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DAS BUCH

Freelander nimmt den Leser mit auf eine skurrile Reise. Als derpensionierte Studienrat Karlo Adum zu einer Testamentseröff-nung nach Sarajevo geladen wird, setzt er sich nur widerwillig inseinen alten Volvo und verlässt Zagreb. Je näher er dem Ziel seinerReise kommt, desto mehr Erinnerungen steigen in ihm auf: anseine schöne, grausame »Mama Cica«, die gerne mit deutschen Sol-daten flirtete; an den verrückt gewordenen Vater; an die erhängtenKommunisten vor der Kathedrale; an eine Fahrt zum Meer und anseine eigenen Verfehlungen in einer Welt voller nationaler Animo-sitäten. Miljenko Jergović zeigt sich in Freelander wieder als Sprach-künstler voller fulminanter Erzählfreude. Mal melancholisch, malurkomisch sinniert er über die menschliche Dummheit und denSinn des Lebens.

DER AUTOR

Miljenko Jergović, geboren 1966 in Sarajevo, lebt in Zagreb. Erarbeitet als Schriftsteller und politischer Kolumnist und ist einerder großen europäischen Gegenwartsautoren. Sein Werk ist inzahlreiche Sprachen übersetzt. Im Heyne Taschenbuch Verlag sindbereits seine Romane Buick Rivera und Das Walnusshaus erschienen.

LIEFERBARE TITEL

Buick Rivera – Das Walnusshaus

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Miljenko Jergović

Freelander

Roman

wIlHElM HEynE VErlagMüncHEn

Aus dem Kroatischenvon Brigitte Döbert

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Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 05/2011copyright © 2007 by Miljenko Jergović/actes Sud

copyright © 2010 der deutschen ausgabe by Schöffling & co.Verlagsbuchhandlung gmbH, Frankfurt am Main

copyright © 2011 dieser ausgabe bywilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe random House gmbHPrinted in germany 2011

Umschlaggestaltung: © nele Schütz Design, München unter Verwen-dung der gestaltung der Schöffling & co.

Verlagsbuchhandlung gmbHDruck und Bindung: ggP Media gmbH, Pößneck

ISBn: 978-3-453-40852-4

www.heyne.de

Verlagsgruppe random House FSc-DEU-0100Das für dieses Buch verwendete FSc®-zertifizierte Papier

Holmen Book Cream liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden.

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Da sieht man, wie sich alles gegen einen kehrt!«,sagte Professor Karlo Adum, als der Postbote

gehen wollte. Der hätte sich nur verabschieden brau-chen, mit der Rechten wie ein Fähnrich a. D. an dieSchläfe tippen und zum Aufzug drehen müssen, aberder Professor gab sich nicht geschlagen, sondern wie-derholte die Formel zum dritten oder vierten Mal: »Dasieht man, wie sich alles gegen einen kehrt!«, und da-nach konnte der Postbote nicht fortgehen, sondernmusste warten, bis die Zeit wieder reif war, bis sichSeufzer und Achselzucken aneinandergereiht hatten,Augenbrauen und Mundwinkel wenigstens drei Mal indie Höhe geschnellt waren, so wie alte Männer ihr Bei-leid bekunden oder die Neuigkeit von einem Tumor inder Prostata erzählen, der vielleicht keiner ist, die Ärztehaben ja keine Ahnung, trotzdem gehen die Augen-brauen hoch, wenn es ein Tumor ist und wenn derTumor wächst und wenn es da unten auf- und wiederzugemacht wird, denn dafür gibt es keine Worte, undWorte lassen sich nur vermeiden, indem sich die Augen-brauen heben und senken, und wenn Augenbrauen-zucken olympische Disziplin würde, wären unsere LeuteOlympiasieger, vor allem die Bewohner der Hochhäu-

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ser in Novi Zagreb und unter denen wiederum vor allemdie Rentner.

Der Postbote, der Adum seit gut fünfundzwanzigJahren kannte, weil er seit fünfundzwanzig Jahren diePost in Zapruđe austrug, hatte ihm nie seinen Namengesagt, und es interessierte Karlo Adum auch nicht.Falls ihm je der Gedanke gekommen sein sollte, dassdieser schnauzbärtige Mann aus dem Dorf Tržić, VukKaradžićs Geburtsort, einen Namen haben musste,hätte er es wohl für unanständig gehalten, ihn danachzu fragen. Vor allem nach 1990. Einem aus Tržić konntedie Frage nach seinem Namen nur unangenehm sein.Deswegen blieb der Postbote besser der Postbote, alsden er ihn all die Jahre kannte, ihn und Ehefrau Štefaaus Križ sowie die drei Töchter Dubravka, Jadrankaund Planinka, die er noch nie gesehen, von denen er abergehört hatte, und zwar nicht nur vom Postboten, son-dern auch von den Nachbarn, denen es nicht passte, dassder Postbote mit Štefa für zwei Monate wegen seinerKnieprobleme zur Kur ging und von einem Alkoholi-ker vertreten wurde, der jeden Brief falsch einwarf undsich damit herausredete, auf den Briefkästen stündennicht die Namen der jetzigen Bewohner, sondern vonMenschen, die 1968 hier eingezogen waren, manchmalsogar von Menschen, die hier nie gewohnt hatten, aberweil der Postbote auch so wusste, wo wer war, warendie Namen nicht notwendig; den eigenen Namen amBriefkasten empfanden die Leute als Gipfel der Indis-kretion. Kehrte der Postbote jedoch nicht aus der Kur

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zurück, müsste er wegen der Knie in Frührente, dannwäre jeder Bewohner des Hochhauses gezwungen, sei-nen Nachnamen für alle sichtbar anzubringen. Davorgrauste den Leuten. Herr Apostolovski aus dem zwei-ten Stock, ein pensionierter Arzt, der früher im Militär-krankenhaus gearbeitet hatte, bat auf der Hauptpostum die Adresse des Briefträgers für den Bezirk Zapruđe.Eine Beschwerde? Nein, keinesfalls! Also eine Indis-kretion, bekam er zu hören. Lazari, der Taxifahrer, klap-perte mit dem Auto auf der Suche nach dem Postbotenund seiner Štefa an einem Wochenende sämtliche Kur-bäder ab, um dem Mann alle erdenkliche Unterstüt-zung der Bewohner des Hochhauses sowohl in medizi-nischer wie in jeder anderen Hinsicht anzubieten, auchjedwede finanzielle Unterstützung, damit er nur ja nichtdie Erwerbsunfähigkeit beantragte. Natürlich fand erihn nicht, denn der Postbote war in Bizovačke Toplice,und wie hätte er ihn da finden sollen, wo doch Aposto-lovski gesagt hatte, Bizovačke Toplice sei nicht fürKnieprobleme. Am Ende kehrte der Postbote gesundund wie neugeboren zurück. Alle freuten sich. AuchKarlo Adum und seine Frau Ivanka, obwohl die Be-schriftung ihres Briefkastens – Adum-Schwartzer – dietatsächlichen Verhältnisse widerspiegelte und sie nichtszu befürchten hatten, sollte eines Tages ein anderer Brief-träger eingesetzt werden.

»Da sieht man, wie sich alles gegen einen kehrt!«,wiederholte Karlo Adum zum vermutlich siebten Malund ließ den Postboten endlich seines Weges ziehen.

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Es war Freitag, in der Hand hielt er ein ungeöffnetesTelegramm, er wird es später auf den Küchentisch legenund sicher nicht vor dem Abendessen öffnen. Die meis-ten Menschen fürchten sich vor Telegrammen, weil siesich vor Tod, Krankheit und Unglück fürchten. Einegesegnete Minderheit freut sich über Telegramme, weilsie Telegramme erwartet, die alle Alltagssorgen fort-pusten. Karlo Adum war das Telegramm gleichgültig,und so vergaß er es, tja, das Leben hatte sich eben gegenihn gekehrt.

Es fing damit an, dass der 31. Dezember 2005, wieihm schriftlich mitgeteilt wurde, sein letzter Arbeitstagwar. Er hätte mit Schuljahresende gehen sollen, aberKarlo nutzte sein gesetzliches Recht, bis zum Ende desKalenderjahres zu bleiben, in dem er das vierzigste Jahrim Arbeitsleben stand. So hieß das offiziell.

Die letzten vier Monate verbrachte er entweder imLehrerzimmer oder in der Schulbibliothek und gab kei-nen Unterricht, und seine Kollegen nahmen ihn schonnicht mehr wahr. Als er sein Fach im Lehrerzimmerausräumte, stand der Tisch hinter ihm voller Saft- undCoca-Cola-Flaschen, Plastikbechern, einem Teller mitaufgeschnittenem Schinken, der wie ein Chemielaborroch, und ekligem Gummikäse, so bleich wie ein Kin-dertod. Man stieß auf das neue Jahr an, laut schreiendgingen die Lehrer der Abschlussklassen ein und aus, dieMusiklehrerin, Magda Simić, eine alte Jungfer aus Ku-tina, schüttete sich Heidelbeersaft auf die weiße Bluseund brach vor allen Leuten in Tränen aus, der Rektor

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tröstete sie und schüttete Salz aus einer Schachtel mitder Aufschrift Soda-Salz Tuzla auf den Fleck, wie derAlbaner vor dem Spiel am Sportplatz gekochte Mais-kolben salzt und dabei freundlich lächelt, damit ihn dieFans der ortsansässigen Mannschaft nicht verprügeln.Genau so salzte der Rektor die verweinte Lehrerin, Salzzieht alle Flecken heraus, glauben Sie mir, liebe Kolle-gin, und lächelte sie mit der Ergebenheit des Opfers an.Karlo sah ihn, während er seine Sachen in einen Kofferpackte, hin und wieder an und genoss es, dass der Rek-tor seine Blicke nicht bemerkte. Endlich konnte ersehen, was ihm jahrelang entgangen war, wie der rasendeVorspann japanischer Filme.

Als er sich verabschiedete, erwiderte niemand seinenGruß. Sie dachten, Kollege Adum würde seine Sachenins Auto tragen und dann noch einmal hochkommen.

Drei Monate später, Ende März, hatte Ivanka die ers-ten Schwindelanfälle. Sie verstummte mitten im Satz,griff sich an die Stirn, als hätte sie etwas vergessen. Ne-ben dem Herd stand ein Stuhl bereit, auf den setzte siesich, wenn ihr, während sie die Polenta rührte, schwarzvor Augen wurde, ganze Galaxien rasten durch diesesSchwarz, ganze Zeitalter und Blumentöpfe mit Stief-mütterchen.

»Das ist die Frühjahrsmüdigkeit«, tröstete sie ihn,der sich Sorgen machte, »das ist bloß die Frühjahrs-müdigkeit.«

Dann ging sie ins Krankenhaus, um sich gründlichuntersuchen zu lassen, bekam über Beziehungen einen

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Platz im Rebro. Karlo fuhr nach Hause, um ihr einNachthemd, Toilettensachen und etwas zum Lesen zuholen – er packte Doktor Schiwago ein, den hatte siezum letzten Mal 1977 in Podaca am Meer gelesen –,aber in der Stadt war viel los, der Verkehr war wegendes Besuchs eines amerikanischen Politikers zusammen-gebrochen, und er brauchte lange, bis er wieder im Kran-kenhaus war, volle zwei Stunden, und als er es endlichgeschafft hatte, reichte ihm Doktor Sremec die Handund sagte:

»Es tut mir leid, lieber Professor, Ihre Frau ist vonuns gegangen!«,

und in diesem Moment hatte Professor Adum denEindruck, dass nicht zwei Stunden, sondern mindes-tens zwei Jahre seit ihrem Abschied verstrichen waren,und fühlte sich schuldig, weil er Ivanka so lange alleingelassen hatte.

Dann war die Beerdigung, Männer mit grauen Anzü-gen und Krawatten liefen durchs Haus, überwiegendalte Männer, und Frauen mit schwarzen Lacktaschenund grauen Haaren, die bläulich wie das Meer vor Visschimmerten, ein tiefes Meer voll blinder, hässlicherFische, und alle umarmten den Witwer, als wollten siesich von ihm verabschieden, als würde er dem Sarg indie Dunkelheit des Krematoriums nachspringen undsich mit dem lautlosen Aufzug ins Feuer begeben. Inden Tagen danach riefen sie an, fragten nach seinem Be-finden, luden ihn zum Mittagessen ein, es war die Jah-reszeit, in der man gern kräftige Rinderbrühe kocht,

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aber er schützte unaufschiebbare Termine oder eineReise nach Split vor, bis die Einladungen seltener wur-den, das Telefon tagelang nicht klingelte, er ging zumSupermarkt Brot kaufen und keinen Schritt weiter, undeines Tages hatten ihn alle vergessen. Auch für dieNachbarn auf derselben Etage wurde er unsichtbar. Erlief an ihnen vorbei wie der Schatten des Maurers, derbei dem Bau des Hochhauses tödlich verunglückt war.Nur der Postbote war ihm geblieben.

»Du bist aus Vuks Heimat, du kannst dir sicher vor-stellen, was das heißt, wenn sich das Leben verkehrt«,er drückte ihm die Hand, und der Postbote lachte underwiderte etwas und beides so laut, dass es durchs Trep-penhaus hallte und die Lider hinter den Spionen zusam-menzuckten.

Karlo Adum, pensionierter Gymnasiallehrer für Ge-schichte, lag auf dem Sofa und las Zeitung. Der Ton amFernseher war abgedreht, der amerikanische Präsidentbewegte stumm die Lippen, der Fernfahrer lag auf demLenkrad, während Blut über sein Gesicht floss, durchdie zerschossene Scheibe sah man Wüste und eine paläs-tinensische Fahne, über Kroatien wechselten sich Sonneund weiße Schäfchenwolken ab, neben Kroatien gähnteein dunkler, gesichtsloser Abgrund in Form von Bos-nien, über dem es weder Sonne noch Wolken gab, dieSpieler von Dinamo Zagreb fielen sich gegenseitig umden Hals, die Skiläuferin Janica Kostelić hatte ein Kinnwie der Boxer im Trickfilm, Frauen aus Šestine ließen ineinem Werbefilm aus der Zeit vor dem Zweiten Welt-

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krieg Regenschirme kreisen, und im Abspann drehtesich, anders als früher, als Karlo noch jung war, keinGlobus.

Bald sah er zum Bildschirm, bald in die Zeitung,während sich draußen zwischen den Hochhäusern vonNovi Zagreb die Dunkelheit herabsenkte und langsamdie Turopolje-Ebene verschlang.

Er schloss die Augen, hörte die Autos, die RichtungStadt fuhren, wo in Kürze das Nachtleben beginnenwürde, die Straßenbahnen, die über die Brücke rumpel-ten, weit entfernt krachten Schüsse und Gewehrsalven,die auf einen neuerlichen, wie auch immer gearteten,aber jedenfalls großen kroatischen Sieg hindeuteten.Wo wird denn freitags gespielt?, dachte ProfessorAdum, und dann überlegte er, ob es überhaupt Freitagwar oder nicht doch schon Samstag, der Fußballtag –die Demokratie unterschied sich in erster Linie dadurchvom Sozialismus, dass die Spiele der Fußballliga sams-tags und nicht mehr sonntags stattfanden –, nur umdann an das Telegramm zu denken, das er nicht aufge-macht, sondern in die Küche gelegt hatte, aber er warsich nicht mehr sicher, ob der Postbote wirklich einTelegramm gebracht hatte oder er sich das nur einbil-dete, dann döste er wieder ein, und sicher geisterte dasTelegramm durch seine Träume, bis es ihm gänzlichentfiel.

Professor Adum merkte sich Träume nicht. Und waser sich nicht merkte, das gab es nicht. So war er wie diemeisten Menschen mit ähnlich gelagerten Problemen

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davon überzeugt, dass er nicht träumte, wenn er sichschon an keinen Traum erinnern konnte.

Gegen halb drei wachte er auf.Er stand über der Kloschüssel und wartete auf den

Strahl, zog ab und ging in die Küche, um ein Glas Was-ser zu trinken, wartete, bis der Spülkasten voll war undwieder Stille herrschte, so dass er auf die nächtlichenGeräusche im Hochhaus lauschen konnte, das Schnar-chen, das Dauerweinen eines Kindes, den Lift auf demWeg nach oben oder unten, das Wasser in den Leitun-gen, Stimmen im Treppenhaus und wieder Stille, dienicht lange anhielt, weil irgendwo eine Klospülung be-tätigt wurde. Nachts rauschten ganze Niagarafälledurchs Hochhaus. Er horchte und dachte an die Men-schen, die in diesem Moment irgendwo ins Wassersprangen, in einen Fluss oder einen See oder ins Meer,Gott, wie viele mögen es sein, dort, wo es Tag ist, unddort, wo es Nacht ist, ertränken sich Menschen, und erhörte seelenruhig dem Wasser zu, das durch die Fall-rohre fließt oder gefangen in den Windungen der Heiz-körper gluckert.

Adum schaltete nicht das Licht ein, sondern saß imDunkeln, legte die Arme um die Knie und lauschte. Erwartete darauf, dass gegen vier die Wecker rasselten.Die weckten Frauen, die ihren Männern die ersten mor-gendlichen Antibiotika verabreichten, dann die Herz-mittel und all die Medikamente, die den Menschen einlanges Sterben ermöglichen. So dachte Professor Adumdarüber. Und so hatte er im Lehrerzimmer geredet,

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denn solche Dummheiten mochte Ivanka nicht hören,bis es eben so gekommen war, dass er keinem mehr etwaserzählen konnte.

Gegen elf klingelte der Postbote. Er öffnete undwollte die Post in Empfang nehmen. Aber der Postbotekam mit leeren Händen.

»Ist was Schlimmes passiert?«»Keine Ahnung … wo denn?«»Na, bei Ihnen.«»Nein, Gott bewahre, wie kommen Sie darauf?«»Ich dachte nur …«»Kommen Sie doch herein, wollen Sie einen Schnaps?

Sie sind ganz blass, schwerer Tag.«»Nein, ich wollte nur sehen, ob mit Ihnen alles in

Ordnung ist.«»Aber warum soll denn nicht alles in Ordnung sein?«»Wegen dem Telegramm, dachte ich … Ob Sie was

brauchen.«»Ach, gut dass Sie mich daran erinnern, das habe ich

noch gar nicht aufgemacht.«Postbote und Professor saßen auf dem Balkon, der

Postbote trank Schnaps, kroatischen Kräuterschnaps,Travarica, der noch vom verstorbenen Dominis stammte,dem Kroatisch- und Literaturlehrer, der mit der Pen-sionierung nach Jelsa gezogen war und dort Jahr fürJahr Schnaps gebrannt und mit Heilkräutern eingela-gert hatte, bis man ihn eines Tages tot auffand. Er warwie Ivanka zwischen Galaxien, Zeitaltern und Stief-mütterchen gestorben. Der Postbote trank schon im

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zehnten Jahr Dominis’ Travarica, wann immer ihn Pro-fessor Adum auf ein Gläschen einlud, und bekam zuWeihnachten und Ostern je eine Flasche geschenkt, undtrotzdem waren die Vorräte noch nicht einmal zur Hälfteaufgebraucht, so viel Schnaps hatte der Verstorbene aufVorrat gebrannt.

Der Professor hielt das Telegramm und wundertesich:

»Tadija Melkior Adum, ja, stimmt, das war mein On-kel, und ob dieser Teufel mein Onkel war, der ältereBruder meines verstorbenen Vaters, Ilija BaltazarAdum, aber wissen Sie, ich bin sechsundsechzig, ich binein alter Mann, meinen Vater hat Gott mit nicht einmalzweiundfünfzig zu sich gerufen, und ich soll glauben,dass sein älterer Bruder jetzt erst gestorben ist? Er warfünf Jahre älter! Wenn ich richtig rechne, wäre meinVater jetzt siebenundneunzig, das heißt, Tadija wärehundertzwei geworden. Sie können sagen, was Sie wol-len, da hat sich doch jemand einen üblen Scherz erlaubt.Oder jemand will mich hereinlegen. Die Zeiten sindso, Menschen sind zu allem fähig. Man kann nicht vor-sichtig genug sein, mein Lieber!«

»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«,fragte der Postbote.

»Das ist das nächste Problem. Ich habe ihn nie kennengelernt. Die beiden zerstritten sich kurz nach meinerGeburt, da war ich vielleicht ein halbes Jahr alt. Das warmehr als ein Streit, da ist Blut geflossen, die haben imTreppenhaus mit Pistolen und Äxten rumgefuchtelt

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und mein Vater hat dabei den Daumen der rechten Handverloren. Können Sie sich das vorstellen, wenn derDaumen weg ist? Das ist wie wenn Sie keine Hand mehrhaben, nur ein bisschen schlimmer, weil Sie die vier Fin-ger ständig daran erinnern, dass Sie mit denen nichtsmehr anfangen können. Mein Vater hat so lange mit denFingernägeln über die Küchenwand gekratzt, bis sie ge-blutet haben. Der fehlende Daumen hat ihn letztlichumgebracht. Wie ein Hund ist er verreckt, nur weil ernicht wusste, was er mit seinen Fingern anfangen soll.Er hätte bestimmt noch zwanzig, dreißig Jahre gelebt,wenn ihm der Bruder auch die Finger abgehackt hätte.«

»Worüber haben sich die beiden gestritten?«»Ich weiß es nicht, darüber wurde zu Hause nicht ge-

redet.«»Hat er den Bruder manchmal erwähnt?«»Ja, natürlich. Er erzählte, wie sie sich während des

Ersten Weltkriegs in dem schlimmen Winter 1915, alsihnen das Holz ausging und der Großvater in Galizienkämpfte, unter der Bettdecke warmgehalten haben. Siestellten ihre Fußsohlen aneinander und strampeltendann mit den Beinen, als würden sie Fahrrad fahren. Sieradelten nach Amerika, nur sie beide, aber sie kamen niean, weil sie immer vorher einschliefen. Viele Kindersind in diesem Winter im Schlaf erfroren, aber die bei-den hat das Fahrradfahren gerettet, nicht so sehr Feder-bett und Steppdecke. Als ihnen die Mutter, also meineGroßmutter Anka, erklärte, dass man nicht mit demFahrrad nach Amerika fahren kann, sind beide krank

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geworden, sie haben Diphtherie und Keuchhusten be-kommen und nur knapp überlebt. Zum Glück kamdann bald das Frühjahr. Das hat mein Vater über OnkelTadija erzählt. Auch in seinen anderen Geschichten warTadija noch ein Kind, der geliebte große Bruder, der ihnbeschützte und mit nach Amerika nahm.«

»Und er hat nicht erzählt, was später vorgefallenist?«

»Nein, nie.«»Seltsam, dass er nicht von dem Erwachsenen gere-

det hat.«»Geredet hat er von ihm, ihn aber eigentlich immer

nur verflucht. Die Augen sollen ihm herausfallen, soller doch statt Finger lauter Daumen haben, die Nägelsollen ihm in die Zunge und in das Ding zwischen denBeinen wachsen … So ein Zeug hat er erzählt, währender mit den Fingernägeln die Wand bearbeitete. DemÄrmsten fielen noch nicht einmal gute Flüche ein, erredete zusammenhangloses, dummes Zeug, vor demsich kein Kind gefürchtet hätte. Aber er hat gekratzt, erhat gekratzt, bis die Nägel an der nutzlosen rechtenHand nicht mehr nachwuchsen. Es hat Jahre gedauert,bis ich begriff, wen er da verflucht hat. Er vermischtedie Kindergeschichten von seinem älteren Bruder niemit dem erwachsenen Tadija Adum. Und wenn er vonTadija, dem Teufel, erzählte, dachte er nie an den Bru-der.«

»Hat sich der Onkel je nach Ihnen erkundigt?«»Soviel ich weiß, nicht. Wenn doch, hat es mir meine

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Mutter nicht erzählt. Sie ist vor fünf Jahren gestorben,und bis dahin hat sie ihn insgesamt vielleicht zwei-,dreimal erwähnt. Und zwar nur, wenn ich sie zufälligwährend der Abendnachrichten im Altenheim besuchteund da Bilder vom belagerten Sarajevo gezeigt wurden,dann sagte sie: Jetzt kriegt der alte Teufel, was er ver-dient hat, es gibt einen Gott! Dann bekreuzigte sie sich,und das versetzte mir einen Schlag. Im Fernsehen siehtman, wie in den Straßen einer Stadt Blut fließt, und siepreist Gott dafür. Einfach war das nicht.«

»Bestimmt nicht!«, bestätigte der Postbote und ge-nehmigte sich noch einen Travarica.

So saßen sie auf dem Balkon, es war Mittag vorbei,aber die Sonne brannte nicht mehr, es war Ende Augustund die Jahreszeit zwischen Sommer und Herbst brachan, in der sich der Mensch am wohlsten fühlt. Schließ-lich sah der Postbote auf die Uhr, stand auf und ging mitjenem Stöhnen zur Tür, das auch als Verabschiedungdurchgeht, und Professor Adum rutschte tiefer in denLiegestuhl und hielt das Gesicht in die Sonne. Er hättebis zum Abend so liegen können und weder gefrorennoch geschwitzt. Man hörte das Geschrei vom Schulhof,ein paar Jungs spielten Fußball, einer brüllte: »Sascha,Sascha, ach fick dich, Sascha«, wie in einem Film überIllegale, in dem man bis zum Schluss nicht weiß, obSascha nun ein Mann oder eine Frau ist. Vom Markt inUtrina drang der Geruch von Čevapčići und Benzin he-rauf, und irgendwo röhrte ein Lkw, der sich in einerGasse verkeilt hatte und nicht wenden konnte, und das

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beunruhigte den Professor, denn er hatte seinen altenVolvo vor dem Markt geparkt, und dort wendeten dieLkws häufig.

Er stand auf und sah hinunter. Vom sechzehntenStock aus sollte man alles sehen, aber er konnte nichtorten, aus welcher Richtung das Motorengeräusch kam;der Lkw war von Bäumen verdeckt.

Er zog Schuhe an, warf einen Blick in den Spiegel,strich über den Schnauzer und ging hinaus. Es dauerte,bis der Aufzug kam, auch darüber regte er sich ein wenigauf. Vor dem Haus klaubten Kinder leere Flaschen auf.

»Onkelchen, Onkelchen!«, rief ein Junge hinter ihmher. Der Professor drehte sich um, die Kinder lachtenund zeigten mit dem Finger aufeinander: »Der war’s,der war’s!« Mindestens ein Dutzend Kinder, vielleichtmehr, als wären sie klassenweise zur Reinigungsaktionausgerückt. Er sah zu ihnen hin, wollte sagen, sie solltensich schämen, brachte aber nichts heraus. Er gähnte wieein Karpfen in der Fischabteilung beim Filetieren, unddann rutschte ihm heraus:

»Ihr scheißungezogenen Bengel!«Er erschrak über seine eigene Stimme – hoffentlich

hatte ihn keiner der Nachbarn gehört –, drehte sich umund wechselte die Straßenseite. Die Kinder lachten inseinem Rücken. Waren da nur Jungs oder waren esMädchen oder beides? Komisch, dass ihm in letzterZeit solche Sachen entgingen.

Der Volvo stand so da, wie er ihn vorgestern bei derRückkehr aus der Stadt abgestellt hatte. Orangefarben,

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Originallackierung, Baujahr 1975, unfallfrei, ersterHalter … Vor einem Jahr hatte er versucht, ihn zu ver-kaufen, aber als ihm so ein Schnösel zweihundert Eurodafür anbot, nahm er davon Abstand und meldete sichnicht mehr auf Anzeigen. Er wollte mindestens drei-bis viertausend für den Wagen bekommen. Es war eingutes Auto, zuverlässig, es ließ einen nie im Stich. Alldie Jahre hatte er ihn gepflegt, zweimal pro Jahr großeInspektion machen lassen, regelmäßig den Ölstandgeprüft, war immer nur auf asphaltierten Straßen ge-fahren und nie schneller als hundertdreißig … DerVolvo schaffte durchaus hundertsechzig, hundertsieb-zig, aber der Professor glaubte fest, dass ein Auto wieein gutes Pferd war, das im lockeren Trab die halbe Weltumrundet, das man aber nur in Todesgefahr oder wenndie eigene Frau in den Wehen liegt im Galopp reitendarf. Der Professor hatte sich nie in Todesgefahr befun-den und Frau Ivanka, Gott sei ihrer Seele gnädig, konntekeine Kinder haben, und so war der Volvo nie schnellerals hundertdreißig gefahren, er hatte ihn nur im Trabgeritten und dreißig Jahre und manches Jahr darübererhalten. Jetzt aber standen sich Halter und Auto gegen-über, beide alt und müde, an dem einen zerrte bereitsdie Schwerkraft des Grabs, während das andere angeb-lich nur noch zweihundert Euro wert war, kaum so vielwie die beiden Tankfüllungen, die er 1975 nach Stock-holm benötigt hatte, dem Venedig des Nordens, wohinder Professor und Frau Ivanka auf Einladung von TanteSilva gefahren waren, der Witwe des Feldmarschalls

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Pozaić, dessen Namen man in Briefen nicht erwähnendurfte, weil er auf dem Bild einer Militärparade zu se-hen war, wie er Pavelić auf einem Schimmel mit ge-zücktem Säbel im Namen des früheren kroatischenOberkommandos der Truppen an Isonzo und PiaveMeldung erstattet, pensionierter österreichisch-unga-rischer Offiziere, siebzig-, achtzigjähriger Greise, de-nen der Poglavnik mit der Umbenennung in Reserve-verband des kroatischen Heeres oder wie das damalshieß eine Ehre erwies, und auch wenn sich der altePozaić während des Bestehens des unglückseligen Staa-tes nie wieder in einer Uniform oder in der Nähe derUstascha blicken ließ, packte Tante Silva wegen diesereinen, auf der Titelseite der Spremnost veröffentlichtenFotografie beim Anmarsch der Partisanen solche Furcht,dass sie den Greis bis nach Schweden und Stockholmins Exil trieb, wo der Feldmarschall in den sechzigerJahren mit hundert Jahren starb, woraufhin Tante SilvaHeimweh nach Zagreb bekam, sich aber nicht zurück-traute, obwohl sie niemandem etwas getan hatte, son-dern lieber die Neffen und Nichten, die es Gottseidankgab, nach Stockholm einlud und in ihrer großen, hellenWohnung direkt an einem Kanal unterbrachte, auf demEnten, Schwäne und andere Wasservögel schwammenund ins Fenster schauten, als wollten sie sich vergewis-sern, dass dort Gäste aus dem fernen Süden weilten.

Er stand vor dem Markt, betrachtete den Volvo undfand es unfassbar, dass der gerade mal so viel wert seinsollte wie das Benzin bis Stockholm. Wesentlich teurere

Page 24: Freelander - bilder.buecher.de · ›10‹ Es war Freitag, in der Hand hielt er ein ungeöffnetes Telegramm, er wird es später auf den Küchentisch legen und sicher nicht vor dem

UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Miljenko Jergovic

FreelanderRoman

ERSTMALS IM TASCHENBUCH

Taschenbuch, Broschur, 240 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-453-40852-4

Heyne

Erscheinungstermin: April 2011

Karlo Adum, pensionierter Geschichtslehrer aus Zagreb, wird zu einer Testamentseröffnungnach Sarajevo zitiert. Widerwillig setzt er sich in seinen alten Volvo und macht sich auf dieReise. Während der abenteuerlichen Fahrt steigen bittersüße Erinnerungen in ihm hoch – anseine grausame »Mama Cica«, den verrückt gewordenen Vater und seine eigenen Verfehlungenin einer Welt voller nationaler Animositäten.