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Seite: 1 Prof. Dr. jur. Julia Zinsmeister Institut für Soziales Recht Fakultät für Anwandte Sozialwissenschaften Förderung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen und der Schutz ihrer Freiheits- und Persönlichkeitsrechte - Das neue Positionspapier des LVR-Jugendamtes Rheinland - Vortrag auf der Leitungskonferenz des Landesjugendamtes vom 21.4.2016

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Prof. Dr. jur. Julia Zinsmeister Institut für Soziales Recht Fakultät für Anwandte Sozialwissenschaften

Förderung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen und der Schutz ihrer Freiheits- und Persönlichkeitsrechte - Das neue Positionspapier des LVR-Jugendamtes Rheinland - Vortrag auf der Leitungskonferenz des Landesjugendamtes vom 21.4.2016

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Neues Positionspapier am 25.02.2016 im LVR-Landesjugendhilfe-ausschuss verabschiedet Es ersetzt das LVR-Positionspapier „Pädagogik und Zwang“

Bildunterschrift Arial 9 pt fett Bildunterschrift Arial 9 pt fett

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Arbeitsgruppe zur Entwicklung des Positionspapiers

§  Dr. Klaus Graf, Ev. Jugendhilfezentrum Godesheim, Bonn §  Hans Scholten, Jugendhilfezentrum Raphaelshaus, Dormagen

§  Anita Stieler, Vernetzte Jugendhilfe »Der Sommerberg«, Rösrath §  Dr. Dieter Schartmann, LVR-Dezernat Soziales §  Dr. Rainald Schuldes, LVR-Dezernat Soziales §  Dr. Ute Projahn, LVR-Jugendhilfe Rheinland §  Kai Wagner, LVR-Jugendhilfe Rheinland §  Magdalene Dubiel, LVR-Landesjugendamt Rheinland §  Stephanie Meissner, LVR-Landesjugendamt Rheinland §  Marc Schönberger, LVR-Landesjugendamt Rheinland

Leitung §  Prof. Dr. Julia Zinsmeister, ISR, TH Köln §  Stephan Palm, LVR-Landesjugendamt Rheinland

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§  rechtliche Entwicklung und neue Forschung seit 2007

§  Ziele der Arbeitsgruppe

§  Perspektivwechsel und -erweiterung

§  Kinderrechte als Leitlinie des professionellen Handelns

§  Vom Rheinischen Modell zum Rheinischen Stufenmodell: Was bleibt – was ist neu?

Themenüberblick

Masterfolie 4_Text mit Unterpunkten

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Wichtige rechtliche Entwicklungen ab 2007

2009 Neufassung des § 1631b BGB

UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) erlangt Gesetzeskraft

2010 Rücknahme des deutschen Anwendungsvorbehalts gegen UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK), Ratifizierung des 3.Fakultativprotokolls

2012 Stärkung der Partizipations- und Beschwerdemöglichkeiten von Kindern in Einrichtungen durch das BundeskinderschutzG

2013 BGH Beschluss vom 7.8.2013 ( Az. XII ZB 559/11): Unterbringungsähnliche Maßnahmen bedürfen keiner gerichtlichen Genehmigung

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Wie wirken FEM? Langzeit-/Längsschnittstudien

2006 Hoops, S./Permien, H.: Mildere Maßnahmen sind nicht möglich! Freiheitsentziehende Maßnahmen nach § 1631 b BGB in Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie. München: DJI.

2010 Permien, H.: Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug? Zentrale Ergebnisse der DJI-Studie »Effekte freiheitsentziehender Maßnahmen in der Jugendhilfe«. München: DJI.

2013

Menk, S./Schnorr, V./ Schrapper, C.: »Woher die Freiheit bei all dem Zwange?« Langzeitstudie zu den (Aus-)Wirkungen geschlossener Unterbringung in der Jugendhilfe, Weinheim und Basel: Beltz Juventa

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Wie wirken stationäre Hilfen und FEM? Ergebnisse der Langzeit-/Längsschnittstudien (1)

§  Stationäre Hilfen wirken, wenn das Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen

gestärkt wird und

„die jungen Menschen die Erfahrung machen können, dass sie (aus-)

gehalten werden und ihre Bedürfnisse und Entbehrungen erkannt werden,

selbst wenn sie immer wieder mit ihrem Verhalten alle Beteiligten an die

Grenzen bringen.“ (Menk, Schnorr, Schrapper 2013, 272, 280)

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Wie wirken stationäre Hilfen und FEM? Ergebnisse der Langzeit-/Längsschnittstudien (2)

§  GU ist eher eine Reaktion des Hilfesystems auf seinen eigenen

unzulänglichen Verlauf, als dass sie durch die Belastungen junger

Menschen und bzw. oder den familiären Kontext veranlasst wäre

(Menk, Schnorr, Schrapper 2013, S.278).

§  kaum eindeutige Hinweise, wonach GU eine nachhaltige positive Wendung

im Lebens- und Hilfeverlauf der jungen Menschen bewirkt (Permien 2010;

Menk, Schnorr, Schrapper 2013, 286).

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Wie wirken stationäre Hilfen und FEM? Ergebnisse der Langzeit-/Längsschnittstudien (3)

§  Das Ziel, Heranwachsenden durch strenge Regeln und begrenzte

Freiräume eine (bisher oft vermisste) Verlässlichkeit zu vermitteln, an der

sie ihr Verhalten neu orientieren und sozial akzeptableres Verhalten lernen

können, wird allenfalls bei Kindern/Jugendlichen erreicht, die bereit und in

der Lage ist, sich auf das pädagogische Setting einzulassen.

§  Dazu brauchen sie das Angebot, sich die Freiheit schrittweise zurück zu

erobern, und müssen die Bereitschaft entwickeln, sich quasi als

Bewährungsprobe „freiwillig“ dem Zwang beugen“ (Permien 2010, 89).

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Wie wirken Sanktionen in Einrichtungen?

§  Günder, Müller-Schlotmann und Reidegeld (2009, S.10) stellten in der

bundesweiten Befragung von Fachkräften der stationären Erziehungshilfe

fest, dass fast die Hälfte der Kinder und Jugendlichen auf Sanktionen und

Strafen gar nicht oder mit unerwünschten Verhaltensweisen wie z.B.

verbaler Gewalt reagierten.

§  Sanktionen bzw. Strafen, so die Autoren, haben in der stationären Kinder-

und Jugendhilfe eine bedeutende aggressionsauslösende bzw.

aggressionsfördernde Wirkung und können zur Eskalation bestehender

Konflikte beitragen.

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Stubenarrest? Aber bitte mit Handy! Mit dem Zwangsempfinden ändert sich auch die Sanktionspraxis

§  das Mobiltelefon ist für 77% der Jugendlichen in stationären Einrichtungen

der Kinder- und Jugendhilfe von besonderer Bedeutung (Behnisch/Gerner

2014)

§  Sie empfinden die Wegnahme ihres Mobiltelefons oft als Gewalthandeln

(Domann u.a. 2015).

§  Fachkräfte setzen Mobiltelefon als Sanktionsmittel ein (Domann u.a. 2015;

Behnisch/Gerner 2014: 50% der befragten Fachkräfte).

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Ziele der Arbeitsgruppe

§  Überprüfung und Verdeutlichung der Position des LJA zur Anwendung von Zwang in den Einrichtungen

§  bessere Berücksichtigung der Perspektive der Kinder und Jugendlichen §  bessere Berücksichtigung pädagogischer und professionsethischer

Erwägungen §  Überprüfung und ggf. Überarbeitung der Mindestanforderungen des

„Rheinischen Modells“ §  praxisorientierte, anschauliche und kompakte Darstellung §  mehr Handlungsorientierung für die Fachkräfte §  Orientierungshilfe betreffend Auftrag und Reichweite der

Erziehungs- und Eingliederungshilfe für andere Akteure, z.B. Polizei, Justiz, KJP

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Perspektivwechsel und –erweiterung: Das neue Positionspapier... §  richtet den Fokus auf die prospektive Verantwortung der Einrichtungsträger

und Fachkräfte

§  ermutigt zur Reflexion von Macht und der Gefahr des Machtmissbrauchs in

der pädagogischen Beziehung

§  bezieht Kinder/Jugendliche in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe

durchgehend ein und stärkt ihre Selbstbestimmungs- und Freiheitsrechte

§  zielt auf eine verstärkte Partizipation aller Kinder und Jugendlichen und im

Bedarfsfall auf die Inanspruchnahme der Ombudschaft Jugendhilfe

§  beschreibt Kindeswohl nicht mehr als Abwesenheit von Kindeswohl-

gefährdung, sondern dessen zentrale Faktoren

§  nimmt Stellung zur Mediennutzung und Medikamentenvergabe in

Einrichtungen

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Retrospektive – juristische - Verantwortung Wie muss ich handeln, um mich nicht haftbar zu machen? (Fokus: Selbstschutz) Prospektive – fachliche - Verantwortung Wie handele ich gegenüber Heranwachsenden professionell, d.h. zielgerichtet, fachlich begründet sowie rechtlich und ethisch gerechtfertigt? (Fokus: Kindeswohl)

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Kinderrechte als Leitlinie des professionellen Handelns §  In Einrichtungen der Erziehungs- und Eingliederungshilfe bildet die

Förderung der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu einer selbständigen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit und die Förderung ihrer Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe das vorrangige Ziel allen pädagogischen Handelns (§§ 1 SGB VIII, 1 SGB IX).

§  Professionelles pädagogisches Handeln respektiert und wahrt die Rechte

der Kinder und Jugendlichen, insbesondere ihre Würde, Freiheit, Privatheit, körperliche Unversehrtheit und ihr Recht auf Gleichbehandlung.

§  Welches pädagogische Handeln rechtlich geboten und erlaubt ist, lässt sich nur unter Einbeziehung fachlicher Erwägungen beurteilen.

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Menschenrechtliche Pflichtentrias „Eidesche Formel“

RESPECT (Achtung) der Privat- und Intimsphäre, der persönlichen Entwicklung und wachsenden Verselbständigung von Minderjährigen,

ihres Rechts auf „Eigensinn“.

PROTECT (Schutz) vor struktureller, physischer, sexualisierter Gewalt, z.B.

durch Abbau von strukturellen Risikofaktoren,

Präventionsangebote, Beschwerdemanagement,

Begleitung bei der Rechtsdurchsetzung

FULFIL (Gewährleistung) Privatsphäre schaffen,

Befähigung durch Beratung, Bildung, Ermutigung und

Ermächtigung. Unterstützung im Alltag, um Teilhabe zu

ermöglichen

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Welche Rechte der Jugendlichen tangiert der Handyentzug?

§  Eigentum §  Allgemeine Handlungsfreiheit §  Informationsfreiheit §  freie Persönlichkeitsentwicklung und gleichberechtigte

Teilhabe: Handy wird von Heranwachsenden vor allem für Identitäts- und Beziehungspflege (Schmidt, Paus-Hasebrink, Hasebrink 2009) und in der stationären Kinder- und Jugendhilfe konkret vor allem zur Kontaktpflege mit Freund*innen und der Herkunftsfamilie genutzt (Behnisch/Gerner 2014)

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Kinderrechte als Leitlinie des professionellen Handelns (2)

§  Jede Form von Zwang greift in die Freiheitsrechte von Kindern und Jugendlichen ein. Wer Minderjährige zu pädagogischen Zwecken maßregeln oder aus anderen Gründen in ihren Handlungsfreiheiten beschränken will, bedarf hierzu einer fachlichen, moralischen und rechtlichen Legitimation.

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Kinderrechte als Leitlinie des professionellen Handelns (3)

Eingriffe in diese Rechte der Kinder und Jugendlichen sind ethisch und rechtlich grundsätzlich nur legitimiert, wenn sie verhältnismäßig, d.h.

(1)  einen legitimen Zweck verfolgen, d.h. auf die Verfolgung eines pädagogischen Ziels oder auf den Schutz eines Rechtsguts gerichtet sind, zu dessen Schutz die Fachkräfte verpflichtet sind, z.B. der körperlichen Unversehrtheit eines anderen Kindes.

(2)  fachlich geeignet und (3) erforderlich sind, den vorgenannten Zweck im Rahmen der Erziehungs- und Eingliederungshilfe zu erfüllen oder konkrete Gefahren abzuwenden

und (4) die Folgen des Eingriffs in angemessenem Verhältnis zu dem damit angestrebten Nutzen stehen.

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(1) Legitimer Zweck

Verfolgung der pädagogischen Ziele, insbesondere •  Förderung der Entwicklung zu einer selbständigen und

gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit •  Förderung der gleichberechtigten Teilhabe •  Vermeidung bzw. Abbau von Benachteiligungen •  Schutz vor Kindeswohlgefährdungen

Sonstige Maßnahmen der Gefahrenabwehr, soweit diese in die Verantwortung des Einrichtungsträgers fallen, Vgl. hierzu Kapitel 9 des Positionspapiers.

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(2) Fachliche Geeignetheit

§  Die Geeignetheit einer erzieherischen Maßnahme ist danach zu beurteilen, ob sie auch langfristig positive Effekte für die Entwicklung eines Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit erwarten lässt.

§  Die Geeignetheit einer Schutzmaßnahme ist danach zu beurteilen, ob sie eine Gefahr für ein zu schützendes Rechtsgut möglichst dauerhaft abwenden kann.

§  Individuelle Geeignetheit ist auch von der Qualität der professionellen Beziehung und der persönlichen Vorgeschichte jedes einzelnen Kindes abhängig.

§  Wirksamkeit kann und muss anhand der Rückmeldung durch die Heranwachsenden direkt und in Längsschnittstudien überprüft werden.

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(2) Zum Verhältnis von „Erziehung“ und „Aufsicht“ und anderen Schutzmaßnahmen

§  Positionspapier klärt Grundlage und Umfang der Schutzpflichten

§  Schutzmaßnahmen verfolgen häufig, aber nicht notwendig pädagogische Zwecke.

§  Erziehung und „Aufsicht“ bilden keinen Gegensatz, denn Aufsichtsführung ist laut Gesetz (§ 832 BGB: „gehörige Aufsichtsführung“) grundsätzlich nur in einem erzieherisch gebotenen Rahmen erforderlich (allg. Abwehr von schweren Gefahren, z.B. in Notwehrsituationen, ausgenommen)

§  Eine Schutzmaßnahme ist pädagogisch intendiert, wenn sie zumindest auch den Zweck verfolgt, ein Kind zu lehren, achtsam mit sich und seinen Mitmenschen, anderen Lebewesen und Dingen umzugehen.

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(2) Zum Verhältnis von „Erziehung“ und „Aufsichtsführung“ bzw. sonstigen Schutzpflichten

Bei der Beurteilung dessen, was nach den Anforderungen des § 832 BGB als der Aufsichtspflicht „genügend” erscheint, [ist] in Abwägung mit dem insgesamt angestrebten Erziehungsziel, dem Jugendlichen zur Entwicklung seiner Persönlichkeit zu verhelfen und ihn in selbständiges verantwortungsbewußtes Handeln einzuüben.“ BGH NJW 1980, 1044, 1045.

„So kann es unter Umständen angezeigt sein, um den Kontakt zum Jugendlichen und die Einflußmöglichkeit auf ihn nicht zu verlieren, keine allzu große Strenge walten zu lassen und nicht auf strikter Einhaltung von (...) Empfehlungen zu bestehen. Auch kann die vorauszusehende Erfolglosigkeit einer Maßnahme deren Anordnung untunlich machen.“ BGH NRW 1984, 2574, 2575.

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(2) Geeignetheit von Sanktionen als Erziehungsmittel

§  Sanktionen sind pädagogisch nur geeignet, wenn sie eine nachhaltige positive Wirkung für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen erwarten lassen.

§  Konflikte oder eine ungünstig verlaufende Entwicklung der Kinder sind zum Anlass zu nehmen, den bisherigen Hilfeverlauf kritisch zu reflektieren und ggf. besser an die Bedürfnisse der Kinder anzupassen.

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(3) Erforderlichkeit

§  Die Erforderlichkeit eines Eingriffs ist danach zu beurteilen, ob er das mildeste aller geeigneten Mittel zur Erziehung oder Gefahrenabwehr ist.

§  Ein erforderlicher Eingriff muss so gestaltet werden, dass das betreffende

Kind/Jugendlichen hierbei möglichst wenig belastet und geschädigt wird. Er muss auf das erforderliche Maß begrenzt und mit einem Beziehungsangebot verbunden sein, die Intervention mit dem Kind oder Jugendlichen nachfolgend reflektiert werden usw.

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(4) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Willkürverbot)

§  Die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs im engeren Sinne ist danach zu beurteilen, ob der Eingriff und damit einhergehende mögliche Belastungen des Kindes in angemessenem Verhältnis zu dem damit verbundenen Nutzen stehen. Beispiel: Solange einem pflegebedürftigem Schulkind keine akute schwere Infektion oder ein vergleichbar schwerer Nachteil droht, ist es z.B. unverhältnismäßig, es gegen seinen Willen (vor allem im Intimbereich) zu pflegen, denn der Wunsch der Erwachsenen und ggf. der anderen Kinder, es sauber und angenehm riechend zu wissen, rechtfertigt keinen solchen Eingriff in seine körperliche Intimsphäre und sexuelle Selbstbestimmung. Statt dessen wären die Hintergründen seiner Ablehnung zu erfragen, mögliche Alternativen zu ermitteln (Wechsel der Pflegekraft, Baden statt Duschen) und dem Kind die möglichen gesundheitlichen und sozialen Konsequenzen der unterlassenen Körperpflege aufzuzeigen.

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Perspektivwechsel und -erweiterung

Das Rheinische Modell wird zum Rheinischen Stufenmodell

§  LJA hält trotz der Erweiterung des § 1631b BGB freiheitsentziehende Maßnahmen weiterhin nur zum Schutz vor erheblicher Selbst- oder Fremdgefährdung für zulässig.

§  Rahmenbedingungen für Betriebserlaubnis für „Erziehungshilfe unter freiheitsentziehenden Bedingungen“ bleiben bestehen. Die fachliche Anforderungen an das pädagogische Konzept werden konkretisiert.

§  Bedingungen der Betriebserlaubnis für unterbringungsähnliche Maßnahmen (z.B. wiederkehrende Fixierungen durch Bettgitter oder Klettmanschetten) werden neu formuliert.

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Beispiel einer pädagogischen Konkretisierung: Anforderungen an das pädagogisches Konzept für FEM:

„In dem Konzept sind vorrangig pädagogische Ansätze vorzusehen, die ein individuelles Eingehen auf Problemlagen ermöglichen: Die freiheitsentziehende Maßnahmen werden stets in ein förderliches Beziehungssetting und andere positive Kontextfaktoren eingebettet. Sie werden mit den Kindern und Jugendlichen besprochen. Ihnen werden konstante Bezugspersonen an die Seite gestellt, die Verlässlichkeit und Vertrauen vermitteln und bereit und in der Lage sind, die Strategien, Lebensmuster, familiären Bindungen und Verstrickungen der Kinder und Jugendlichen zu verstehen, ernstzunehmen, zu reflektieren und in das Hilfesystem zu integrieren.“ (vgl. Positionspapier Kap.11 Ziff.II Abs.4)

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Unterbringungsähnliche Maßnahmen z.B. Fixierung durch Bettgitter oder Klettmanschetten

Freiheitsentziehende Maßnahmen gegenüber Kindern und Jugendlichen lassen sich nicht mit deren Behinderung oder einer gesteigerten Aufsichtspflicht begründen. FEM sind laut den DNQP-ExpertInnenstandards kein geeignetes Mittel zur Sturzprophylaxe und können den Impuls zu selbst- und fremdverletzendem Verhalten weiter verstärken. Das LJA genehmigt Fixierungen von Kindern und Jugendlichen nur, wenn sie von diesen bzw. den Personensorgeberechtigten nach eingehender Beratung über Möglichkeiten und Grenzen der Gefahrenabwehr ausdrücklich gewollt und ärztlich verordnet werden, geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sind und das Kindeswohl hierdurch nicht beeinträchtigt wird. Dies ist in regelmäßigen Abständen zu überprüfen.

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Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

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Zur Vertiefung Behnisch, Michael/Gerner, Carina (2014): Jugendliche Handynutzung in der Heimerziehung und ihre Bedeutung für pädagogisches Handeln. In: Unsere Jugend, 66. Jg., Heft 1, S. 2-7.

Domann, Sophie / Eßer, Florian/ Rusack, Tanja et al (2015). Jugendliche in der Heimerziehung zwischen Verboten, informellen Regeln und Klatsch. Umgangsweisen mit Körperkontakt. Neue Praxis, 45(5), 503-518.

Fegert, Jörg M./Wolff, Mechthild (Hrsg.) (2015): Kompendium »Sexueller Missbrauch in Institutionen« Entstehungsbedingungen, Prävention und Intervention. Weinheim: Beltz Juventa

Günder, Richard/ Müller-Schlotmann, Richard M.L. / Reidegeld, Eckart (2009): Reaktionen auf unerwünschtes Verhalten in der Stationären Erziehungshilfe. In: Unsere Jugend, 61. Jg. S.14 – 25.

Henkelmann, Andreas / Kaminsky, Uwe / Pierlings, Judith / Swiderek, Thomas / Banach, Sarah (2011): Verspätete Modernisierung. Öffentliche Erziehung im Rheinland – Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes (1945-1972). Essen: Klartext/LVR

Menk, Sandra/ Schnorr, Vanessa/ Schrapper, Christian (2013): „Woher die Freiheit bei all dem Zwange?“ Langzeitstudie zu den (Aus-)Wirkungen geschlossener Unterbringung in der Jugendhilfe, Weinheim, Basel: Beltz Juventa

Permien, Hanna (2010): Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug? Zentrale Ergebnisse der DJI-Studie „Effekte freiheitsentziehender Maßnahmen in der Jugendhilfe“. München: DJI.

Schwabe, Mathias (2008): Zwang in der Heimerziehung? Chancen und Risiken. München: Ernst Reinhardt.

Wolf, Klaus (1999): Machtprozesse in der Heimerziehung. Münster: Votum.