hab keine angst - gedanken zu krankheit, tod und ewigkeit

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keine Hab’ Angst Erlebnisse und Gedanken zu Krankheit, Tod und Ewigkeit Johann Christoph Arnold

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  • keineHab Angst Erlebnisse und Gedanken

    zu Krankheit, Tod und Ewigkeit

    Johann Christoph Arnold

  • Johann Christoph Arnold Hab keine Angst

  • Die Menschen, von denen dieses Buch handelt, sind alt und jung, einfach und hoch gebildet. Eines verbindet sie: Sie sind in einer Situation, in der sie sich radikal vor die Aufgabe gestellt sehen, Hoffnung und Sinn jenseits ihrer eigenen Trume, Karrieren und Lebensentwrfe zu finden. Alle in diesem Buch erzhlten Geschichten sind wahr, auch wenn in manchen Fllen Namen und einzelne Details verndert wurden, um die Identitt der betreffenden Person oder ihrer Angehrigen zu schtzen.

  • Johann Christoph Arnold

    Hab keine Angst Erlebnisse und Gedanken

    zu Krankheit, Tod und Ewigkeit

    The Plough Publishing House

  • Dieses Buch sollten Sie nicht fr sich behalten. Schicken Sie es ruhig an Freunde weiter. Sie knnen auch gerne das ganze Werk oder Auszge davon ausdrucken, aber bitte nehmen Sie keinerlei Vernderungen vor. Bitte bieten Sie auch keine Kopien dieses E-Buches zur Wiedergabe in anderen Webseiten oder irgendwelchen anderen Internet-Diensten an. Bei der Vervielfltigung in grerem Umfang sowie bei Abdruck und Verffentlichung von Auszgen in anderen Medien erfllen Sie bitte folgende Bedingungen: (1) Die kommerzielle Nutzung des Werkes ist untersagt. (2) Jegliche Nutzung nur unter Vermerk folgender Quelle: Copyright 2012 The Plough Publishing House. Verffentlicht mit Genehmigung des Urhebers.

    Hab keine Angst ist eine berarbeitete bersetzung der amerikancoischen Originalausgabe Be Not Afraid, Copyright 2002 by The Plough Publishing House.

    Deutsch von Daniel Hug

    This e-book is a publication of The Plough Publishing House.

    Copyright 2012 by The Plough Publishing House Rifton, New York, Robertsbridge, England www.plough.com Alle Rechte vorbehalten

    Umschlagsgestaltung: Christian Lorentz Umschlagmotiv: Farrell Grehan

    ISBN: 978-0-87486-880-7 Printed in the EU

  • Gott ist Liebe, und wer in der Liebe lebt, der lebt in Gott und Gott lebt in ihm. Und wenn wir in Gott leben, dann kommt seine Liebe in uns zum Ziel, und wir knnen dem Tag des Gerichts mit Zuversicht entgegensehen Unsere Liebe kennt keine Angst, weil die vollkommene Liebe alle Angst vertreibt.

    1 Johannes 4, 16-18

  • 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

    Inhalt

    Vorwort 9 Grundlagen 12 ngste 24 Verzweiflung 34 Ein Kind stirbt 45 Ehrfurcht 53 Der kindliche Geist 60 Erwartung 70 Bereitschaft 78 Unflle 88 Jenseits medizinischer Hilfe 97 In Gottes Hand 105 Leid 116 Glaube 129 Mut 139 Heilung 151 Pflege 163 Sterben 173 Trauer 185 Auferstehung 200 Nachwort 211

  • Vorwort

    Wer hat keine Angst vorm Sterben? Wer hat keine Angst davor, alt und gebrechlich zu werden? Wer steht nicht irgendwann vor der Frage, wie er den Verlust eines geliebten Menschen berwinden kann?

    Jeder von uns wird an irgendeinem Punkt mit dem Tod in Berhrung kommen, und dann werden wir mit diesen Fragen konfrontiert sein.

    Dem Tod knnen wir nicht entkommen, er wirft seinen Schatten auf unser gesamtes Leben. Unsere Lebenserwartung mag gestiegen und die Suglingssterblichkeit gesunken sein, Impfungen mgen uns vor Seuchen schtzen, die frher ganze Landstriche entvlkert haben und wir mgen Organe verpflanzen und winzigen Frhchen das Leben retten knnen am Ende aber werden wir feststellen, dass wir immer noch sterblich sind.

    Obwohl wir viele bel der Vergangenheit berwunden haben, gibt es keinen Mangel an Leid und Unglck: von psychischen Krankheiten und Selbstmord angefangen ber Abtreibungen, Euthanasie, Ehescheidungen und Drogen bis hin zu Armut, Gewalt, Rassismus und Krieg. In unserer Gesellschaft mit ihrem ausschlielichen Streben nach Produktion und Leistung werden Menschlichkeit und Liebe oft nur in den Nischen des Systems ge

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  • duldet. Das ist es, was Papst Johannes Paul II. als Kultur des Todes bezeichnet hat.

    Wo die Liebe aus unserem Leben verdrngt wird, da wchst die Angst: Wir haben Angst vor dem Alter und verstecken unsere alten Menschen in Pflegeheimen. Wir haben Angst vor Gewalt und verschanzen uns hinter verschlossenen Tren und berwachungskameras. Wir haben Angst vor Menschen, die anders aussehen oder weniger verdienen als wir, und wir achten darauf, dass sie uns nicht zu nahe kommen. Wir wollen nicht in ihrer Nhe wohnen und wir wollen unsere Kinder nicht mit ihren Kindern auf dieselbe Schule schicken. Wir haben Angst vor unseren Arbeitskollegen und vor Mobbing, und wir haben Angst vor Arbeitslosigkeit, Armut und einem Leben auf dem gesellschaftlichen Abstellgleis.

    Wir haben auch Angst vor anderen Staaten, also ben wir diplomatischen Druck auf sie aus und verhngen Sanktionen ber sie. Dazu kommen noch Kriege, Terrorismus, Rezession, ko-Kollaps, berbevlkerung und so weiter.

    Ich habe selbst Kinder und Enkelkinder, und ich wei, wie es ist, wenn man ber die Zukunft nachdenkt und es dann pltzlich mit der Angst zu tun bekommt. Ich habe bei Freunden und Verwandten am Sterbebett gesessen und sie auf ihrem Weg begleitet, und ich habe eine Ahnung davon bekommen, was es bedeutet, dem Tod ins Auge zu blicken. Was aber noch wichtiger ist: Ich habe den Frieden erlebt, der von denen ausgeht, die nicht nur mit ihren ngsten gekmpft haben, sondern denen die Kraft gegeben wurde, sie zu berwinden. Dieser Frieden ist fr mich eine Quelle von Mut und Hoffnung,

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  • und ich hoffe, dass ich in diesem Buch etwas davon weitergeben kann.

    Diese Menschen, denen ich so viel verdanke, waren ganz normale Mnner und Frauen: Sie mussten durch Tiefen gehen und hatten innere Nte und Kmpfe auszustehen. Manchmal waren sie niedergeschlagen, weinten, hatten Angst und brauchten Ermutigung. Ohne Untersttzung durch Andere wren die meisten von ihnen einfach untergegangen. Aber fr mich ist das Entscheidende nicht die Art ihres Sterbens, sondern wie sie sich auf den Tod vorbereitet haben bewusst oder unbewusst: Sie haben ihr Leben in vollen Zgen gelebt, und zwar nicht fr sich selbst, sondern fr Andere. Diese Menschen waren genauso unvollkommen wie wir alle, aber sie haben ihr Leben fr etwas gelebt, was ber sie selbst hinausgeht, und dadurch konnten sie mehr sehen als nur ihre eigene Not und ihr eigenes Leid, und sie bekamen Mut, ihr Leid zu ertragen ohne sich von ihm zerstren zu lassen.

    Diese Menschen haben mir Mut gemacht, weil sie durch ihr Leben gezeigt haben, dass Gott uns, seine Kinder, liebt. Aus demselben Grund habe ich die Berichte fr dieses Buch zusammengestellt: Ich mchte meinen Lesern die Nhe und die Liebe Gottes vor Augen fhren. Er ist es, der uns allen Trost und Kraft gibt.

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  • 1 Grundlagen

    Meine kleine Schwester Marianne starb, als ich sechs Jahre alt war. Sie war nur einen Tag alt. Ich habe sie nie gesehen, solange sie am Leben war, aber sie hat meine Kindheit beeinflusst wie kaum ein anderer Mensch. Ihre Geburt und ihr Tod hatten einen entscheidenden Einfluss auf meine Schwestern und mich und Jahre spter auch auf meine eigenen Kinder.

    Es war das Jahr 1947. Meine Familie lebte im Urwald von Paraguay in einer kleinen christlichen Gemeinschaft. Wir hatten Hitler die Gefolgschaft verweigert und standen damit vor der Wahl, entweder ins Konzentrationslager deportiert zu werden oder aus Deutschland zu fliehen. Die darauf folgende Odyssee hatte uns durch Liechtenstein, die Niederlande, England und schlielich nach Paraguay gefhrt. Hier betrieb die Gemeinschaft ein relativ primitives Krankenhaus. Kurz bevor Marianne geboren wurde, nach zwei Tagen extrem heftiger, lebensbedrohlicher Wehen, hrte das Herz meiner Mutter pltzlich auf zu schlagen. Zwar gelang es den rzten sie wiederzubeleben, aber sie blieb ohne Bewusstsein. Mein Vater flehte die rzte an, einen Kaiserschnitt vorzunehmen, aber sie warnten ihn: Wenn wir operieren, wird die Mutter sterben. Die einzige Mglichkeit deine Frau zu retten, ist,

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  • das Kind abzutreiben. Sonst werden beide sterben, Mutter und Kind.

    Es war ein schreckliches Dilemma. Meine Eltern glaubten beide fest daran, dass das Leben etwas Heiliges ist. Mein Vater ging hinaus in den Urwald, um zu beten.

    Als er zurckkam, war meine Mutter wieder bei Bewusstsein, obwohl ihr Zustand immer noch kritisch war. Vllig unerwartet wurde das Baby pltzlich auf natrliche Weise geboren. Es sah ganz gesund aus, bis auf eine kleine Beule am Kopf, die durch medizinische Instrumente verursacht worden war. Meine Eltern waren sich sicher, dass Gott hier eingegriffen hatte.

    Aber meine Mutter sprte, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmte. Marianne schrie nicht, und sie ffnete auch nicht ihre Augen. Am nchsten Tag starb sie.

    Einige Wochen spter schrieb meine Mutter an ihren Bruder in Deutschland:

    Es war alles so schwer zu begreifen: dass dieses Kind, so sehr ersehnt und erwartet, unter so schweren Schmerzen geboren, nun schon wieder von uns gegangen sein sollte, noch ehe man es ganz richtig in sich aufgenommen hatte, noch ehe man wusste, was fr ein Menschlein es sein wrde.

    Manchmal scheint mir alles so unwirklich gewesen zu sein, wie ein vorberhuschender Traum. Doch je mehr mein Mann mir erzhlte, umso mehr sprten wir beide die Dankbarkeit, dass das Kindchen lebend zur Welt gekommen war, und wenn auch nur fr kurze Stunden, so doch groe Freude gebracht hatte, und die Herzen der Menschen in Liebe zueinander gefhrt hatte. So hatte die Kleine doch einen Auftrag auf der Erde erfllt.

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  • Mein Vater dankte Gott sein Leben lang dafr, dass das Kind nicht abgetrieben worden war. Diese Erfahrung war fr ihn die Besttigung seines Glaubens, dass jede Seele von Gott mit einer bestimmten Absicht auf diese Erde geschickt wird, unabhngig davon, wie kurz oder lang sie hier lebt. Diesen Glauben hat er an mich weitergegeben: als eine tiefe Ehrfurcht nicht nur vor dem Mysterium von Zeugung und Geburt, sondern auch als Ehrfurcht vor der Heiligkeit jedes menschlichen Lebens.

    Damals war ich natrlich ein ganz normales Kind, den Kopf voller Unsinn und dauernd in Schwierigkeiten und so blieb es auch noch eine ganze Zeit lang. Wie die meisten Jungen, mit denen ich aufwuchs, liebte ich Pferde und Reiten. Zusammen machten wir geheime Ausflge mit Jagen, Schwimmen und Singen ums Lagerfeuer. Ich sah den Gauchos bei ihrer Arbeit mit den Viehherden zu, und ich beobachtete sie, wenn sie mit ihren Pferden ber die Ebene galoppierten. Damals war es mein Traum, selbst einmal ein Gaucho zu werden. Und trotzdem hatte Mariannes Leben einen Eindruck auf mich gemacht, den ich wie ein Samenkorn in meinem Herzen trug. Dort ging es auf und schlug Wurzeln. Und es ist immer noch da.

    Unser subtropisches Paradies in Paraguay war voll von berquellendem Leben, aber es war auch voller Krankheit und Tod. Mein Vater und ich brachten oft Nahrungsmittel und Vorrte zu unserem Missionskrankenhaus, und so bekamen wir sehr oft kleine Einblicke in das Leid und das Elend der Menschen, die dort Hilfe suchten. Viele waren unterernhrt, Tuberkulose und Lepra waren hufig. Es gab Komplikationen bei Schwangerschaften, Kinder, die an Atemwegserkrankungen, Hirnhautentzndung oder

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  • hohem Flssigkeitsverlust starben. Mnner kamen, die beim Fllen von Bumen verletzt worden waren; andere hatten sich betrunken und waren anschlieend mit Macheten aufeinander losgegangen.

    Mein Vater hat uns Kindern oft von Jesus erzhlt, wie Jesus fr die Armen gekommen war. Er erzhlte uns von Mnnern und Frauen, die ber die Jahrhunderte hinweg alles aufgegeben hatten, um Jesus nachzufolgen. Eine unserer Lieblingsgeschichten war die von Wassili Ossipowitsch Rachoff, einem jungen russischen Adligen, der seine Familie mit all ihrem Reichtum verlsst und von einem Dorf zum nchsten wandert, um denen zu helfen, die in Not sind. ber Rachoff habe ich oft lange nachgedacht.

    Als Teenager verbrachte ich einige Monate von meiner Familie getrennt als Arbeiter in einem Missionshaus in Asuncin, der Hauptstadt von Paraguay. Meine Aufgabe bestand hauptschlich darin, Botengnge zu erledigen und kleine Arbeiten ums Haus herum auszufhren.

    Anstatt zum Sonntagsgottesdienst zu gehen, ging ich oft in die Elendsviertel, wo Freunde von mir wohnten. Die Lebensbedingungen dort waren frchterlich: berfllte Bambus-Verschlge, zwischen denen die Kloake durchfloss. Die Fliegen und Moskitos waren entsetzlich. Hunderte von Kindern stromerten durch die Gassen, viele von ihnen Waisen, die sich durch Diebstahl am Leben hielten. Andere verdienten sich ihr Geld damit, Schuhe zu flicken fr etwa fnf Cent pro Paar. Ich fand diese Arbeit so spannend, dass ich mir selbst ein paar Werkzeuge zulegte und mit ihnen zusammen arbeitete, wann immer ich Zeit fand. Dabei erzhlten mir diese Kinder

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  • von sich selbst und ich lernte ihre Lebensgeschichten kennen. Bei vielen waren die Eltern entweder bei Kmpfen umgekommen oder an Tropenkrankheiten gestorben. Sie hatten zusehen mssen, wie ihre eigenen Geschwister verhungerten oder krank wurden und starben. Sie selbst hatten berlebt, aber auch ihr Leben war hart und voll Not, Angst und Gefahr.

    Als es in der Stadt zu einer Revolution kam, wurde auch in der Strae, in der wir wohnten, viel gekmpft. Die ganze Nacht hindurch hrten wir das Rumpeln der Panzer und das Knattern der Maschinengewehre. Kugeln pfiffen ber unser Haus hinweg und von unseren Fens-tern aus sahen wir, wie Soldaten gettet wurden. Das war Krieg. Ich war dreizehn Jahre alt und weit weg von meiner Familie. Ich hatte Angst. Und wenn eine der Kugeln mich treffen wrde?

    Meine Grotante Monika lebte mit uns zusammen in diesem Haus in Asuncin. Sie merkte, wie viel Angst ich hatte und beruhigte mich. Sie war Krankenschwester und hatte den Ersten Weltkrieg an der Front miterlebt. Sie erzhlte mir, wie ihr sterbende Soldaten den Kopf auf den Scho gelegt hatten und in ihrem Schmerz und in ihrer Todesangst geweint hatten wie kleine Kinder: wie sie unter Trnen ihre Snden bereut hatten und wie weh es ihnen tat, dass sie ihre Lieben nie wieder sehen wrden. Aber durch ihren tiefen Glauben hatte Monika ihre Herzen anrhren knnen, sie hatte sie trsten und mit ihnen zu Jesus hin blicken knnen.

    Trotzdem hatte ich diese bohrende Frage in mir: Warum mssen Menschen sterben? Und warum gibt es so viel Bses und Schlechtes in der Welt? Monika las mir

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  • einen Abschnitt aus dem achten Kapitel des Rmerbriefs vor, in dem es darum geht, wie die ganze Welt sehnschtig auf ihre Erlsung wartet. Sie half mir sehr, ber meine ngste hinwegzukommen, besonders ber meine Angst vor dem Tod. Genau wie mein Vater erzhlte auch sie mir, dass Christus irgendwo in diesem Universum einen Ort fr uns bereithlt und ich fhlte die Wirklichkeit dieses Ortes, da war nichts Abstraktes dran. Dieser Glaube war mir oft eine Hilfe. Ich fand auch Trost in Jesus Versprechen, das ich im Matthus-Evangelium las: Ihr knnt euch sicher sein: Ich bin immer bei euch, bis zum Ende der Welt.

    Etwa zehn Jahre spter kam ich wieder sehr nahe mit dem Tod in Berhrung. Meine Familie war inzwischen von Paraguay in die USA umgesiedelt, denn wir wollten dabei helfen, eine weitere Gemeinschaft etwas nrdlich von New York aufzubauen. Die Brgerrechtsbewegung war voll im Gange, und man konnte einfach nicht unberhrt dastehen und zusehen. Martin Luther King hatte (und hat) eine ungeheure Bedeutung fr mich. Er war eine inspirierende Persnlichkeit. Sein Glaube an die Gerechtigkeit war unerschtterlich und er schien vllig furchtlos zu sein, obwohl er von so vielen Menschen gehasst wurde. Er bekam so viele Morddrohungen, dass ihm der Gedanke an seinen eigenen Tod sicherlich nie fern war. Einmal, nur wenige Tage vor seinem Tod, gab er das zu. Gleichzeitig erklrte er auch, warum er sich weigerte, seinen Befrchtungen Raum zu lassen:

    Genau wie jeder Mensch wnsche auch ich mir ein langes Leben. Ein langes Leben hat seinen Wert. Aber darum geht es mir jetzt nicht. Ich mchte einfach nur Gottes Willen tun. Und er

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  • hat es mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. Und ich habe von dort aus geschaut. Ich habe das gelobte Land gesehen. Vielleicht komme ich selbst nicht mehr mit euch dorthin. Aber eines sollt ihr wissen: wir als Volk werden das gelobte Land erreichen! Das ist es, warum ich glcklich bin. Ich mache mir um gar nichts Sorgen. Ich frchte mich vor niemandem. Mit meinen eigenen Augen habe ich die Herrlichkeit von Gottes Wiederkunft gesehen!

    Fr mich war sein Leben wie ein Aufruf. Im Frhjahr 1965 reiste ich mit einem Freund nach Alabama und wir erlebten persnlich seine tiefe Liebe und Demut. Wir hatten gerade das Tuskegee Institut* besucht, als uns die Nachricht von Jimmy Lee Jacksons Tod erreichte. Jackson war ein junger Mann, der einige Tage zuvor im nahe gelegenen Ort Marion bei einem Angriff der Polizei auf eine friedliche Demonstration schwer verwundet worden war.

    Zeugen beschrieben diesen Angriff spter als ein blutiges Chaos: Weie Schaulustige zerstrten Kameras von Reportern und zerschossen Straenlaternen, whrend Polizisten mit extremer Brutalitt gegen die schwarzen Demonstranten vorgingen, von denen viele auf den Eingangsstufen einer Kirche beteten. Jimmy hatte gesehen, wie seine Mutter erbarmungslos von einem Polizisten geprgelt wurde und hatte versucht, den Polizisten wegzustoen, um sie zu schtzen. Daraufhin schoss man ihm zweimal in den Bauch und prgelte ihn, bis er halb tot war. Das rtliche Krankenhaus weigerte sich ihn aufzunehmen, so dass Freunde ihn in ein Krankenhaus ins benachbarte Selma fahren mussten. Dort erzhlte er Re

    *Eine Bildungseinrichtung speziell fr Afro-Amerikaner, denen der Besuch einer Universitt damals nicht erlaubt war.

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  • portern, was passiert war. Einige Tage spter starb er an seinen Verletzungen.

    Als wir von Jimmys Tod erfuhren, machten wir uns so-fort auf den Weg nach Selma. Die Totenwache fand am offenen Sarg statt, und obwohl der Leichenbestatter sein Mglichstes getan hatte, um die Verletzungen zu verbergen, waren sie am Kopf noch deutlich sichtbar: Drei klaffende Wunden von je zehn Zentimetern Lnge und drei Zentimetern Breite.

    Wir waren zutiefst erschttert. Beim folgenden Gedenkgottesdienst war die Kirche so berfllt, dass wir auf einer Fensterbank nahe am Eingang sitzen mussten. Aber nicht nur die Kirche war voll, sogar auf dem Vorplatz stand eine groe Menschenmenge.

    Das Erstaunliche war, dass whrend des gesamten Gottesdienstes nicht einmal eine Spur von Wut oder dem Wunsch nach Vergeltung zu bemerken war. Im Gegenteil, eine Atmosphre von Mut und Frieden ging von der versammelten Gemeinde aus. Dann standen wir alle auf, um das alte Sklavenlied Aint gonna let nobody turn me round zu singen. Da war eine so mchtige, triumphale Stimmung, dass sich kaum ein Auenstehender htte denken knnen, zu welchem Anlass wir uns versammelt hatten.

    Danach gingen wir zu einem weiteren Gedenkgottesdienst fr Jimmy in der Stadt Marion. Dort war die Atmosphre wesentlich bedrckter. Gegenber der Kirche stand eine lange Reihe von Polizisten vor dem Rathaus. Sie hatten die Hnde auf ihren Schlagstcken und den Blick direkt auf uns gerichtet. Das waren dieselben Mnner, die nur wenige Tage zuvor die Schwarzen in Marion

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  • angegriffen hatten. Als wir nach dem Gottesdienst mit dem Sarg zum Friedhof zogen, mussten wir erst an diesen Polizisten vorbei und dann einen Spierutenlauf durch eine Menge von johlenden und pfeifenden Weien machen, die sich in der Nhe versammelt hatte. Die Polizisten hatten auer ihren Pistolen auch noch Fernglser und Kameras, mit denen sie jeden einzelnen von uns beobachteten und fotografierten. Die johlende Menge folgte uns und Beleidigungen und Schmhrufe flogen zu uns herber.

    Bei der Beerdigung sprach Martin Luther King ber Vergebung und Liebe und bat alle Anwesenden darum, fr die Polizei zu beten und Jimmys Mrder zu vergeben und ebenso allen, die sie verfolgten und schikanierten. Dann fassten wir uns an den Hnden und sangen We shall overcome.

    Obwohl die Begegnung mit Martin Luther King eine prgende Erfahrung fr mich war, wurde meine Einstellung zum Tod doch von keinen Menschen mehr beeinflusst, als von meinen Eltern. Mein Vater hatte in seinem Leben viel Leid ertragen mssen. Er war mehrmals schwer krank gewesen, an der Schwelle zum Tod, aber auf wunderbare Weise hatte er immer berlebt. Meine Mutter war vier Jahre lter als er und hatte eine sehr robuste Gesundheit. Sie war praktisch nie krank. Wir Kinder waren immer davon ausgegangen, dass mein Vater vor ihr sterben wrde. Aber Gott hatte andere Plne. Im September 1979 wurde bei meiner Mutter Lymphdrsenkrebs diagnostiziert. Ihre Gesundheit verschlechterte sich rapide und schon bald war sie pflegebedrftig sie, die ihr ganzes Leben damit verbracht hatte, fr andere zu

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  • sorgen. Es fiel ihr sehr schwer, das zu akzeptieren. Aber obwohl sie groe Schmerzen hatte, vertraute sie weiterhin auf Gott und gehorchte dem, was sie als seinen Willen erkannte. Sie fand wirklichen Frieden darin und konnte ihrem Lebensende ohne Angst entgegengehen.

    Ich erinnere mich noch deutlich an den Tag, an dem die rzte unserer Familie die Diagnose meiner Mutter mitteilten. Meine Eltern weinten, und wir weinten mit ihnen. Dann schauten sie sich in die Augen und ich werde niemals diese Liebe vergessen, die in diesem Blick lag. Sie wandten sich an uns, an ihre Kinder, und sag-ten: Von jetzt an zhlt jeder Tag und jeder Moment. Wir drfen keine Gelegenheit verpassen, den Brdern und Schwestern und Kindern in der Gemeinde und auch den Gsten zu zeigen, dass wir sie lieben. Unsere Mutter ermutigte uns, vollkommen auf Gottes Weisheit und Fhrung zu vertrauen. Dieser Moment war herzzerreiend, aber er war auch zutiefst bewegend.

    Nur wenig spter, in den ersten Wintermonaten des Jahres 1980, starben drei ltere Gemeindemitglieder innerhalb von zwei Wochen. Alle drei waren ber Jahrzehnte eng mit meinen Eltern befreundet gewesen, und ihr Tod traf meine Mutter schwer. Man merkte frmlich, wie sie schwcher wurde. Zuerst starb die Mutter meines Vaters, meine Gromutter. Sie war 95 Jahre alt geworden. Es schmerzte meine Mutter, dass sie zu schwach war, um den Leichnam meiner Gromutter waschen und einkleiden zu knnen. Auch das Zimmer, in dem meine Gromutter aufgebahrt werden sollte, konnte sie nicht mehr herrichten. Sie hatte es immer als ein besonderes Privileg

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  • angesehen, Mitgliedern der Gemeinde diesen letzten Liebesdienst, wie sie es nannte, zu erweisen.

    Als dann nur einige Tage spter Dora starb, eine Frau, die meine Mutter fast 50 Jahre lang gekannt hatte, holte ich meine Eltern bei ihnen zuhause ab, damit sie sie noch einmal sehen konnten. Meine Mutter schaute sie mit einer Zrtlichkeit an, die ich nie vergessen werde. Obwohl sie schon zu schwach war, um an dem Begrbnis teilzunehmen, stand sie von ihrem Bett auf und wartete in der offenen Haustr als Doras Trauerzug vorbeiging, zitternd und in respektvollem Schweigen.

    In der darauffolgenden Woche starb Ruth, eine alte Klassenkameradin meines Vaters. Fr ihr Begrbnis zog sich meine Mutter feierlich an und setzte sich in ihrem Bett auf. Eigentlich ging das weit ber ihre Krfte hinaus, aber sie bestand darauf als Ausdruck ihrer Liebe und ihres Respekts fr Ruth.

    Bei uns waren dauernd Kinder aus der Gemeinde zu Besuch, und ihre berzeugung, dass meine Mutter wieder gesund werden wrde, hatte sofort Auswirkungen: Immer wenn Kinder da waren, kam ein besonderer Friede ber sie, und sie strahlte eine tiefe Freude aus. Oft sagte sie seufzend Die Kinder, die Kinder! Sie wusste nichts davon, aber die Kinder trafen sich oft heimlich, um fr sie zu beten.

    Meine Mutter starb im Mrz 1980, fnf Monate nachdem sie von ihrer Krankheit erfahren hatte. Fr meinen Vater war es ein so schwerer Schlag, dass er sich davon nie erholen wrde. Mehr als 40 Jahre lang waren sie verheiratet gewesen und immer hatten sie zusammengearbeitet

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  • und beieinander Rat und Hilfe gesucht. Jetzt war mein Vater alleine.

    Im Laufe der nchsten zwei Jahre nahm seine Kraft schnell ab. Er las tglich in seiner Bibel und leitete Gottesdienste, wenn sein Zustand es zulie. Er sprach oft ber Gottes Plan fr die gesamte Schpfung und sagte immer wieder Gottes Reich ist das einzige, was zhlt. Wir sind alle so klein, so schwach. Und trotzdem ist jeder einzelne von uns eine ffnung, durch die Gottes Liebe in die Welt kommen kann. Dafr mchte ich leben, und dafr ist es auch wert zu sterben. Diese Einstellung behielt mein Vater bis an sein Lebensende bei.

    Whrend der letzten Wochen seines Lebens konnte mein Vater kaum noch sprechen, aber es war dennoch immer eine innerliche Strkung, bei ihm zu sein und Zeit mit ihm zu verbringen. Gottes Nhe war sprbar und gab ihm tiefen Frieden. Er starb an einem Sommermorgen in aller Frhe, und es war eine Ehre fr mich, ihm als sein einziger Sohn die Augen fr immer zu schlieen.

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  • 2 ngste

    Ich wurde 1940 in England geboren. Es war eine Zeit der Angst. Die deutsche Luftwaffe flog jede Nacht genau ber unser Haus in der Gegend von Cirencester, um weiter im Norden Ziele in Birmingham anzugreifen. Auf dem Rckflug warfen sie die Bomben, die sie noch an Bord hatten, scheinbar zufllig ab. Mehrere Male schlugen solche Bomben sehr dicht bei unserem Haus ein, und meine Mutter erzhlte mir spter, wie oft sie sich um die Sicherheit von uns Kindern Sorgen gemacht hat.

    Als meine Familie 1955 in die USA umsiedelte, waren Blitzkrieg und Fliegerbomben nur noch eine blasse Erinnerung. An ihre Stelle war ein anderer Konflikt getreten: Der Kalte Krieg war voll entfacht und die beiden Supermchte rsteten um die Wette. Die Schrecken von Hiroshima und Nagasaki waren noch frisch, und die Atomkriegs-Hysterie, die sich seitdem entwickelt hatte, war auf ihrem Hchststand. Schulen hatten regelmige Luftschutzbungen fr den Fall eines Angriffs, und Familien bauten ihre eigenen Luftschutzkeller und Atombunker und legten darin Vorrte von Konservendosen und Trinkwasser an. In den Nachrichten konnte man Speku

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  • lationen darber lesen, welche amerikanischen Stdte die Sowjets angreifen knnten.

    In den Vereinigten Staaten zu leben war fr mich ein spannendes Abenteuer. Auf der anderen Seite hatte ich aber auch Angst, denn Rifton, unsere neue Heimat, lag in der Nhe von New York. Man ging damals davon aus, dass im Falle eines Atombombenabwurfs auf die Stadt in einem Umkreis von 150 Kilometern niemand berleben wrde.

    An die Luftschutzbungen habe ich mich nie gewhnen knnen. Immer wieder musste ich mit meiner Angst vor Bomben und Krieg kmpfen, und ich merkte, dass es den meisten meiner Klassenkameraden trotz aller Witze ber das Thema hnlich ging. Ich bin sicherlich nicht der Einzige meiner Generation, der sich an diese Dinge erinnert.

    Angst ist natrlich nicht auf bestimmte Orte oder Zeiten beschrnkt. Sie ist ein ganz tiefes Gefhl, eine Art Ur-Instinkt. Jeder von uns wei, wie sich Angst anfhlt: wie man vor einer pltzlichen Stichflamme zurckschreckt oder vor einem knurrenden, zhnefletschenden Hund. Oder wenn man in die Tiefe blickt und sich pltzlich unwillkrlich am Gelnder festhlt oder einen Schritt zurcktritt. Aber es gibt noch eine andere Form der Angst, etwas, was Menschen erleben, wenn sie schwer krank und mit der Mglichkeit ihres Todes konfrontiert sind. Die-se Angst hat nicht viel mit Selbsterhaltung und berlebenstrieb zu tun, sondern hier geht es um unaufhaltbare Vernderungen und darum, dass die Zukunft pltzlich sehr unsicher geworden ist. Aber es ist mehr als nur das: Wer den eigenen Tod vor Augen hat, der kommt kaum

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  • umhin, sich sein eigenes Leben rckblickend anzusehen, und dann kommt natrlich die Angst, sein Leben verschwendet zu haben.

    Vor einigen Jahren erkrankte Matthias, ein damals 22-jhriger Mann, den ich ziemlich gut kannte, an Lymphdrsenkrebs. Damals sprachen wir oft ber seine ngste, und diese Gesprche sind mir seitdem in Erinnerung geblieben. Genau wie die meisten Menschen, bei denen eine lebensbedrohliche Krankheit festgestellt wird, war Matthias zunchst auf die medizinischen Fakten fixiert und lcherte seine rzte mit allen mglichen Fragen: Was verursacht diesen Krebs? Wie effektiv sind die Behandlungsmethoden? Wie sind meine berlebenschancen? Was bedeutet dieser oder jener medizinische Fachbegriff? Aber nach einigen Tagen fing er an, sich mehr und mehr mit seinem inneren, seelischen Zustand zu beschftigen. Es schien fast, als ob er ahnen wrde, dass sein Leben eine unwiderrufliche Wende gemacht hatte und dass er seine Angelegenheiten in Ordnung bringen msse, egal wie medizinisch alles ausgehen wrde.

    Sein Hausarzt erinnerte sich spter an einen Besuch bei Matthias, zwei Tage nach dessen Entlassung aus dem Krankenhaus:

    Ich merkte, dass er geweint hatte und fragte ihn, wie es ihm ginge. Er sagte mir, er htte gerade ein langes Gesprch mit seinem Vater gehabt und htte das Gefhl, dass sein Leben mehr Tiefe haben msste. Er sprach davon, dass es Sachen gbe, die sein Gewissen belasten und dass er mit jemandem darber reden msse. Er meinte auch, er habe Angst und fhle sich einsam.

    Ich schlug vor, dass er in den nchsten Tagen einfach mal nach drauen gehen sollte, auch wenn es ihm hundeelend

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  • ginge. Vielleicht wrde ihm das helfen. Aber er schaute nur starr an mir vorbei und sagte: An meiner Beziehung zu Gott stimmt etwas nicht.

    Ich versicherte ihm, wir alle mssten unser Leben vertiefen, nicht nur er, und dass seine Krankheit uns allen helfe, unsere Not und unsere Angewiesenheit auf Gott klarer zu sehen. Aber Matthias lag einfach da und starrte mit groen, verweinten Augen geradeaus, den Ernst seiner Lage langsam in sich aufnehmend. Als ich ihn so daliegen sah, begriff ich, dass wir eigentlich alle so einen Moment des Innewerdens brauchen.

    Etwa in dieser Zeit schickte Matthias mir eine Email:

    Im Jakobusbrief steht etwas, was fr mich in meiner jetzigen Lage groe Bedeutung gewonnen hat. Da geht es darum, dass wir uns gegenseitig unsere Snden eingestehen, damit unsere Gebete erhrt werden. Es war mir noch nie so wichtig wie jetzt, dass alle meine Snden gebeichtet und vergeben sind, und dass ich alle Menschen um Vergebung bitte, die ich verletzt habe. Das ist mir alles viel wichtiger als krperliche Heilung. Wenn man einmal an dem Punkt ist, wo die Beziehung zu Gott wichtiger ist als der Versuch, vor anderen Menschen als makellos dazustehen, dann sehnt man sich pltzlich nach Bue, anstatt sich davor zu frchten. Das habe ich unmittelbar erlebt, als ich aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Mir ist klar geworden, dass es absolut lebenswichtig ist, meine Beziehung mit Gott ins Reine zu bringen. Ohne das werde ich meine Krankheit nicht berstehen.

    In den folgenden Tagen schrieb Matthias mir einige solcher Emails, und ich versuchte jeweils, ihm zu antworten. Ich schrieb ihm, dass durch den Krebs unsere Macht zur Ohnmacht wird, und dass Gott ihm vielleicht auf die-se Weise etwas sagen will. Ich erinnerte ihn auch daran, dass bislang fr ihn immer alles glatt gelaufen war: Er war

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  • jung und stark gewesen, gut aussehend und begabt: Die Welt hatte ihm zu Fen gelegen. Aber vielleicht konnte Gott ihn mit all seinen menschlichen Gaben und Fhigkeiten einfach nicht brauchen. Ich meinte zu ihm: Matthias, vielleicht musste Gott dich von deinem hohen Ross runterholen, damit er jetzt durch deine Schwche wirken kann. Ich war erstaunt ber seine Antwort. Er sagte: Ich verstehe, was du meinst. Es wird ein harter Weg sein, aber ich wei, dass ich ihn gehen muss.

    Die nchsten Monate vernderten Matthias tiefgreifend. Zum Zeitpunkt seiner Diagnose war er ein vorlauter, oft etwas grospuriger Spavogel gewesen, nach auen hin sorglos, aber innerlich voll Unsicherheit und Angst. Sechs Monate spter war er ein anderer Mensch geworden. Zugegeben, den Clown hat er nie ganz abgelegt, auch nicht, als es auf das Ende zuging. Aber die schrecklichen Schmerzen, die er tage- und nchtelang ertragen musste, hatten in ihm eine neue, tiefere Seite geweckt. Es gab einen Moment, an dem er aufhrte vor der harten Wahrheit davonzulaufen; einen Moment, von dem an er akzeptieren konnte, dass er sterben wrde. Als er diesen Gedanken zu ertragen gelernt hatte, konnte er dem Tod wirklich ins Auge sehen. Dadurch konnte er auch die Kraft aufbringen, seinem Todeskampf ruhig entgegenzugehen.

    Nicht jeder stirbt friedlich, und das hngt nicht nur davon ab, wie jemand gefhlsmig veranlagt ist oder was fr ein Temperament er hat. Man kann keinen Frieden dadurch finden, dass man einfach mit seinen Gefhlen arbeitet, wie das so oft gesagt wird. Ohne Zweifel kann das helfen, unsere ngste zu besnftigen, besonders wenn wir dadurch lernen, unsere Verletzlichkeit einzugestehen

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  • und uns an Menschen zu wenden, die wir lieben und denen wir vertrauen. Aber Angst kann man nicht alleine durch emotionales Abreagieren oder durch Willenskraft berwinden. Wenn der Tod wirklich vor der Tr steht, dann weint auch ein hartgesottener Soldat und sehnt sich nach seiner Mutter.

    Meiner Erfahrung nach gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen Angst und seelischem Abgehrtetsein: Wer sich seiner Schwchen bewusst ist, empfindet es als Erleichterung, sie einzugestehen und um Hilfe zu bitten. Aber wer sich als stark und unabhngig ansieht und Verletzlichkeit als Niederlage empfindet, fr den ist eine Situation der Hilflosigkeit und Hilfsbedrftigkeit mit katastrophalen ngsten verbunden. Das gilt ganz besonders fr Menschen, die ihre eigene Sterblichkeit nicht akzeptieren knnen und erbittert gegen den Tod kmpfen. Pltzlich mssen sie einsehen, dass ihre vermeintliche Unabhngigkeit schon immer eine Illusion gewesen ist und dass auch der Strkste schwach und hilflos ist, wenn es ans Sterben geht.

    In ihren Jugenderinnerungen beschreibt die Schriftstellerin Susanne Antonetta eine solche Situation: Ihre Gromutter war eine Frau, die immer alles unter ihrer Kontrolle hatte. In ihrem Haus herrschte sie mit eiserner Hand und es gab keinen Lebensbereich, zu dem sie nicht eine Meinung hatte, von Ernhrung ber Kleidung, Tagesablufe und Berufswahl bis hin zu der Partnerwahl ihrer Kinder und den Namen fr ihre Enkel, wo sie Widerspruch einlegte, wenn sie ihr nicht zusagten. Aber dann kam das Sterben, und mit dem Sterben eine unkontrollierbare Angst:

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  • Es war schrecklich, einen Menschen von einer solchen Todesangst gepackt zu sehen. Kein gut gelebtes Leben, kein Sterben im Kreis der intakten Familie, kein Erinnert-Werden konnte sie beruhigen. Es gab nichts, was die Ungeheuerlichkeit ihrer Angst htte eindmmen knnen. Es war ihr gleichgltig, dass wir alle bei ihr waren von ihr aus htten wir alle tot umfallen knnen. Ihre Angst fra sie frmlich auf: Mit eingefallenem Gesicht und hervortretenden Rippen sa sie da, ihre Augen wild und verstrt umherirrend. Nichts war brig geblieben von der charmanten Sorglosigkeit einer Frau, der es nichts ausmachte, alleine zu sein.

    Der Tod meiner Gromutter war grauenhaft, ein zu Tode gehetzt Werden. Aber nicht nur der Tod selbst war hinter ihr her. Jede Nacht, wenn sie zu Bett ging, sah sie Geister und Phantome, die in ihrem Zimmer lauerten und lautlos durch die Fenster hereinglitten. Wie sie schrie! Sie lebte in einer Welt bser Geister. Ich war zu dieser Zeit schon in eine andere Stadt gezogen und habe die Beschreibungen meiner Gromutter nicht selbst gehrt. Meine Mutter erzhlte keine Einzelheiten. Sie sagte nur eines: Schlimm.

    Das ist eine ziemlich verstrende Geschichte vom Sterben eines Menschen, aber sie erlaubt uns ungewhnlich tiefe Einblicke in den Zusammenhang zwischen dem Persnlichen und dem Kosmischen. Wir sind nie wirklich alleine. Unser Leben lang umgeben uns sowohl die Krfte des Guten als auch des Bsen. Der Kampf zwischen diesen beiden Mchten findet an vielen Orten statt, aber ich glaube, dass er da am intensivsten ist, wo die Seele eines sterbenden Menschen in der Schwebe hngt.

    Dorie war eine enge Freundin meiner Mutter. Diese Spannung, diese Angst vor dem Tod, hing jahrzehntelang ber ihr, nicht nur am Ende ihres Lebens. Auch ich kannte sie gut: Sie hatte viele Jahre lang zur Familie meiner El

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  • tern gehrt und direkt neben uns gewohnt. Als meine El-tern dann gestorben waren, wurde sie Teil meiner Familie.

    Die meisten Leute kannten Dorie als einen frhlichen Menschen, dessen grte Freude darin bestand, anderen zu helfen. Wenn ein Baby geboren wurde, dann war sie die erste, die mit Obst und Blumen zur Stelle war und ihre Hilfe im Haushalt anbot. Genauso, wenn Gste kamen: Kein Gstezimmer entkam ihrem Lappen und Staubwedel; alle Betten waren frisch gemacht und liebevoll glattgezupft. Sie schien unerschtterlich in ihrer Frhlichkeit und es machte ihr nichts aus, die einfachsten und alltglichsten Aufgaben zu verrichten. Aus menschlichem Dank machte sie sich nichts.

    Hinter all dem steckte trotzdem ein nervser, ngstlicher Mensch. Dorie litt unter Schlafstrungen und wollte nicht alleine sein. Jedes Zeichen des lterwerdens erfllte sie mit Sorge und ihr graute vor der Mglichkeit, dass sie eines Tages gebrechlich und pflegebedrftig werden knnte. Schon mit 50 Jahren fing sie an, sich um ihren Tod Sorgen zu machen. Zum Glck hatte sie sich so fest vorgenommen, anderen helfen zu wollen und ihnen kleine Freuden zu machen das hat ihr durch alle Krisen hinweg geholfen und sie davor bewahrt, von ihren ngsten an den Rand des Wahnsinns getrieben zu werden.

    Dann kam der Krebs. Sechs Jahre lang kmpfte sie tapfer mit ihrer Krankheit. Zunchst unterzog sie sich mehrmals einer Chemotherapie, und jedes Mal war sie so nervs und angespannt, dass sie sowohl emotionale als auch seelsorgerische Untersttzung brauchte. Glcklicherweise kam sie durch und hatte noch einige Krebs-freie Jahre.

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  • Aber der Krebs kam zurck. Dieses Mal wuchs der Tumor rasend schnell und uns war klar, dass Dorie nicht mehr viel Zeit bleiben wrde. Sie hatte groe Schmerzen und die Strahlentherapie brachte nur wenig Linderung. Es schien mehr zu helfen, einfach bei ihr zu sitzen und mit ihr zu reden. Meine Frau und ich suchten mit ihr zusammen nach Antworten auf ihre Fragen: Was ist der Tod? Warum mssen wir sterben? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Zusammen lasen wir viel in der Bibel, vor allem ber Tod und Auferstehung. Vor allem wollten wir die Stellen lesen, die ihr Kraft geben konnten. Ich erinnerte sie daran, dass sie jahrzehntelang Gott und ihren Mitmenschen gedient hatte und sagte ihr, ich sei sicher, dass sie dafr belohnt werden wrde.

    Trotz alledem waren die letzten Wochen in Dories Leben ein gewaltiger Kampf, sowohl krperlich als auch geistlich. Man konnte fhlen, dass es hier nicht nur um menschliche ngste ging, sondern dass ihre Seele und ihr Geist ums berleben kmpften. Sie schien von dunklen Mchten wie belagert zu sein. Meine Frau und meine Tchter pflegten sie Tag fr Tag und waren bei ihr in den langen Stunden ihrer inneren Qual. Einmal schrie sie, dass etwas Bses ihr Zimmer betreten htte. Mit dem bisschen Kraft, das sie noch hatte, warf sie ein Kissen danach und rief: Weg mit dir, Finsternis! Geh weg! In solchen Zeiten der Anfechtung kamen wir immer alle zu ihr. Um ihr Bett stehend sangen wir dann Lieder und wand-ten uns im Gebet an Gott. Dorie liebte das Vaterunser, es machte ihr immer Mut.

    Eines Morgens nach einer ausgesprochen unruhigen Nacht war Dories Angst pltzlich weg und sie sagte Ich

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  • mchte mich ganz auf Gott verlassen. Sie war so voller Freude und Vorfreude auf den groen Moment, wenn Gott sie zu sich nehmen wrde. Sie sprte, dass es bald soweit sein msste. Heute gibts ne berraschung, sagte sie pltzlich, das Reich Gottes kommt! Und sie fuhr fort: Wenn es kommt, dann laufe ich schnell runter ins Erdgeschoss und lass es rein! Am Nachmittag dieses Tages rief sie: Meine Schmerzen sind weg. Ich fhle mich so viel besser! Danke, lieber Gott, vielen Dank! Etwas spter sagte sie mit einem kleinen Lcheln: Gott wird mich heute Nacht zu sich rufen.

    Am Abend rief sie meine Familie, ihre Adoptivfamilie, zu sich und umarmte jeden von uns zum Abschied. Wir sangen und beteten an ihrem Bett und sie verbrachte die ganze Nacht in tiefem Frieden. Als der Morgen dmmerte, entglitt sie sanft.

    Nachdem sie so lange und hart hatte kmpfen mssen, war Dories Tod ein wirklicher Sieg.

    Sie hatte den kalten Griff der Angst kennengelernt, aber sie hatte festgehalten an ihrem Glauben an Gott. Und Gott hatte gezeigt, dass er grer ist als ihre ngste. Er hatte verhindert, dass sie jemals vllig von ihnen berrannt wurde.

    Und als sie ihren letzten Atemzug tat, machte sie das mit der Ruhe und dem Frieden derer, die, wie die ersten Christen, erkannt haben, dass die Welt nur eine Brcke ist, die das irdische mit dem ewigen Leben verbindet: Geh hinber, aber baue nicht dein Haus darauf.

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  • 3 Verzweiflung

    Es scheint Glckskinder zu geben Menschen, die ohne grere Schwierigkeiten durchs Leben gehen. Fr andere dagegen scheint das ganze Leben ein einziger groer Kampf zu sein. Auch wenn wir den Grund dafr wohl nie wissen werden, kann man die Tatsache selbst nicht leugnen.

    Wer merkt, dass jemand Probleme hat, fhlt sich oft gehemmt, offen mit ihm darber zu sprechen. Man will sich dem anderen nicht aufdrngen, und erst recht will man ihn nicht noch einen Schritt nher zum Abgrund bringen. In meinen Begegnungen mit depressiven und selbstmordgefhrdeten Menschen habe ich allerdings das genaue Gegenteil erlebt: wie sehr sich Menschen, die in so groer innerer Not sind, danach sehnen, offen ber ihre Gedanken und Gefhle sprechen zu knnen. Leider haben sie oft den Eindruck, nicht offen sprechen zu knnen. Wer will schon mit einer Antwort wie Rappel dich mal auf, das geht schon vorbei! abgefertigt werden?

    Jede Situation ist anders, und man kann einfach keine allgemein gltige Regel aufstellen, wie man am besten auf einen depressiven Menschen zugeht. Letzten Endes knnen Worte allein niemanden retten. Gesprche sind nur dann hilfreich, wenn sie im Rahmen einer verlsslichen,

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  • liebevollen Beziehung stattfinden. In so einer Beziehung kann, wie der Apostel Paulus sagt, einer die Lasten des anderen tragen, und so das Gesetz Christi erfllen.

    In den 1970er Jahren brachte mein Vater einen Mann namens Terry mit nach Hause. Terry war 32 Jahre alt, obdachlos und Vietnam-Veteran. Als Kind war er sexuell missbraucht worden, und die schrecklichen Erinnerungen an seine Kindheit strzten ihn oft in tiefe Depressionen. Mein Vater verbrachte viel Zeit damit, ihm zuzuhren, ihm Rat und Untersttzung zu geben und auch einfach damit, sein Freund zu sein. Er arrangierte es, dass Terry psychiatrische Hilfe und Medikamente bekam. Jeder hatte ihn gern, und er blieb ber ein Jahr bei uns.

    Eines Tages ging Terry pltzlich getrieben von den Geistern seiner Vergangenheit. Kurz danach hrten wir, dass er sich das Leben genommen hatte. Das war ein riesiger Schock fr uns alle, besonders aber fr meinen Vater, der Terry sehr ins Herz geschlossen hatte. Es war, als sei ein Mitglied unserer Familie gestorben. Mein Vater weinte. Er weinte um Terry, und er weinte um das Leid der Welt.

    Man knnte fast meinen, es sei zwecklos, einem Menschen wie Terry helfen zu wollen. Hatte er denn je eine Chance? Aber all dem zum Trotz habe ich immer wieder erlebt, dass es viele Menschen gibt, deren Wunden geheilt werden knnen und die ihre Selbstmordgedanken berwinden knnen.

    Viele verzweifelte Menschen haben mich im Laufe der Jahre als Seelsorger um Hilfe gebeten. Oft war ihr Privatleben ein einziges Chaos, und Beziehungskrisen, beruflicher Stress und Geldangelegenheiten hatten sie aus

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  • ihrem ohnehin wackeligen emotionalen Gleichgewicht gebracht. Aber es kam auch vor, dass jemand in Not war und man einfach keine Erklrung dafr finden konnte.

    Jahrelang wurde ber Selbstmord nur im Flsterton gesprochen. Obwohl sich unsere Gesellschaft fr ihre Toleranz rhmt, ist das Thema Selbstttung noch immer sehr stigmatisiert. Man spricht nicht darber; es ist tabu. Die meisten Leute sprechen nicht gerne ber den Tod, egal wodurch er verursacht wurde. Aber wenn es um Selbstmord geht, dann herrscht wirklich Schweigen. Wann liest man denn in einer Todesanzeige, dass der Verstorbene sich selbst das Leben genommen hat?

    Aber statistisch gesehen nimmt sich jede Stunde ein Mensch in Deutschland selbst das Leben und jede Woche stirbt in Deutschland ein Kind unter 15 Jahren durch Selbstmord.

    Es ist offensichtlich, dass es sich hier um ein schreckliches, weit verbreitetes Problem handelt. Wer hat noch nie in seinem Leben mit dem Gedanken gespielt, sei es auch noch so flchtig? Warum fllt es uns dann so schwer, darber zu sprechen? Vielleicht wollen wir nicht zugeben, wie nahe wir selbst am Rande der Verzweiflung stehen.

    Johannes kannte ich, seit er ein Kind war, und als er sich in Sarah verliebte, wurde mir die Ehre zuteil, sie als Seelsorger zu begleiten, whrend sich ihre Beziehung entwickelte. Spter durfte ich dann die Trauung vornehmen.

    Zunchst war ihre Ehe voller Glck und Freude, und nach einem Jahr kam ihr erstes Kind zur Welt ein kerngesunder Junge. Aber ein paar Monate nach der Geburt beschlich Johannes eines Morgens whrend der Arbeit ein komisches Gefhl. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Es

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  • war unheimlich, als ob eine Stimme zu ihm sagen wrde: Sarah braucht Hilfe! Er rief bei ihrem Arbeitsplatz an, aber sie war nicht da. Dann rief er zu Hause an keine Antwort. In Panik verlie er seine Arbeit und rannte den halben Kilometer, der seinen Arbeitsplatz von ihrer Wohnung trennte. Auf dem Bett lag ein Brief. Er riss ihn auf, berflog ihn und rannte ins Badezimmer. Dort fand er Sarah, bewegungslos auf dem Boden liegend. Neben ihr lag ein Kchenmesser und eine leere Schachtel Schmerztabletten.

    Wenn Johannes heute zurckblickt, fallen ihm all die Warnsignale auf, die er damals entweder nicht bemerkt oder einfach ignoriert hatte. Er erinnert sich dann an Sarahs Versuche, ihm von den finsteren Gedanken zu erzhlen, die sie nicht abschtteln konnte. Er erinnert sich, wie er dann immer das Thema gewechselt hatte, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Heute versteht er, in welcher Verzweiflung sie gewesen sein musste, als sie beschloss, ihr Leben zu beenden. Aber als er an diesem Morgen auf dem Boden des Badezimmers zusammenbrach, sie an den Schultern packte und ihren Namen schrie, da war sein ganzes Denken erfllt von einer einzigen Frage: Warum?

    Die Verzweiflung ist ein bser Geist, der jedes menschliche Herz umschleicht, und wer ehrlich ist wird zugeben mssen, wenigstens das ein oder andere Mal seinen kalten Atem gesprt zu haben. Verzweiflung ist einer unserer schlimmsten Feinde. Zu verzweifeln bedeutet, alle Freude, alle Hoffnung und alle Zuversicht verloren zu haben und manchmal sogar den Willen weiterzuleben. Wie bei jeder Krankheit suchen wir natrlich auch hier nach Ursachen, in der Hoffnung auf ein Gegenmittel. Verzweif

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  • lung hngt oft mit Schuldgefhlen zusammen. Manche Menschen verbringen ihr Leben in innerer Finsternis, wie in einer dunklen Hhle. Die scheinbar undurchdringlichen Felswnde dieser Hhle sind oft Schuldgefhle und Selbstanklagen. Frher oder spter hlt man es nicht mehr aus, und dann kommt die Versuchung auf, sich selbst zu zerstren. In einigen Fllen ist diese Schuldigkeit objektiv da, aber oft ist es nur ein subjektives Gefhl, das aus den kleinsten Schwchen und Fehlern scheinbar unberwindliche Mauern werden lsst. Auch Gefhle von Wertlosigkeit und Unzulnglichkeit der eigenen Person knnen dazu fhren, dass sich ein Mensch das Leben nimmt. Eines muss ganz klar sein: Es ist vllig normal, solche Gefhle zu haben. Es gibt einfach Zeiten, in denen wir uns wie der Kfer in Kafkas Verwandlung fhlen: nicht wert, geliebt oder auch nur gemocht zu werden; nur wert, wie Ungeziefer zerquetscht zu werden. Oft fhlen sich zum Beispiel ltere Menschen nach dem Tod ihres Ehepartners und ihrer Freunde vereinsamt und sie verlieren mehr und mehr die Fhigkeiten, ihr Leben selbst zu gestalten. Das Leben wird immer mehr fremdbestimmt und man fhlt sich unwohl und ungeliebt. Die Freuden des Lebens scheinen in der Vergangenheit zu liegen, und vor einem liegend sieht man nur Verlassenheit, Krankheit und ein langes, sich hinziehendes Sterben. In so einer Situation erscheint Sterbehilfe (in welcher Form auch immer) oft als eine einfache Lsung fr eine komplizierte Problemlage.

    Neben all diesen Faktoren ist aber jeder Mensch auch dem Wirken einer tatschlich existierenden Macht des Bsen ausgesetzt, unabhngig davon, ob er glubig ist

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  • oder nicht. Die Bibel nennt diese Macht den Teufel, den Anklger und den Mrder von Anfang an. Wir sind den Angriffen des Satans ausgesetzt. Er kennt unsere Schwchen, er greift unsere Seele direkt an, und er versucht mit allen Mitteln, uns zu zerbrechen. Seelische Krankheiten sind eines dieser Mittel. Er kann Menschen in tiefste Verzweiflung strzen und in Depressionen, die jahrelang andauern knnen. Wenn wir aber begreifen, dass in unserer Seele geistige Mchte miteinander kmpfen, und wenn wir die ganze Selbstmord-Thematik in diesem Zusammenhang sehen, dann werden wir den Mut gewinnen, unsere Neigung zum Verzweifeln aufzugeben und uns an Gott zu wenden, dessen Weisheit grenzenlos ist und alles umfasst.

    Viele Menschen, die einen Selbstmordversuch unternehmen, wollen nicht wirklich sterben. Ihre Tat ist ein verzweifelter Schrei nach Aufmerksamkeit, ein Hilferuf. Das darf man nicht ignorieren, sondern so etwas muss ernst genommen werden. Oft folgen weitere Versuche. Ohne Hilfe und Untersttzung ist es nur eine Frage der Zeit, bis einer der Versuche erfolgreich ist.

    Wie knnen wir helfen? Es gibt viele Programme zur Suizidprvention, und diese Initiativen haben ihre Berechtigung. Aber manchmal frage ich mich, ob wir uns nicht zu sehr auf Experten und Profis verlassen. Wrde ich mich wirklich an einen Experten wenden wollen, wenn ich zu Tode verzweifelt bin? Wenn ich vllig am Ende bin und mit mir selbst nicht mehr zurechtkomme, mchte ich dann analysiert und einer professionellen Behandlung unterzogen werden? Man kann den Einsatz von Medikamenten nicht kategorisch ablehnen, aber

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  • wir sollten nicht vergessen, dass wirkliche Hilfe oft darin besteht, einen Menschen zu finden, mit dem man reden kann, sei es ein Freund, ein Familienmitglied, ein Seelsorger oder ein Priester.

    Nur eine kranke Seele bringt Selbstmordgedanken hervor eine Seele, die aus Mangel an Liebe am verhungern ist. Was knnte eine bessere Vorsorge sein, als Kindern von klein auf zu helfen, Freude und Sinn in ihrem Leben zu finden und ihnen zu helfen, Gott in ihr Leben zu lassen? Vielleicht hngen viele unserer Selbstmordflle damit zusammen, dass wir die zwei wichtigsten Gebote, die Jesus uns gegeben hat, immer mehr vergessen: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Und du sollst deinen Nchsten lieben wie dich selbst. Ich bin berzeugt, dass wir auch die tiefste Verzweiflung der Welt berwinden knnen, wenn wir diese Worte ernst nehmen.

    Ein anderes Gegenmittel, das wir nicht unterschtzen drfen, ist das Beten. Es ist egal, wie armselig und ungengend uns unser Gebet vorkommt: Es ist die strkste Waffe gegen Verzweiflung. Und auch wer glaubt, dass er nicht beten kann, kann sich an Gott wenden. Die Psalmen eignen sich besonders gut zum Gebet, weil der Psalmist sehr oft unser innerstes Verlangen ausdrckt: Herr, hre mich, wenn ich bete, vernimm meine Klage! oder In meiner Not betete ich zum Herrn, und er hat mich erhrt und gerettet. Sogar wenn die Dunkelheit uns zu verschlingen scheint und wir nichts von Gottes Nhe spren knnen: Das Gebet bleibt wirksam und kann gerade in solchen Zeiten ein Anker im Sturm sein.

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  • Wenn wir beten, dann ist es, als ob wir uns an einem Rettungsring festhalten, den Gott uns an einer Leine zugeworfen hat. Auch wenn die Arme unseres Herzens mde und schwer werden: Indem wir beten, halten wir uns an dem Rettungsring fest, und Gott kann uns an der Leine ans sichere Ufer ziehen. Im Matthus-Evangelium sagt Jesus: Kommt alle her zu mir, die ihr mde seid und schwere Lasten tragt, ich will euch Ruhe schenken. Nehmt mein Joch auf euch. Ich will euch lehren, denn ich bin demtig und freundlich, und eure Seele wird bei mir zur Ruhe kommen. Wer sich zu unwrdig vorkommt, um zu Gott zu beten, der sollte sich dieses Wort aus dem Rmerbrief zu Herzen nehmen: Der Heilige Geist hilft uns in unserer Schwche und betet fr uns mit einem Seufzen, das sich nicht in Worte fassen lsst.

    Wenn jemand so verzweifelt ist, dass ihm auch diese Passagen keinen Trost mehr geben, dann mssen diejenigen von uns, die bei ihm sind, fr ihn und an seiner Stelle glauben und beten. Egal wie sicher sich jemand ist, jenseits aller Hilfe zu sein, das Wissen, dass andere weiterhin fr ihn beten, wird ihm helfen, nicht vllig unterzugehen. Dostojewski drckt es so aus: Ein Gebet fr die Verdammten erreicht Gott mit Sicherheit, daran gibt es keinen Zweifel.

    Aber was ist, wenn unsere beste Vorsorge versagt hat und jemand will sich trotz allem das Leben nehmen? Dem jdischen Propheten Jeremia zufolge, der sagt, dass das Leben eines Menschen nicht in seinen eigenen Hnden liegt und auch niemand seinem Leben von sich aus eine bestimmte Richtung geben kann, sollen wir alles tun, um einen Menschen zu retten. Aber scharfe und ver

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  • urteilende Worte sind immer das falsche Mittel. Wenn eine Seele am Verbluten ist, dann ist nicht Verurteilung, sondern Mitgefhl gefragt. Und trotz seiner Ermahnung kannte auch Jeremia Selbstmordgedanken aus eigener Erfahrung: Der Tag soll verflucht sein, an dem ich geboren wurde! Warum hat mich der Herr nicht schon vor meiner Geburt sterben lassen? Mein ganzes Leben besteht nur aus Kummer und Sorgen, und jeder Tag bringt mir Schimpf und Schande.

    Es gibt noch viele andere Bibelstellen, die von der Last des Lebens sprechen und von der menschlichen Neigung, in dunklen Zeiten die Hoffnung aufzugeben. Thomas Merton hat Bibelstellen aus dem Lukas-Evangelium und der Offenbarung so umformuliert: Wenn das Ende kommt, wird es keinen Platz mehr geben fr den Wunsch, weiterzuleben. Die Menschen werden die Berge bitten, sich auf sie zu strzen, weil sie ihre Existenz nicht mehr ertragen knnen. Sie werden auf den Tod warten, aber der Tod wird nicht kommen.

    Damit soll auf keinen Fall behauptet werden, dass Selbstmord fr einen verzweifelten Menschen eine gute oder auch nur akzeptable Mglichkeit darstellt. Wie die meisten Christen glaube auch ich, dass es immer falsch ist, sich selbst das Leben zu nehmen; gerade auch, weil dem doch eigentlich immer ein Rebellieren gegen Gott zugrunde liegt. Worauf ich aber hinaus will, ist, dass wir nicht das Recht haben, Selbstmord als unverzeihliche Snde zu bezeichnen. Fast jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens mindestens einmal an den Punkt gelangen, wo er an Selbstmord denkt. Wer einen Schritt weiterge

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  • gangen ist und versucht hat, solche Gedanken in die Tat umzusetzen, der braucht Verstndnis, nicht Verurteilung.

    Am Anfang dieses Kapitels hatte ich von Sarahs Selbstmordversuch erzhlt. Sie berlebte damals dank sofortiger notrztlicher Hilfe, und nach zwei Wochen in einer psychiatrischen Klinik war sie wieder zu Hause bei Johannes. In diesen zwei Wochen aber war ihr der entscheidende Schritt vom Sterben-Wollen zum Leben-Wollen gelungen. Aber das war nicht das Ende der Geschichte, denn es dauerte nicht lange, und die Geister der Vergangenheit fielen wieder ber sie her, und es gab Wochen, in denen sie fast tglich mit Selbstmordimpulsen zu kmpfen hatte.

    Die nchsten Jahre waren eine emotionale Achterbahn in Sarahs Leben: Wenn es aufwrts ging, war sie guten Mutes und glaubte, bald geheilt zu sein. Die Abstrze, die immer wieder kamen, versuchten wir mit Medikamenten, Seelsorge, Psychotherapie und viel Gebet abzufedern.

    Manchmal schien es eine richtige Fahrt durch die Hlle zu sein, denn ihr Zustand schien zu einem erheblichen Teil durch Schuld verursacht zu sein Schuld, die sie in unglcklichen, mit wechselnden Mnnerbeziehungen ausgefllten Jugendjahren angehuft hatte. Eines Tages merkte sie, dass es nur einen Weg gab, auf dem es weitergehen konnte: Sie musste sich ihrer Schuld stellen und Vergebung finden.

    Sarah und Johannes kamen oft zu mir, um mich um Rat zu bitten. Manchmal konnte ich ihnen helfen, manchmal nicht. Dann konnten wir nichts tun, als schweigend zusammenzusitzen und Gott um sein Eingreifen und seine Hilfe zu bitten.

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  • Heute sind viele Jahre vergangen, seitdem Sarah versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Gott hat ihr und Johannes noch weitere Kinder geschenkt und sie denkt nicht mehr an Selbstmord. Sie ist nicht so naiv, dass sie glaubt, von jetzt an wrde nur noch die Sonne scheinen. Es gibt immer noch Tage in ihrem Leben, an denen sie mit ngsten und Selbstzweifeln zu kmpfen hat. Aber all das, was sie durchgemacht hat, hat sie zu der festen berzeugung gefhrt, dass Gott sie nicht verlassen wird, auch wenn es immer wieder Tage gibt, an denen sie sich traurig oder einsam fhlt. Manchmal, sagt sie, muss ich einfach glauben, dass ich in Gottes Hand bin, auch wenn ich es in dem Moment nicht fhlen kann.

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  • 4 Ein Kind stirbt

    Die Geburt eines Kindes ist eines der grten Wunder der Schpfung. Nach den Monaten des Wartens und den schmerzvollen Stunden der Geburt tritt ein neues Wesen in die Welt. Seit jeher wurde das Geschenk des neuen Lebens mit groer Freude gefeiert. Im Johannes-Evangelium heit es: Wenn eine Frau gebren soll, ist sie bekmmert, weil ihre Stunde gekommen ist; aber wenn sie das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an ihre Not ber der Freude, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. Aber der Volksmund hat nicht ganz Unrecht, wenn er sagt, dass eine Frau whrend der Geburt mit einem Bein im Grab steht. Sogar heute ist jede Geburt von einer gewissen Sorge begleitet, und in der Tat kann es fr Mutter und Kind tdlich ausgehen.

    Dorli, die Frau eines meiner Neffen, beschreibt ihre widerstreitenden Gefhle nach der Geburt ihres ersten Kindes:

    Stefan kam sieben Wochen zu frh in einem Universittskrankenhaus zur Welt. Ich werde niemals das Wunder seines ersten kleinen Schreichens vergessen. Es war das einzige Mal, dass ich seine Stimme gehrt habe. Ich sah meinen Sohn nur aus dem Augenwinkel, dann war er schon mit grter Eile zur Untersuchung in einen anderen Raum gebracht worden.

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  • Zwei Stunden nach seiner Geburt wurde ich zur Frhchenstation gefahren, wo ich mein Kind sehen und anfassen durfte. Er war winzig, wog weniger als 1500 Gramm und hatte eine dicke, dunkle Haarstrhne. Er war an eine ungeheure Anzahl von Instrumenten angeschlossen, die seine Krperfunktionen berwachten und sein Atmen regelten. Ich war so dankbar und voller Freude ber das Wunder, dass dieser kleine Junge da war. Ich war berzeugt, dass er berleben wrde. Mein Mann Eddie war sich da nicht so sicher, aber das erfuhr ich erst spter. Er war 1989 als freiwilliger Helfer nach dem groen Erdbeben von Spitak nach Armenien gefahren. Dort hatte er die Flchtigkeit des Lebens und das Leid unzhliger Menschen mit eigenen Augen gesehen.

    Stefan lebte genau 26 Stunden und zwei Minuten. Durch seine frhe Geburt wurden mehrere angeborene Krankheiten so sehr verschlimmert, dass sie nicht mehr behandelt werden konnten. Ich erinnere mich noch, wie ich einfach nicht aufhren konnte zu weinen, als eine Gruppe von rzten uns sechs Stunden vor seinem Tod in ein Sprechzimmer riefen und uns erklrten, dass Stefan wahrscheinlich eine Erbkrankheit htte und dass er nicht lange leben wrde. Ich hielt mich an Eddie fest und versuchte zu begreifen, was man uns gerade gesagt hatte.

    Unser Hausarzt kam zu uns und stand uns in diesen schrecklichen Stunden bei. Jeder wusste, dass Stefan sterben wrde. Man nennt diese Momente schwer, aber in Wirklichkeit kann kein Wort beschreiben, was wir damals erlebt haben. Ich wusste nur, dass Stefan frei wre, wenn ich loslassen wrde frei, um in eine bessere Zukunft einzutreten, als wir sie ihm hier htten bieten knnen. Als seine Seele zu Gott ging, hielt ich meinen Sohn in den Armen.

    Aber nicht nur der Tod eines lebend geborenen Kindes trifft Eltern so schwer. Ich habe viele Paare seelsorgerisch betreut, die das Trauma einer Fehlgeburt erlebt hatten, und mir ist klar geworden, welchen Verlust das bedeu

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  • tet und was fr ein tiefer Schmerz das ist, besonders fr die Mutter. Alice, eine Nachbarin, erzhlt von ihrem Sohn Gabriel:

    Als sich unser Sohn Gabriel anmeldete, hatten wir bereits vier Kinder. Aber mit ihm haben wir nie diesen Moment der Freude erlebt, den wir sonst bei jeder Geburt hatten. Ich war erst im fnften Monat, als wir herausfanden, dass unser Kind kaum eine Chance haben wrde. Wir hatten eine solche Sehnsucht nach diesem Kind, aber wir wussten auch, dass wir loslassen mussten. Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. So etwas passierte nur anderen Leuten. Wie hatte es uns treffen knnen? Wir sahen ihn mehrmals auf dem Ultraschallgert, er war ganz da und ganz lebendig so schien es zumindest. Er war unser Baby, ein richtiger kleiner Mensch. Wie konnte er uns genommen werden? Eines Tages hrte sein Herz auf zu schlagen. Noch ein Check. Immer noch kein Herzschlag. Unser kleines Baby war gestorben. Es war tot.

    Nach der Geburt konnten sich Alice und ihr Mann von ihrem Sohn verabschieden. Es war ein unvergessliches Erlebnis, die beiden zu sehen, wie sie Gabriels kleines Krperchen in den Hnden hielten und ihn sanft in den Sarg legten, den ein Freund liebevoll angefertigt hatte. Wir begleiteten die Eltern zum Friedhof und begruben das Baby unter Trnen. Alice schrieb spter ber dieses Erlebnis:

    Ich glaube, man muss Eltern erlauben und sie wenn ntig ermutigen, sich offen mit ihrer Trauer auseinanderzusetzen. Wenn das nicht passiert, dann wird es viele Jahre dauern, bis diese Wunde verheilt ist wenn sie berhaupt heilt. Aber es soll sich niemand wundern, dass es Zeit braucht, bis man Frieden findet. Man muss bereit sein, den Schmerz wirklich zu durch

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  • leben. Trauer wird vielleicht immer da sein, aber man muss zu einem inneren Frieden kommen.

    Der Tod eines Babys ist nicht nur sehr schmerzhaft, sondern er stellt auch unseren Glauben auf eine schwere Probe. Warum hat Gott dieses Kind berhaupt ins Leben gerufen, wenn es nur ein so kurzes Leben haben sollte? Meine Mutter, die selbst zwei Kinder verloren hatte, hat nie eine Antwort auf diese Frage gefunden. Aber in ihrem Glauben wusste sie, dass Gott keine Fehler macht. Sie wusste, dass sich in jedem Leben die Liebe des Schpfers spiegelt, und dass auch das krzeste Leben seine Botschaft trgt.

    Obwohl der Tod ein Rtsel ist, das niemand vollstndig erklren kann, drfen wir nicht versuchen, allen Kontakt mit ihm zu vermeiden. Die Kultur, in der wir leben, scheut den Anblick des Todes, besonders wenn der Krper des Verstorbenen durch einen Unfall oder eine Autopsie entstellt worden ist. Hier wird meistens von einem Abschied am offenen Sarg abgeraten, damit der Familie die grausamen Einzelheiten erspart bleiben. Aber dieser Rat ist nicht immer gut. Immerhin ist der Tod wirklich endgltig, egal wie sehr man versucht, den Schock zu mildern. Jeanette, die im Gegensatz zu Alice ihr Baby nie sehen konnte, schreibt:

    Unsere einzige Tochter wurde tot geboren und am nchsten Tag, dem Geburtstag ihres Vaters, begraben. Der traurigste Teil dieser Geschichte ist, dass wir nie die Gelegenheit hatten, sie zu sehen oder sie in unseren Armen zu halten. Sie wurde nach langen, schmerzhaften Wehen mit Kaiserschnitt geboren. Mein Zustand war nach der Geburt kritisch und so war mein Mann ganz auf sich gestellt, als die rzte auf ihn zukamen und

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  • fragten, ob das Baby zur Autopsie in ein Labor gebracht werden knne. Er stimmte zu. Die Schwangerschaft war normal verlaufen, und er wollte wissen, wie das Baby so kurz vor der Geburt hatte sterben knnen. Dem Labor gelang es allerdings nicht, die Ursache herauszufinden, und wir haben unsere Tochter danach nicht mehr zu Gesicht bekommen. Der Arzt riet uns davon ab, sie nochmal zu sehen, weil ihr kleiner Krper ganz zerschnitten und am auseinanderfallen war. Ich lag noch zwei weitere Wochen auf der Intensivstation. Meine Tochter habe ich nie gesehen und ich habe sie nie in meinen Armen gehalten.

    Das alles ist jetzt schon ber zwanzig Jahre her, aber mein Mann und ich knnen bis heute noch nicht miteinander ber diesen Verlust reden, beiden von uns blutet noch das Herz. Wir knnten uns die Haare ausreien, dass wir damals zugelassen haben, dass unserem kleinen Mdchen so etwas angetan wird. Heute erscheint uns das als das Wahnsinnigste, was wir je gemacht haben.

    Aus solchen Erfahrungen habe ich gelernt, wie wichtig es ist, dass Eltern von totgeborenen Babys erlaubt wird, zu realisieren, dass ihr Kind wirklich gelebt hat und dass es eine ewige Seele besitzt, genau wie jedes gesund zur Welt gekommene Kind. Die Eltern mssen wissen, dass Gott diese kleinen Seelen aus einem bestimmten Grund zu uns schickt. Das zu wissen kann fr Eltern eine groe Hilfe sein, auch wenn sie weiterhin mit der Frage ringen, warum ihr Kind nur so kurz zu leben hatte. Es ist oft sehr heilsam, dem Kind einen Namen zu geben, ein Foto oder einen Fuabdruck zu machen, es zu wiegen und seine Gre zu messen. Wenn noch andere Kinder in der Familie sind, kann man mit ihnen ber das Baby reden, das Gott wieder zu sich genommen hat. All das sind Dinge, die helfen, sich spter an das Kind zu erinnern und zu

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  • wissen: Unser Kind hat wirklich gelebt, es war nicht alles nur ein Traum.

    Der berhmte russische Schriftsteller Leo Tolstoi schreibt nach dem Tod eines seiner Kinder:

    Wie oft schon habe ich mich, genau wie so viele andere Menschen, gefragt: Warum mssen Kinder sterben? Ich habe die Antwort nie gefunden. Aber krzlich, als ich eigentlich gar nicht an Kinder gedacht hatte, da kam mir der Gedanke, dass die einzige Aufgabe, die jeder einzelne Mensch in seinem Leben hat, darin besteht, die Liebe in sich zu strken und sie dadurch auf andere zu bertragen, so dass auch ihre Liebe strker werde.

    Unser Kind hat gelebt, damit wir, die um es herum lebten, von derselben Liebe ergriffen werden wrden. Nun ist es heimgegangen zu Gott, der die Liebe selbst ist, damit wir alle einander nherkommen. Nie waren meine Frau und ich uns nher als jetzt in dieser Stunde, und nie zuvor wussten wir uns so angewiesen auf Liebe. Nie hatten wir eine strkere Abneigung gegen alle Zwietracht und alles Bse.

    Aber der Verlust eines Kindes wird nicht automatisch dazu fhren, dass Eltern nher zueinander finden. Es kann die elterliche Beziehung auch einer schweren Prfung unterziehen. Dorli erinnert sich:

    Am schlimmsten war es nach der Beerdigung. Ich ging sehr oft alleine zu Stefans Grab und weinte und weinte.

    Viele Leute sind so schnell mit irgendwelchen Binsenweisheiten zur Stelle. Eine davon ist die, dass sich ein Paar durch Trauer und Leid nherkommt. Von so etwas darf man nicht einfach ausgehen. Das kann zwar so sein, aber der Tod eines Kindes kann auch eine groe Belastungsprobe fr die Ehe darstellen. Bei uns war das der Fall.

    Ich konnte nicht verstehen, wie Eddie so einfach zurck an seine Arbeit gehen konnte, es schien ihn alles berhaupt nicht

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  • zu berhren. Ich sah ihn nie weinen. Ich, die Sensible, weinte monatelang. Weil unsere Gemeinde uns durch Gebet und praktische Untersttzung beistand, und auch durch das Verstreichen von Zeit konnte ich akzeptieren, dass Eddie auf eine Weise trauerte, die ganz anders war als meine.

    Ich wei nicht, ob unsere Ehe ohne diese sanfte Hilfe und Fhrung diese Krise berlebt htte. Und es ist noch nicht zu Ende. Es kommt immer wieder vor, dass ich zu Eddies berraschung in Trnen ausbreche.

    Man kann den Tod eines Kindes nicht reparieren. Ich habe gelernt, die Trauer als einen Teil von mir zu akzeptieren. Ich habe bei jedem unserer Kinder, das nach Stefan geboren wurde, gehofft, dass damit die Trauer abgeschlossen ist, aber das war nicht so. Der Schmerz ist schwcher geworden, aber etwas wird bleiben, bis wir wieder bei Gott vereinigt sind.

    Jedes Mal, wenn ein Baby oder ein Kleinkind stirbt, werden wir daran erinnert, dass die Erde noch nicht wirklich unsere Heimat ist und dass unser Leben hier kurz ist wie eine Blume, ein Grashalm oder ein Schmetterling. Gleichgltig wie alt das Kind war, gleichgltig wie viele Stunden, Tage oder Monate uns gegeben waren, um es zu lieben und kennenzulernen: Der Schmerz scheint unertrglich, und die Wunden scheinen nie vollkommen zu verheilen. Was bleibt uns anderes brig, als zusammen mit den trauernden Eltern darauf zu vertrauen, dass in Jesus wirklich Heilung gegeben wird, auch wenn es so langsam geht, dass wir es kaum wahrnehmen knnen.

    Jedes Neugeborene ist ein Bild der Unschuld und der Vollkommenheit der Schpfung, und wir sehnen uns nach dem Tag, an dem die ganze Welt erlst und die ursprngliche Vollkommenheit der gesamten Schpfung wiederhergestellt werden wird, wir sehnen uns nach dem

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  • Tag, an dem es keinen Tod mehr geben wird und keine Trnen. Wir glauben daran, und die Bibel verspricht uns, dass das geschehen wird, wenn Christus wiederkommt. Der schottische Autor George MacDonald, der selbst den Verlust mehrerer Kinder erlebt hat, schreibt:

    Sogar die Haare auf unserem Haupt sind gezhlt, so sagte Christus, der es doch wusste. Ist es da nicht beraus deutlich, dass Kinder nicht zufllig in die Welt geworfen werden und dass sie weder durch Pflege noch durch irgendeine Macht der Medizin in ihr bleiben? Alles vollzieht sich nach himmlischem Willen und gttlicher Anordnung. Einige von uns werden sich eines Tage dafr schmen mssen, wie wir um unsere Toten geklagt haben.

    Geliebte Kinder, wir wollen warten, sogar darauf warten, eure geliebten Gesichter wiederzusehen, denn wir wissen, dass ihr zum Vater Jesu Christi gegangen seid, der auch euer und unser wahrer Vater ist. Unser Tag wird kommen, der Tag eurer und unserer Freude, und alles wird gut sein.

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  • 5 Ehrfurcht

    Die Nacht nach der Geburt ihres zweiten Kindes, Anne, verbrachte Susanna in strahlender Freude. Sie hatte allen Grund dazu: Die Schwangerschaft war normal verlaufen, das Baby war krftig und gesund, und David, ihr erstes Kind, hatte jetzt eine kleine Schwester. Zwei Tage spter starb Anne. Ihr Vater, Karl, erinnert sich:

    Als Anne einen Tag alt war, sagte uns der Arzt, er wrde sich groe Sorgen um sie machen. Er meinte, er habe schon bei der Geburt gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung sei. Wir werden nie wissen, warum er damals nichts gesagt hat. Wie dem auch sei, wir mussten Anne sofort in ein Krankenhaus bringen, das hunderte von Kilometern von unserem damaligen Wohnort in den USA entfernt war. Weil die Geburt nicht in diesem Krankenhaus stattgefunden hatte, durfte Susanna nicht bei Anne bleiben. Uns blieb nichts anderes brig, als nach Hause zurckzukehren. Das Warten auf eine Nachricht war zermrbend. Jede Stunde kam uns wie eine Ewigkeit vor, aber es gab nichts, was wir htten tun knnen. Einen direkten Kontakt zum Krankenhaus hatten wir nicht. Am zweiten Tag starb unsere kostbare kleine Tochter. Susanna war untrstlich und konnte nicht aufhren zu weinen. Als die rzte uns das Problem schilderten, wurde es alles noch schlimmer: Wir waren Rhesusfaktor unvertrglich. Das bedeutete, dass es bei dem damaligen Stand

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  • der Medizin kaum Hoffnung fr uns gab, noch weitere Kinder zu haben.

    Ich lie Susanna zurck und fuhr in das andere Krankenhaus, um Anne nach Hause zu bringen, damit wir sie beerdigen konnten. Als ich dort ankam, wurde mir jedoch mitgeteilt, dass ihr Krper an einen rtlichen Bestattungsunternehmer berfhrt worden war, wie es das Gesetz verlangte.

    Ich fuhr also zu dem Bestattungsinstitut und wurde zunchst mit groer Hflichkeit und Beflissenheit empfangen. Als der Bestatter allerdings merkte, dass ich weder einen Sarg kaufen noch ihn mit einem Begrbnis beauftragen wollte, wurde seine Miene eisig, und er verlie den Raum. Ich blieb mit dem Babykrbchen zurck und wartete. Als er zurckkam, hielt er unsere kleine Tochter an den Fen, so dass ihr Kopf nach unten hing. Ich wollte gerade das Deckchen zurechtlegen, das Susanna fr das Baby genht hatte, aber bevor ich irgendetwas tun konnte, hatte er Anne schon in das Krbchen fallen lassen. Sein Ausdruck war kalt und angeekelt.

    Auf der langen, einsamen Heimfahrt musste ich darum ringen, in meinem Herzen Vergebung fr diesen Mann zu finden. Zuhause legten wir unser kleines Mdchen mit wundem Herzen zur Ruhe.

    Es mag sein, dass dieser Fall besonders extrem ist, aber er zeigt doch, welche Einstellung zum Tod in der heutigen Welt um sich greift. Ob man es Abstumpfung, Gleichgltigkeit oder Gefhlsklte nennen will, es kommt von einem Mangel an Respekt fr das Leben (und damit auch fr das Lebensende), und es zeigt sich auf vielerlei Weise. Es zeigt sich in Krankenhusern, wo es die Professionalitt verlangt, dass sich auf Patienten nicht mit deren Namen, sondern mit der Zimmernummer bezogen wird. Es zeigt sich bei Bestattern, die zu ppigen Begrbnissen drngen, indem sie andeuten, dass es den Toten entwr

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  • digt, wenn hier gespart wird. (Wer will schon als die Familie dastehen, die ihrer Mutter einen Billig-Sarg gekauft hat?) Es zeigt sich in offen oder versteckt ausgetragenen Erbstreitereien, die dem sterbenden Elternteil ein friedliches Lebensende unmglich machen.

    Es ist auch ehrfurchtslos, wenn wir wegen unserer Oberflchlichkeit nicht in der Lage sind, den Schmerz und die Trauer eines Menschen zu teilen, wenn wir alles mit einer verkrampften Frhlichkeit zu berpinseln versuchen. Linda, die Mutter von Matthias, ber den ich in einem der vorangegangenen Kapitel erzhlt hatte, empfand solche Versuche als Verschlimmerung einer ohnehin schwierigen Lage.

    Nicht lange nachdem es klar geworden war, dass wir medizinisch gesehen nichts mehr fr Matthias tun konnten, kam eine Nachbarin zu meinem Mann und teilte ihm freudig mit, sie wisse mit Sicherheit, dass Matthias es schaffen werde. Matthias wird nicht sterben. Ich wei es einfach. Er wird nicht sterben. Das war natrlich genau das, was wir auch glauben wollten. Aber sollten wir ihm falsche Hoffnungen machen, wo doch klar war, dass es mit seiner Gesundheit rapide bergab ging? Das wre nicht fair gewesen. Ein paar Tage spter kam ein Freund vorbei und erzhlte Matthias, er bete immer noch um ein Wunder. Matthias antwortete: Vielen Dank, aber ich glaube nicht, dass es hier noch um solche Wunder geht. Die Hauptsache ist, dass ich Frieden finde.

    Whrend der letzten Wochen von Matthias Leben kmpfte auch Linda mit etwas, was ihr wie ein Mangel an Respekt fr die Endgltigkeit des Todes vorkam. Das betraf nicht nur die Freunde ihres Sohnes, sondern auch ihn selbst:

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  • Drei Tage vor seinem Tod brachte jemand ein paar Leih-Videos fr ihn, und als ich meine Besorgnis darber ausdrckte, dass er seine letzten Stunden mit seichter Unterhaltung verschwenden knnte, war ich pltzlich in einen groen Familienkrach verwickelt.

    Whrend seiner Krankheit hatten ihm Leute immer wieder Videos gebracht, und ich wusste, dass sie es gut meinten. Trotzdem war mir immer etwas unwohl dabei. Es ging gar nicht so sehr um die Art der Filme, die er sah (obwohl manches nicht besonders gut war). Ich fand vor allem, dass es zu viel war. Ich hatte den Eindruck, dass er sich in diese Filme flchtete, um der Realitt zu entkommen. Das fand ich nicht hilfreich.

    Um ehrlich zu sein, ich hatte die gleichen Bedenken mit dem ganzen anderen Kram, den seine Freunde ihm vorbeibrachten: Bier, Whiskey, dutzende CDs, Poster, Kopfhrer, ein Radio, eine neue Stereoanlage mit sechs Lautsprechern, ein Ding, mit dem er sich Lieder aus dem Internet herunterladen konnte und so weiter und so weiter.

    Ich erinnere mich daran, wie ich mit meinem Mann darber sprach und wir uns fragten: Ist das wirklich die beste Art, einem Krebskranken Liebe zu zeigen dass wir ihn mit diesem ganzen Schrott berhufen? Natrlich wussten wir, dass es ihm krperliche Erleichterung verschaffte. Aber letzten Endes waren das doch alles nur Sachen, Dinge Dinge, die ihn von dem ablenkten, womit er sich wirklich beschftigen musste. Matthias teilte unsere Ansicht weitgehend, und kurz nach unserer Aussprache rumte er den Groteil der Sachen aus seinem Zimmer.

    Wie dem auch sei, ich machte mir Sorgen, dass Matthias die wenige Zeit, die ihm noch blieb, damit verbringen wrde, sich Filme anzuschauen. Als ich ihm das sagte, erwiderte er, er wolle einfach nur mal lachen und fr ein paar Stunden alles vergessen knnen. Wie kommst du dazu, dich jetzt zu meinem moralischen Kompass zu erklren?, fragte er. Er war so wtend!

    Ich war in Trnen, denn ich dachte Hier ist dieser arme Junge, der doch nur fr ein paar Stunden der harten Realitt entkommen will. Hat er nicht ein Anrecht darauf? Kann er nicht

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  • einfach mal ein bisschen Spa haben? Auerdem hatte ich gerade ein Buch gelesen, in dem der Autor davon spricht, wie wichtig es ist, eine friedliche Atmosphre um den Sterbenden zu bewahren. Keine Familienstreitigkeiten hie es da. Und hier stand ich und stritt mit meinem sterbenden Sohn. Es zerriss mich fast.

    Ich sehe selbst gern Filme. Aber damals wie heute finde ich, dass es zu billig ist, sich auf diese Weise vor einer schwer zu ertragenden Wirklichkeit zu flchten oder seine Kinder flchten zu lassen. Und ich rede hier nicht nur von Krebs. Wenn wir Probleme haben, dann mssen wir auf das zusteuern, was uns strken wird, nicht auf das, was uns am besten von unseren Problemen ablenkt. Letzten Endes werden wir uns unseren Problemen stellen und sie lsen mssen.

    Andererseits dachte ich, dass Matthias aufgebracht sei, weil ich mich zum Moralapostel aufgespielt hatte. Muss ich nicht vielleicht wirklich auf das hren, was er sagt? Immerhin liegt er im Sterben! Aber ist er nicht trotzdem mein Sohn? Ich wei, dass es nicht gut fr ihn ist, wenn er vor seinen Problemen davonluft! Wie kann ich in einer so existenziell wichtigen Angelegenheit schweigen? Es war einer der schwierigsten Momente meines Lebens.

    Spter hatte sich Matthias wieder beruhigt und sagte mir, er verstnde meine Kritik. Er gab auch zu, dass er seine Beschftigung mit diesen Filmen in seinem tiefsten Innern auch als Zeitverschwendung empfand, gerade wo ihm nur noch so wenig Zeit blieb. Eigentlich htte er diese Zeit lieber zusammen mit Menschen verbracht. Schlielich bedankte er sich sogar fr meine Hartnckigkeit.

    Ehrfurcht zu haben bedeutet dabei nicht unbedingt, dauernd mit ernster Mine herumzulaufen. Das genaue Gegenteil kann der Fall sein: Als bei Christina, einer Kollegin von mir, Brustkrebs diagnostiziert wurde, war es gerade ihr schrger Humor, der ihr half durchzuhal

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  • ten. Einmal bat sie sogar ihre ganze Bekanntschaft, ihr ihre besten Witze aufzuschreiben und zuzuschicken. Sie sammelte die ganzen Witze in einem Ordner fr wenn ich depressiv bin und ein bisschen lachen will. Hier wre es schlicht ein Mangel an Ehrfurcht gewesen, nicht bei Christinas Albereien mitzumachen. Kurz vor ihrem Tod sagte sie mir:

    Mal ganz ehrlich: Wenn wie man das so sagt meine Zeit kommt, dann will ich doch schwer hoffen, dass keiner anfngt diese Kirchenlieder zu singen, wo sich alles ums Herumschweben im Himmel dreht. Da wrde ich ja denken, dass ich schon ins Grab steige! Es kann ja sein, dass diese Lieder ganz tief bedeutsame Texte haben, aber immer wenn ich sie hre, werde ich irgendwie an die ganzen deprimierenden Dinge im Leben erinnert. Ich wei, dass das eigentlich nicht so sein sollte, aber so ist es nun mal Ich brauche Energie, ich brauche Kraft fr den Kampf.

    Ich kriegs mit der Angst zu tun, wenn ich mir vorstelle, wie alle um mich herumstehen und ganz ernst gucken und all das. Ich wei nicht. Vielleicht ist einfach jeder Tod anders. Ich hoffe, wenn ich sterbe, dann ist da drauen vor meinem Fenster ein richtig gutes Basketball-Spiel im Gange und unten spielt jemand ordentliche Musik, so laut, dass man sie hier oben noch gut hren kann.

    Was also ist Ehrfurcht? Das Wrterbuch sagt: Furcht, die mit Verehrung einhergeht. Das ist ein guter Anfang, aber immer noch ziemlich abstrakt. Meiner Meinung nach muss man die Erfahrung machen, was Ehrfurcht ist, sonst kann man es nicht verstehen.

    Dieses Kapitel fing mit der Geschichte von Anne an, dem Baby, das wegen der Rhesus-Inkompatibilitt ihrer Eltern gestorben war. Spter gab es neue Entwicklung

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  • en in der medizinischen Forschung, und Karl und Susanna bekamen wieder Hoffnung, doch noch ein Kind bekommen zu knnen. Aber etwas war wieder nicht in Ordnung, und das Kind kam tot zur Welt. Dieses Mal wurde der Schmerz jedoch durch die erlsende Wirkung der Ehrfurcht gemildert, wie Karl es ausdrckte. Dennoch: Nachdem sie so auf ein Baby gehofft hatten, war der Schmerz zunchst gewaltig. Aber anstelle eines khl-reservierten Bestatters umfing sie nun die Liebe vieler Freunde, das Mitgefhl ihrer ganzen Gemeinde und das Verstndnis ihres Seelsorgers, der sie in dem Glauben untersttzte, dass kein Leben und keine Hoffnung auf Leben jemals umsonst ist. Karl erzhlte spter davon, wie sehr ihnen diese Untersttzung geholfen hat. Die Beerdigung fand abends statt, es war November und wir gingen im Schein des Mondes mit Laternen zum Friedhof, um Franziska zu beerdigen. Ich merkte pltzlich, dass mir vor dieser Beerdigung nicht mehr graute, sondern es kam mir vor, als ginge ich zu einem Ort des Lichts.

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  • 6 Der kindliche Geist

    Als Erwachsene versuchen wir oft, die Rtsel des Lebens dadurch zu lsen, dass wir sie analysieren und nach Ursachen forschen. Manchmal klappt das, meistens aber nicht. Gerade wenn es um Krankheit und Tod geht, scheint es immer etwas Geheimnisvolles, Unergrndbares zu geben, etwas, das unsere eigenen Erklrungsversuche sehr armselig und ungengend erscheinen lsst. Kinder sind in dieser Hinsicht anders als Erwachsene, sie besitzen eine viel grere Toleranz gegenber dem Unerklrlichen. Sie haben zwar oft Angst vor Dingen, die wir Erwachsenen als Kleinigkeiten bezeichnen wrden, aber im Allgemeinen sind sie viel eher bereit, das Leben einfach so hinzunehmen, wie es kommt. Sie sind viel weniger durch Sorgen, Zweifel und Zukunftsngste belastet. Sie sehen die Dinge einfach so, wie sie sind, anstatt sie, wie Erwachsene, hin- und her zu interpretieren und sich ber sie aufzuregen.

    Cassie Bernall, ein Teenager aus den USA, kam in die Schlagzeilen, weil sie bei dem Amoklauf in der Columbine High School in Colorado 1999 ums Leben kam. Zwei rachschtige Mitschler waren bis an die Zhne bewaffnet in die Schule gekommen, um dort ein Blutbad anzurichten. Im Laufe ihres Amoklaufs trafen sie in der

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  • Schulbibliothek auf Cassie Bernall. Auf die Frage, ob sie an Gott glaube, antwortete Cassie: Ja. Daraufhin wurde sie erschossen. Innerhalb weniger Tage wurde Cassie von der internationalen Presse zum Mrtyrer erklrt und zu einem Symbol von Mut und Standhaftigkeit gekrt. Diejenigen, die ihr nahegestanden hatten, bezweifelten zwar nicht ihren Mut, aber sie wussten, wer Cassie wirklich gewesen war: Ein gewhnlicher Teenager mit all den gewhnlichen Problemen, Schwchen und Schwierigkeiten. Nach dem Amoklauf erzhlte eine Mitschlerin Cassies Mutter:

    Die Leute nennen Cassie eine Mrtyrerin, aber wenn sie glauben, dass sie eine Heilige war, die den ganzen Tag nichts anderes gemacht hat als in der Bibel zu lesen, dann liegen sie aber wirklich falsch! So war sie berhaupt nicht. Sie war genau wie alle anderen auch. Jetzt gibt es berall Geschichten von ihr in den Zeitungen, Cassie T-Shirts, Cassie Internetseiten, Cassie Anstecker und wer wei was noch! Wahrscheinlich sitzt sie gerade da oben im Himmel und verdreht die Augen. Ich kann sie regelrecht hren, wie sie gerade Ach du meine Gte! sagt, weil sie all ihren Bewunderern am liebsten sagen wrde, dass sie eigentlich gar nicht so anders war als alle anderen.

    Vielleicht wrde Cassie auch die Augen verdrehen, weil sie mit ihrem einfachen, kindlichen Glauben den ganzen Rummel um die Bedeutung ihres Mrtyrertodes nicht verstanden htte. Ihre Mutter, Misty Bernall, erinnert sich:

    Etwa eine Woche vor Cassies Tod saen wir zusammen am Kchentisch und redeten miteinander. Irgendwie kamen wir auf das Thema Tod zu sprechen, ich wei nicht mehr, wie. Sie sagte: Mom, ich habe keine Angst vor dem Tod, denn dann

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  • werde ich im Himmel sein. Ich erwiderte, ich knne mir nicht vorstellen, dass sie strbe, und dass ich den Gedanken, ohne sie zu leben, nicht ertragen wrde. Sie antwortete: Aber Mom, du wsstest dann doch, dass ich in einer besseren Welt bin. Wrdest du dich nicht fr mich freuen?

    Rckblickend wirken Cassies unverblmte Bemerkungen ber das Leben nach dem Tod fast unheimlich. Aber fr ihre Mutter, die immer noch mit dem Verlust ihrer einzigen Tochter ringt, haben sie etwas sehr Beruhigendes: Aber Mom, du wsstest dann doch, dass ich in einer besseren Welt bin.

    Maria ist eine weitere Mutter, die den Verlust eines Kindes erlebt hat. Auch fr sie ist es ein Trost, ihren Sohn Lars in Gottes Hnden zu wissen. Lars, ein Fnfjhriger, starb unter vollkommen anderen Umstnden, aber sein Tod war nicht weniger unvermittelt und pltzlich.

    Es war im Sommer 1960, Lars war ein kleiner, flachsblonder Junge mit blauen Augen, der jede freie Minute im Sandkasten vor dem Haus mit seinen kleinen Autos und Lastwagen spielte. An einem Morgen plante seine Kindergartengruppe, in die nahe gelegene Grostadt zu fahren, um dort in den Zoo zu gehen. Lars war sehr aufgeregt. Zur Feier des Tages trug er seine neuen Turnschuhe und sein bestes Hemd. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch niemand, dass dieser Tag der letzte seines Lebens sein wrde.

    Um drei Uhr nachmittags erhielt seine Mutter einen Anruf von einem Krankenhaus in der Stadt: Lars war eingeliefert worden; man vermutete Hitzschlag. Maria war auer sich vor Sorge. Klaus, ihr Ehemann, war tausende von Kilometern entfernt auf Geschftsreise, und sie

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  • war zwei Autostunden vom Krankenhaus entfernt. Ein Nachbar fuhr sie sofort in die Stadt. An der Rezeption des Krankenhauses erfuhr sie, dass der Zustand ihres Sohnes kritisch sei. Wie konnte das sein? Was in aller Welt war passiert? Sie rief meinen Vater an, ihren Seelsorger. Er war wie vom Donner gerhrt und rief alle Gemeindemitglieder, die er erreichen konnte, zusammen. Wir versammelten uns, um fr den kleinen Jungen zu beten.

    Lars wachte trotz allem nicht aus seinem Koma auf, und sein Zustand verschlechterte sich zusehends. Die rzte waren ratlos. Sie taten, was in ihrer Macht stand, und eine Spezialistin kam sogar auerhalb ihrer Dienstzeit, um zu helfen. Aber es war alles umsonst. Gegen zehn Uhr abends kam das Ende. Keiner konnte fassen, was geschehen war. Noch am Morgen war Lars so voller Leben aus dem Haus gegangen, und jetzt war er tot, und sein Vater war noch nicht einmal zu Hause angekommen, obwohl er auf dem Heimweg war.

    Wir erfuhren erst am nchsten Tag, was passiert war: Die Kinder waren dabei gewesen, einer Affenmutter mit ihrem Baby zuzuschauen, als die Kindergrtnerinnen bemerkten, dass Lars fehlte, obwohl er vor ein paar Minuten noch bei ihnen gewesen war. In grter Sorge hatten sie sofort die Zoo-Leitung alarmiert und angefangen, den Zoo abzusuchen. Schlielich fanden sie ihn: Bewusstlos und zu einem kleinen Ball zusammengerollt lag er auf dem Rcksitz ihres Busses auf dem Parkplatz. Wie hatte er es geschafft, den Weg durch die Kfige und Menschenmassen im Zoo und durch das Labyrinth eines Grostadt-Parkplatzes zu dem Bus zu finden? Wer auer seinem Schutzengel htte ihn so fhren knnen?

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  • Am Tag nach Lars Tod war unsere ganze Nachbarschaft wie erstarrt. Keiner konnte begreifen, was geschehen war. Nicht nur Maria und Klaus, sondern alle Eltern, Lehrer und Erzieher in der Gemeinde waren von den pltzlichen Ereignissen tief getroffen. Nur fr die Kinder war es anders, sie standen weiterhin mit beiden Fen auf dem Boden der Tatsachen. Gestern hatten sie sich Tiere im Zoo angeschaut, jetzt redeten sie darber, was Lars in seinem neuen Zuhause im Himmel alles sehen wrde. Sie malten ein groes Bild von einem Engel, der ihn an Sternen, Galaxien, Wolken und Regenbgen vorbei in den Himmel trgt. Sie erinnerten sich an alle Lieder, die Lars besonders gemocht hatte und sangen sie wieder und wieder.

    Inzwischen sind Jahrzehnte vergangen, und die Zeit hat Marias Schmerz betubt. Sie hat nie erfahren, warum und auf welche Weise Lars gestorben ist; es ist fr sie bis heute ei