georg friedrich 6iii 2 · 2021. 2. 17. · georg friedrich haas in vain werkdaten martina seeber:...
TRANSCRIPT
PURCELLHAAS
202 1
mus
ica
viva
Her
kule
ssaa
l der
Res
iden
z M
ünch
en
Sais
on
Hen
ry
Geo
rg F
ried
rich
III62
Konzert 21:30 Uhr
2021
Konzert HerkulessaalderResidenz Samstag,6.März2021,21.30h
Werkdaten,Texte
HENRYPURCELL Funeral Music of Queen Mary Werkdaten TextzuFuneral Music of Queen Mary MartinaSeeber:Zeit für das Wesentliche
GEORGFRIEDRICHHAAS in vain Werkdaten MartinaSeeber: Klang und Illusion jenseits von Raum und Zeit
Biographien HenryPurcell[23],GeorgFriedrichHaas[24] SirSimonRattle[25]
Nachweise/Impressum
091012
1718
22
29
Inhalt
Video Livestreamam6.März2021um21.30UhraufBR-KLASSIKConcert;imAnschlussauchabrufbar.
DasKonzertwirdaufgezeichnetundamDi.,den23.März2021(20.05Uhr)imRadioaufBR-KLASSIKgesendet.ImAnschlussandieseSendungkön-nenSiedenKonzertmitschnittnochinnerhalbvon30TagenüberdieWeb-sitewww.br-musica-viva.de/sendungenzumNachhörenaufrufen.
ErlebenSiedenmusica viva-KonzertabendauchimRadioaufBR-KLASSIK– mit Musik und vielen Hintergründen: KomponistInnen erklären ihreneuen Stücke, namhafte DirigentInnen berichten von der Probenarbeitmit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und hochka-rätigeInterpretenerzählen,wassieanderGegenwartsmusiksofasziniert.
0706
Samstag,6.März202121.30UhrHerkulessaalderResidenz
HENRY PURCELL [1659–1695]Funeral Music of Queen Mary fürChorundInstrumentalisten[1695]
MarschAnthem»Manthatisbornofawoman«CanzonaAnthem»Inthemidstoflifeweareindeath«Canzona[wiederholt]Anthem»Thouknowest,Lord«Marsch[wiederholt]
GEORG FRIEDRICH HAAS [*1953]in vainfür24Instrumente [2000]
MÜNCHNERERSTAUFFÜHRUNG
Zoro BabelLichtregie
Chor de s Bayerischen Rundf unks
Howard Arman Einstudierung
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Duncan WardEinstudierung
Sir Simon Rattle Leitung
musica viva musica viva
09
gemischterChor4Trompeten4PosaunenTruhenorgelRührtrommeln
Entstehungszeit: 1677–1695
DasanlässlichdesTodesderKöniginMary II.vonEngland(gestorbenam28.Dezember1694)komponierteWerkbestehtauseinemTrauermarsch,dreiFuneralSentences(Anthems)undeinerKanzone.
HenryPurcell[1659–1695]Funeral Music of Queen Mary fürChorundInstrumentalisten[1695]
1110
2.Manthatisbornofawoman[Hiob14, 1.2]
Manthatisbornofawomanhathbutashorttimetoliveandisfullofmisery.Hecomethup,andiscutdownlikeaflow’r;heflee’thasitwereashadow,andne`ercontinuethinonestay.
4.Inthemidstoflife
Inthemidstoflifeweareindeath;ofwhommayweseekforsuccourbutofthee,OLord,whoforoursinsartjustlydispleased?.Yet,OLord,mostmighty,OholyandmostmercifulSaviour,deliverusnotintothebitterpainsofeternaldeath.
6.ThouknowestLord
ThouknowestLord,thesecretsofourhearts;shutnotthymercifulearsuntoourprayer,butspareus,Lordmostholy,OGodmostmighty.OholyandmostmercifulSaviour,thoumostworthyJudgeeternal,sufferusnotatourlasthour,foranypainsofdeathtofallfromthee.Amen
TextzuFuneral Music of Queen Mary
2.DerMensch,vomWeibegeboren[Hiob14, 1.2]
DerMensch,vomWeibegeborenlebtkurzeZeitunsistvollerUnruhe.ErblühetaufundwirdzuStaubwiedasGras,erfliehetgleichwieeinSchattenundfindetkeineStattaufErden.
4.MittenwirimLeben
MittenwirimLebensinddesTods;beiwemmöchtenHilfwirfindendennbeidir,oGott,denunsereSchuldundSündeerzürnet?OduewgerGott,dustarkerallmächtiger,duheiligundbarmherzigerHerrundGottverlasseunsnichtinNotundbittrerPein!Herrerbarmedich!
6.Dukennst,oHerr
Dukennst,oHerr,verborgnesHerzeleid.NeigedeingnädigesOhrzuunsrerBitt,erhaltuns,Herr,schoneuns,oHeilger,oGott,duAllmächtiger!OheilgerundbarmherzigerHeiland,derduRichterbistaufewig,führeunsnichtinVersuchunginunsrerTodesstund,dasswirnichtfallnvondir.Amen
1312
undderChapelRoyal,komponiertegeistlicheWerke,Schauspielmusiken,OpernundeineFüllevonLiedern.Henry Purcells Trauermusik für die königliche Beerdigung, die heuteunterdemTitelderFuneral Music of Queen Maryzusammengefasstist,warjedocham5.März1695inLondonnichtindieserFormzuhören.DieFolgevonzweiInstrumentalstückenimWechselmitdreiAnthemshatsicherstspäterunterdiesemNamenetabliert.Tatsächlichwarwährendderfeier-lichenProzessiondurchdieStraßenundinderWestminsterAbbeywahr-scheinlich zunächst nur der von Zugtrompeten, Posaunen und Paukenintonierte, langsameMarschzuhören,derdenPulsunddieSchrittederMenschen so sehr verlangsamte, dass die Zeit fast still gestanden habenmuss.AuchdieStillebekommtindiesemMarscheinenRaum.Sieistbei-nahesogegenwärtigwiedieschlichtenBläserakkorde,diesichzuerstnurzögerlichverbinden,umdannlangsameineMelodiezuformen.Begleitetwird der Bläsersatz von einfachen Paukenschlägen. Im Manuskript sinddie Pauken verzeichnet, Ohren- und Augenzeugen berichten jedoch ein-stimmig,siedamalsgehörtzuhaben.In der Kirche erklangen dann, im Wechsel mit dem Marsch und einerebenfalls für Bläser und Pauke komponierten Canzona, die Sätze der angli-kanischenBeerdigungszeremonie.Sehrwahrscheinlichstammtenmindes-tens zwei dieser Anthems nicht von Purcell selbst, sondern von ThomasMorley. Nur ein Anthem (das sechste mit dem Titel Thou knowest Lord )hatte Henry Purcell, zusammen mit dem Marsch und der Canzona, fürdiesenAnlassneukomponiert.WennheutedieFuneral music of Queen Maryerklingt,sinddarinnurPur-cellseigeneKompositionenzusammengefasst.DasersteAnthemMan that is born of a womanerinnertinseinerkargen,aberwürdevollenSchlichtheitan den zuvor wahrscheinlich schier endlos wiederholten Trauermarsch,der ebenfalls in c-moll steht. Die Sänger lassen den ersten Satz (»DerMensch, vom Weibe geboren lebt kurze Zeit«) in aller Ruhe aufblühen.PurcelllässtdieStimmeneinenachderandereneinsetzenundfülltdamitden gesamten Ton- und damit auch Kirchenraum nach und nach miteinem dunkel leuchtenden Klang. Und wieder lässt der Komponist sich,seinen Sängern und Hörern Zeit für das Wesentliche. Nichts lenkt vonderBotschaftab.InallerSeelenruhezeichnendieStimmendasBildeinerBlume,dieplötzlichgeschnittenwird,oderbesingendenMenschenalsein
»Der Tod war zu Henry Purcells Zeiten mächtiger als heute, auch wenndiePandemieihmgegenwärtigwiedermehrSpielraumlässt.EswarendiePocken, auch Blattern genannt, die Englands Königin Maria II. im Altervonnur32JahrenkurznachWeihnachtendesJahres1694ausdemLebenrissen. Gegen die hoch ansteckende Krankheit gab es kein Mittel außerder Isolation der Kranken. Selbst ihre Schwester, mit der sie seit langementzweit war, durfte Queen Mary nicht noch ein letztes Mal sehen. NurfünfJahrezuvorhatteMarygemeinsammitihremEhemannWilhelmineinerinEuropaäußerstseltenenDoppelkrönungdenThronvonEnglandbestiegen. Im Laufe ihrer kurzen Regentschaft auch über SchottlandundIrlandhattesiesichzueinerüberraschendaktiven,selbstbewusstenKönigin entwickelt. Sie war es, die die Regierungsgeschäfte führte, wäh-rend ihrManninKriegsgeschäftenunterwegswar.Als sie starb, trafdasLandeinSchock,dervielleichtnurmitdemEntsetzenundderkollektivenTrauerverglichenwerdenkann,dendreiJahrhundertespäterderTodvonLadyDianaauslöste.IhrGemahlhätteMarygerneinkleinemKreisbeigesetzt,dochderöffent-licheDruckwarzuhoch.SowurdeihrLeichnam–ihrKörperwarzumZeitpunktdesTodesnichtmehrvomAusbruchderPockenentstellt–imFebruar 1695 öffentlich aufgebahrt, für den 5. März war die Trauerfeierangesetzt.Eswardieerste,beidersämtlicheMitgliederbeiderHäuserdesParlamentszugegenwaren.Für die musikalische Gestaltung des staatlichen Begräbnisses sorgte da-malseinKomponist,dermit35JahrenkaumälterwaralsdieverstorbeneKönigin.HenryPurcell,damalsunbestrittenderbedeutendsteKomponistEnglands, stand zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Höhepunkt seinerKarriere, er bekleidete das Amt des Organisten der Westminster Abbey
MartinaSeeber:Zeit für das Wesentliche
ZuHenryPurcellsFuneral music of Queen MaryfürChorundInstrumentalisten
1514
Mary,ebenfallsinderWestminsterAbbeybeigesetzt.Erstarbam21.No-vember 1695, ebenfalls in der Blüte seines Lebens. Auf seinem GrabsteinnebenderOrgelsteht:»HierliegtHenryPurcell,derseinLebenverlassenhat und an jenen gesegneten Platz ging, an dem einzig sein Wohlklangweiterbesteht.«
Schatten, der im Leben keine Ruhe findet. Das Aufblühen und Sterben,dasrastloseSchreitenundSuchenderSchattenbestimmendenCharakterdiesesAnthems.WievoneinemüberirdischlangenAtemgetragen,hebenund senken sich die Melodielinien. Wie in einer Endlosschleife vertontHenry Purcell das ruhelose Schreiten und Umherirren der Menschen indiesem-beiallerLangsamkeit–bemerkenswertkurzenGesang.AuchdaszweiteAnthemIn the midst of lifeisteineFeierderLangsamkeit,des Innehaltens, aber zugleich auch des Trostes. Wie ein Gegenpol zumTod,derinsLebeneinbrichtundesjähbeendet,vereinigensichdieStim-menzuBeginnineinemlangen,ruhigenFluss.PurcellentwirfteineVi-sion der Ewigkeit, fern des Alltags mit seinen drängenden Geschäften,SorgenundNöten.ErstimzweitenTeilsteigtderGesangchromatischaufundschärftsichzurAnklage,ohnezumTrostdesBeginnszurückzufinden.DasdritteAnthem,vonHenryPurcelleigens fürdieBegräbnisfeierlich-keiten inderWestminsterAbbeyneuvertont, lässtdieTrauermusikmiteinemSchimmerderHoffnungundZuversichtenden.IndieserFassungvon1695vonThou knowest, Lord vereinensichdieStimmenimRhythmuseineslangsamenMarsches.PurcelllässtindiesemgeradlinigenFortschrei-ten keine Zweifel an der Macht Gottes und der Verheißung des ewigenLebens.DassdieserjüngsteSatzkonservativergesetztist,magdaranliegen,dass sich Henry Purcell dem Stil der gewählten Anthems von ThomasMorleyanpasste,umdenZusammenhaltderBegräbnismusikennichtzugefährden.DassdiegewähltenundneukomponiertenWerkenichtwenigdazubei-trugen,dieGrablegungderjungenKöniginalseinbewegendeshistorischesEreignis zu unterstreichen, verraten die Berichte über die BeisetzungQueenMarys,dieimmerwiederdieMusikhervorheben:»Sobald die Prozession anfing, wurden die Kanonen vom Tower gelöst, unddamit, bis alles vorbei war, fortgefahren. In der Kapelle Heinrichs VII.wurde ein Baldachin aufgerichtet […] Man hörte den Klang einer Trom-mel, das Zerbrechen der Amtsstäbe aller Offiziere der Königin und dasHinabschleudern der Schlüssel ins Grab […] Nie wurde etwas ähnlichFeierlichesundGroßartigesgehörtwiedieTrauermusikvonMr.Purcell.«Seine Trauermusik gehört bis heute zu den bewegendsten Werken derMusikgeschichte. Elektronische Echos reichen bis in die Titelmusik vonKubricks Uhrwerk Orange. Der Komponist wurde, nur kurz nach Queen
17
2Flöten(beideauchPiccolo,2.auchBassflöte)Oboe2KlarinetteninB(2.auchBassklarinetteinB)SopransaxophoninB(auchTenorsaxophoninB)Fagott2HörnerinF2PosaunenSchlagzeugHarfeKlavierAkkordeonStreicher:3Violinen,2Violen,2Violoncelli,Kontrabass
Entstehungszeit: 2000Widmungsträger: SylvainCambrelingAuftraggeber: WestdeutscherRundfunk(WDR)Uraufführung: 29.Oktober2000imFunkhausdesWDRamWallrafplatzKölndurchdasKlangforumWienunterderLeitungvonSylvainCambreling
GeorgFriedrichHaas[*1953]in vain für24Instrumente[2000]
1918
SolldenndasSpilderZeitderleichteMenschbestehn?Ach!wasistallesdiß,waswirfürköstlichachten,AlsschlechteNichtigkeit,alsSchatten,StaubundWind,AlseineWissenBlum,diemannichtwiderfind’t.Nochwill,wasEwigist,keineinigMenschbetrachten!
Andreas GryphiusEs ist alles eitel,1643
Selten ist ein Jahrhundertwerk so früh ausgerufen worden wie im Fallvonin vain,dessenUraufführungimHerbst2000inKölnstattfand.Seit-her geht diese Musik für – je nach Blickwinkel – sehr großes Ensembleoder kleines Orchester um die Welt. Es sei ein »glühendes, pulsierendesStück«,indemKlangundIllusionnahbeieinanderliegen,sobeschreibtesSir Simon Rattle, auf den auch die euphorische Klassifizierung als einesderMeisterwerkedes21.Jahrhundertszurückgeht.Tatsächlichist in vaineineMusik,diedasPublikumnichtnurbuchstäb-lichdurchLichtundDunkelheit,sondernvorallemaufneues,unsicheresTerrainführt.DabeiistesausgerechnetdieFragenachdem»Neuen«undzugleichnachdemFortschritt,dieGeorgFriedrichHaasindengutsech-zig,zunehmendzeitvergessenenMinutengründlichdemontiert.in vain isteineKompositionüberScheinundSein.DerTitel,eineAnspielungaufdasbarockeMotivderVanitas,weistindierichtigeRichtung:insNichtsunddamitineineWeltjenseitsvonRaumundZeit,inderallemenschlichenVersuchedesFortkommenskeinenSinnergeben.Dabei beginnt in vain keineswegs dramatisch, sondern vielmehr feder-leicht, hell und perlend. Fast schwerelos versinken die Instrumente in zar-ten Abwärtsspiralen. Die Gleichzeitigkeit der widersprüchlichen Wahr-nehmungen – einerseits der Abwärtsbewegung, andererseits des Verhar-
rensimselbenRegister–stelltdenOrientierungssinnvondenerstenTaktenan auf die Probe. Georg Friedrich Haas komponiert eine Musik, die einGefühldesSchwindelsauslöst,dendieMedizinerauchmitdemlateini-schenBegriffdes»Vertigo«alsdieWahrnehmungeinerScheinbewegungzwischensichselbstundderUmweltbezeichnen.Und es ist nicht allein die Orientierung im Tonraum, die in vain außerKraftsetzt,indemesdieKategorien»hoch«und»tief«adabsurdumführt.ImscheinbarendlosenKreislaufverabschiedet sichderKomponistauchvom Gedanken des Fortschritts oder gar eines erreichbaren Ziels. GeorgFriedrich Haas vergleicht die klingenden Endlosschleifen mit MauritsC.EschersberühmterGrafikRelativity,indersichdasoberemitdemunte-ren Ende einer Treppe zu einem ewigen Kreislauf verbinden. Es ist einewidersinnigeTreppe,vondersichnichteinmalsagenlässt,obsieauf-oderabwärtsführt.Auchin vain isteinsolchesVerwirrspiel.EsistzudemeinSpiel,indemmanchmaldasLichtausgeht.DieMusikerspielenzeitweiseimDunklen,alleinaufihrenTast-undHörsinnangewie-sen.AuchfürdasPublikumändertsichdieWahrnehmung.InderFinster-niswandeltsichdasHörenund–nichtdavonzutrennen–dieEmpfin-dungen,seienesAngst,Unruhe,GlückoderauchEinsamkeit.DerRaumwirdnichtmehrmitdenAugen,sondernmitdenOhrenvermessen,viel-leicht auch mit dem Geruchs- oder Tastsinn oder über das Temperatur-empfindenderHaut.DieWachsamkeitgehtaufandereSinneüber.»ImmodernenLebengibteskeineNachtmehr,aberichglaube,dassunserKörper und unsere Seelen die Nacht brauchen«, urteilt Georg FriedrichHaasineinemGesprächmitderNew York Times.InseinerKunstversucheer,genaudiesesVerlangenzuerfüllen:»WennwirunsereAugenschließen,sinddieOhrenempfindsamer.VielleichthörenwirdannnichtmehrMu-sik, sondern eher Klänge.« Georg Friedrich Haas will die Nacht jedochnicht »in der Tradition einer missverstandenen Romantik idealisieren'oderzurIdyllestilisieren.AlsAbwesenheitvonLichtistdieNachtehereine Metapher für Ängste, verdrängte Vergangenheit, für Dinge, die wirnichtwahrhabenwollen,auchEinsamkeit.«[GesprächmitderVerfasserin,2001]Wennes imVerlaufderAufführungmehrmalsdunkelundwiederhell wird, geht es Haas jedoch nicht einfach nur um die temporäre Er-fahrung der Nacht. Die unvorhersehbaren Wechsel setzen zwar den ver-trauten Rhythmus von Tag und Nacht, von Wachen und Schlafen außer
MartinaSeeber:Klang und Illusion jenseits von Raum und Zeit
ZuGeorgFriedrichHaasin vainfür24Instrumente
2120
Kraft.Zugleich,soerklärterseineArbeitimRückblick,habeermitdemmanchmalnurkurzaufblitzendenLichtgespielt»wiemiteinemstummenSchlaginstrument.«Wennesin in vainzumerstenMaldunkelwird,ver-langsamensichdieBewegungen,dieMusikstehtaberkeineswegsstill.Sieschwankt. Selbst minimale Bewegungen im Tonraum erscheinen größeralsdieinderHelligkeitwährendderunentwegtenTreppenläufezurückge-legtenEntfernungen.SirSimonRattleerinnerndieseWahrnehmungsver-änderungen an die wundersamen Erlebnisse von Alice im Wunderland.MelodienverschwindeninimmerneuenKaninchenlöchern,KleineswirdgroßundGroßesklein,LangsamesschnellundumgekehrtSchnelleslang-sam.DassdieMusikimDunklenaberauchmessbarlangsamerwird,hatganzpraktischeGründe.OhneNotenundohneBlickkontaktzumDirigentenspielt das Orchester auswendig und verlässt sich beim ZusammenspielalleinaufsHören. IndiesenPhasenmüssendiemusikalischenGestalteneinfacher,leichterzuerinnernundzukoordinierensein.MitderVerlage-rungderAufmerksamkeitvondenanfangsvielstimmigenTreppenläufenaufKlangaggregateverschiebtsichderFokusinderNachtphasezugleichauf die Harmonik. Das eigentümliche Leuchten der KlangmischungenresultiertnichtnurausderInstrumentierung.GeorgFriedrichHaasarbei-tetmitMikrointervallenundden,vondertemperiertenKlavierstimmungabweichenden,natürlichenObertönenderBlas-undStreichinstrumente.Auch solche minimalen Abweichungen vom vertrauten System könnenverunsichern.DiewinzigenBewegungendurchdenTonraumlassenklei-ne Distanzen weit erscheinen und öffnen daher oft überraschend großeRäume. Wenn statt Halb- oder Ganztönen plötzlich viele kleine Ton-schritteaufeinanderfolgen,kannderEindruckentstehen,sieführteninsBodenlose.ImZusammenklangderMikrointervalleentstehenaußerdemneueKlangfarben.DieHarmonienkönnenverbogenwirken,zugleichaberaucheinenorgiastischenReichtumentfalten.in vainisteineKomposition,inderesnichtumdielogischeEntwicklungmusikalischer Gedanken oder gar den Gedanken des Fortschritts geht.Alleskannsichverändern,unddiemeistendieserVeränderungenschei-nensichimKreiszubewegen.»Nohaycaminos,haychecaminar«(EsgibtkeineWege,dumussnurgehen)–dieseSentenz,mitderKomponistLuigiNonoeinengroßenAbgesangaufdenFortschrittüberschrieb,trifftauch
denKernvon in vain.AllerdingsschließensichwederdieMusik,nochdieZeitjemalszumKreiszusammen,auchwenneshier–wiebeiMauritsC.Escher–soscheint.DieVerläufebewegensichinSpiralen.MansteigtebenniemalsindenselbenFluss.AbervielleichterreichtmanauchniemalseinZiel.Einsolches,ziellosesWandernbrauchtZeit.in vainisteineMusik,diesichlangsam entwickelt. Es gibt Phasen, in denen die Klänge, von Fermatengetrennt,imRaumschwebenwieeinriesigesMobile.AlleEntwicklungenvollziehen sich jedoch organisch, als sei das Orchester ein schillerndesLebewesen. Unablässig ändern sich Farben und Texturen, dünnen sichaus,bisdieFädenbeinahereißenodersichzuopulentenMassenklängentürmen.GeorgFriedrichHaasliebtdieÜberwältigung.Sichkleinundver-lorenzufühlen,seieszwischenzitterndenKlangflächeninderDunkelheitoder angesichts immer höher sich auftürmender Klangbewegungen, diesich üppig verdichten, verbreitern oder in unbekannte Räume verbie-gen,gehörtzudenGrunderfahrungenbeimHörenvon in vain zwischenErhabenheitundNichtigkeit.»Ach!wasistallesdiß,waswirfürköstlichachten/AlsschlechteNichtig-keit,alsSchatten,StaubundWind…«schriebderBarockdichterAndreasGryphiusüberdieVanitas.WährendderArbeitanin vainversenktesichGeorgFriedrichHaasjedochnichtnurindiebarockeWeltdesSeinsundScheins.DasWerkisteineProtestmusikgegendenErfolgderRechtspopu-listenbeidenWahlen1999inÖsterreich,obwohldasStückfürdieRechteneigentlichvielzuschöngeratensei,wiederKomponistschließlicheinräu-menmusste.AlsProtestmusikimSinnepolitischerAgitationeignetsichin vainohnehindenkbarschlecht.EheralsAusdruckvonVerunsicherung,Enttäuschung und als Warnung vor dem bedingungslosen Vertrauen aufdenFortschritt.
23
HenryPurcell[1659–1695]
Henry Purcell ist der letzte in der langen Reihe großer englischer Kom-ponisten vom Ausgang des Mittelalters bis zum 17. Jahrhundert. PurcellsLebens- und Schaffensumstände waren eng mit dem englischen Königs-haus verbunden, so dass sich die teils turbulenten politischen Entwick-lungen unmittelbar auf ihn auswirkten. Dies gilt auch schon für seinenVaterundseinenOnkel,diebeide 1660 indieköniglicheHofkapelle,dieChapelRoyal,berufenwurden,alsdiesenachderBeendigungdesBürger-kriegs und der Thronbesteigung Karls II. von Neuem aufgebaut wurde.NachdemfrühenTodvonPurcellsVaternahmsichseinOnkeldesWaisenanundförderteseinenmusikalischbegabtenNeffennachKräften.Purcellwurde schon im Kindesalter als Chorknabe in die Chapel Royal aufge-nommen,woereineausgezeichnetemusikalischeAusbildungerhielt.ImAlter von 18 Jahren übernahm Purcell sein erstes offizielles Amt in derHofkapelleundstiegvondaanstetiginderHierarchieauf.Seit1680nah-mentraditionelleFormenenglischerRepräsentationsmusik,insbesondereOdenundKompositionenfürFestgottesdienste,breitenRauminseinemSchaffenein.Nachder»GloriousRevolution«von1688undderanschlie-ßendenKrönungWilhelmsIII.vonOranienwurdederAufwandfürdieMusikamHofreduziert.PurcellerhieltzwarweiterhinAufträgefürbeso-ndereAnlässewiediejährlichenOdenzumGeburtstagderKönigin,aberin doch deutlich geringerem Umfang. Stattdessen konnte sich der Kom-ponistderreichenTraditionverschiedenartigerMischformenvonTheaterund Musik zuwenden. Purcell starb am 21. November 1695, im Alter vonnur36Jahren.
Biographien
HenryPurcellGeorgFriedrichHaas
SirSimonRattle
2524
GeorgFriedrichHaas[*1953]
1953 geboren und aufgewachsen in einem Bergdorf in Vorarlberg wurdeGeorgFriedrichHaasbereitsinderSchulzeitmitneuerMusikkonfron-tiert.Inzwischenbewegtsichder2013zumProfessorfürKompositionanderColumbiaUniversityNewYorkberufeneKomponistgeografischzwi-schenzweiPolen.ErsiehtsichdurchseineLehrerGöstaNeuwirth,IvanErödundinsbesondereFriedrichCerhaeingebundenindieTraditionderWienerSchuleundnutztgleichzeitigdieästhetischeFreiheitamerikani-scherKomponistenwieCharlesIves,JohnCageoderJamesTenney.VielebedeutendeSymphonieorchesterhabenWerkevonGeorgFriedrichHaaszurUraufführunggebracht,darunterdasMozarteumOrchesterSalz-burg),dasClevelandOrchestra,dieMünchnerPhilharmoniker,dasRSOWien(Klavierkonzert,2007)unddasWDRSinfonieorchester.HöhepunktederletztenJahrewarendieUraufführungenvondark dreamsmitdenBer-liner Philharmonikern unter Sir Simon Rattle sowie ein Komponisten-schwerpunktbeiWienModern,wou.a.dasArdittiQuartetseinesämtli-chenStreichquartettespielte.GeorgFriedrichHaaswurdefürseineWerkemitzahlreichenKompositionspreisensowie2007mitdemGroßenÖster-reichischen Staatspreis ausgezeichnet. Er ist er Mitglied des Österreichi-schenKunstsenats,derAkademiederKünsteBerlin(2012),derBayerischenAkademie der schönen Künste (2015) sowie Ehrenmitglied der WienerKonzerthausgesellschaft(2016).
SirSimonRattle[*1955]
SirSimonRattle,inLiverpoolgeboren,studierteanderRoyalAcademyofMusicinLondon.Von1980bis1998arbeiteteer–zunächstalsErsterDiri-gentundKünstlerischerBerater,dannalsMusikdirektor–mitdemCityofBirminghamSymphonyOrchestra(CBSO)undformteeszueineminter-national renommierten Klangkörper. 2002 ging er nach Berlin und wardort bis 2018 Chefdirigent der Berliner Philharmoniker und Künstleri-scherLeiterderBerlinerPhilharmonie.2017wurdeerzumMusikalischenLeiterdesLondonSymphonyOrchestraernanntundfürdieSaison2017/18hatteerdieLeitungbeiderKlangkörperinne.SirSimonhatüber70Auf-nahmeneingespieltunderhieltzahlreicheinternationalangesehenePrei-sefürseineAufnahmenbeiverschiedenenLabels.Von2014anhaterkon-tinuierlich sein CD-Portfolio bei dem eigenen Label der Berliner Phil-harmoniker – Berliner Philharmoniker Recordings – aufgebaut, darun-terdieEinspielungenderkomplettenSymphonie-ZyklenvonBeethoven,SchumannundSibelius.Musikalische Bildung nimmt für Sir Simon Rattle einen hohen Stellen-wert ein. Während seiner Partnerschaft mit den Berliner Philharmo-nikernhatermitdemEducation-ProgrammZukunft@BphilneueWegebeschritten. Das brachte ihm 2004 den Comenius Preis ein, 2005 denSchillerpreis der Stadt Mannheim, die Goldene Kamera und die UraniaMedaille. Zusammen mit den Berliner Philharmonikern wurde er 2004zuminternationalenUNICEF Botschafterernannt.SirSimonRattleer-hieltaucheinigeangesehenepersönlicheEhrungen:1994wurdeerindenRitterstanderhoben,2014durchIhreMajestätdieKöniginzumMitglieddesOrderofMeriternanntundzuletztmiteinerderältestenbritischenAuszeichnungen,demFreedomoftheCityofLondongeehrt.SirSimonunterhältlangjährigeBeziehungenmitdenführendenOrches-terninLondon,EuropaunddenUSA.MitderSaison2023/24wirderalsNachfolgervonMarissJansonsChefdirigentvonChorundSymphonieor-chesterdesBayerischenRundfunkssein.
NEWSmusica viva letter
online anmelden unterbr-musica-viva.de/newsletter
BleibenSieimmeraufdemLaufendenüberdiemusica vivadesBayerischenRundfunks,MünchensKonzertreihefürzeitgenössischeMusik:NutzenSiedenkostenlosenNews-letteralsdigitalenWegweiserzuProgramm-undKonzert-informationen, neuen Bloginhalten sowie Radioübertra-gungenaufBR-Klassik.
mus
ica
viva
NE
WS
– D
er m
onat
lich
e N
ewsl
ette
r
SIR SIMON RATTLE
4 CD
900
177
„Rattle gehört nun zu jenen BR-Chef-dirigenten, die unter Musizieren stets auch Musikantisches verstehen. Die jene Emotion sowohl beim Orchester als auch beim Publikum entfachen können, die über Strukturelles, Analytisches, zuweilen auch genialisches Posieren hinausgeht. Ein Animateur, ein Motivator, dem das Herz mindestens ebenso wichtig ist wie das Hirn.“ Markus Thiel, Münchner Merkur Januar 2021
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
2 CD
900
133
Mit Elisabeth Kulman, Anette Dasch, Janina Baechle, Michael Volle, Christian Van Horn, Benjamin Bruns
Mit Magdalen Kozená, Stuart Skelton
CD 9
0017
2
br-klassik.de/label · Erhältlich im Handel und im BRshop: br-shop.de
Mit Elisabeth Kulman, Iréne Theorin, Eva Maria Westbroek, Eric Halfvarson,
James Rutherford, Stuart Skelton
Nachweise
DieTextevonMartinaSeebersindOriginalbeiträgefürdiemusica viva.DieGesangstexte
sindderPartiturentnommen.
NachdrucknurmitGenehmigung.Redaktionsschluss:15.Februar2021
Änderungenvorbehalten
Impressum
HerausgeberBayerischerRundfunk/musica vivaKünstlerische LeitungDr.WinrichHoppRedaktionDr.LarissaKowal-WolkKonzept / GestaltungGünterKarlBose[www.lmn-berlin.de]
musica vivaKünstlerische LeitungDr.WinrichHoppProduktion, ProjektorganisationDr.PiaSteigerwaldRedaktionDr.LarissaKowal-WolkPresse/Kommunikation, ProduktionsassistenzAnnaMareisBüroBeaRade
BayerischerRundfunkmusica vivaRundfunkplatz1D-80335MünchenTel.:0049-89-5900-42826mailto:[email protected]