dort wohnte ich vier Wochen, kam zur Ruheund schöpfte wieder Hoffnung.Danach zog ich in eine betreute Wohnge-meinschaft und schließlich wieder in eineeigene Wohnung, in der ich seit fast zehnJahren lebe. Ohne KARLA 51 wäre ich wahr-scheinlich seit langem obdachlos.“
Ursula K. kommt nach wie vor regelmäßig ins Frauenobdach Karla 51, besuchtdas Café und holt sich Rat, wenn sie ihn braucht.
entwickelt neue Konzepte. So kamen zu stationären
Wohnplätzen betreute Wohngemeinschaften als
Starthilfe in ein neues Leben hinzu.
Die Armutsforscherin Sabine Walper von der
Münchner Universität weist in einem Gespräch mit
dem „Diakonie-Report“ auf einen weiteren Grund
hin, warum die Hilfe für bedürftige Menschen so
wichtig ist: „Armut ist auch eine große Hypothek für
die nächste Generation. Wer in prekären Verhält-
nissen lebt und nicht weiß, ob es in absehbarer Zeit
wieder besser geht, wird auch bei der Bildung der
Kinder sehr viel vorsichtiger planen. Also lieber kei-
ne lange Schulbildung oder Ausbildung, sondern
möglichst schnell dazuverdienen.“
Wer sich um das täglich Notwendigste sorgen
muss, hat kaum offene Augen oder Ohren für die Er-
fordernisse anderer oder kulturelle Fragen. Entspre-
chend dem Motto der Heilsarmee – soup, soap, sal-
vation – kommt die Suppe vor der Predigt. 57
Mission und Evangelisches Hilfswerk bauen deshalb
ihre Dienste für diese Personengruppen kontinuier-
lich weiter aus. Die Bahnhofsmission am Gleis 11 ist
Anlaufstelle für Menschen in Not, da sie an 365 Ta-
gen im Jahr rund um die Uhr offen hat. In den Mo-
naten nach der Grenzöffnung der DDR imNovember
1989 bekommen viele Menschen hier konkrete Hil-
festellungen bei ihren ersten Schritten im unbe-
kannten Westen.
Zur Aufgabe der Bahnhofsmission, Reisenden
beim Umsteigen oder in Notfällen zu helfen, kom-
men zusätzliche Anforderungen hinzu: „Die Leute
fragen vermehrt, ob sie von uns kostenlos Kleidung
oder Essen bekommen können“, sagt Leiterin Ga-
briele Ochse. Die Anzahl der Beratungsgespräche
steigt 2008 auf 16.644 pro Jahr, das macht im
Durchschnitt 46 Gespräche pro Tag.
Der Evangelische Beratungsdienst für Frauen in
der Heßstraße blickt 2008 auf 42 Jahre Erfahrung in
Hilfe und Beratung für Frauen in Not zurück und
Seit 43 Jahren erfolgreich im Einsatz an sozialen Brennpunkten: Der Evangelische Beratungsdienst in der Heßstraße hilft
Frauen in persönlichen Notlagen.
Impressum
Herausgeber:
Dr. Günther Bauer, Geschäftsführer
Innere Mission München – Diakonie in München und Oberbayern e.V.
Landshuter Allee 40, 80637 München; Telefon 089 / 12 69 91- 0
Redaktion:
Klaus Honigschnabel, Leiter Unternehmenskommunikation
E-Mail: [email protected]
Autoren:
Dr. Günther Bauer, Heinz Brockert,
Prof. Dr. Dr. h.c. Günter Heinritz
Mitarbeit:
Silvia Fella-Werner, Claus Liebich, Diana Riske, Istvan Velsz
Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Herausgebers.
Fotos:
Titelbild:
Archiv Innere Mission, Oliver Bodmer, Sabine Gaßner, Erol Gurian, Michael Hanke
Innenteil:
Archiv Innere Mission München (6, 10, 14, 15, 19, 20, 22, 23, 26, 36, 37, 38, 41, 43, 45, 47,
48, 49, 51, 60, 61, 62, 66, 73, 77, 78, 83, 85, 91, 92, 93, 94, 96, 97, 99, 101, 103, 113, 115,
133, 140, 141, 153, 154); Kurt Bauer (72, 109, 123, 125); Markus Blaszczyk (163); Oliver Bodmer
(55, 84); Simon Dettweiler (139); Rainer Ehrenreich (143); Erol Gurian (13, 32, 33, 34, 52, 57,
71, 73, 86, 87, 88, 89, 100, 102, 103, 105, 106, 107, 116, 117, 118, 121, 129, 130, 132, 135,
142, 144, 146, 147, 148, 155, 157, 165); Christa Habersetzer (68); Denise Höfle (117); Klaus
Honigschnabel (29, 53, 58, 68, 75, 76, 82, 83, 90, 107, 108, 111, 112, 120, 127, 141, 160,
162); Mike Jäger (110); Martina Kostial (64); Werner Krüper /epd-Bild (128); Münchner Stadt-
archiv (11, 13, 17); Nursen Özlükurt (21, 62, 65); Karsten Pfeifer (53); Hartmut Pöstges (115);
Rauhes Haus Hamburg (9, 90); Stephan Rumpf (67); Jan Scheffner (131); Scherl /SZ-Photo (137);
Marcus Schlaf (54, 69); Bernadette Schmid (56); Wally Schmidt (95); Rick Schulze (69); Rudolf
Branko Senjor (81); Nicole Üblacker (114); Michael Westermann (119); Ursula Zeidler (33)
Gestaltung:
Nicole Üblacker Graphik, München (www.ueblacker-graphik.de)
Druck:
Druckhaus Kastner, Wolnzach
Buchbindearbeiten:
Conzella Verlagsbuchbinderei, Pfarrkirchen
Wir danken allen, die zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben. Insbesondere geht der
Dank an Julie und Ludwig Bullemer, die Enkel von Ludwig Thiersch, die uns die Zeichnung auf
Seite 7 zur Verfügung stellten, sowie an Dr. Basilios Mylonas für die Erlaubnis, ausführlich aus
seiner Promotion zitieren zu dürfen.
Wir danken der Kastner AG in Wolnzach herzlich für
die freundliche Unterstützung beim Druck dieses Buches.
Im Zuge
ihres 125. Grün-
dungsjubiläums
geht die Innere
Mission Mün-
chen auch daran, ihre bislang weitgehend unbekannte
Geschichte während der nationalsozialistischen Gewalt-
herrschaft aufzuarbeiten: Der Kirchenhistoriker Helmut
Baier, ehemaliger Leiter des Landeskirchlichen Archivs
in Nürnberg, schließt mit seinem rund 330 Seiten um-
fassenden Werk (Band 87 der „Arbeiten zur Kirchenge-
schichte Bayerns“) diese Lücke und untersucht, unter
welchen Bedingungen diakonische „Liebestätigkeit
unter dem Hakenkreuz“ stattfinden konnte.
Im Zentrum der historischen Betrachtung steht dabei
Friedrich Hofmann, der als 1. Vereinsgeistlicher die
Geschicke der Inneren Mission in den Jahren zwischen
1932 und 1945 maßgebend lenkte. Baiers Buch zeich-
net die Entwicklung des Pfarrers nach, der sich vom
Partei-Mitglied zum NS-Skeptiker wandelte. Dennoch:
Ein Widerstandskämpfer war der damalige Leiter der
Inneren Mission nicht. Das Urteil des Verfassers ist
knapp und klar: „Hofmanns erstaunliche Leistungen,
sein Arbeitswille und seine physische Kraft sind unbe-
stritten, sein politischer Weg ist es nicht.“
Es lohnt sich,
einen Blick
auf Karl Buch-
rucker zu
werfen: Als
eine herausragende Gestalt der bayerischen evangeli-
schen Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts, als typi-
schen Vertreter seiner Generation evangelischer Pfarrer,
als großen Moderator und Organisator der Kirche und
als visionären Gründer des Vereins für Innere Mission
München und des Landesvereins für Innere Mission.
Er verstand beide Vereine als Antwort auf die Probleme
von Industrialisierung und Urbanisierung in Bayern.
Zu seinen herausragenden Fähigkeiten gehörten die
Kunst des Predigens, Überzeugungskraft, Führungs-
qualitäten und Organisationsgeschick. Mit Augenmaß
gelang es ihm, Visionen Wirklichkeit werden zu lassen.
So war Buchrucker der geschickte Organisator der
Versöhnung und des Ausgleichs zwischen Johann Hin-
rich Wichern und Wilhelm Löhe, zwischen seiner frän-
kischen Heimat und dem katholischen Altbayern, zwi-
schen Arm und Reich, zwischen Arbeitern und Bürgern.
Durch sein umfängliches katechetisches Werk war er
auch der wichtigste „Religionslehrer“ der Bayerischen
Landeskirche.
Helmut Baier
Liebestätigkeit unter dem Hakenkreuz –Die Innere Mission Münchenin der Zeit des Nationalsozialismus
ISBN 978-3-940803-03-0
29,80 Euro
Zu beziehen über die Geschäftsstelleder Inneren Mission, Landshuter Allee 40,80637 München, Telefon 089/12 69 91 100 oderper E-Mail an: [email protected] über den Buchhandel.
Marita Krauss
Evangelisch in München –Karl Buchrucker (1827-1899),Wegbereiter der bayerischen Diakonie
ISBN: 978-3-937200-64-4
19,90 Euro
Das Buch ist vom 12. Mai 2009 an erhältlich bei derGeschäftsstelle der Inneren Mission, Landshuter Allee 40,80637 München, Telefon 089/12 69 91 100, oderper E-Mail an: [email protected] über den Buchhandel.
Helfen Sie uns,damit wir helfen können.
Als gemeinnütziger Verein sind wir von derErbschaftssteuer befreit. Durch die „FörderstiftungInnere Mission München“ können Sie dauerhafthelfen, indem Sie das Stiftungsvermögen vermehren.
Vermächtnisse, Nachlässe und Spendensind steuerlich abzugsfähig.
Spendenkonto 36 70 70 70
HypoVereinsbank BLZ 700 202 70
Vergelt’s Gott!