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Goethes „Divan“1819 – 2019
Internationales Symposium junger Goetheforscher
86. Hauptversammlung Weimar, 12.–15. Juni 2019
Abstracts
Goethe-Gesellschaftin Weimar
Die
Internationales Symposium
junger Goetheforscher
Abstracts der Vorträge
Abstracts zur 86. Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft in Weimar12.–15. Juni 2019Goethes „Divan“ 1819–2019
Herausgeber: Goethe-Gesellschaft in Weimar e.V.Burgplatz 4, 99423 Weimarwww.goethe-gesellschaft.de
Redaktion: Dr. Petra Oberhauser
Satz und Layout: Rogge GmbH, WeimarDruck: Buch- und Kunstdruckerei Kessler, Weimar
Nun so legt euch, liebe Lieder,
An den Busen meinem Volke!
(Goethe: West-östlicher Divan)
Anfangsschwierigkeiten. Zur Poetik von Goethes Eröffnungsprologen
Eröffnungsprologe weisen auf die Neuheit von Stücken, Spielplä-
nen oder -stätten hin, reihen sich dabei aber in eine Gestaltungstra-
dition ein. Sie werfen als Formelemente somit die Frage auf, wie
und ob man überhaupt anfangen kann. Johann Wolfgang Goethe
beginnt seinen ersten Eröffnungsprolog bezeichnenderweise mit
der topischen Klage: „Der Anfang ist an allen Sachen schwer“. Die
Klassifikation von Prologen als Gelegenheitsdichtungen hat in der
Goethe-Forschung indes dazu beigetragen, dass man sich bisher
weniger ihrer Poetik gewidmet hat als den Anlässen, für die sie
entstanden sind.
Der Vortrag möchte deshalb in poetologischen Lektüren
auf rhetorische, dramatische und narrative Gestaltungsmittel auf-
merksam machen, die Goethe in seinen Eröffnungsprologen auf-
greift und die Form, Stellung und Funktion der Texte reflektieren.
Diese Eigenheiten sollen mit drei Leitkonzepten umrissen wer-
den: Mannigfaltigkeit, Grundierung und Aufstieg. Sie erlauben es,
Goethes Stellung innerhalb der Geschichte des Prologs erstmals
genauer zu bestimmen – einer Form, die Ende des 18. Jahrhun-
derts, im Übergang von den Wanderbühnen zu den Hof- und Na-
tionaltheatern, einem grundlegenden Funktionswandel unterwor-
fen ist. Vor diesem Hintergrund werden Goethes Textstrategien
auch als Antworten auf konkrete theaterhistorische Herausforde-
rungen lesbar, die die Prologe nicht nur thematisieren, sondern
literarisch gestalten.
Clemens Özelt
(Lausanne)
Simon Friedland
(Chicago)
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Poesie und Plastik: Über den epischen Hexameter in Goethes „Herrmann und Dorothea“
In der Italienischen Reise schreibt Goethe von einer kolossalen
Büste der Göttin Juno, der sogenannten „Juno Ludovisi“: „Keine
Worte geben eine Ahnung davon. Es ist wie ein Gesang Homers“.
Was verbindet eine Statue mit homerischem Gesang? Wie ist ein
solcher Vergleich möglich? Der Vortrag geht den Fragen nach der
Verwandtschaft zwischen Poesie und Plastik am Beispiel von Goe-
thes Herrmann und Dorothea nach. Der Fokus der Lektüre liegt
auf dem Versmaß des Gedichts: dem epischen Hexameter. Denn
in der Altphilologie, die im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts als
Wissenschaft im Entstehen begriffen ist, wird der Hexameter als
das schmiegsamste, fügsamste – plastischste – unter den altgrie-
chischen Versmaßen bezeichnet. Der Hexameter besitzt die glei-
che sinnliche Präsenz, lebendige Mannigfaltigkeit und erhabene
Besonnenheit, die die Ästhetik des Frühklassizismus der griechi-
schen Plastik zuschreibt. So findet eine Übertragung skulpturaler
Werte auf die klassizistische Poetik des späten 18. Jahrhunderts
statt. Der Vortrag verortet Herrmann und Dorothea innerhalb die-
ses Diskurses und will zeigen, dass die akribischen Debatten um
altgriechische Verskunst den Horizont zu einer Neulektüre von
Goethes „bürgerlichem Epos“ öffnen können. Die Plastizität des
Hexameters stellt einen dritten Weg dar, der zwischen der Starr-
heit kleinbürgerlicher Enge und der allgemeinen Auflösung durch
den revolutionären Terror, die die zwei Lebenspole von Herrmann
und Dorothea ausmachen, verläuft.
Die Goethe-Gesellschaft im geteilten Deutschland. Zur Geschichte ihrer Inter nationalisierung
Die Goethe-Gesellschaft in Weimar bezeichnet sich selbst mit
Recht als „die größte und wichtigste unter den [Goethes] Namen
tragenden und seinem Werk gewidmeten literarischen Gesell-
schaften in aller Welt“ (Goethe-Handbuch, Bd. 4/1, S. 429). Un-
unterbrochen organisiert sie seit über 130 Jahren Goethes ‚Nach-
ruhm‘. Im Kontext der historisch-politischen Lage und in der
Auseinandersetzung mit ihr changierte ihre Arbeit stets span-
nungsreich zwischen der Verehrung, Erforschung und Politisie-
rung ihres Namensgebers – so auch während der deutschen Tei-
lung; die Goethe-Gesellschaft konnte als einzige gesamtdeutsche
Dichter-Vereinigung weiterbestehen. Auf die 1967 drohende Spal-
tung durch das SED-Regime reagierte der Vorstand entschieden:
Die Goethe-Gesellschaft in Weimar verstand sich fortan als eine
internationale Vereinigung. Dabei versäumte sie es nicht, sich me-
dienwirksam in Ost und West als solche zu präsentieren. Sowohl
in der personellen Besetzung ihrer Gremien als auch in der thema-
tischen Ausrichtung ihrer Hauptversammlungen hielten sich die
Verantwortlichen an das Internationalisierungsgebot. Der Vortrag
fragt nach den Auswirkungen dieses Pluralisierungsprozesses
unter der SED-Hegemonie.
Arin Haideri
(Bielefeld)
Jakob Gehlen
(Berlin, München)
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Gleicht Goethe Herkules? Mythos und Werkstatt in den „Römischen Elegien“
Herkules zeichnet sich zu allen Zeiten durch umfassende An-
schlussfähigkeit aus: Mal Imago absolutistischer Herrscher, mal
Rebell, dann Erlöser und schließlich Held der Arbeit. Kein Wun-
der also, dass es auch Goethe trifft. In seinem Gespräch über Ge-
dichte (1903) bemerkt Hugo von Hofmannsthal: „Und Goethe?
Seine Taten sind vielfältig wie die Taten eines wandernden Got-
tes. Er gleicht dem Herakles, dessen Abenteuer, jedes eingehüllt
in eine Glorie, jedes wohnend in einer anderen Landschaft, nichts
voneinander wissen“. Das Bonmot soll Ausgangspunkt meiner
Überlegungen sein, setzt doch die Analogie zwischen Goethe und
Herkules bei Hofmannsthal zwei Kriterien voraus, die für den
Herkules-Mythos ebenso zentral sind wie für Goethes Lyrik nach
Italien: Ruhm und Abgrenzbarkeit. Anders als Hofmannsthal
konzentriere ich mich statt auf Herkules’ und Goethes ‚Gesamt-
werk‘ auf die Figur des Halbgottes innerhalb eines Gedichtzyklus.
Anhand der unterschiedlichen Herkulesbilder in den Römischen
Elegien (1795) möchte ich zeigen, dass Goethe einen brüchigeren
Zugang zu Herkules als seine Zeitgenossen (Winckelmann, Wie-
land, Schiller) wählt und damit die Arbeit mit Mythos und Gattun-
gen neu bestimmt. Der Zyklus begreift Mythos wie Gattung nicht
als tradierte Einheiten, sondern als Fundus für die eigene Produk-
tion. Dieses Verhältnis verweist weniger auf eine ‚griechisch-deut-
sche Wahlverwandtschaft‘ – so die übliche Beschreibung der Wei-
marer Antiken-Begeisterung – als vielmehr auf ‚römische‘ Ironie.
Das Phänomen „Goethe-Zitat“. Von klassischen Weisheiten bis zu „Entflügelten Worten“
Der Vortrag ist dem Phänomen des Goethe-Zitierens unter einer
diachronischen Perspektive gewidmet. Aus sprachwissenschaftli-
cher Sicht analysiert er, wie sich die Bedeutung und Verwendung
von Klassiker-Sentenzen im Laufe von Jahrhunderten verändert
hat. Anhand von repräsentativen Beispielen aus der gegenwärti-
gen Presse werden die Besonderheiten des heutigen Gebrauchs
der geflügelten Worte von Goethe erläutert: die Verwendung der
Goethe-Zitate als semantisch und strukturell veränderte anonyme
Redensarten, ihre Modifikationen und der spielerische Umgang
mit Klassiker-Worten. Die Resultate einer empirischen Untersu-
chung werden präsentiert und es wird einem Verlust des Auto-
renbezugs (Zitatbewusstsein) von Goethe-Zitaten nachgegangen,
die heutzutage als „Entflügelte Worte“ (nach dem amerikanischen
Germanisten W. Mieder) bezeichnet werden können.
Svitlana Shkvarchuk
(Tscherniwzi)
Rabea Kleymann
(Hamburg)
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Formlose Formen als Begegnungen mit dem Mannigfaltigen – Poetik des Aggregats in Goethes Spätwerk
Johann Wolfgang von Goethes naturwissenschaftliches und litera-
risches Spätwerk lässt sich als eine Begegnung mit dem Mannig-
faltigen deuten. Statt einer „zur Reife gebrachten“ Formgebung
weist das Spätwerk einen prekären Einheits- und Formsinn auf.
Zur Beschreibung seiner „formlosen Form“ greift Goethe auf das
erstmals in den morphologischen Naturstudien auftauchende
„Kunstwort“ des Aggregats zurück. Erklärend fügt Goethe hinzu,
ein „Kunstwort“ zeige die „Bemühung des Menschengeistes, etwas
Unbegreifliches zu begreifen“. Das Unbegreifliche, das Goethe mit
dem Kunstwort „Aggregat“ zu adressieren versucht, ist eine unbe-
stimmte Mannigfaltigkeit, die dem Anspruch auf Geschlossenheit,
linearer Kohärenz sowie abstrahierender Synthesis widerstrebt.
Während das Aggregat zunächst nur an den Stellen auftaucht, wo
der Formgewinn zur Reihe problematisch ist, avanciert das Ag-
gregat zum verbindenden Formmodell der Spätwerke. Goethes
Morphologie findet nicht in der genetischen Reihenbildung ihren
Abschluss, sondern wird in Form des Aggregats fortgeführt. Als
„Ordnung ohne Ordnung“ dient Goethe das Aggregat dabei nicht
nur der Verständigung über das Mannigfaltige in Natur und Ge-
sellschaft, sondern es lädt zugleich ein, die Bedingungen einer
Poetik des Inkommensurablen auszuloten. Die Untersuchung des
Aggregatartigen versteht sich als Beitrag zu den Versuchen, die
spezifische Eigengesetzlichkeit des Spätwerks herauszuarbeiten.
„Sankt Joseph der Zweite“. Legende und Roman in Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre“
Die Episode Sankt Joseph der Zweite gibt Anlass zur Frage nach
dem Verhältnis von Legende und Roman in Goethes Wilhelm
Meisters Wanderjahre. Aus der Integration der Heiligenvita in den
Romantext geht die Legende als ein gattungspoetischer Kontra-
punkt zum Bildungsroman hervor. Während es beim Bildungs-
roman um die Erzählung des Werdens eines Individuums geht,
dient die Heiligenlegende der Darstellung eines exemplarischen
Lebenslaufs. Der Bildungsroman ist auf Singularität angelegt, die
Legende auf Wiederholbarkeit. In der Dynamik von Einzigartig-
keit und Reproduzierbarkeit eines Lebenslaufs, die durch den
Intertext der Legende in den Roman eingeführt wird, deutet sich
zum einen die Subversion des Bildungsromans an, zum anderen
eine alternative Lebenserzählung. Dies zeichnet sich bereits in frü-
heren Romanen Goethes ab, die in Legenden münden: Wilhelm
Meisters Lehrjahre mit der Verehrung Speratas als einer Heiligen
und die Wahlverwandtschaften mit der Legendenbildung um Ot-
tilie. Die jeweilige Modellierung einer Lebensgeschichte zwischen
den narrativen Formen Roman und Legende soll anhand dieser
Texte untersucht werden.
Elisa Ronzheimer
(Bielefeld)
Reto Rössler
(Flensburg)
1110
Vom „Roman über das Weltall“ zur Kosmopoetik. Goethes Sternwartenszene der „Wanderjahre“ und die Transformation(en) des kosmologischen Weltgebäudes der Aufklärung
Goethes Wanderjahre lassen sich mit Blick auf eine ganze Reihe
von Wissensfeldern und Erkenntnispraktiken im Sinne einer „Kul-
turgeschichte der Moderne“ (Schößler 2002) lesen. Zwar ist der so-
genannten Sternwartenszene des Romans auf Makaries Schloss in
zahllosen Kommentierungen große Beachtung geschenkt worden,
ohne sie dabei jedoch auf ihre möglichen Reflexe auf die astro-
nomische und kosmologische Wissensproduktion ihrer Zeit, am
Übergang von der Aufklärung zum beginnenden 19. Jahrhundert,
hin zu befragen. Der Vortrag rekonstruiert daher in einem ersten
Schritt die diskursiven Konturen jener kollektiven Bemühungen
der Aufklärung um eine kosmologische Gesamtschau auf der Ba-
sis der kopernikanischen bzw. Newton’schen Hypothese, an deren
schrittweiser Erforschung – als Weltgebäude – sich seit etwa 1690
Astronomen und Naturforscher, Philosophen und Dichter sowie
gelehrte Laien gleichermaßen beteiligten und deren Spuren sich
auch in Goethes Vorhaben zu einem Roman über das Weltall der
1780er Jahre noch wiederfinden. Bezogen auf die Sternwartens-
zene entwickelt der zweite Teil des Vortrags sodann eine ‚kosmo-
poetische‘ Lesart der Wanderjahre, indem er aufzeigt, wie hier die
Verschränkung von ‚alter‘/überkommener und neuer Kosmologie
herangezogen wird, um auf poetologischer Ebene die eigentümli-
che Form des Romans im Sinne eines nicht-mehr-systematischen,
sondern vielmehr ‚aggregativen‘ bzw. seriellen Erzählens zu mo-
tivieren.
86. Hauptversammlung
„Goethes Divan 1819 – 2019“
Podium„Aus wie vielen Elementen soll ein echtes Lied sich nähren ...“. Goethes „West-Östlicher Divan“ aus heutiger Sicht
Abstracts zur einleitenden Frage: 200 Jahre „West-östlicher Divan“. Wie hat er gewirkt? Was bewegt Sie daran noch heute?
13
Prof. Dr.
Anke Bosse
(Klagenfurt)
Dass sein West-östlicher Divan höchste Ansprüche an seine Leser
stellen würde, das ahnte Goethe schon, als er noch an den Gedich-
ten schrieb. Probehalber ließ er einzelne Gedichte in Zeitschriften
vorabdrucken – und musste feststellen, dass dies das „Publicum
mehr irre gemacht als vorbereitet habe“. Keines der lyrischen
Werke Goethes bietet denn auch ein so breites Spektrum an ly-
rischen Genres und Tönen, keines setzt sich so sehr der „Zwey-
deutigkeit“ aus, was darin Eigenes oder Anderes, Vertrautes oder
Fremdes sei. Denn das Programm des West-östlichen Divans ist
ja gerade das Oszillieren zwischen diesen vermeintlichen Gegen-
sätzen, zwischen ‚West‘ und ‚Ost‘ – bis in jedes Gedicht hinein.
Es entsteht ein Drittes, ein gemischtes Dazwischen, das in Bewe-
gung bleibt und sich nur der besonders aufmerksamen Lektüre
erschließt. Dann aber!
Heute, 200 Jahre später, ist uns in unserer globalisier-
ten Welt ein solches Dazwischen zwischen Kulturen, Literaturen,
Sprachen deutlich vertrauter. Es bedarf allerdings weiterhin unse-
rer besonderen Aufmerksamkeit, um es zu erkennen. Eigentlich
sind wir besser als Goethes Zeitgenossen auf den West-östlichen
Divan ‚vorbereitet‘. Wir sollten ihn nur auch lesen!
Ich bin mir sicher, dass Goethe berührt wäre, wenn er
wüsste, dass ‚West-östlicher Divan‘ ein ‚Label‘ für kulturübergrei-
fende Verständigung geworden ist – beim West-Eastern Divan Or-
chestra, beim West Östlichen Diwan Festival in Weimar und vieles
mehr. Doch der West-östliche Divan selbst ist ja noch weit mehr.
Deshalb bewegt mich heute an ihm seine Wirkung ‚im Kleinen‘:
wie Goethe beim Schreiben seiner Divan-Gedichte mit winzigen
Änderungen große Effekte bewirkte – für uns. Diese atemberau-
bende Meisterschaft bewegt mich, immer wieder.
Podium
Goethes Divan ist ein Wunderwerk einer Verbindung von Gegen-
sätzen, in der Spannungen nicht aufgehoben, sondern vielmehr
gerade im wiederholten Durchspielen paradox ‚versöhnt‘ werden,
„eins und doppelt“: Spannungen unterschiedlicher religiöser Kul-
turen, Erfahrungsmodi und Diskurse, zwischen physischen und
metaphysischen Reflexionen, zwischen Mystik und Aufklärung,
literarischen Codes und Konventionen, Geschlechterrollen, plura-
ler Autorschaft und Signatur. Mit all dem fordert und praktiziert
der Divan auch einen entschiedenen Widerstand gegen unifor-
mierende Entwürfe von Nationalität, Nationalstaat, Nationallite-
ratur. Er steht damit im Zusammenhang nicht allein der program-
matischen Äußerungen zur „Weltliteratur“, sondern auch weiter
ausgreifender Entwicklungen – etwa der chinesischen Gedichte,
deren Anfänge in die Zeit der Divan-Anfänge zurückreichen, der
Konzeptualisierung von Ueber Kunst und Alterthum als einer kom-
paratistischen Zeitschrift und der Anteilnahme an der Entwick-
lung der USA als einer pluralistisch-übernationalen Gesellschaft.
Prof. Dr.
Heinrich Detering
(Göttingen)
Jan Wagner
(Berlin)
1514
Es sollte selbstverständlich sein, dass ein Lyriker des 21. Jahrhun-
derts über den Tellerrand der eigenen Tradition hinausblickt und
sich der formalen und stilistischen Vielfalt jenseits der Grenzen
vergewissert, aber ist es das? Der Begriff „Weltliteratur“, den Goe-
the prägte, mag inflationär gebraucht werden, fast wie eine Platti-
tüde wirken, aber das, was er bezeichnet, erscheint aktueller denn
je: Dass es, wie Goethe 1827 bemerkt, darum gehe, „pedantischen
Dünkel“ abzulegen, sich bei fremden Nationen umzusehen und
nach all den Kriegen ein „Gefühl nachbarlicher Verhältnisse“ zu
entwickeln; die Völker müssten „einander gewahr werden, sich
begreifen und, wenn sie sich wechselseitig nicht lieben mögen,
sich einander wenigstens dulden lernen“, die Literaten „durch
Neigung und Gemeinsinn sich veranlaßt finden, gesellschaftlich
zu wirken“. Goethe selbst übersetzte ja nicht nur Lord Byrons
Manfred und verehrte Shakespeare, er beschäftigte sich mit indi-
scher Dichtung, übertrug eine Reihe chinesischer Gedichte, ließ
sich von Hafis’ persischen Gesängen zum West-östlichen Divan
anregen. Ganz abgesehen von der Schönheit dieser Gedichte, ob
im Schenkenbuch oder im Buch der Liebe, müsste doch Goethes
nie versiegende Neugier, die Beschäftigung mit Unvertrautem
und das stete Entdecken literarischen Neulands nicht nur im 20.
Jahrhundert Nachfolger gefunden haben, sondern nach wie vor
anregen, wie er, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, durch das
ganz Fremde zum ganz Eigenen zu gelangen.
Podium Podium
In den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniss des
West-östlichen Divans steht ein oft zitierter Satz: „Es gibt nur drei
echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusias-
tisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und
Drama“. Die knappe Lyrikdefinition ist im buchstäblichen Sin-
ne zu verstehen. Lyrik wird als gotterfüllte Sprache bestimmt:
als Sprache, die ihre eigenartige Intensität der Nähe (oder auch
der Ferne) einer göttlichen Instanz verdankt. Der zitierte Satz ist
sehr allgemein gedacht. Die sogenannten Naturformen sind keine
historischen Gattungen, sondern Grundmöglichkeiten poetischer
Darstellung, die sich in sehr unterschiedlicher Gestalt verwirkli-
chen. Dennoch stellt sich die Frage, ob die Formel von der ‚enthu-
siastisch aufgeregten‘ Sprache für das Verständnis der Gedichte
des Divans von besonderer Relevanz ist. Inwiefern ist die Quelle
des lyrischen Enthusiasmus im Divan ein Göttliches? Welche Er-
scheinungsformen kann Göttliches in der Lyrik annehmen? Und
wie hängt die lyrische ‚Aufregung‘ mit der eigentümlichen Geis-
tigkeit zusammen, die Goethes späte Lyrik prägt?
Prof. Dr.
David Wellbery
(Chicago)
Arbeitsgruppe AProf. Dr.
Anne Bohnenkamp
(Frankfurt a. M.)
1716
„Divan“-Rezeption im 19. Jahrhundert
„Das Buch ist eines der wunderlichsten, die Goethe jemals ge-
schrieben hat, es ist sozusagen ein Räthsel ohne Schlüssel; und
da wir Leser sind, welche bequem unterrichtet und vergnügt seyn
wollen, so geht unser Geschmacksurtheil dahin, daß der west-öst-
liche Divan durchaus nicht nach unserem Geschmack ist“. So fasst
der Rezensent des bei Cotta verlegten Literatur-Blatts ein Jahr
nach Erscheinen des bereits 1816 angekündigten und im Herbst
1819 endlich publizierten Werkes die Reaktionen des Publikums
zusammen. Viele Leser taten sich schwer mit Goethes dem vater-
ländischen Zeitgeist so wenig entsprechender Gedichtsammlung,
von der es heißt, dass sie noch Anfang des 20. Jahrhunderts in der
Originalausgabe lieferbar gewesen sei.
Andererseits traf der West-östliche Divan von Anfang an
auch auf begeisterte Zustimmung. Nicht nur Goethes unmittelba-
res Umfeld schätzte die „geisterfrischende“ Wirkung der „immer
neu belebenden Erscheinung“, zu den frühen Bewunderern zähl-
ten auch Hegel und Heine, Rückert und Platen. Ausgehend von
einer Neu-Sichtung der zu Lebzeiten Goethes erfolgten sehr un-
terschiedlichen Reaktionen fragt das Referat nach dem (ausblei-
benden?) Echo der ihrerseits vom Orient faszinierten Romantiker
und erkundet die Hintergründe der ausgeprägten Hochschätzung
des Divan bei Hegel und Heine.
PodiumWissenschaftliche Konferenz
Goethes „Divan“ 1819 – 2019
„Divan“-Resonanzen der Gegenwart
Es existiert keine deutsche Gedichtsammlung, die in Kunst, Wis-
senschaft und Öffentlichkeit der Gegenwart so häufig angespielt
wird wie der West-östliche Divan. Angefangen vom West-Eastern
Divan Orchestra, das Daniel Barenboim im Jahre 1999 zusam-
men mit Edward W. Said als israelisch-arabischen Brückenschlag
gegründet hat, über wissenschaftliche Verlagsreihen, die sich
West-östliche Spiegelungen nennen, bis hin zur Stiftung West-Öst-
liche Begegnungen reichen die Bezugnahmen auf Goethes 1819
erschienenes Werk, ganz zu schweigen von den zahllosen vergol-
deten Ginkgo-Blättern in hiesigen Schmuckkästchen oder dem
ubiquitären Motto „Stirb und Werde“, nach dem schon Tatort-Fol-
gen benannt worden sind. So populär war der West-östliche Divan
nicht immer. Goethes Zeitgenossen konnten – von wenigen pro-
minenten Ausnahmen abgesehen – mit dieser grenzüberschrei-
tenden Dichtung nicht viel anfangen, und das orientbegeisterte
Lesepublikum des 19. Jahrhunderts zog Friedrich Bodenstedts ein-
gängige Lieder des Mirza Schaffy (1851) vor. Erst um 1900 wurde
der West-östliche Divan wiederentdeckt und, dank tätiger Unter-
stützung durch Hugo von Hofmannsthal, als genuin moderne
Dichtung neu lesbar. Heute dagegen gilt der Divan als literarischer
Inbegriff der Völkerverständigung und dient auch Vertretern der
muslimischen Deutschen als Nachweis einer west-östlichen Kul-
tursynthese in Gestalt Goethes. Der Vortrag setzt sich dieser wech-
selvollen Rezeptions- und Gebrauchsgeschichte des West-östlichen
Divans auf die Spur, sucht nach den Anknüpfungspunkten in den
Gedichten selbst und lotet aus, was uns die gegenwärtigen Lesar-
ten der Sammlung über unsere Gesellschaft erzählen.
Der „Divan“ in der Lyrik von Heine bis Benn
Mit den Mitteln digitaler Philologie lassen sich lyrische Anspie-
lungen auf Divan-Gedichte inzwischen ebenso leicht aufspüren
wie entsprechende Zitat- oder Erwähnungsstellen in expositori-
scher Prosa, Briefen, Tagebüchern etc. Hingegen bleibt es eine
an Maschinen vorerst nicht delegierbare Aufgabe literarischer
Hermeneutik, dergleichen Allusionen in individualisierender
Interpretation als Akte dichterischer Selbstverständigung mit Ge-
dicht-Vorgaben Goethes zu begreifen. In dieser Absicht widmet
sich mein Vortrag Texten dreier Lyriker, die je auf ihre Weise von
der auch unter den Bedingungen literarischer Modernität anhal-
tenden Faszination des Divan-Werks zeugen, ihre Zeugenschaft
jedoch zugleich unter den Brechungswinkel des durch keinerlei
Rückneigung zu überbrückenden geschichtlichen und ästheti-
schen Abstands stellen, der die Lyrik der Moderne von Goethes
poetischer Welt trennt:
— Gottfried Benn artikuliert die melancholische, Formpathos in
die Inszenierung von Formauflösung überführende Reflexivi-
tät seiner Spätlyrik, indem er Antwortgedichte auf Selige Sehn-
sucht, Lied und Gebilde und Unbegrenzt schreibt.
— Des schrecklichsten Verstummens eingedenk, stößt Paul Celans
Sprach- und Liebesgedicht Sprachgitter signalhaft von Goethes
Gedicht Wink, der selbstbewusst poetischen Vindikation des
Einstands von Wort und Welt im Liebesaugenblick, ab.
— Günter Eichs Maulwurf-Text Gingko schließlich liefert die poe-
tische Textur und biographische Kontextualität seines zur bil-
dungskulturellen Ikone erstarrten Vorgängergedichts einem
entropischen Spiel sprachlicher Kontingenzen aus, das sich
weder in monistische noch in dualistische Figuren von Totali-
tät aufheben lässt.
Was die in Rede stehenden Paradigmen einer poetisch wie meta-
poetisch kontradistinktiven Bezugnahme auf Divan-Gedichte für
die Position des Lesers bedeuten, wird in rezeptionsästhetischer
Wendung der vorzustellenden Textexegesen zu erörtern sein.
Arbeitsgruppe BProf. Dr.
Carsten Dutt
(Notre Dame)
Arbeitsgruppe CProf. Dr.
Andrea Polaschegg
(Siegen)
1918
Wissenschaftliche KonferenzGoethes „Divan“ 1819 – 2019
Wissenschaftliche KonferenzGoethes „Divan“ 1819 – 2019
Despotie – zu einem Verfassungsbegriff im „West-östlichen Divan“
Die Despotie schaffe große Charaktere, erklärt Goethe in den
Noten und Abhandlungen zum Divan. Die Passage hat nicht nur
Ludwig Börne empört, sondern überhaupt zum Bild Goethes als
„Fürstenknecht“ beigetragen. Doch Begriff und Phänomenologie
von Despotie werden im Divan viel reicher und differenzierter
entwickelt, als das immer wiederholte Zitat vermuten lässt. Un-
terschiedliche Kontexte bieten sich an: die europäischen Verfas-
sungsbegriffe von Aristoteles bis Montesquieu samt dem Konzept
der „orientalischen Despotie“; die Erfahrung mit Napoleon als
einem unumschränkt herrschenden Militärmonarchen; Goethes
frühere Thematisierungen von despotischer Herrschaft, vor allem
in Egmont, Mahomet und Epimenides; schließlich die revolutionä-
re Dialektik, die sich im Konzept eines „Despotismus der Freiheit“
ausprägte.
Musikalische „Divan“-Rezeption
Als Johann Wolfgang von Goethes West-östlicher Divan 1819
im Druck erschien, erregte auch er sogleich das Interesse seiner
komponierenden Zeitgenossen. Allerdings spiegelt sich in der Ge-
schichte der Vertonungen eine Tendenz der Divan-Rezeption. So
sollte es ein ganzes Jahrhundert brauchen, bis dieses Werk von
Komponisten als zyklisch angelegtes Ganzes wahrgenommen
und gewürdigt wurde. Im Vortrag sollen einige Stationen dieser
Rezeption näher beleuchtet werden. Dabei muss selbstverständ-
lich auch ein kritischer Blick auf Goethes Lied-Ästhetik fallen,
die ihn die Vertonungen der Musiker in seiner näheren Umge-
bung (etwa Carl Friedrich Zelter, Franz Carl Eberwein) schätzen
ließ, während er andere entweder gar nicht oder nur mit großer
Skepsis zur Kenntnis nahm (das prominenteste Beispiel bietet
sicherlich Franz Schubert). Auch sind die durch den Divan aus-
gelösten ‚Seiteneffekte‘ zu bedenken, die eine regelrechte Orien-
talismus-Mode unter den Dichtern und ihren Komponisten ange-
stoßen haben: Die Rückert-Vertonungen von Franz Schubert oder
von Robert Schumann gehören ebenso in diesen Zusammenhang
wie die dezidierte Goethe-Abstinenz des ebenfalls Friedrich Rück-
ert vertonenden Gustav Mahler. Auch die Hafis-Lieder des Schwei-
zer Komponisten Othmar Schoeck haben diesen inversen Bezug
auf Goethes Divan. Dieser selbst hat gegen Ende des 19. Jahrhun-
derts erstmals größer gedachte Projekte ausgelöst, so bei Hugo
Wolf, der mit seinen umfangreichen Liederheften jeweils auf ein
facettenreiches Dichterporträt zielte. Nicht zuletzt interessieren
auch Vertonungen, die das Gebiet des solistischen Klavierlieds
überschreiten und zugleich Goethes Divan, und zwar gerade den
Aspekt des „West-Östlichen“, als Anlass für eine Aktualisierung
nutzen wie etwa der große Chorlieder-Zyklus des in (West-)Berlin
schaffenden Komponisten Ernst Pepping.
Arbeitsgruppe DProf. Dr.
Hans-Joachim
Hinrichsen
(Zürich)
Arbeitsgruppe EDr. Gustav Seibt
(Berlin)
2120
Wissenschaftliche KonferenzGoethes „Divan“ 1819 – 2019
Wissenschaftliche KonferenzGoethes „Divan“ 1819 – 2019
Übersetzungen einer Übersetzung? Der „Divan“ im Spiegel orientalischer Lyriker heute
Als unmittelbares poetisches Echo auf Dichtungen aus einem an-
deren Kulturraum, rezipiert in Gestalt einer Übersetzung, wirft
Goethes Divan praktisch und theoretisch die Frage nach der Mög-
lichkeit, dem Sinn und der Vermittelbarkeit eines globalen poeti-
schen Echoraums auf – und damit eine der zentralen Fragen der
literarischen Moderne. Der Vortrag untersucht zunächst die po-
etischen und theoretischen Positionen Goethes zu dieser Proble-
matik, um dann das Echo auf Goethes Auseinandersetzung damit
in der islamischen Welt zu erörtern. Dies geschieht vor allem am
Beispiel einer konkreten Publikation, der von Gingko Library in
London herausgegebenen Anthologie von Antworten zeitgenös-
sischer orientalischer Dichter auf Goethe, die anlässlich des 200.
Jahrestags des West-östlichen Divans im Sommer 2019 vorgelegt
werden wird und zu der ich auch als Übersetzer beigetragen habe.
Arbeitsgruppe FStefan Weidner
(Köln)
22
Dank
Für die Unterstützung der 86. Hauptversammlung danken wir
sehr herzlich:
der Deutschen Forschungs-
gemeinschaft, Bonn
der Beauftragten der Bundesregierung
für Kultur und Medien, Berlin
der Marion Dönhoff Stiftung,
Hamburg
der Heinrich Schmid GmbH & Co. KG,
Reutlingen
der Mutschler Holding AG, Zürich
der Stadt Weimar
Herrn Dr. Siegfried Jaschinski,
Frankfurt a. M.
Wissenschaftliche KonferenzGoethes „Divan“ 1819 – 2019
Die Goethe-Gesellschaft in Weimar wurde 1885 ge-
gründet. Sie zählt heute etwa 2500 Mitglieder in
40 Ländern der Welt. Unseren Mitgliedern danken
wir für treue Verbundenheit!
Wenn Sie noch nicht Mitglied der Goethe-Gesellschaft sind, laden wir Sie herzlich dazu ein.
Sie wollen:
• die Pflege und Verbreitung von Goethes Leben
und Werk im In- und Ausland fördern?
• Anregungen bei Vorträgen und Symposien?
• jedes Jahr ein Jahrbuch (ca. 400 Seiten) mit
Goethe-Studien, Rezensionen und aktuellen
Berichten?
• freien Eintritt in die Museen der Klassik Stiftung
Weimar und ins Düsseldorfer Goethe-Museum?
Dann werden Sie Mitglied der Goethe-Gesellschaft!
Goethe-Gesellschaft
in Weimar e. V.
Burgplatz 4
99423 Weimar
Tel.: 03643 – 20 20 50
E-Mail: [email protected]
www.goethe-gesellschaft.de