faz-fhlöjst politologieohne zahlen keine wahlenrenzen ... · 70 wissenschaft frankfurter...

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70 WISSENSCHAFT FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 15. SEPTEMBER 2013, NR. 37 73 Lange hatten die Verfassungs- richter Überhangmandatetoleriert– in der Fünf-Prozent-Hürde, die in- folge der Erfahrungen mit der sperrklausellosen Weimarer Ver- hältniswahl eingeführt worden war, weicht das deutsche System ohnehin von der reinen Lehre ab. Doch ein negatives Stimmgewicht war nicht hinnehmbar. Der Ge- setzgeber wurde zu einer Korrek- tur des Wahlgesetzes verdonnert, der er zögerlich nachkam. Bevor die meisten Fraktionen sich auf ei- ne Novelle einigen konnten, gab es Vorschläge von Union und FDP, der SPD, den Grünen und der Lin- ken, die entweder das negative Stimmgewicht nicht beseitigt oder heilige Kühe geschlachtet hätten, etwa die zwingende Vergabe eines gewonnenen Direktmandats (Grü- ne) oder die Sperrklausel (Linke). Das nun beschlossene Wahlver- fahren (siehe „Das neue Verfah- ren“) erfüllt alle Vorgaben des Ver- fassungsgerichts und lässt auch die Finger von den heiligen Kühen. Es löst das Problem vor allem da- durch, dass der Bundestag soweit vergrößert wird, dass die Mandate, die nach dem alten Verfahren Überhangmandate gewesen wären, immer ausgeglichen werden. Letzlich führt dies wohl stets zu einem größeren Parlament – in al- len Wahlen bisher hätte sich der Bundestag mit diesem System ver- größert. Das Ausmaß der Aufblä- hung hängt von Details wie unter- schiedlichen Wahlbeteiligungen in den Ländern ab, aber auch von der Anzahl der Parteien, die in den Bundestag einziehen. Jede weitere Fragmentierung des Parteienspek- trums würde wahrscheinlich eine zusätzliche Vergrößerung des Bundestages nach sich ziehen. Der Mathematiker Friedrich Pukelsheim von der Universität Augsburg, der das aktuelle Wahl- verfahren mitentwickelt hat, hält bis zu 800 Abgeordnete für denk- bar. Sollte es in einer der nächsten Bundestagswahlen dazu kommen, erwartet Pukelsheim eine Diskus- sion darüber, wie die Sitzzahl nach oben begrenzt werden könnte, viel- leicht auf 700. Aber ginge das, oh- ne die beiden Prinzipien Verhält- niswahl und Mandantsgarantie für Elementen die Lösung, die dem Wähler die „koalitionspolitische Katze im Sack“ in der Regel er- sparte. Ein völliger Bruch mit der demokratischen Tradition unseres Landes wäre das nicht, stellt doch bereits die Sperrklausel alias Fünf- Prozent-Hürde eine Verletzung des reinen Verhältniswahl-Ideals dar. So gingen 2009 sechs Prozent der gültigen Stimmen nicht in die Berechnung der Sitzverteilung ein, weil sie auf Parteien entfielen, die unter den fünf Prozent blieben. Der Preis eines Wechsels zu ei- nem reinen Mehrheitssystem wäre allerdings das Verschwinden klei- ner Parteien (siehe mittlere Grafik oben rechts), insbesondere der FDP. Auch wenn der Bundestag ei- ne solche Änderung des Wahl- systems mit einfacher Mehrheit beschließen könnte, wäre dies nicht durchsetzbar, weswegen Falter auf die Möglichkeit eines sogenannten Grabenwahlsystems aufmerksam macht, das ebenfalls Überhang- mandate und das damit zu- sammenhängende Problems des negativen Stimmgewichts restlos beseitigen würde, dabei aber ein- facher wäre als das gerade frisch re- formierte Wahlrecht. Denn dabei würde der Bundestag eine kon- stante Anzahl von Sitzen umfassen, Gerechte Algorithmen In Verhältniswahlsystemen sollte eine vorgegebene Zahl von Parlamentssitzen auf die Parteien idealerweise pro- portional zu deren Stimmenanteilen verteilt werden. Eine analoge Aufgabe ist die Verteilung nationaler Abgeord- netensitze auf Bundesstaaten proportional zu deren Bevölkerung. Das Problem: Sitzstärken sind ganze Zahlen, Stimm- oder Bevölkerungsanteile nicht. Perfekt kann solch eine Verteilung daher nicht gelingen. Es gibt aber ver- schiedene Verfahren, um sich dem Ideal anzunähern. Drei häufig verwendete sind: Hare/Niemeyer Methode mit Ausgleich nach größten Resten Eine Dreisatzrechnung ermittelt hier zunächst für jede Partei deren Quote – also wie viele Sitze die Par- tei bekäme, wenn es gebrochenzah- lige Parlamentssitze gäbe. Der ganzzahlige Anteil ihrer Quote gibt dann die Sitzzahl, die jede Partei si- cher hat. Von den verbliebenen Sit- zen bekommt dann den ersten die Partei, deren Quote den größten Rest aufweist, den zweiten die Par- tei mit dem zweitgrößten Rest und so fort, bis alle Sitze verteilt sind. Von 1987 bis 2005 wurde die Sitz- verteilung im Deutschen Bundestag mit diesem Verfahren ermittelt, das nach dem Briten Thomas Hare (1806 bis 1891) und dem Deutschen Horst Niemeyer (1931 bis 2007) be- nannt ist. Es garantiert den Parteien Sitzzahlen, die auf einen Sitz genau mit ihrer Quote übereinstimmen, hat aber den Nachteil, die soge- nannte Hausmonotonie zu verlet- zen: Wird das Parlament vergrößert und die Sitze danach neu verteilt, kann es vorkommen, dass eine Par- tei Sitze verliert, obgleich ihr Wäh- lerstimmenanteil unverändert blieb. Auch die Stimmenmonotonie ist nicht gesichert: Gewinnt eine Partei von einer Wahl zur anderen Stim- men auf Kosten einer anderen, kann eine dritte Partei unter Umständen Sitze verlieren, auch wenn sich die Anzahl ihrer Wähler nicht ändert. D’Hondt Ausgleich nach größten Quotienten, Divisormethode mit Abrundung Die Zahl der Wählerstimmen, die auf jede Partei entfallen sind, wer- den hier nacheinander durch die Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, … geteilt. Man er- hält lauter Quotienten, die nun der Größe nach geordnet werden. Dann werden die Sitze der Reihe nach ver- teilt: Der erste Sitz bekommt die Par- tei mit dem größten Quotient, den zweiten die mit dem zweitgrößten und so weiter, bis alle Sitze vergeben sind. Das Verfahren ist äquivalent zu einem Divisorverfahren mit Abrun- dung: Dazu teilt man zunächst die Gesamtzahl der Wähler durch die der Sitze. Das ergibt den Divisor. Durch diesen teilt man die Stimmen jeder Partei, rundet dann ab und ver- gibt die sich ergebenden ganzen Zahlen als Sitze. Da dann im Allge- meinen Sitze übrig bleiben, wieder- holt man das Ganze mit einem etwas kleineren Divisor so lange, bis man einen findet, bei dem alle Sitze zu- gewiesen werden können. Bis ins Jahr 1983 wurde das nach dem belgischen Rechtswissenschaf- ler Victor d’Hondt (1841 bis 1901) benannte Verfahren für die Ermitt- lung der Sitzverteilung im Deut- schen Bundestag benutzt. Dann wurde es durch das Hare/Niemeyer- Verfahren abgelöst, da es die größ- ten Parteien systematisch begün- stigt, kleinere dagegen benachtei- ligt (siehe „Leicht Verzerrt“). Sainte-Laguë/Schepers Divisormethode mit Standardrundung Wie beim Verfahren nach d’Hondt bestimmt man hier zuerst einen Di- visor, indem man Gesamtwählerzahl durch Gesamtsitzzahl teilt. Im Gegensatz zu d’Hondt wird nach der Teilung der Wählerstimmen einer Partei durch den Divisor aber kauf- männisch gerundet (bei Resten klei- ner 0,5 ab-, sonst aufgerundet), um die erste Näherung der Sitzvertei- lung zu bestimmen. Da dabei meist nicht alle Sitze zugewiesen werden, wiederholt man – ebenfalls wie bei d’Hondt – die Rechnung mit einem kleineren Divisor, bis es passt. Seit 2008 werden Bundestagssitze nach der Methode verteilt, die nach dem französischen Mathematiker An- dré Sainte-Laguë (1882 bis 1950) be- nannt ist sowie nach dem Physiker Hans Schepers (*1928), der sie als Leiter der EDV-Abteilung des Bundes- tages unabhängig entdeckte. Wie das d’Hondt-Verfahren bewahrt sie Haus- und Stimmenmonotonie, benachtei- ligt dabei aber kleinere Parteien nicht (siehe „Leicht verzerrt“). Außerdem schwanken hier die Quotienten aus Wählerstimmen- und Sitzzahlen der verschiedenen Parteien im Schnitt am wenigsten um den Idealwert des Quo- tienten aus Gesamtwählerzahl und Gesamtsitzzahl. Dem Ideal, jeder Sitz möge die gleiche Wählerzahl reprä- sentieren, ist man hier also am näch- sten gekommen. UvR Deutschland kürt sein Parlament nach einem Verhältniswahlsystem. Ein solches gilt oft als gerechter verglichen mit der Mehrheitswahl. Allerdings kann man das auch anders sehen. VON ULF VON RAUCHHAUPT Was wollte der Wähler denn nun? Wenn am kommenden Sonntag- abend die ersten Trends und Pro- gnosen über die Bildschirme lau- fen, dann könnte die Frage wieder gestellt werden – von Kommenta- toren und Moderatoren, bei Inter- views und in der sogenannten Ele- fantenrunde. Nach der Bundes- tagswahl 2005 war man hier besonders ratlos. In den Umfragen direkt vor dem Urnengang hatte sich damals ein Viertel der Wahl- berechtigten für die Fortführung der rot-grünen Koalition ausge- sprochen, fast ein Drittel favori- sierte Schwarz-Gelb. Eine große Koalition dagegen wäre damals we- niger als 15 Prozent der Befragten lieber gewesen. Doch zu genau der kam es dann. Oder 1998. Damals rechneten viele Unionswähler mit Politologie Kommenden Sonntag können 61,8 Millionen Bundesbürger ihre Stimme abgeben. Daraus ein Parlament zusammenzustellen, das die Präferenzen möglichst vieler Wähler gerecht widerspiegelt, ist eine Wissenschaft für sich. Ohne Zahlen keine Wahlen Im 17. Deutschen Bundestag mit seiner nach altem Wahlgesetz aus den Wahlen 2009 berechneten Sitzverteilung saßen direkt nach der Wahl 622 Abgeordnete, davon waren 24 Überhangmandate. F.A.Z.-Grafiken: Michael Ohnrich (Bundestags-Grafik oben, links), Daniel Röttele (alle weiteren Grafiken) Der Proportionalität wegen gel- ten Verhältniswahlsysteme als be- sonders gerecht, da auch Parteien, die nur eine Minderheit der Wäh- ler ansprechen, Aussicht auf Abge- ordnetensitze haben und diese Minderheit damit im Parlament vertreten ist. Damit wird unter an- derem eine „Tyrannei der Mehr- heit“ verhindert, die Minderhei- tenpositionen keine Chance gibt, in der politischen Arbeit vielleicht einmal mehrheitsfähig zu werden. Als Nachteil der Verhältniswahl wird empfunden, dass Parteien ge- wählt werden, nicht die Personen. Dem lässt sich dadurch begegnen, dass man den Wähler nicht unter starren Parteilisten auswählen lässt, sondern ihm die Möglichkeit gibt, einzelnen Personen auf der Liste zu einer höheren Chance zu verhelfen, einen Sitz der gewählten Partei zu bekommen. Alternativ kann man dem Wähler zusätzlich zur Zustimmung zu einer Partei die Zustimmung zu einem Kandi- daten seines Wahlkreises ermög- lichen. Das geschieht in Deutsch- land mit der Erststimme. Über das parlamentarische Kräfteverhältnis entscheidet trotzdem allein die Zweitstimme – vom dem jetzt ab- gestellten Problem der Überhang- mandate sowie der Sperrklausel ab- gesehen – in reiner Verhältniswahl. sentiert. Von Proportionalität kann hier also keine Rede sein, weswegen Mehrheitswahlsysteme in den Augen mancher ein Ge- rechtigkeitsdefizit haben. Das setzt aber einen bestimmten Begriff von Gerechtigkeit voraus. Wie man eine „Tyrannei der Mehrheit“ für ungerecht halten kann, so auch eine „Tyrannei der Minderheit“, die ihre Koopera- tionsbereitschaft an die Durchset- zung von Partikularinteressen knüpft. Ebenso wie jemand Ge- rechtigkeit vermisst, wenn die Par- tei seiner Wahl es nicht ins Parla- ment schafft, kann es ein anderer als ungerecht empfinden, wenn seine Partei eine Koalition mit ei- ner anderen eingeht, die er oder sie nie an der Regierung sehen wollte – eine Situation, die in ei- nem Mehrheitswahlsystem deut- lich unwahrscheinlicher ist. Die Frage, ob nun Mehrheits- oder eine Verhältniswahl besser, gerechter oder demokratischer sei, ist allgemein und theoretisch somit kaum zu beantworten. Aber auch empirisch ist die Sache schwierig. Kaum ein Beispiel, das nicht sofort ein Gegenbeispiel auf den Plan ru- fen würde, das genauso wenig frei von Vorurteilen ist. Hat nicht das Mehrheitssystem in den Vereinig- ten Staaten zu der beispiellosen po- litischen Kontinuität dort beige- tragen? Ja, aber eine grüne Partei, die gerade dieses Land so be- sonders nötig hätte, bleibt dort oh- ne Chance. Ist das Verhältnis- system in Italien nicht mitschuldig an dem politischen Dauerchaos dort? Schon, aber das geht nun be- reits Jahrzehnte so, ohne dass das Land zusammengebrochen wäre. Eine Frage des Kontextes Die Politikwissenschaftler mussten sogar feststellen, dass noch nicht einmal die berühmte These richtig ist, die der Franzose Maurice Du- verger 1959 aufgestellt hatte und nach der Verhältniswahlsysteme am Ende stets zu einem Vielpar- teienparlament und Mehrheits- systeme zu einem Zweiparteien- staat führen. „Unser Erfahrungs- wissen hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich vermehrt“, schrieb Dieter Nohlen, Emeritus an der Universität Heidelberg 2011. „Dabei hat sich erwiesen, dass ein Mehrheitswahlsystem im Ver- gleich zu einem Verhältniswahlsy- stem in einem Fall mehr konzen- trierende, im anderen mehr frag- mentierende Wirkung auf das Parteiensystem haben kann.“ Damit ist auch die Gerechtigkeit eines Wahlsystems eine Frage des Kontextes, etwa dem, der durch andere Elemente des politischen Systems eines Landes gegeben ist. Gerd Strohmeier, der heute an der TU Chemnitz lehrt, hat 2006 einen Artikel mit dem provokanten Untertitel „Warum die Mehrheits- wahl gerechter ist als die Verhält- niswahl“ veröffentlicht. Dort unterscheidet er zwischen einer Ebene der parlamentarischen Re- präsentation und einer der parla- mentarischen Entscheidungen. Letztere sei in der politischen Pra- xis die wichtigere und damit die- jenige, bei der Gerechtigkeits- erwägungen anzusetzen hätten. Aber dabei kommt es eben auf den Kontext an, speziell den des Re- gierungssystems. In Präsidential- systemen, in denen die Regierung nicht aus dem Parlament hervor- geht, es keine Koalitionen und kei- ne starke Fraktionsdisziplin gibt, können die Parteien im Einzelnen auf der Entscheidungesbene das vertreten, wofür sie vor der Wahl standen. Eine proportionale Ver- tretung, wie sie ein Verhältnis- wahlsystem erzeugt, ist damit hier eindeutig die gerechtere. In parla- verfehlter Fünf-Prozent-Hürde mit der Stärke ihres Zweitstim- menanteils in den Bundestag gezo- gen. Eine große Koalition wäre dann unausweichlich geworden. „Das ist eine deutliche Schwä- che unseres Wahlsystems“, sagt Jürgen Falter von der Universität Mainz. Seit Jahren weist der Poli- tologieprofessor darauf hin, dass infolge der seit 1990 stärker frag- mentierten Parteienlandschaft sol- che Effekte häufiger werden und der Parteien- und Politikverdros- senheit weiter Vorschub leisten, zumal die Spitzenpolitiker nie an ihren Aussagen vor der Wahl ge- messen werden könnten, da sie ja nicht genau wissen, mit wem sie nach der Wahl koalieren. „Die Wähler“, sagt Falter, „kaufen bei ihrer Stimmabgabe koalitionspoli- tisch die Katze im Sack.“ Das schwierige Ideal Damit kritisiert Falter ein Wahl- system, das auch im Ausland in ho- hem Ansehen steht. Es nennt sich „personalisierte“, genauer, „mit ei- ner Personenwahl verbundene Verhältniswahl“ und gehört damit zu einer der beiden Grundtypen, in die sich Verfahren zur Wahl von Parlamenten einteilen lassen. Ver- hältniswahlsysteme legen das Ge- wicht auf eine möglichst propor- Das neue Verfahren 1. Die Größe des Bundestags ist nach dem seit diesem Jahr gültigen Wahlgesetz nicht starr vorgegeben, sondern wird vorab berechnet. Das geschieht in drei Schritten. Man be- ginnt mit den bisherigen 589 regu- lären Sitzen. Diese werden mit dem Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren (siehe „Gerechte Algorithmen“) auf die Bundesländer nach deren Bevöl- kerungsanteil verteilt. Dann wird für jedes einzelne Land aus der dortigen Zweitstimmenverteilung ermittelt, wie viele der auf dieses Land entfal- lenden Sitze den einzelnen Landes- listen der Parteien zustehen. Das ge- schieht wieder nach Sainte-Laguë/ Schepers. Diese Sitzzahl oder, falls größer, die Zahl der gewonnenen Di- rektmandate wird für jede Landes- liste vorgemerkt und dann für jede Partei bundesweit addiert. Schließ- lich wird die Sitzzahl des Bundes- tages so lange erhöht, bis jede Par- tei mindestens so viele Sitze erhält, wie ihre bundesweiten Sitzvormer- kungen verlangen. 2. Die Verteilung dieser Bundes- tagssitze auf die Parteien, auch Oberverteilung genannt, ermittelt man aus dem bundesweiten Zweit- stimmenergebnis abermals nach Sainte-Laguë/Schepers. 3. Für die Zuweisung der Sitze an Personen, die Unterverteilung, wird für jede Landesliste ermittelt, wie viele Sitze aus der Oberverteilung ihr zustehen. Dazu wird eine Variante des Sainte-Laguë/Schepers-Verfah- rens verwendet, bei dem die Stim- menzahl pro Sitz (der Divisor) so be- stimmt wird, dass die bundesweite Summe der Landeslisten-Zuweisun- gen einer Partei ihrer Sitzzahl aus der Oberzuteilung entspricht. Diese Landeslisten-Zuweisungen sind aber nun nicht einfach die aus den Zweit- stimmenerfolgen. Vielmehr wird verglichen: Ist die nach Zweitstim- men berechnete Sitzzahl kleiner als die Zahl der Direktmandate der be- treffenden Partei im betrachteten Land, kommen hier nur die Wahl- kreissieger in den Bundestag. Ist sie größer, ziehen zusätzlich zu den Wahlkreissiegern auch entspre- chend viele Kandidaten der Landes- liste ein. Die vorab kalkulierte Größe des Bundestages stellt sicher, dass die Oberzuteilung immer minde- stens so viele Sitze bereitstellt, wie Direktmandate zu vergeben sind, weswegen es keine Überhangman- date geben kann. Dieses Verfahren bezeichnet man nach der Univer- sität, an der es entwickelt wurde als „Augsburger Zuteilung“. UvR Verhältniswahlsysteme Verhältniswahl Verhältniswahl mit starren Listen personalisierte Verhältniswahl übertragbare Einzelstimmgebung Mehrheitswahlsysteme relative Mehrheitswahl Mehrheitswahl mit Stichwahl Mehrheitswahl mit sofortiger Stichwahl nichtübertragbare Einzelstimmgebung Grabenwahlsysteme keine direkte Parlamentswahlen Quelle: Idea Wahlsysteme der Welt Die europäischen Kolonialreiche von einst sind noch gut zu erkennen, wenn man die Staaten der Erde da- nach einfärbt, nach welchem Prinzip die nationalen Parlamente gewählt werden. So hat Großbritannien sein Mehrheitswahlsystem vielen Staa- ten Afrikas und Südasiens vererbt, die einst Teil des Empires waren. Die französische Variante gibt es noch in West- und Zentralafrika. Und in den meisten ehemaligen spani- schen, portugiesischen und nieder- ländischen Kolonialgebieten finden sich Verhältniswahlsysteme. Es gibt allerdings Abweichungen. So haben sich Australien und Neu- seeland wahltechnisch vom einsti- gen Mutterland England getrennt, wobei Neuseeland 1996 sogar den radikalen Wechsel von der Mehr- heitswahl zu einer personalisierten Verhältniswahl ähnlich wie in Deutschland vollzog. In den Einzelheiten unterscheiden sich die Systeme auch innerhalb der hier mit gleicher Farbe versehenen Kategorien zum Teil erheblich. Ne- ben unterschiedlichen historischen Bedingungen und regionalen Gege- benheiten, etwa starken föderalen Strukturen wie in den Vereinigten Staaten, führt auch die Bedeutung bestimmter Bevölkerungsgruppen zu sehr unterschiedlichen Ausprä- gungen. Insgesamt gibt es kaum zwei Staaten, in denen nach dem- selben System gewählt wird. Nur wenige Staaten halten gar kei- ne Parlamentswahlen ab. Selbst in der Republik Somaliland, dem nörd- lichen Fragment des kollabierten Staates Somalia, gibt es heute eine gewählte Volksvertretung. Aber wo gewählt wird, können die Menschen damit noch lange nicht über ihre Re- gierung mitbestimmen: sei es, weil das Parlament nur formell existiert und nicht als solches arbeitet (wie in Nordkorea), sei es, weil ein Re- gime nur ihm genehme Kandidaten oder Parteien zulässt, die Wahlen massiv manipuliert werden oder sei es auch nur, dass Einschränkungen der Pressefreiheit einen fairen Wahlkampf beeinträchtigen. Wah- len allein machen eben noch lange keine Demokratie. UvR mentarischen Regierungssystemen hingegen ist es nach Strohmeier genau umgekehrt. Hier kommt es in nach Verhältniswahl gewählten Parlamenten oft vor, dass kleinere, also von weniger Wählern unter- stützte Parteien auf der Entschei- dungsebene einen überproportio- nalen Einfluß erhalten. Gerechter sei in parlamentarischen Demo- kratien daher ein Mehrheitswahl- system, weil ein solches die Mehr- heiten im Wahlvolk von vorne- herein konzentriert und damit auf der wichtigeren Entscheidungs- ebene unmittelbar abbildet. Nach dieser Auffassung wäre die ameri- kanische Präsidentialdemokratie gerechter, wenn zumindest das Re- präsentantenhaus in Verhältnis- wahlen gewählt würde. Und unter bestimmten anderen, von Stroh- meier aufgezählten Kontext-Be- dingungen (die in Deutschland derzeit erfüllt sind) wäre unser par- lamentarisches System mit einem Mehrheitswahlsystem gerechter. Diese Gerechtigkeitsauffassung steht letzlich auch hinter Jügen Fal- ters Hinweis auf die Schwächen des derzeitigen deutschen Wahl- systems, und auch für Falter wäre der Wechsel zu einem Mehrheits- wahlsystem oder zumindest zu ei- nem mit mehrheitsverstärkenden Das allein seligmachende Wahlsystem gibt es nicht. Wie sich Mehrheitswahl und wie sich Verhältniswahl auswirkt, kann von Staat zu Staat verschieden sein. Für Deutschland kann die Frage nur lauten: Haben wir unter den derzeitigen Bedingungen das richtige System? Sitzverzerrung Mandatszahl M 0,6 0,4 0,2 0 –0,2 Partei 1 Partei 2 Partei 3 Partei 4 0 5 10 15 20 30 25 Leicht verzerrt Die Verhältniswahl strebt reine Pro- portionalität zwischen Wählerstimmen und Sitzen an. Doch neben Klauseln wie der Fünf-Prozent-Hürde verzerren auch die Sitzzuteilungsverfahren die- ses Ideal. Wie sehr, hat hier der Ma- thematiker Udo Schwingenschlögl von der Universität Augsburg für zwei ver- schiedene Verfahren berechnet: Höhere Sperrklauseln (t=0.05 wäre die 5-Prozent-Hürde) verringern die Verzerrung, hier für das d’Hondt- Verfahren, M=598 und drei Parteien. Linke 54 SPD 136 Grüne 35 CDU 261 FDP 46 598 Sitze Der 17. Deutsche Bundestag nach dem Graben-Wahlsystem Linke 16 SPD 64 Grüne 1 CSU 45 299 Sitze Der 17. Deutsche Bundestag nach reinem Mehrheitswahlrecht Sitzverzerrung Sperrklausel t 0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,4 0,2 0 –0,2 –0,4 –0,6 Partei 1 Partei 2 Partei 3 Literatur: Jürgen W. Falter: „Mehr- heitswahl und Regierbarkeit“, Zeit- schrift für Politikwissenschaften, 19. Jg. (2009), Sonderheft Wahlsystemre- form, 127–148. Gerd Strohmeier: „Wahlsysteme erneut betrachtet: wa- rum die Mehrheitswahl gerechter ist als die Verhältniswahl“, Zeitschrift für Po- litikwissenschaften, 16. Jg. (2006), Heft 2, 405–425. Dieter Nohlen: „Zur Reform von Wahlsystemen“, Zeitschrift für Po- litik, 58. Jg. (2011), Nr 3. 310–323 Nur die Direktmandate hätten gezählt, wenn 2009 Mehrheitswahlrecht gegolten hätte. Das Bild ist insofern nicht ganz realistisch, als viele dann wohl anders gewählt hätten. Linke 85 SPD 164 Grüne 76 CDU 195 CSU 47 FDP 104 671 Sitze einer einer großen Koalition. Vier Millionen von ihnen gaben daher der SPD ihre Zweitstimme – und halfen damit ungewollt Rot-Grün in den Sattel. Auch in der alten Bonner Repu- blik konnte sich der FDP-Wähler nie ganz sicher sein, ob er mit sei- ner Stimme am Ende eine sozial- liberale oder eine christlich-libera- le Regierung ins Amt brachte. Allerdings war Koalitionsaussagen damals mehr zu trauen als in dem fünf-Kräfte-Bundestag von heute. Dabei können kleine, von kaum ei- nem Wähler so gewollte Ursachen große Wirkung haben. Hätte etwa bei den Bundestagswahlen 2002 die PDS drei statt nur zwei Direkt- mandate erhalten, wäre sie trotz Ganz anders sieht es bei Mehr- heitswahlsystemen aus. Hier setzt sich das Parlament aus Kandidaten zusammen, die in ihrem Wahlkreis die meisten Wähler hinter sich bringen konnten – entweder mit relativer Mehrheit, wie etwa in England, oder nach einer Stich- wahl wie in Frankreich oder auch in Australien, wobei down under die Stichwahl in den ersten Wahl- gang integriert ist: der Wähler kann dort zusätzlich zu seinem Fa- voriten auch Präferenzen für wei- tere Kandidaten angeben. Grup- pierungen, die nur in wenigen oder gar keinen Wahlkreisen eine Chan- ce haben, ihren Kandidaten durch- zubringen, sind daher im Parla- ment kaum oder gar nicht reprä- tionale Repräsentation: Wenn eine Partei einen Prozentsatz X der Wählerstimmen auf sich vereini- gen kann, dann sollten möglichst X Prozent der Parlamentssitze von ihren Kandidaten besetzt sein. In der Praxis ist diese Umrech- nung von Wählerzuspruch in Ab- geordnetensitze knifflig, vor allem wenn – wie in Deutschland – da- bei noch auf regionalen Proporz zu achten und die mit der Erst- stimme zum Ausdruck gebrachte Personenwahl einzuarbeiten ist. Die am Anfang 2013 verabschiede- te Wahlrechtsnovelle zeigt aber, dass man sich der proportionalen Repräsentation auch hier sehr gut annähern kann (siehe „Das Kreuz mit den Überhangmandaten“). Das Kreuz mit den Überhangmandaten Die Sitzverteilung des 18. Bundestages wird nach einem neuen Verfahren berechnet. Was war mit dem alten nicht in Ordnung? D ie Sache im Wahlkreis Dres- den Eins brachte das Fass zum Überlaufen. Elf Tage vor der Bundestagswahl 2005 verstarb dort die Kandidatin der NPD. Es musste nach- nominiert werden, und die betroffenen Dresdner durften erst zwei Wochen später wählen als der Rest der Republik – dafür mit Kenntnis des Wahlaus- gangs anderswo. Damit wussten die CDU-Anhänger unter ihnen, dass ih- re Partei wahrscheinlich ein Bundes- tagsmandat verlieren würde, wenn sie zu viele Zweitstimmen bekäme – und konnten das verhindern. Wenn mehr Zweitstimmen für eine Partei dieser ein Mandat kos- ten, sprechen Wahlmathematiker vom „negativen Stimmenge- wicht“. Es war ein paradoxer Ef- fekt des deutschen Wahlrechts, so wie es bis zur Novelle Anfang 2013 galt. Dahinter stecken die soge- nannten Überhangmandate, die bislang entstanden, wenn eine Par- tei in einem Bundesland mehr Di- rektmandate errang (also Wahl- kreise über die Erststimmen gewann), als ihr aus ihrem Zweit- stimmenerfolg an Sitzen zustan- den. Da man Wahlkreissiegern ihren Parlamentssitz nicht ver- wehren kann, bekam deren Partei diese Sitze zusätzlich. Wahlkreissieger zu verletzen? „Na- türlich nicht“, sagt Pukelsheim. „Eines der beiden Prinzipien müs- ste man relativieren. Oder beide. Und das dürfe wieder ein heißes Ei- sen werden.“ Ulf von Rauchhaupt etwa die bisher als Regelstärke vor- gesehenen 598. Von denen würde beispielsweise die Hälfte mit den aus den Erstimmen ermittelten Gewinnern der 299 Wahlkreise be- setzt. Die anderen 299 Sitze würden nach Verhältniswahl unter den Par- teien nach Maßgabe ihrer Zweit- stimmen verteilt. „Das hätte den Charme, dass unser gewohntes Sy- stem von Erst- und Zeitstimmen beibehalten werden könnte“, sagt Falter. „Lediglich die Aufrechnung der durch die Erststimme gewon- nenen Direktmandate gegenüber den Zweitstimmen unterbliebe.“ Beide Hälften des Bundestages würden also nach verschiedenen Systemen besetzt, zwischen ihnen läge ein Graben, daher der Name. Ein Grabenwahlsystem, das in einigen Ländern wie Japan oder Mexiko praktiziert wird, hätte gegenüber der reinen Verhältnis- wahl in vielen – allerdings nicht notwendig in allen – Fällen einen klaren mehrheitsverstärkenden Ef- fekt. So hätte die Union bei Ver- rechnung der Abstimmungsergeb- nisse der Bundestagswahl 2009 nach der Grabenwahl allein regie- ren können – und wäre für die Nichterfüllung ihrer Wahlverspre- chen tatsächlich voll haftbar zu ma- chen gewesen. Das Dumme ist nur, dass die Zweitstimmenanteile zuerst auf Bundesebene mittels eines Zutei- lungsverfahrens (siehe „Gerechte Algorithmen“) in Sitze umgerech- net werden. Die Sitzzahlen jeder Partei werden dann auf die Länder verteilt und erst dort mit ihren Di- rektmandaten verrechnet. Daher kann es vorkommen, dass eine Par- tei, sagen wir die CDU, in einem Bundesland, etwa Sachsen, etwas mehr Zweitstimmen gewinnt, als sie zuletzt hatte – nicht so viele, um ihr bundesweit einen Sitz mehr zu bescheren, aber genug, damit Sachsens CDU einen der Partei nach ihrem bundesweiten Zweit- stimmenanteil zustehenden Sitz zusätzlich erhält. Der kann aber nur aus einem anderen Bundesland kommen, in dem die CDU weni- ger erfolgreich bei den Zweistim- men war, vielleicht Bremen. Doch was, wenn in Sachsen schon Über- hangmandate angefallen sind, die CDU hier also gar keine Sitze aus dem Zweitstimmenerfolg bekom- men kann? Dann ist der Bremer Sitz trotzdem weg und die CDU hat bundesweit einen Sitz weniger. Kompliziert? Ja, aber unver- meidlich, wenn man zugleich an Zweitstimmenproporz und Über- hangmandaten festhalten will. Diese Überhangmandate waren schon früher so manchem ein Dorn im Auge gewesen. Denn sie verstoßen offenkundig gegen den Geist der reinen Verhältniswahl. Die Sitzverteilung eines Parla- ments mit Überhangmandaten ist eben nicht mehr proportional zu der Zweitstimmenverteilung. Der 17. Deutsche Bundestag nach dem neuen Verfahren von 2013 CSU 66 Alle heute vertretenen Parteien wären im Bundestag vertreten gewesen, wären 2009 in Grabenwahl 299 Abgeordnete nach Mehrheits-, 299 nach Verhältniswahlrecht bestimmt worden. Doch die Union hätte mit einer satten Mehrheit alleine regieren können. CDU 173 Das Wahlergebnis von 2009 hätte mit dem Berechnungsverfahren des neuen Wahlge- setzes zu dieser Sitzverteilung geführt. Der Bundestag hätte 51 Sitze mehr haben müs- sen, um die Überhangmadate auszugleichen. Auch hier hätte es für Schwarz-Gelb gereicht. Sitzverzerrung Mandatszahl M 0,6 0,4 0,2 0 –0,2 –0,4 Partei 1 Partei 2 0 5 10 15 20 30 25 Partei 3 Partei 4 M Sitze werden auf vier Parteien ver- teilt, 1 ist die stärkste, 4 die schwäch- ste. Mit dem Verfahren nach Sainte- Laguë/Schepers (oben) geht die Ver- zerrung (die Sitzbruchteile, die zuviel oder zu wenig zugewiesen wurden) mit steigender Parlamentsgröße M schnell gegen Null. Mit dem Verfahren nach d’Hondt (unten) bleiben die Verzer- rungen auch bei großen M erhalten. Dabei wird die stärkste Partei syste- matisch begünstigt. Literatur: Benjamin Hertlein: „Chan- ce auf mehr Gerechtigkeit?“, Magis- terarbeit, Univ. Mainz 2013. Friedrich Pukelsheim und Mathias Rossi: „Im- perfektes Wahlrecht“, Zeitschrift für Gesetzgebung, Heft 3 (2013). FDP 93 CSU 45 CDU 194 Grüne 68 SPD 146 Linke 76 FAZ-FHlöjsT

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7 0 W I S S E N S C H A F T F R A N K F U R T E R A L L G E M E I N E S O N N T A G S Z E I T U N G , 1 5 . S E P T E M B E R 2 0 1 3 , N R . 3 7 7 3

Lange hatten die Verfassungs-richterÜberhangmandatetoleriert–in der Fünf-Prozent-Hürde, die in-folge der Erfahrungen mit dersperrklausellosen Weimarer Ver-hältniswahl eingeführt wordenwar, weicht das deutsche Systemohnehin von der reinen Lehre ab.Doch ein negatives Stimmgewichtwar nicht hinnehmbar. Der Ge-setzgeber wurde zu einer Korrek-tur des Wahlgesetzes verdonnert,der er zögerlich nachkam. Bevordie meisten Fraktionen sich auf ei-ne Novelle einigen konnten, gab esVorschläge von Union und FDP,der SPD, den Grünen und der Lin-ken, die entweder das negativeStimmgewicht nicht beseitigt oderheilige Kühe geschlachtet hätten,etwa die zwingende Vergabe einesgewonnenen Direktmandats (Grü-ne) oder die Sperrklausel (Linke).

Das nun beschlossene Wahlver-fahren (siehe „Das neue Verfah-ren“) erfüllt alle Vorgaben des Ver-fassungsgerichts und lässt auch dieFinger von den heiligen Kühen. Eslöst das Problem vor allem da-durch, dass der Bundestag soweitvergrößert wird, dass die Mandate,die nach dem alten VerfahrenÜberhangmandate gewesen wären,immer ausgeglichen werden.

Letzlich führt dies wohl stets zueinem größeren Parlament – in al-len Wahlen bisher hätte sich derBundestag mit diesem System ver-größert. Das Ausmaß der Aufblä-hung hängt von Details wie unter-schiedlichen Wahlbeteiligungen inden Ländern ab, aber auch von derAnzahl der Parteien, die in denBundestag einziehen. Jede weitereFragmentierung des Parteienspek-trums würde wahrscheinlich einezusätzliche Vergrößerung desBundestages nach sich ziehen.

Der Mathematiker FriedrichPukelsheim von der UniversitätAugsburg, der das aktuelle Wahl-verfahren mitentwickelt hat, hältbis zu 800 Abgeordnete für denk-bar. Sollte es in einer der nächstenBundestagswahlen dazu kommen,erwartet Pukelsheim eine Diskus-sion darüber, wie die Sitzzahl nachoben begrenzt werden könnte, viel-leicht auf 700. Aber ginge das, oh-ne die beiden Prinzipien Verhält-niswahl und Mandantsgarantie für

Elementen die Lösung, die demWähler die „koalitionspolitischeKatze im Sack“ in der Regel er-sparte. Ein völliger Bruch mit derdemokratischen Tradition unseresLandes wäre das nicht, stellt dochbereits die Sperrklausel alias Fünf-Prozent-Hürde eine Verletzungdes reinen Verhältniswahl-Idealsdar. So gingen 2009 sechs Prozentder gültigen Stimmen nicht in die

Berechnung der Sitzverteilung ein,weil sie auf Parteien entfielen, dieunter den fünf Prozent blieben.

Der Preis eines Wechsels zu ei-nem reinen Mehrheitssystem wäreallerdings das Verschwinden klei-ner Parteien (siehe mittlere Grafikoben rechts), insbesondere derFDP. Auch wenn der Bundestag ei-ne solche Änderung des Wahl -systems mit einfacher Mehrheitbeschließen könnte, wäre dies nichtdurchsetzbar, weswegen Falter aufdie Möglichkeit eines sogenanntenGrabenwahlsystems aufmerksammacht, das ebenfalls Überhang-mandate und das damit zu-sammenhängende Problems desnegativen Stimmgewichts restlosbeseitigen würde, dabei aber ein -facher wäre als das gerade frisch re-formierte Wahlrecht. Denn dabeiwürde der Bundestag eine kon-stante Anzahl von Sitzen umfassen,

Gerechte AlgorithmenIn Verhältniswahlsystemen sollte eine vorgegebene Zahl von Parlamentssitzen auf die Parteien idealerweise pro-portional zu deren Stimmenanteilen verteilt werden. Eine analoge Aufgabe ist die Verteilung nationaler Ab ge ord -ne ten sitze auf Bundesstaaten proportional zu deren Bevölkerung. Das Problem: Sitzstärken sind ganze Zahlen,Stimm- oder Bevölkerungsanteile nicht. Perfekt kann solch eine Verteilung daher nicht gelingen. Es gibt aber ver-schiedene Verfahren, um sich dem Ideal anzunähern. Drei häufig verwendete sind:

Hare/NiemeyerMethode mit Ausgleich nach größten Resten

Eine Dreisatzrechnung ermittelthier zunächst für jede Partei derenQuote – also wie viele Sitze die Par-tei bekäme, wenn es gebrochenzah-lige Parlamentssitze gäbe. Derganzzahlige Anteil ihrer Quote gibtdann die Sitzzahl, die jede Partei si-cher hat. Von den verbliebenen Sit-zen bekommt dann den ersten diePartei, deren Quote den größtenRest aufweist, den zweiten die Par-tei mit dem zweitgrößten Rest undso fort, bis alle Sitze verteilt sind. Von 1987 bis 2005 wurde die Sitz-verteilung im Deutschen Bundestagmit diesem Verfahren ermittelt, dasnach dem Briten Thomas Hare(1806 bis 1891) und dem DeutschenHorst Niemeyer (1931 bis 2007) be-nannt ist. Es garantiert den ParteienSitzzahlen, die auf einen Sitz genaumit ihrer Quote übereinstimmen,hat aber den Nachteil, die soge-nannte Hausmonotonie zu verlet-zen: Wird das Parlament vergrößertund die Sitze danach neu verteilt,kann es vorkommen, dass eine Par-tei Sitze verliert, obgleich ihr Wäh-lerstimmenanteil unverändert blieb.Auch die Stimmenmonotonie istnicht gesichert: Gewinnt eine Parteivon einer Wahl zur anderen Stim-men auf Kosten einer anderen, kanneine dritte Partei unter UmständenSitze verlieren, auch wenn sich dieAnzahl ihrer Wähler nicht ändert.

D’HondtAusgleich nach größten Quotienten,Divisormethode mit Abrundung

Die Zahl der Wählerstimmen, dieauf jede Partei entfallen sind, wer-den hier nacheinander durch dieZahlen 1, 2, 3, 4, 5, … geteilt. Man er-hält lauter Quotienten, die nun derGröße nach geordnet werden. Dannwerden die Sitze der Reihe nach ver-teilt: Der erste Sitz bekommt die Par-tei mit dem größten Quotient, denzweiten die mit dem zweitgrößtenund so weiter, bis alle Sitze vergebensind. Das Verfahren ist äquivalent zueinem Divisorverfahren mit Abrun-dung: Dazu teilt man zunächst dieGesamtzahl der Wähler durch dieder Sitze. Das ergibt den Divisor.Durch diesen teilt man die Stimmenjeder Partei, rundet dann ab und ver-gibt die sich ergebenden ganzenZahlen als Sitze. Da dann im Allge-meinen Sitze übrig bleiben, wieder-holt man das Ganze mit einem etwaskleineren Divisor so lange, bis maneinen findet, bei dem alle Sitze zu-gewiesen werden können.Bis ins Jahr 1983 wurde das nachdem belgischen Rechtswissenschaf-ler Victor d’Hondt (1841 bis 1901)benannte Verfahren für die Ermitt-lung der Sitzverteilung im Deut-schen Bundestag benutzt. Dannwurde es durch das Hare/Niemeyer-Verfahren abgelöst, da es die größ-ten Parteien systematisch begün-stigt, kleinere dagegen benachtei-ligt (siehe „Leicht Verzerrt“).

Sainte-Laguë/SchepersDivisormethode mit Standardrundung

Wie beim Verfahren nach d’Hondtbestimmt man hier zuerst einen Di-visor, indem man Gesamtwählerzahldurch Gesamtsitzzahl teilt. ImGegensatz zu d’Hondt wird nach derTeilung der Wählerstimmen einerPartei durch den Divisor aber kauf-männisch gerundet (bei Resten klei-ner 0,5 ab-, sonst aufgerundet), umdie erste Näherung der Sitzvertei-lung zu bestimmen. Da dabei meistnicht alle Sitze zugewiesen werden,wiederholt man – ebenfalls wie beid’Hondt – die Rechnung mit einemkleineren Divisor, bis es passt.Seit 2008 werden Bundestagssitzenach der Methode verteilt, die nachdem französischen Mathematiker An-dré Sainte-Laguë (1882 bis 1950) be-nannt ist sowie nach dem PhysikerHans Schepers (*1928), der sie alsLeiter der EDV-Abteilung des Bundes-tages unabhängig entdeckte. Wie dasd’Hondt-Verfahren bewahrt sie Haus-und Stimmenmonotonie, benachtei-ligt dabei aber kleinere Parteien nicht(siehe „Leicht verzerrt“). Außerdemschwanken hier die Quotienten ausWählerstimmen- und Sitzzahlen derverschiedenen Parteien im Schnitt amwenigsten um den Idealwert des Quo-tienten aus Gesamtwählerzahl undGesamtsitzzahl. Dem Ideal, jeder Sitzmöge die gleiche Wählerzahl reprä-sentieren, ist man hier also am näch-sten gekommen. UvR

Deutschland kürt seinParlament nach einemVerhältniswahlsystem.Ein solches gilt oft alsgerechter verglichenmit der Mehrheitswahl.Allerdings kann mandas auch anders sehen.VON ULF VON RAUCHHAUPT

Was wollte der Wähler denn nun?Wenn am kommenden Sonntag-abend die ersten Trends und Pro-gnosen über die Bildschirme lau-fen, dann könnte die Frage wiedergestellt werden – von Kommenta-toren und Moderatoren, bei Inter-views und in der sogenannten Ele -fan ten runde. Nach der Bundes-tags wahl 2005 war man hierbesonders ratlos. In den Umfragendirekt vor dem Urnengang hattesich damals ein Viertel der Wahl-berechtigten für die Fortführungder rot-grünen Koalition ausge-sprochen, fast ein Drittel favori-sierte Schwarz-Gelb. Eine großeKoalition dagegen wäre damals we-niger als 15 Prozent der Befragtenlieber gewesen. Doch zu genau derkam es dann. Oder 1998. Damalsrechneten viele Unionswähler mit

Politologie Kommenden Sonntag können 61,8 Millionen Bundesbürger ihre Stimme abgeben. Daraus ein Parlament zusammenzustellen, das die Präferenzen möglichst vieler Wähler gerecht widerspiegelt, ist eine Wissenschaft für sich.

Ohne Zahlen keine Wahlen

Im 17. Deutschen Bundestag mit seinernach altem Wahlgesetz aus den Wahlen2009 berechneten Sitzverteilung saßen direkt nach der Wahl 622 Abgeordnete, davon waren 24 Überhangmandate.

F.A

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Der Proportionalität wegen gel-ten Verhältniswahlsysteme als be-sonders gerecht, da auch Parteien,die nur eine Minderheit der Wäh-ler ansprechen, Aussicht auf Abge-ordnetensitze haben und dieseMinderheit damit im Parlamentvertreten ist. Damit wird unter an-derem eine „Tyrannei der Mehr-heit“ verhindert, die Minderhei-tenpositionen keine Chance gibt,in der politischen Arbeit vielleichteinmal mehrheitsfähig zu werden.

Als Nachteil der Verhältniswahlwird empfunden, dass Parteien ge-wählt werden, nicht die Personen.Dem lässt sich dadurch begegnen,dass man den Wähler nicht unterstarren Parteilisten auswählenlässt, sondern ihm die Möglichkeitgibt, einzelnen Personen auf derListe zu einer höheren Chance zuverhelfen, einen Sitz der gewähltenPartei zu bekommen. Alternativkann man dem Wähler zusätzlichzur Zustimmung zu einer Parteidie Zustimmung zu einem Kandi-daten seines Wahlkreises ermög-lichen. Das geschieht in Deutsch-land mit der Erststimme. Über dasparlamentarische Kräfteverhältnisentscheidet trotzdem allein dieZweitstimme – vom dem jetzt ab-gestellten Problem der Überhang-mandate sowie der Sperrklausel ab-gesehen – in reiner Verhältniswahl.

sentiert. Von Proportionalitätkann hier also keine Rede sein,weswegen Mehrheitswahlsystemein den Augen mancher ein Ge-rechtigkeitsdefizit haben.

Das setzt aber einen bestimmtenBegriff von Gerechtigkeit voraus.Wie man eine „Tyrannei derMehrheit“ für ungerecht haltenkann, so auch eine „Tyrannei derMinderheit“, die ihre Koopera-tionsbereitschaft an die Durchset-zung von Partikularinteressenknüpft. Ebenso wie jemand Ge-rechtigkeit vermisst, wenn die Par-tei seiner Wahl es nicht ins Parla-ment schafft, kann es ein andererals ungerecht empfinden, wennseine Partei eine Koalition mit ei-ner anderen eingeht, die er odersie nie an der Regierung sehenwollte – eine Situation, die in ei-nem Mehrheitswahlsystem deut-lich unwahrscheinlicher ist.

Die Frage, ob nun Mehrheits-oder eine Verhältniswahl besser,gerechter oder demokratischer sei,ist allgemein und theoretisch somitkaum zu beantworten. Aber auchempirisch ist die Sache schwierig.Kaum ein Beispiel, das nicht sofortein Gegenbeispiel auf den Plan ru-fen würde, das genauso wenig freivon Vorurteilen ist. Hat nicht dasMehrheitssystem in den Vereinig-ten Staaten zu der beispiellosen po-litischen Kontinuität dort beige-tragen? Ja, aber eine grüne Partei,die gerade dieses Land so be-sonders nötig hätte, bleibt dort oh-ne Chance. Ist das Verhältnis -system in Italien nicht mitschuldigan dem politischen Dauerchaosdort? Schon, aber das geht nun be-reits Jahrzehnte so, ohne dass dasLand zusammengebrochen wäre.

Eine Frage des KontextesDie Politikwissenschaftler musstensogar feststellen, dass noch nichteinmal die berühmte These richtigist, die der Franzose Maurice Du-verger 1959 aufgestellt hatte undnach der Verhältniswahlsystemeam Ende stets zu einem Vielpar-teienparlament und Mehrheits -systeme zu einem Zweiparteien-staat führen. „Unser Erfahrungs-wissen hat sich in den letztenJahrzehnten erheblich vermehrt“,schrieb Dieter Nohlen, Emeritusan der Universität Heidelberg 2011.„Dabei hat sich erwiesen, dass einMehrheitswahlsystem im Ver-gleich zu einem Verhältniswahlsy-stem in einem Fall mehr konzen-trierende, im anderen mehr frag-mentierende Wirkung auf dasParteiensystem haben kann.“

Damit ist auch die Gerechtigkeiteines Wahlsystems eine Frage desKontextes, etwa dem, der durchandere Elemente des politischenSystems eines Landes gegeben ist.Gerd Strohmeier, der heute an derTU Chemnitz lehrt, hat 2006 einenArtikel mit dem provokantenUntertitel „Warum die Mehrheits-wahl gerechter ist als die Verhält-niswahl“ veröffentlicht. Dortunterscheidet er zwischen einerEbene der parlamentarischen Re-präsentation und einer der parla-mentarischen Entscheidungen.Letztere sei in der politischen Pra-xis die wichtigere und damit die -jenige, bei der Gerechtigkeits -erwägungen anzusetzen hätten.Aber dabei kommt es eben auf denKontext an, speziell den des Re-gierungssystems. In Präsidential-systemen, in denen die Regierungnicht aus dem Parlament hervor-geht, es keine Koalitionen und kei-ne starke Fraktionsdisziplin gibt,können die Parteien im Einzelnenauf der Entscheidungesbene dasvertreten, wofür sie vor der Wahlstanden. Eine proportionale Ver-tretung, wie sie ein Verhältnis-wahlsystem erzeugt, ist damit hiereindeutig die gerechtere. In parla-

verfehlter Fünf-Prozent-Hürdemit der Stärke ihres Zweitstim-menanteils in den Bundestag gezo-gen. Eine große Koalition wäredann unausweichlich geworden.

„Das ist eine deutliche Schwä-che unseres Wahlsystems“, sagtJürgen Falter von der UniversitätMainz. Seit Jahren weist der Poli-tologieprofessor darauf hin, dassinfolge der seit 1990 stärker frag-mentierten Parteienlandschaft sol-che Effekte häufiger werden undder Parteien- und Politikverdros-senheit weiter Vorschub leisten,zumal die Spitzenpolitiker nie anihren Aussagen vor der Wahl ge-messen werden könnten, da sie janicht genau wissen, mit wem sienach der Wahl koalieren. „DieWähler“, sagt Falter, „kaufen beiihrer Stimmabgabe koalitionspoli-tisch die Katze im Sack.“

Das schwierige IdealDamit kritisiert Falter ein Wahl -sys tem, das auch im Ausland in ho-hem Ansehen steht. Es nennt sich„personalisierte“, genauer, „mit ei-ner Personenwahl verbundeneVerhältniswahl“ und gehört damitzu einer der beiden Grundtypen, indie sich Verfahren zur Wahl vonParlamenten einteilen lassen. Ver-hältniswahlsysteme legen das Ge-wicht auf eine möglichst propor-

Das neue Verfahren1. Die Größe des Bundestags istnach dem seit diesem Jahr gültigenWahlgesetz nicht starr vorgegeben,sondern wird vorab berechnet. Dasgeschieht in drei Schritten. Man be-ginnt mit den bisherigen 589 regu-lären Sitzen. Diese werden mit demSainte-Laguë/Schepers-Verfahren(siehe „Gerechte Algorithmen“) aufdie Bundesländer nach deren Bevöl-kerungsanteil verteilt. Dann wird fürjedes einzelne Land aus der dortigenZweitstimmenverteilung ermittelt,wie viele der auf dieses Land entfal-lenden Sitze den einzelnen Landes-listen der Parteien zustehen. Das ge-schieht wieder nach Sainte-Laguë/Schepers. Diese Sitzzahl oder, fallsgrößer, die Zahl der gewonnenen Di-rektmandate wird für jede Landes -liste vorgemerkt und dann für jedePartei bundesweit addiert. Schließ-lich wird die Sitzzahl des Bundes -tages so lange erhöht, bis jede Par-tei mindestens so viele Sitze erhält,wie ihre bundesweiten Sitzvormer-kungen verlangen.

2. Die Verteilung dieser Bundes-tagssitze auf die Parteien, auchOberverteilung genannt, ermitteltman aus dem bundesweiten Zweit-stimmenergebnis abermals nachSainte-Laguë/Schepers.

3. Für die Zuweisung der Sitze anPersonen, die Unterverteilung, wirdfür jede Landesliste ermittelt, wieviele Sitze aus der Oberverteilung ihrzustehen. Dazu wird eine Variantedes Sainte-Laguë/Schepers-Verfah-rens verwendet, bei dem die Stim-menzahl pro Sitz (der Divisor) so be-stimmt wird, dass die bundesweiteSumme der Landeslisten-Zuweisun-gen einer Partei ihrer Sitzzahl ausder Oberzuteilung entspricht. DieseLandeslisten-Zuweisungen sind abernun nicht einfach die aus den Zweit-stimmenerfolgen. Vielmehr wirdverglichen: Ist die nach Zweitstim-men berechnete Sitzzahl kleiner alsdie Zahl der Direktmandate der be-treffenden Partei im betrachtetenLand, kommen hier nur die Wahl-kreissieger in den Bundestag. Ist siegrößer, ziehen zusätzlich zu denWahlkreissiegern auch entspre-chend viele Kandidaten der Landes-liste ein. Die vorab kalkulierte Größedes Bundestages stellt sicher, dassdie Oberzuteilung immer minde-stens so viele Sitze bereitstellt, wieDirektmandate zu vergeben sind,weswegen es keine Überhangman-date geben kann. Dieses Verfahrenbezeichnet man nach der Univer-sität, an der es entwickelt wurde als„Augsburger Zuteilung“. UvR

VerhältniswahlsystemeVerhältniswahlVerhältniswahl mit starren Listenpersonalisierte Verhältniswahlübertragbare Einzelstimmgebung

Mehrheitswahlsystemerelative MehrheitswahlMehrheitswahl mit StichwahlMehrheitswahl mit sofortiger Stichwahlnichtübertragbare Einzelstimmgebung

Grabenwahlsysteme

keine direkte Parlamentswahlen

Quelle: Idea

Wahlsysteme der WeltDie europäischen Kolonialreichevon einst sind noch gut zu erkennen,wenn man die Staaten der Erde da-nach einfärbt, nach welchem Prinzipdie nationalen Parlamente gewähltwerden. So hat Großbritannien seinMehrheitswahlsystem vielen Staa-ten Afrikas und Südasiens vererbt,die einst Teil des Empires waren. Diefranzösische Variante gibt es nochin West- und Zentralafrika. Und inden meisten ehemaligen spani-schen, portugiesischen und nieder-ländischen Kolonialgebieten findensich Verhältniswahlsysteme.

Es gibt allerdings Abweichungen.So haben sich Australien und Neu-seeland wahltechnisch vom einsti-gen Mutterland England getrennt,

wobei Neuseeland 1996 sogar denradikalen Wechsel von der Mehr-heitswahl zu einer personalisiertenVerhältniswahl ähnlich wie inDeutschland vollzog.

In den Einzelheiten unterscheidensich die Systeme auch innerhalb derhier mit gleicher Farbe versehenenKategorien zum Teil erheblich. Ne-ben unterschiedlichen historischenBedingungen und regionalen Gege-benheiten, etwa starken föderalenStrukturen wie in den VereinigtenStaaten, führt auch die Bedeutungbestimmter Bevölkerungsgruppenzu sehr unterschiedlichen Ausprä-gungen. Insgesamt gibt es kaumzwei Staaten, in denen nach dem-selben System gewählt wird.

Nur wenige Staaten halten gar kei-ne Parlamentswahlen ab. Selbst inder Republik Somaliland, dem nörd-lichen Fragment des kollabiertenStaates Somalia, gibt es heute einegewählte Volksvertretung. Aber wogewählt wird, können die Menschendamit noch lange nicht über ihre Re-gierung mitbestimmen: sei es, weildas Parlament nur formell existiertund nicht als solches arbeitet (wiein Nordkorea), sei es, weil ein Re -gime nur ihm genehme Kandidatenoder Parteien zulässt, die Wahlenmassiv manipuliert werden oder seies auch nur, dass Einschränkungender Pressefreiheit einen fairenWahlkampf beeinträchtigen. Wah-len allein machen eben noch langekeine Demokratie. UvR

mentarischen Regierungssystemenhingegen ist es nach Strohmeiergenau umgekehrt. Hier kommt esin nach Verhältniswahl gewähltenParlamenten oft vor, dass kleinere,also von weniger Wählern unter-stützte Parteien auf der Entschei-dungsebene einen überproportio-nalen Einfluß erhalten. Gerechtersei in parlamentarischen Demo-kratien daher ein Mehrheitswahl-

system, weil ein solches die Mehr-heiten im Wahlvolk von vorne -herein konzentriert und damit aufder wichtigeren Entscheidungs-ebene unmittelbar abbildet. Nachdieser Auffassung wäre die ameri-kanische Präsidentialdemokratiegerechter, wenn zumindest das Re-präsentantenhaus in Verhältnis-wahlen gewählt würde. Und unterbestimmten anderen, von Stroh-meier aufgezählten Kontext-Be-dingungen (die in Deutschlandderzeit erfüllt sind) wäre unser par-lamentarisches System mit einemMehrheitswahlsystem gerechter.

Diese Gerechtigkeitsauffassungsteht letzlich auch hinter Jügen Fal-ters Hinweis auf die Schwächen desderzeitigen deutschen Wahl -systems, und auch für Falter wäreder Wechsel zu einem Mehrheits-wahlsystem oder zumindest zu ei-nem mit mehrheitsverstärkenden

Das allein seligmachende Wahlsystem gibt es nicht.Wie sich Mehrheitswahl und wie sich Verhältniswahl

auswirkt, kann von Staat zu Staat verschieden sein. Für Deutschland kann die Frage nur lauten: Haben wirunter den derzeitigen Bedingungen das richtige System?

Sitzverzerrung

Mandatszahl M

0,6

0,4

0,2

0

–0,2

Partei 1Partei 2Partei 3Partei 4

0 5 10 15 20 3025

Leicht verzerrtDie Verhältniswahl strebt reine Pro-portionalität zwischen Wählerstimmenund Sitzen an. Doch neben Klauselnwie der Fünf-Prozent-Hürde verzerrenauch die Sitzzuteilungsverfahren die-ses Ideal. Wie sehr, hat hier der Ma-thematiker Udo Schwingenschlögl vonder Universität Augsburg für zwei ver-schiedene Verfahren berechnet:

Höhere Sperrklauseln (t=0.05 wäredie 5-Prozent-Hürde) verringern dieVerzerrung, hier für das d’Hondt-Verfahren, M=598 und drei Parteien.

Linke54

SPD 136

Grüne 35

CDU 261

FDP46 598

Sitze

Der 17. Deutsche Bundestag nach dem Graben-Wahlsystem

Linke16

SPD 64

Grüne 1

CSU45

299 Sitze

Der 17. Deutsche Bundestagnach reinem Mehrheitswahlrecht

Sitzverzerrung

Sperrklausel t0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5

0,6

0,4

0,2

0

–0,2

–0,4

–0,6

Partei 1Partei 2Partei 3Literatur: Jürgen W. Falter: „Mehr-

heitswahl und Regierbarkeit“, Zeit-schrift für Politikwissenschaften, 19.Jg. (2009), Sonderheft Wahlsystemre-form, 127–148. Gerd Strohmeier:„Wahlsysteme erneut betrachtet: wa-rum die Mehrheitswahl gerechter ist alsdie Verhältniswahl“, Zeitschrift für Po-litikwissenschaften, 16. Jg. (2006), Heft2, 405–425. Dieter Nohlen: „Zur Reformvon Wahlsystemen“, Zeitschrift für Po-litik, 58. Jg. (2011), Nr 3. 310–323

Nur die Direktmandate hätten gezählt, wenn 2009 Mehrheitswahlrecht gegolten hätte.Das Bild ist insofern nicht ganz realistisch, als viele dann wohl anders gewählt hätten.

Linke 85

SPD 164

Grüne 76CDU 195

CSU 47

FDP 104 671

Sitze

einer einer großen Koalition. VierMillionen von ihnen gaben daherder SPD ihre Zweitstimme – undhalfen damit ungewollt Rot-Grünin den Sattel.

Auch in der alten Bonner Repu-blik konnte sich der FDP-Wählernie ganz sicher sein, ob er mit sei-ner Stimme am Ende eine sozial -liberale oder eine christlich-libera-le Regierung ins Amt brachte.Allerdings war Koalitionsaussagendamals mehr zu trauen als in demfünf-Kräfte-Bundestag von heute.Dabei können kleine, von kaum ei-nem Wähler so gewollte Ursachengroße Wirkung haben. Hätte etwabei den Bundestagswahlen 2002 diePDS drei statt nur zwei Direkt-mandate erhalten, wäre sie trotz

Ganz anders sieht es bei Mehr-heitswahlsystemen aus. Hier setztsich das Parlament aus Kandidatenzusammen, die in ihrem Wahlkreisdie meisten Wähler hinter sichbringen konnten – entweder mitrelativer Mehrheit, wie etwa inEngland, oder nach einer Stich-wahl wie in Frankreich oder auchin Australien, wobei down underdie Stichwahl in den ersten Wahl-gang integriert ist: der Wählerkann dort zusätzlich zu seinem Fa-voriten auch Präferenzen für wei-tere Kandidaten angeben. Grup-pierungen, die nur in wenigen odergar keinen Wahlkreisen eine Chan-ce haben, ihren Kandidaten durch-zubringen, sind daher im Parla-ment kaum oder gar nicht reprä-

tionale Repräsentation: Wenn einePartei einen Prozentsatz X derWählerstimmen auf sich vereini-gen kann, dann sollten möglichst XProzent der Parlamentssitze vonihren Kandidaten besetzt sein.

In der Praxis ist diese Umrech-nung von Wählerzuspruch in Ab-geordnetensitze knifflig, vor allemwenn – wie in Deutschland – da-bei noch auf regionalen Proporzzu achten und die mit der Erst-stimme zum Ausdruck gebrachtePersonenwahl einzuarbeiten ist.Die am Anfang 2013 verabschiede-te Wahlrechtsnovelle zeigt aber,dass man sich der proportionalenRepräsentation auch hier sehr gutannähern kann (siehe „Das Kreuzmit den Überhangmandaten“).

Das Kreuz mit den ÜberhangmandatenDie Sitzverteilung des18. Bundestages wirdnach einem neuenVerfahren berechnet.Was war mit dem altennicht in Ordnung?

Die Sache im Wahlkreis Dres-den Eins brachte das Fass zumÜberlaufen. Elf Tage vor der

Bundestagswahl 2005 verstarb dort dieKandidatin der NPD. Es musste nach-nominiert werden, und die betroffenenDresdner durften erst zwei Wochenspäter wählen als der Rest der Republik– dafür mit Kenntnis des Wahlaus-gangs anderswo. Damit wussten dieCDU-Anhänger unter ihnen, dass ih-re Partei wahrscheinlich ein Bundes-tagsmandat verlieren würde, wenn siezu viele Zweitstimmen bekäme –und konnten das verhindern.

Wenn mehr Zweitstimmen füreine Partei dieser ein Mandat kos -ten, sprechen Wahlmathematikervom „negativen Stimmenge-wicht“. Es war ein paradoxer Ef-fekt des deutschen Wahlrechts, sowie es bis zur Novelle Anfang 2013galt. Dahinter stecken die soge-nannten Überhangmandate, diebislang entstanden, wenn eine Par-tei in einem Bundesland mehr Di-rektmandate errang (also Wahl-kreise über die Erststimmengewann), als ihr aus ihrem Zweit -stimmenerfolg an Sitzen zustan-den. Da man Wahlkreissiegern ihren Parlamentssitz nicht ver-wehren kann, bekam deren Parteidiese Sitze zusätzlich.

Wahlkreissieger zu verletzen? „Na-türlich nicht“, sagt Pukelsheim.„Eines der beiden Prinzipien müs-ste man relativieren. Oder beide.Und das dürfe wieder ein heißes Ei-sen werden.“ Ulf von Rauchhaupt

etwa die bisher als Regelstärke vor-gesehenen 598. Von denen würdebeispielsweise die Hälfte mit denaus den Erstimmen ermitteltenGewinnern der 299 Wahlkreise be-setzt. Die anderen 299 Sitze würdennach Verhältniswahl unter den Par-teien nach Maßgabe ihrer Zweit-stimmen verteilt. „Das hätte denCharme, dass unser gewohntes Sy-stem von Erst- und Zeitstimmenbeibehalten werden könnte“, sagtFalter. „Lediglich die Aufrechnungder durch die Erststimme gewon-nenen Direktmandate gegenüberden Zweitstimmen unterbliebe.“Beide Hälften des Bundestageswürden also nach verschiedenenSystemen besetzt, zwischen ihnenläge ein Graben, daher der Name.

Ein Grabenwahlsystem, das ineinigen Ländern wie Japan oderMexiko praktiziert wird, hättegegenüber der reinen Verhältnis-wahl in vielen – allerdings nichtnotwendig in allen – Fällen einenklaren mehrheitsverstärkenden Ef-fekt. So hätte die Union bei Ver-rechnung der Abstimmungsergeb-nisse der Bundestagswahl 2009nach der Grabenwahl allein regie-ren können – und wäre für dieNichterfüllung ihrer Wahlverspre-chen tatsächlich voll haftbar zu ma-chen gewesen.

Das Dumme ist nur, dass dieZweitstimmenanteile zuerst aufBundesebene mittels eines Zutei-lungsverfahrens (siehe „GerechteAlgorithmen“) in Sitze umgerech-net werden. Die Sitzzahlen jederPartei werden dann auf die Länderverteilt und erst dort mit ihren Di-rektmandaten verrechnet. Daherkann es vorkommen, dass eine Par-tei, sagen wir die CDU, in einemBundesland, etwa Sachsen, etwasmehr Zweitstimmen gewinnt, alssie zuletzt hatte – nicht so viele, umihr bundesweit einen Sitz mehr zubescheren, aber genug, damitSachsens CDU einen der Parteinach ihrem bundesweiten Zweit-stimmenanteil zustehenden Sitzzusätzlich erhält. Der kann abernur aus einem anderen Bundeslandkommen, in dem die CDU weni-ger erfolgreich bei den Zweistim-men war, vielleicht Bremen. Dochwas, wenn in Sachsen schon Über-hangmandate angefallen sind, dieCDU hier also gar keine Sitze ausdem Zweitstimmenerfolg bekom-men kann? Dann ist der BremerSitz trotzdem weg und die CDUhat bundesweit einen Sitz weniger.

Kompliziert? Ja, aber unver-meidlich, wenn man zugleich anZweitstimmenproporz und Über-hangmandaten festhalten will.Diese Überhangmandate warenschon früher so manchem einDorn im Auge gewesen. Denn sieverstoßen offenkundig gegen denGeist der reinen Verhältniswahl.Die Sitzverteilung eines Parla-ments mit Überhangmandaten isteben nicht mehr proportional zuder Zweitstimmenverteilung.

Der 17. Deutsche Bundestag nach dem neuen Verfahren von 2013

CSU 66

Alle heute vertretenen Parteien wären im Bundestag vertreten gewesen, wären 2009 inGrabenwahl 299 Abgeordnete nach Mehrheits-, 299 nach Verhältniswahlrecht bestimmtworden. Doch die Union hätte mit einer satten Mehrheit alleine regieren können.

CDU 173

Das Wahlergebnis von 2009 hätte mit dem Berechnungsverfahren des neuen Wahlge-setzes zu dieser Sitzverteilung geführt. Der Bundestag hätte 51 Sitze mehr haben müs-sen, um die Überhangmadate auszugleichen. Auch hier hätte es für Schwarz-Gelb gereicht.

Sitzverzerrung

Mandatszahl M

0,6

0,4

0,2

0

–0,2

–0,4

Partei 1Partei 2

0 5 10 15 20 3025

Partei 3Partei 4

M Sitze werden auf vier Parteien ver-teilt, 1 ist die stärkste, 4 die schwäch-ste. Mit dem Verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers (oben) geht die Ver-zerrung (die Sitzbruchteile, die zuvieloder zu wenig zugewiesen wurden) mitsteigender Parlamentsgröße M schnellgegen Null. Mit dem Verfahren nachd’Hondt (unten) bleiben die Verzer-rungen auch bei großen M erhalten.Dabei wird die stärkste Partei syste-matisch begünstigt.

Literatur: Benjamin Hertlein: „Chan-ce auf mehr Gerechtigkeit?“, Ma gis -ter arbeit, Univ. Mainz 2013. FriedrichPukelsheim und Mathias Rossi: „Im-perfektes Wahlrecht“, Zeitschrift fürGesetzgebung, Heft 3 (2013).

FDP 93

CSU 45

CDU194

Grüne 68

SPD 146

Linke 76

FAZ-FHlöjsT