grenzenlose · grenzenlose freiheit nachdemtod ihres besitzersmachten sichdiehaflinger selbstandig....

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Die Schweiz hat ihre ersten Wildpferde. Seit sechs Iahren leben der Nahe des Tessiner Dorfes Sagno 22 Haflinger ohne Herr uni Haus. Tierfreunde sind begeistert, die Behòrden weniger Text Sarah Fasolin Fotos Sabine Wunderlin C) Wo kénnten sie sein, die beiden Hengste mit ihren Stuten und Fohlen? Vor wenigen Tagen noch suchte eine Gruppe derwildlebenden Haflin- ger in Sagno TI vor dem Gemeindehaus nach Gras, Knospen und Kràutern. Der Schnee ist noch nicht ganz weg oben in den Bergen. Die Kastanienwalder sind steil, die Wege schwer zu finden, geschweige denn die Pferde. Der ehemalige Besitzer der Pferde, der Italie- ner Roberto Della Torre, starb vor sechs [ah- ren 83-jahrig im Spital von Menaggio (I). In seinem Testament vermachte er alles seiner Schwagerin: die Pferde, seine grosse Leiden- schaft, sowie die Alp Bocc, II52 Meter uber Meer, wenige Schritte von der Schweizer Grenze entfernt. Fili Sohn Gianbattista war nichts vorgesehen. GianbattistaDellaTorrewill die Pf gar nicht. «Die Landwirtschaft i rnich nicht», sagte er damals wie re mochte vom Erbe bloss den Pflichtteil. - sein Vater abgesprochen hatte. Die F seit Jahren zerstritten. Die Erbfrage Gerichtsfall, der noch immer andauer:. Die Strasse windet sich den Berg i eng und rnit letzten Schneeresten 22 I SonntagsBlick Magazin

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Page 1: GRENZENLOSE · GRENZENLOSE FREIHEIT NachdemTod ihres Besitzersmachten sichdieHaflinger selbstandig. Seither leben sieinverschie-denen Gruppen dies-undjenseits der Landesgrenze. Ihre

Die Schweiz hat ihre ersten Wildpferde. Seit sechs Iahren lebender Nahe des Tessiner Dorfes Sagno 22 Haflinger ohne Herr uniHaus. Tierfreunde sind begeistert, die Behòrden wenigerText Sarah Fasolin Fotos Sabine Wunderlin

C) Wo kénnten sie sein, die beidenHengste mit ihren Stuten undFohlen? Vor wenigen Tagen noch

suchte eine Gruppe derwildlebenden Haflin-ger in Sagno TI vor dem Gemeindehaus nachGras, Knospen und Kràutern. Der Schnee istnoch nicht ganz weg oben in den Bergen. DieKastanienwalder sind steil, die Wege schwerzu finden, geschweige denn die Pferde.

Der ehemalige Besitzer der Pferde, der Italie-ner Roberto Della Torre, starb vor sechs [ah-ren 83-jahrig im Spital von Menaggio (I). Inseinem Testament vermachte er alles seinerSchwagerin: die Pferde, seine grosse Leiden-schaft, sowie die Alp Bocc, II52 Meter uberMeer, wenige Schritte von der SchweizerGrenze entfernt. Fili Sohn Gianbattista warnichts vorgesehen.

GianbattistaDellaTorrewill die Pfgar nicht. «Die Landwirtschaft irnich nicht», sagte er damals wie remochte vom Erbe bloss den Pflichtteil. -sein Vater abgesprochen hatte. Die Fseit Jahren zerstritten. Die ErbfrageGerichtsfall, der noch immer andauer:.

Die Strasse windet sich den Berg ieng und rnit letzten Schneeresten

22 I SonntagsBlick Magazin

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GRENZENLOSEFREIHEIT

Nach demTod ihresBesitzers machtensich die Haflinger

selbstandig. Seitherleben sie in verschie-

denen Gruppendies- und jenseits derLandesgrenze. Ihre

Zukunft hingegen istungewiss: Freiheit

oder Schlachtbank?

Monte Bisbino ist im Sommer ein beliebtesAusflugsziel. Von oben sieht man runter zurAlp Bocc, auf welcher Roberto Delia Torre seitseiner Pensionierung 1976 zusammen mitseiner Frau Martina, den Schafen und Pferdendas ganze Jahr hindurch gelebt hat.

Die Wiesen sind noch trostlos braun, derFruhling ist auf dieser Hohe noch nicht ange-kommen. Trotzdem, unverkennbar-da untensind sie! Sechs Pferde grasen gleich neben denStallen der Alp. Der Ostwind spielt mit ihrenlangen blonden Mahnen, die Sonne scheintzwischen den Wolken hindurch sanft auf ihrFeli. Stattliche Tiere. Weder abgemagert nochlahm. Mit kraftìgen, gleìchmassig abgelaufe-

nen Hufen. Man schaut ihnen geme zu. Einefuedliche Szene, die an «Wendy»-Heftli-Zeiten erinnert.

Eine Stute bemerkt als Erste, dass sichzwei Menschen nàhern. Sie hebt den Kopf,spitzt die Ohren. Dann der Hengst. Mit ge-blahten Niìstern und wachem Blick beobach-tet er die Gestalten, die zu ihm und seinemHarem heruntersteigen.

Weil sich nach dem Tod von Roberto Del-la Torre niemand fììr die Haflinger zustandigfuhlte, machten sich die Tiere i.rgendwannselbstandig. Sie kannten die Gegend rund umdie Alp Bocc,denn sie waren bereits fruher frei

durch Walder und Wiesen spaziert. DieHengste zogen mit je ein paar Stuten e-.trennten Weges los. Die eine Gruppe ~sich eher auf italienischer, die andereSchweizer Seite. Mittlerweile soli es nochdritte mit einem Junghengst geben. V;'àbrendfunf Jahren nimmt man nicht gross Xotizihnen - bis zum letzten Winter. Seit~(}\erobe:liegt Schnee auf der Alp Bocc, Der Htreibt die Tiere hinab in die Dorfer, DiePferdefarnilie fusst in Rovenna (IFriedhof die Blumen von den Cràbem,dere grast in Sagno auf dem Kinderspidpoal::L

Einen kurzen Moment halteninne, lauschen dem Klicken del Kamera,

Sonnragssc

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A Dann wenden sie sich wieder den Gras-Wl stoppeln zu. Menschen sind ihnen ver-traut und ein bisschen mediale Aufmerksam-keit scheint sie auch nicht weiter zu storen,Doch das Knistem einer Dorrfruchte-Ver-packung lasst sie sofort aufhorchen. Mit zacki-gem Schritt marschieren sie in Richtung Ka-mera und Notizblock. Strecken die Nasen ent-gegen, verlangen nach einer Kleinigkeit, las-sen sich die Stirn kraulen und wenden sichschliesslich wieder ab.

Seit ihren Ausfliigen ins Don sind die rund22 frei lebenden Haflinger zu einem bilate-ralen Politikum geworden. Giuseppe Tetta-manti, Cemeindepràsident von Sagno, ver-langt von den Italienem, dass endlich die Be-sitzverhaltnisse geklart und die Pferde tieràrzt-lich kontrolliert werden. Dass sie in seinem3IO-Seelen-Dorf Hecken niederfressen, eng-lische Rasen zertrampeln und uberall ihrenMist hinterlassen, sei bloss das eine Problem.Das andere: Es sei gefahrlich, wenn Pferdedurch die engen Dorfgassen spazierten. «Wirsind kein Disneyland», sagt Tettamanti. Auchdem Tessiner Kantonstierarzt Tullio Vanzettiist die Einwanderung der italienischen Haflin-ger ein Dom im Auge. «Nutztiere durfen dieGrenze nicht einfach so uberqueren,» Ge-horten Pferde offiziell zu den Wildtieren, waredies alies kein Problem.

Zu Zeiten der Weltlaiege gab es im Waldam Monte Bisbino einen drei Meter hohenStacheldrahtzaun. Der liegt heute damieder.Vanzetti verlangt von den italienischen Behor-den, dass eine Losung gefunden wird, welchedie Tiere vom Grenzubertritt abhalt - zum Bei-spiel mit Futterplatzen auf italienischer Seite.«Passiert dies nicht, haben wir drei Moglich-keiten: Zuerst wurden wir die Tiere einfangenund unter amtliche Sperre stellen. Kommt estrotzdem zu keiner Losung, wurden wir dieTiere beschlagnahmen und verkaufen odernotfalis schlachten.»

In Italien versteht man die Aufregung unddie Engstirnigkeit der Schweizer Behordennicht. «Es heisst immer, sie mussten ihre Ge-setze genau einhalten», argert sich Massimo

24 I SonntagsBlickMagazin

••WlR SIND NJCHT1M DlSNEYLAND ••Wer ist fur die Tiereverantwortlich, werfuttert und pflegt sie?Diese Fragen will Giu-seppe Tettamanti, Ge-meindepràsident vonSagno, mòglichst baldgeklart haben. SeitWochen verhandelnschweizerische unditalìenìsche Tier-schutzorganisatìonenmit den SchweizerBehòrden

i~N. • Caneggio

Monte Bisbino-b.1325m•Bo«

che. Ein paar Sitzungen spater sind die Wogengeglattet und beide Seiten hoffen auf einenKompromiss .

• Morbio Sup.

Die zweite Pferdefamilie treffen wrr InRavenna. Die Tiere geniessen die Morgen-sonne auf einer Wiese mitten im Dorf. pflegensich gegenseitig das durch den Regen derNacht verklebte Fell und kratzen sich an denFeigenbaumen. Eine Gruppe von italienischenTierschutzern ist vor Ort, verfuttert den Pfer-den Ruebli, hartes Brot und eine PackungHaustierheu aus dem Supermarkt. «Sie sindeinfach wunderschonl», freuen sie sich an denzerzausten Tieren.

Vor mehreren tausend Jahren lebte in derSchweiz das echte Wildpferd (Equus ferus), wieKnochenfunde aus der Jungsteinzeit belegen.Ausgewilderte Hauspferde wie der Mustang inNordamerika oder dieCamargue-Pferde in Fran-kreich hat es auf helvetischem Boden hingegennie gegeben. Experten vom Schweizer National-gestut inAvenches VDund der SchweizerischenHochschulefur Landwirtschaftin Zollikofen BE

• Morbio Inl. Rovenna.

lAasliànico•Cernobbio

~~t.sÌ9

Bianchi, Prasident der TierschutzorganisationAurora. Auch die italienische Lokalpressemacht Stimmung gegen die Schweiz, mit Ti-teln wie: «Die Tessiner wollen die Pferde ein-fangen». Ende Marz treffen sich italienischeund Schweizer Tierschutzorganisationen so-wie die Behorden von Sagno zu einer Ausspra-

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bezweifeln, dass wild lebende Pferde in derSchweiz heimisch werden konnen. Zu kleinrau-mig das Land, zu knapp der Boden.

lo, die Nachbaralp von Roberto Della Torre, dersein Freund war. Gabaglione stutzt sich auf dieSchaufel, mit der er soeben den Kuhstall ausge-mistet hat. Vor wenigen Tagen waren diePferde bei ihrn, wie immer friedlich und ruhig.Vor allem die Stadter und Gutbetuchten, diehier im Dorf einen Zweitwohnsitz hatten, wiìr-den sich uber ein paar abgelcnabberte Stauden

Fiir Carlo Gabaglione, den letzten Landwirtim ehemaligen Bergbauerndorf Sagno, istdiese «Psychose um die pferde» unverstand-lich. Er bewirtschaftet im Sommer die Alp Mer-

KEIN INTERESSE AN DEN WILDENHAFLINGERNGianbattista Della Torre, der Sohn desbenen Besitzers, kampft ufi). seinen Erbjedoch nicht um die Pferde. Links: das Schwet-zer Harem mit dem Hengst in der Mitte und e!-ner hochtrachtìgen Stute (im Hintergrund)

und Pferdeapfel auf den Strassen aufregen..«Die Mentalitat im Dorf ist anders als fruher»sagt der 68-jahrige Bauer, «die Solidaritàverlorengegangen. [eder grenzt sich ab.»

Er hat die Pferde bei ihrem letzten Bwieder uber die Grenze nach Italien getrieManchmal schicke sie ein italienischer Bauerwieder zuruck in die Schweiz. «Man miìssteim Winter mit Heu versorgen und ihrebegrenzt halten», sagt Gabaglione,konnte aus ihnen eine Attralction fi.irW~und Naturfreunde werden.» Dies ware auSinne von Roberto Della Torre, meint Gaone. «Er, der sie alle beim Narnen kanntete nicht gewollt, dass man die Pferde sichuberlasst.s

In Ravenna herrscht AufbruchstimlDllllgDie Leitstute bewegt sich langsarn "\"'OD

Wiese weg, die anderen folgen gemàWamend sie langsarn bergwarts ziehen,ben sie mit den lippen Krauter und Gri:in28Igaus den Trockenrnauem arn St:rassenr.u.iHin und wieder muss ein BMW kurzten und warten, bis die Haflingerfarniliemacht fi.ir die Durchfahrt •