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LAND UND LEUTE
Mittelalterliche Wirtshäuser und Paläste aus 1001 Nacht: Im Papiertheater sind Requisite und Ausstattung so üppig
wie im großen Kino. So wirken auch Ali Baba und die 40 Räuber lebensecht.
Auch auf einer Bühne aus Papier ist das Happy-End der wichtigste Programmpunkt.
cken an kleinen Schiebern und agierenauf einer Guckkasten-Bühne, die mit-samt Technik und Requisite in einen Um-zugskarton passt. „Weil die Figuren im
Stück nur eine Haltung und keine Mimikhaben, muss die Fantasie der Leute denRest leisten“, sagt Christina Siegfried.
Platz für diese Fantasie ist in der klein-sten Hütte. Das Publikum sitzt auf zwölfStühlen in der Wohnstube. „Die Kleinennach vorn, die großen nach hinten“, diri-giert die Regisseurin. Die hintere Reihetröstet sie mit winzigen Ferngläsern.
Ihr Auftritt, Herr Kollege! Bei den
Darstellern im Papiertheater sitzen
Kostüme und Schminke immer perfekt.
Knusper, knusper Knäuschen:
Hänsel, Gretel und die Hexe
müssen an Metallschiebern
die Reihenfolge einhalten.
Der Kater nimmt den ganzen Abendden Arm nicht herunter. Einmal
hält er ein paar Rebhühner in die Höhe,ein andermal hält er sich den Zauberervom Leib, alles in derselben Körperhal-tung. Dass er sich nicht bewegen kann,macht nichts. Er hat ja Christina Sieg-fried im Rücken, die ihn an einem Metall-schieber durch die Aufführung des „Ge-stiefelten Katers“ führt.
Seit elf Jahren macht die gelernte Dra-maturgin aus Halle an der Saale Theaterauf einem Quadratmeter. Papiertheaternennt sich diese Kunst, bei der eine Per-son den Intendanten, Regisseur, Darstel-ler, Ton- und Lichttechniker gibt. DieSchauspieler bestehen aus Pappe, ste-
Wenn der Papiervorhang zur Seiterutscht, erweckt Christina Siegfried mitihren Pappkameraden die Rampe zumLeben. Obwohl auch die Bühne aus Pap-pe besteht, weht doch der Geist der gro-ßen Theater-Gefühle hervor. Schließlichtritt nicht nur der gestiefelte Papiertigerauf.
Im 19. Jahrhundert, zur Blütezeit des Pa-piertheaters, gab es das gesamte Reper-toire der klassischen Bühnenkunst alsBastelset. Der Theaterfimmel befiel zudieser Zeit das Bildungsbürgertum, dasin den Wohnstuben aufführte, was dieOpernhäuser hergaben. Webers „Frei-schütz“, Mozarts „Zauberflöte“, RichardWagners gesammelte Wuchtwerke und
Theaterfimmel der Bildungsbürger
PapierkramChristina Siegfrieds winziges Theater hat nur
zwölf Sitzplätze, die Bühne passt in einen Koffer.
Trotzdem bleibt Raum für große Gefühle.
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Mit offizieller Genehmigung
2012
Heft 12/2012
Schillers „Räuber“ – kein Klassiker bliebverschont. Wenn die Frisur des Heldennicht mit dem Original übereinstimmte,regnete es erboste Beschwerdebriefe andie Papiertheaterverlage.
In rund 100 deutschen Verlagen drehtensich die Druckwalzen allein für Theater-bögen. Um Reklamationen vorzubeugen,malten sich an den Opernhäusern Heer-scharen von Zeichnern während General-proben die Stifte stumpf. Der Lohengrinsamt Schwan musste auf Papier genau soerscheinen, wie er über die große Bühneglitt.
Heute ist das Papiertheater nur nochLiebhaberei einer eingeschworenen Fan-gemeinde. Zu ihr gehören Handwerker,Beamte, Angestellte. Manche führen ihreProgramme traditionell mit historischen
Reprints und zwei Händen auf. Andereversuchen neue Formen, konstruierenKulissen mit mehreren beweglichenStockwerken und tüfteln so lange an Spe-zial-Effekten, bis aus Nebelmaschine undTontechnik ein Theatergrusel aufsteigt,
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der selbst Nosferatu das Fürchten gelehrthätte.
Blitz und Donnerwetter gehören dabei zuden leichteren Fingerübungen und sindaußerdem gar nicht so neu. Hagel undGranaten aus der Erbsendose schilderteschon der Wiener Dichter Carl JuliusHaidvogel – verbrannte Finger per Büh-nenblitz inklusive. „Samiel erscheine!“brüllte beispielsweise ein Freischütz ausPapier beschwörend in der Teufels-schlucht. Es kann schon mal vorkommen,dass statt des dämonischen Höllengeis-tes plötzlich Rotkäppchen auf der Bühneaufkreuzt. Das gehört zu den liebenswer-ten Pannen, ohne die ein Guckkasten-spektakel nur halb so schön wäre.Schließlich hantiert der Schauspieldirek-tor hinter der Bühne blind. Während ernoch die letzten Sätze ausstößt, tastet er– oder sie – mit der freien Hand nach dernächsten Figur.
Christina Siegfried spielt auch nicht völ-lig unfallfrei Theater. Im Königspalastrutschte ihr einmal der Narr aus der Hal-terung. Der lungerte dann hinter einerSäule herum, statt den Jäger zu veral-bern, während der gestiefelte Kater Reb-hühner jagte. In solchen Fällen brauchtdie Bühne eine helfende Hand, schon istdie Papierwelt wieder geordnet. AmSchluss jubelte nicht nur das Publikum,sondern auch der Kater. Mit erhobenemArm. Text: Dorea Dauner
Die Fantasie spielt mit, denn sowohl der Kater als auch der arme Müllersohn
müssen ihre Geschichte in immer derselben Körperhaltung erzählen.
Im Wohnzimmer
den Helden
spielen: Um die
Jahhundertwende
wurden die guten
Stuben zur
Theaterloge.
Rotkäppchen, die erleichterte Mutter, Jäger, Kater und Zauberer agieren immer im Vordergrund.
Wie auf einer echten Bühne gaukeln gemalte Dorfansichten im Hintergrund räumliche Tiefe vor.
Paperback-PapiertheaterChristina SiegfriedRobert-Blum-Straße 3906114 [email protected] Tel. (0345) 1 35 14 24Wer eine Papiertheatervorstellung besuchen möchte, findet im Internet Informationen über Bühnen und Aufführungstermine bundesweit unter www.papiertheater.eu.
Hagel und Granatenaus der Erbsendose
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