heike gfrereis von der apotheose des dichters hin zur ...€¦ · von der apotheose des dichters...

18
1 HEIKE G FREREIS Von der Apotheose des Dichters hin zur Ausstellung des Sichtbaren Das Schiller-Nationalmuseum und das Literaturmuseum der Moderne in Marbach Ein Literaturmuseum ist eine Ausnahmegattung der Architektur wie der Ausstellungspraxis. In der Regel wird Literatur (oder besser das, was in ihr Umfeld gehört wie Handschriften, Erstausgaben oder auch Autoren- nachlässe) in Bibliotheken, Archiven und vor allem in Geburtshäusern und Wohnstätten von Dichtern ausgestellt. Eigens und ausschließlich für die Ausstellung von Literatur errichtete Gebäude gibt es kaum. Ende März 2002 hat die Deutsche Schillergesellschaft den Wettbewerb für ein dem Schiller-Nationalmuseum benachbartes ,Literaturmuseum der Moderne‘ entschieden: Von Mai 2006 an sollen in dem von David Chipperfield Architects entworfenen Bau die Bestände des Deutschen Literaturarchivs zum 20. Jahrhundert und der Gegenwart ebenso wie Wechselausstellungen gezeigt werden. Ich möchte über die Marbacher ,Architektur für Literatur‘ nach- denken und von ihr aus verschiedene mögliche Museums- und Ausstelllungskonzepte skizzieren. Die beiden Museen, die in Zukunft auf der Marbacher Schillerhöhe nebeneinander stehen werden, bieten sich dafür an. Sie sind auf reizvolle Weise zweierlei Museen für Litera- tur. Das traditionsreiche Schiller-Nationalmuseum, ursprünglich als Mehrzweck-, Fest-, Ausstellungs-, Archiv- und Forschungsstätte ge- plant; die neben Schiller auch den anderen schwäbischen Dichtern wie Uhland, Hauff, und Mörike ein »Ehrenmal sein sollte, das sie nicht nur rühmen, sondern kennen und verstehen lehrt«, ist ein Denkmal in Gebäudeform – das Literaturmuseum der Moderne ist ein Gebäude, das bewusst für die Ausstellung von empfindlichen und meist unscheinba- ren, ,flachen‘ Exponaten und für eine Präsentation der Marbacher Samm- lungen entworfen worden ist. Dahinter stehen zwei verschiedene Muse- umskonzepte (,Die Dichter rühmen, sie kennen und verstehen lehren‘? ,Archivbestände zeigen und sie, durchaus zum interessenlosen Wohlge- fallen, sehen lehren‘) und zwei verschiedene Zugänge zur Literatur (An- näherung an die Literatur über den Autor, seine Biografie, auch sein überliefertes, oft von ihm selbst forciertes Bild, seine bekannten, mit Bedeutungen aufgeladenen Sätze, sein ,Klischee‘? Annäherung an die

Upload: others

Post on 06-Feb-2021

0 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

  • 1

    VON DER A POTHEOSE DES DICHTERS

    HEIKE GFREREIS

    Von der Apotheose des Dichters hin zur Ausstellung desSichtbaren

    Das Schiller-Nationalmuseum unddas Literaturmuseum der Moderne in Marbach

    Ein Literaturmuseum ist eine Ausnahmegattung der Architektur wie derAusstellungspraxis. In der Regel wird Literatur (oder besser das, was inihr Umfeld gehört wie Handschriften, Erstausgaben oder auch Autoren-nachlässe) in Bibliotheken, Archiven und vor allem in Geburtshäusernund Wohnstätten von Dichtern ausgestellt. Eigens und ausschließlichfür die Ausstellung von Literatur errichtete Gebäude gibt es kaum. EndeMärz 2002 hat die Deutsche Schillergesellschaft den Wettbewerb fürein dem Schiller-Nationalmuseum benachbartes ,Literaturmuseum derModerne‘ entschieden: Von Mai 2006 an sollen in dem von DavidChipperfield Architects entworfenen Bau die Bestände des DeutschenLiteraturarchivs zum 20. Jahrhundert und der Gegenwart ebenso wieWechselausstellungen gezeigt werden.

    Ich möchte über die Marbacher ,Architektur für Literatur‘ nach-denken und von ihr aus verschiedene mögliche Museums- undAusstelllungskonzepte skizzieren. Die beiden Museen, die in Zukunftauf der Marbacher Schillerhöhe nebeneinander stehen werden, bietensich dafür an. Sie sind auf reizvolle Weise zweierlei Museen für Litera-tur. Das traditionsreiche Schiller-Nationalmuseum, ursprünglich alsMehrzweck-, Fest-, Ausstellungs-, Archiv- und Forschungsstätte ge-plant; die neben Schiller auch den anderen schwäbischen Dichtern wieUhland, Hauff, und Mörike ein »Ehrenmal sein sollte, das sie nicht nurrühmen, sondern kennen und verstehen lehrt«, ist ein Denkmal inGebäudeform – das Literaturmuseum der Moderne ist ein Gebäude, dasbewusst für die Ausstellung von empfindlichen und meist unscheinba-ren, ,flachen‘ Exponaten und für eine Präsentation der Marbacher Samm-lungen entworfen worden ist. Dahinter stehen zwei verschiedene Muse-umskonzepte (,Die Dichter rühmen, sie kennen und verstehen lehren‘?,Archivbestände zeigen und sie, durchaus zum interessenlosen Wohlge-fallen, sehen lehren‘) und zwei verschiedene Zugänge zur Literatur (An-näherung an die Literatur über den Autor, seine Biografie, auch seinüberliefertes, oft von ihm selbst forciertes Bild, seine bekannten, mitBedeutungen aufgeladenen Sätze, sein ,Klischee‘? Annäherung an die

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:261

  • 2

    HEIKE GFREREIS

    Literatur über ,Archivbestände‘: Materialien: Entstehungs- undVerbreitungsstufen sowie ,Paratexte‘, Beitexte aller Art wie Manuskripte,Typoskripte, Tonbandaufzeichnungen, Buchausgaben, Verlagsprospekte,Verfilmungen, aber auch Lebenszeugnisse von Schriftstellern, Fotoal-ben, Möbel usw.). Für einen Ausstellungsmacher kann das Bespielenvon zwei verschiedenen Gebäuden ein reizvolles Doppelkopfspiel sein,ein durch die faktische Macht der Architektur nahegelegtes Denken inzweierlei Systemen.

    Das Schiller-Nationalmuseum ist ausgestattet mit den klassischenMotiven des Gedenkens, der Verewigung und Verklärung. Die expo-nierte Lage auf einem Felsen über dem Fluss, in einem Hain mit Plata-nen, Akazien und Kastanien bezeichnet seit der Antike jene außerge-wöhnlichen Orte, die den Göttern und den Musen, den Töchtern derErinnerung, nahe sind: Parnass, Arkadien, heiliger Hain, locus amoenus,wenigstens anmutige, ,idyllische‘ Gegend. Der Kuppelbau mit seinenbeiden ,Eselsohren‘ spielt auf das Pantheon in Rom an und bündelt alsMotiv in der Architektur, bildenden Kunst und Literatur Bedeutungenwie Erhebung, Inspiration und Aufklärung, Tod und Auferstehung,Himmelsnähe, Ewigkeit. Die Folge von Portal, Treppe und überhöh-tem, von oben erleuchteten Zentralraum, die dem Tempelbau entliehenist, flößt Respekt ein und legt den Besuchern ein bestimmtes Verhaltennahe: Erhebung, Zurückstellen der menschlichen Bedürfnisse, Askese,Vergeistigung und ,Weihe‘, Eintritt ins Allerheiligste stehen bevor. Ur-nen, gesenkte Fackeln, Palmzweige, eine Lyra und ornamentale Voka-beln für Unendlichkeit und Unsterblichkeit (Mäander, laufende Hunde,Girlanden, Rosetten, Sonnen und Sterne) bestimmen den Bauschmuckdes Schillermuseums.

    Das Schillermuseum, als reiner Tageslichtbau geplant, konstru-iert Reflexe, arbeitet mit der Beleuchtung, der ,Erleuchtung‘ prägnanterStellen und verortet sich mehrfach in der schwäbischen Gedächtnis-landschaft. Eine Sichtachse verbindet die überlebensgroße Schillerbüsteim Foyer nach Osten hin mit dem Schillerdenkmal im Schillerhain; dasDenkmal spiegelt sich in den Fenstern, wirft seinen Schatten auf denVorplatz. Im Westen erstreckt sich die Aussicht hin zum Asperg undweiter zum Michaelsberg, auf dem der Legende nach Gott den Schwa-ben die Schrift geschenkt haben soll. Das Museum setzt Marken undSchwellen, zeichnet sich als irdische Wohnstätte eines Dichterfürstenaus. Das Bedeutungsbündel, das die architektonischen Motive durchAnspielungen schnüren, ist reich, vieldeutig, aber nicht zweideutig: DasMuseum besitzt einen eindeutigen Fluchtpunkt, ein vor allem spürba-res, nicht sichtbares Jenseits – Schiller. Dieses Jenseits ist durch dieRhetorik der Architektur und die Erwartung der Besucher als eine gera-

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:262

  • 3

    VON DER A POTHEOSE DES DICHTERS

    de nicht sichtbare, ,geistige‘, auch emotionale Qualität anwesend: DieReliefs an den Wänden des zentralen Saals, des »Schiller-Saals«, ver-gegenwärtigen allesamt Gedichte, vorwiegend Balladen von Schiller.Das Licht, das im Pantheon von oben durch die Öffnung der Kuppelfällt, jedoch ist nur in der Erinnerung da, als Seitenlicht und Spiegelung,als eine gedämpfte, abstrakte, pietistische ,Erleuchtung‘ des Raums. DieDimensionen der Individualität und Subjektivität – wie Schatten, Blick-winkel, Zeigefinger, Neugierde, Zweifel, Reflexion – sind in diesemMuseum funktionslos. Der Sinn ist überall. Es gibt Angeschaute undAnschauer, Bewunderte und Bewunderer, Fernblickende und Hoch-blickende, aber nichts dazwischen.

    Ein Literaturmuseum als Dichterdenkmal, überhaupt ein Denk-mal für einen Dichter zu bauen, das setzt die Verehrung der Dichter alsNachfolger von Kirchen- und Landesherren voraus, wie sie sich in derzweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgebildet hat. Das Gebäude desSchiller-Nationalmuseums ist das feste Bühnenbild für die Präsentationder Exponate; es stellt – im Unterschied zur Ausstellung in Geburts-und Wohnhäusern – einen möglichen authentischen Rahmen für die um-fassende, geistige und kulturelle Atmosphäre einer historisch undtopografisch konkreten Zeit bereit. Das 1903 erbaute Gebäude ist einKulissenbau (am schönsten sichtbar unter der Kuppel des Schiller-museums mit ihrer erst seit den 1870er Jahren möglichen so genanntenSchwedlerschen Holzeisenkonstruktion), baut die historisch vergange-ne Welt seiner Exponate nach, inszeniert diese durch eine thematischentsprechende Form und Dekoration des Gebäudes und integriert sie inein bedeutungsstiftendes System. In dieser gleichsam sakralen Umge-bung sind Exponate Reliquien, die numinos sein dürfen, nicht aber les-bar und verständlich sein müssen. Allein die Ahnung von Authentizitätund Originalität verleiht ihnen eine emotionale, quasi kultische Bedeu-tung, unabhängig, ob sie Literatur sind oder nicht.

    Der seit 1903 dominante Zweiklang von Denkmalsarchitekturim Überbau und mobiler Einrichtung im Unterbau hat der Einfühlung,der allzu naiven, der sinnlichen, sinnesfreudigen Hingabe der Besuchervon jeher eine optische Kluft entgegengestellt. Räumlich standen Ar-chitektur und Einrichtung quer zueinander. Die eichenen Vitrinentruhenund Schaumagazinschränke sind, das zeigen Fotografien aus verschie-denen Ausstellungsepochen des Museums, ebenso wie später die Zelt-vitrinen scheinbar ohne Raumgefühl riegelwandartig in die Räume hin-eingestellt worden, ohne Rücksicht auf den Gesamteindruck. Unbeirr-bar, vielleicht auch unbekümmert folgte die Aufstellung der Vitrinen imSchillermuseum der unsichtbaren Chronologie der Dichterleben.

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:263

  • 4

    HEIKE GFREREIS

    Die 1980 im Schiller-Nationalmuseum eingerichteten und im Novem-ber 2004 zur Vorbereitung des Schillerjahrs 2005 abgebauten Dauer-ausstellungen haben versucht, sich von diesem Reliquienkult zu distan-zieren, indem sie die Exponate in ein chronologisch gegliedertes Gefü-ge eingeordnet haben, das sich auf Themen konzentriert hat. Die lesepult-ähnlichen Zeltvitrinen markierten ein eigenes System, das jedoch wiedas Gebäude auf ein eindeutiges Jenseits, einen ,Gehalt‘, angewiesenwar. Dieses Jenseits ist profaner, präziser, aber nicht weniger unsinn-

    lich, nicht mehr augenfällig. Zum Lebensfaden kam als ,roter Faden‘die Frage hinzu, wie man als Dichter um 1800 vom Dichten leben, dasSchreiben zu seinem Brotberuf machen konnte. Das Großthema von derAutorschaft als Werkherrschaft war das ideelle Zentrum der Ausstel-

    Die 1980 eingerichtete ständige Ausstellung zu Friedrich Schiller imFestsaal des Schiller-Nationalmuseums. Foto: Bernd Hoffmann, DLA.

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:264

  • 5

    VON DER A POTHEOSE DES DICHTERS

    lung. In den Vitrinen wurden Objekte versammelt, die durch ihre ,Kon-stellation‘ das jeweilige Thema wechselweise dokumentiert und kom-mentiert haben. Sie waren in erster Linie aus symbolischen Gründen,als Träger von ,Inhalten‘, ausgewählt worden. Mit der Anordnung inder Vitrine, der Beleuchtung und der Beschriftung wurde versucht, je-des Objekt gleichwertig, gleichmäßig, maßvoll zu behandeln. Auf eineschriftliche oder optische Hierarchisierung, einen Rhythmus zwischenvereinzelten und gehäuften Exponaten, eine Gesetzmäßigkeit und Be-deutung der Gestaltungsmittel wurde bewusst verzichtet. Die Diskreti-on, mit der die Exponate gezeigt wurden, haben auch die Besucher zubewahren gewusst, welche die Ausstellung zu lesen verstanden. Werjedoch die Sprache hinter der Ausstellung nicht verstanden hat, der hatsich oft bald auf jene Objekte konzentriert, die das Lesen nicht gefor-dert haben: auf die bunten, dreidimensionalen Dinge. Diese Objekte derSchaulust haben sich vom Gesamtensemble einer Vitrine, von der ge-bauten, eingerichteten und ausgelegten, profanisierten pietistischen Theo-logie, emanzipiert. Der Blick auf sie war dann – vom System der Kon-zeption aus beurteilt – ein indiskreter, weil er angeschaut hat, was ei-gentlich nur gelesen werden sollte.

    Das Literaturmuseum der Moderne von David Chipperfield legtvon vornherein eine Ausstellung des Sichtbaren und nicht des Lesbarennahe. Es ist mit aller Entschiedenheit ein Gebäude. Die Architektur willnicht mehr, auch nicht weniger sein als ein an seinem topografischenund architektonischen Platz ideal oder wenigstens gut funktionierendesHaus. Der Blick, der hinter ihr steht, nimmt den Ort und seine Gegen-stände auf eine unmittelbare, ganz profane und zugleich sinnliche Wei-se ernst: Der neue Bau nimmt die Merkmale des Schiller-National-museums auf (etwa seine lang gestreckte Ausdehnung an der Hang-kante, den hohen Zentralraum, das Kuppelmotiv, die Stukkatur der Dek-ken, die vom Platz aus nicht sichtbare Dreistöckigkeit, die durch Pila-ster, Mittelrisalit und eine ursprünglich weiß-sandsteinfarbene Fassungbestimmte Gliederung der Fassade), führt sie zurück auf ihre Kernideeund bringt sie unspektakulär, doch beharrlich in Bewegung. Vor undZurück, Hoch und Hinunter, Flächigkeit und Tiefenräumlichkeit, Qua-der und Kubus, Ausblick und Ansicht, Länge und Höhe, Offenheit undGeschlossenheit, Tageslicht und Kunstlicht, Kühle und Wärme, Glätteund Struktur: Glas, Holz, Betonwerkstein stehen in dynamischen, gera-de nicht gleichgewichtigen Verhältnissen zueinander. Der Neubau re-duziert den mit der Kuppel überhöhten Mittelteil des Altbaus auf einfast ebenerdiges, leicht erhöhtes Eingangsgebäude. Nur im Grundrissist der zentrale Raum im Untergeschoss zu erkennen; in der Ansicht

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:265

  • 6

    HEIKE GFREREIS

    liegt er gerade nicht unter seinem Pendant, dem Eingang, die Türen sindringsum gerade nicht auf Mitte gesetzt. Das Quadrat ist verformt, durchdie Gliederung ins Kreisen gebracht.

    Wer hinunter zu den Ausstellungsräumen geht, gewinnt – in dem Maße, indem er die Welt, die äußere Umgebung des Gebäudes verlässt – an Höhe,Einschnitten und Aussichten, an Erfahrung ganz verschiedener Voluminahinzu. Die Abstufung der Terrassen außen, die sich in den unterschiedlichen

    Der Entwurf von David Chippefield Architects aus der Luft. Modellfoto: DCA.

    Blick vom Vorplatz des Schiller-Nationalmuseums auf dasLiteraturmuseum der Moderne. Modellfoto: DCA.

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:266

  • 7

    VON DER A POTHEOSE DES DICHTERS

    Raumhöhen und Bodenebenen innen fortsetzt, modelliert die Topografie undbringt die Landschaft gleichsam zu sich selbst. Als Fortsetzung der Schiller-höhe erlaubt das Literaturmuseum der Moderne erst den Blick hinaus ins

    Neckartal; als Pendant zur Marbacher Stadtmauer fügt es Stadt und Schiller-höhe zur Einheit. Der Neubau funktioniert, obwohl er aus den Anforderun-gen des ganz besonderen Ortes entwickelt worden ist, für sich und überall; er

    An der Scheide von Tag und Nacht, Natur und Kunst: Der großeAusstellungsraum im Literaturmuseum der Moderne mit Lichthof.Modellsimulation: DCA.

    Blick in den großen Ausstellungsraum im Rohbau, Oktober 2004. Foto:Chris Korner, DLA.

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:267

  • 8

    HEIKE GFREREIS

    ist, wie fast jeder seiner einzelnen Räume, autonom. Die klar von denVerkehrsräumen unterschiedenen, da holzverkleideten Kunstlichträume die-nen der Ausstellung von in der Regel unscheinbaren, kleinen, flachen, emp-findlichen und erläuterungsbedürftigen Exponaten. Sie legen den Aus-stellungsmachern nahe, ihre Exponate als Dinge an sich, als nichts als sieselbst, ernst zu nehmen. Die Räume sind gerade so fertig, für sich harmo-nisch und definiert, stark, aber auch abstrakt genug, um selbst die fast amor-phen Archivalien den Zauber ihrer leisen Körperlichkeit entfalten zu lassen,in ihrer Materialität wichtig und in ihrer Textur sichtbar zu machen.

    Im Literaturmuseum der Moderne werden wir offensiv dieAusstellungs- von der Vermittlungsebene trennen und können die Besu-cher mit Hilfe eines multimedialem Führungssystems und in persönli-chen Führungen aktiv mitnehmen, ihnen zeigen, welche Bedeutungendie Dinge, die ein Literaturarchiv sammelt, besitzen können, welche oftdetektivischen Vorarbeiten notwendig sind, um solche Bedeutungenüberhaupt zu bemerken, wie relativ, wie abhängig von der jeweiligenSichtweise solche Bedeutungen aber auch sind. Wenn eine FührungWissen und Deutungsansätze einem einzelnen Besucher als ,Einsich-ten‘ vermitteln möchte, benötigt sie die Überfülle an möglichen Per-spektiven, den Überschuss an Wissens- und Denkangeboten. Die aus-gestellten Dinge sind semantisch ,dicht‘ wie ,offen‘. In den an der Kunstorientierten Ausstellungen ist dieser Ansatz üblich, für eine Literatur-ausstellung ist er durchaus noch neu und riskant. Er provoziert, nimmtweg, stößt vielleicht auch zurück, befremdet. Denn um eine Überfüllean Perspektiven, eine gewisse Freiheit des Blicks wie des Denkens ineiner Literaturausstellung zu erlauben und Wissen aus dem herauszu-entwickeln, was man in einer Ausstellung sehen, hören, begreifen, le-sen kann, werden die in der öffentlichen Rede über Literatur so festetablierten, selbstverständlichen und bei den Besuchern anschlussfähigen,sicheren, ein System, einen Sinn versprechenden teleologischen Kate-gorien wie ,Autor‘, ,Epoche‘, ,Strömung‘, ,Thema‘ auf der Ausstellungs-ebene im Literaturmuseum zunächst aufgegeben und in Frage gestellt.

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:268

  • 9

    VON DER A POTHEOSE DES DICHTERS

    Interview mit Michael Grisko

    1. ) Wie sahen die Anlässe für die Ausstellungen in Marbach bislangaus? Welche Unterschiede wurden in Größe und Zuschnitt der Aus-stellung gemacht?

    Wie in anderen Bereichen der öffentlichen Rede über Literatur – in derPresse, im Rundfunk, im Fernsehen, in Volkshochschulen – gaben vorallem Gedenktage den Marbacher Ausstellungen ihre Themen. 100.Geburtstage, 200. Todestage. Gedenktage begründen ein Thema unmit-telbar einleuchtend, sichern das Interesse der Medien und die Empfäng-lichkeit bei einem größeren Publikum. Stellen Sie sich vor: Marbachwürde eine Ausstellung zu Schillers Braut von Messina zeigen, im Jahrseines 257. Geburtstages, oder den 113. Todestag von Gottfried Bennfeiern – keiner ginge hin! Kollektive Erinnerung und die im Kalenderfest verankerten Festtage gehören zusammen.

    Daneben gab es in Marbach quer zu diesem Autor-Zentrismusder Gedenkjahre stehende allgemeinere Themen: Am bekanntesten istdie Expressionismus-Ausstellung von 1960, auch Jugend in Wien, Hätteich das Kino!, Literatur im Industriezeitalter, Weltliteratur waren sol-che an literarhistorischen Motiven oder Strömungen orientierte The-men; zum Teil wurden auch die durch Gedenktage nahe liegenden Auto-ren durch Oberbegriffe (,Essayistiker‘ z.B. oder ,Frauen‘) gebündelt.Mein persönlicher Liebling ist die Ausstellungsreihe Vom Schreiben,die im Schiller-Nationalmuseum Mitte der neunziger Jahre gezeigt wor-den ist: Von Wie anfangen, dem Schreiben auf das weiße Blatt Papier,bis hin zum Aus der Hand, der Publikation.

    Bei der räumlichen und zeitlichen Disposition hat sich in denletzten zwanzig, dreißig Jahren bei den Marbacher Ausstellungen eineklare Zweiteilung etabliert: Es gab ,Jahresausstellungen‘ mit rund sechs-monatiger Laufzeit, von Mai bis November, von Schillers Todestag biszu seinem Geburtstag, und es gab die ,Kabinettausstellungen‘, in derRegel drei im Jahr. Die Jahresausstellungen wurden in der Beletage desSchiller-Nationalmuseums gezeigt und erstreckten sich mit einem Vo-lumen von etwa zwanzig Vitrinen über drei Räume hinweg; für die Ka-bine ttausstellungen standen zwei kleine Räume im Gartengeschoss zurVerfügung, mit Platz für maximal zehn Vitrinen. In den letzten Jahrengab es dann durch Fremdausstellungen, aber auch Eigengewächse zu-nehmend Ausnahmen von dieser Regel.

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:269

  • 10

    HEIKE GFREREIS

    2.) Welches Publikum hatten Sie bislang im Auge? Wie wurde in denzurückliegenden Jahren mit elektronischen Medien umgegangen, so-wohl hinsichtlich der Wahrnehmung als auch mit Blick auf die IhreFunktion als mögliche Vermittlungsinstrumente?

    Das Publikum, das jetzt zu uns kommt, ist ein gewachsenes, seitlanger Zeit mit der Institution vertraut und an ihren Gegenständenund auch Mitarbeitern selbstverständlich interessiert. Ein großer Teilkommt immer wieder, gehört mit zur Familie, ist uns persönlich be-kannt. Wir haben in Marbach den Sonderfall, dass das Publikum,das wir als ,unseres‘ wahrnehmen, besser Bescheid weiß als jederjüngere Ausstellungsmacher. Man freut sich, dass man Namen kennt,historische Verbindungen herstellen und Werke gelesen hat, die sonstkaum einer mehr kennt. Ein großer Teil der Ausstellungen ist so im-mer mehr zu Insider-Ausstellungen geworden. Das Wissen und dieErwartung von Kuratoren wie Besuchern ist geprägt durch Kenner-schaft, durch bibliophile Neigung und literatursoziologische Vorlie-ben, weniger durch ein philologisch-literaturwissenschaftliches In-teresse an den literarischen Texten selbst.

    Zu einigen Ausstellungen, vor allem zur Schiller-Daueraus-stellung, aber auch zu Kafkas Fabriken oder zu Spiegel der Welt,kommen natürlich auch Schulklassen, aber auch kulturinteressierteGruppen, Literaturkreise, Volkshochschulen, Betriebsausflügler, dieeine leichte und vor allem kurze, lehrreiche wie unterhaltsame Ein-führung in ein Thema von uns fordern. Diese Besucher scheitern inunseren Ausstellungen ohne Führung schnell; die Ausstellungen sindfür sie bislang nicht gezielt gemacht worden, der Vermittlungsauftragwurde auf die persönliche Führung verschoben. Darüber hinaus gabes früher eine mediale Einführung – wenn man eine Dia-Ton-Schauso bezeichnen mag – in das Schiller-Nationalmuseum und SchillersLeben und Werk. Seit Anfang 2001 haben wir im Museum einenAudioguide, der allerdings nie konsequent als Vermittlungs- oder garGestaltungsinstrument eingesetzt, sondern nur alternativ zum Lesenangeboten worden ist. Medien waren und sind in Marbach vor allemTräger von Exponaten, von Musikstücken, Verfilmungen, Filmaus-schnitten, Lesungen. So weit ich mich erinnern kann, sind sie nie alsraumbildendes, raumprägendes, wahrnehmungslenkendes oder aus-stellungsdidaktisches, die Ausstellung vermittelndes Element genutztworden.

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:2610

  • 11

    VON DER A POTHEOSE DES DICHTERS

    3.) Gibt es Zäsuren, die sie in der Ausstellungsgeschichte Marbachssehen?

    Die Marbacher Ausstellungsgeschichte ist geprägt vom Prinzip der lan-gen Dauer. Als Mitte der siebziger Jahre die zwei sehr erfolgreichenAusstellungstypen der Jahres- und Kabinettausstellung entwickelt wor-den sind, war ich sieben. So kann ich diese Frage nur im Rückblickbeantworten. Eine Zäsur sicherlich ging mit der Gründung des Deut-schen Literaturarchivs 1955 einher, weil man nun nicht mehr nur Aus-stellungen zu schwäbischen Dichtern und Denkern machte. Die zweiteZäsur würde ich 1980 ansetzen, da wurden die Dauerausstellungen zuSchiller, Hölderlin, Mörike, Kerner, Uhland, Wieland und Schubart,die wir bis 2004 gezeigt haben, neu konzeptioniert und eingerichtet.Die Leitfragen waren literatursoziologisch gewählt; die historischen,an den Archiv- und Schaukästen der British Library orientierten Aus-stellungsmöbel wurden durch die ,Zeltvitrinen‘ ersetzt, die denMarbacher Ausstellungsstil und den vieler anderer Literaturausstellungenmit ihrer an Lesepulte erinnernden Gehäuseform bis heute prägen. ImGrundsatz sind die Ausstellungen seit 1903 allerdings gleich geblieben:Sie zeigen Dokumente zu Leben und Werk eines Autors, um dessenschriftstellerisches Leben Besuchern nahe zu bringen.

    Die letzte Zäsur ist eher eine intern spürbare, weniger eine öf-fentlich sichtbare. Sie liegt in der Luft, in der Atmosphäre; wir sindmitten darin. Als mein Vorvorgänger, der seit 1975 das Museum undvor allem auch dessen Publikationen geprägt hat, im Jahr 2000 pensio-niert wurde, ging das einher mit dem Wettbewerb für das neue, 1.000Quadratmeter große Literaturmuseum der Moderne. Seit 1990 sind dieBesucherzahlen gesunken, die Konkurrenz durch andere Museen, Bi-bliotheken und Literaturhäuser, vor allem auch durch Weimar ist ge-stiegen. Das Land Baden-Württemberg bezahlt seinen Anteil amLiteraturmuseum der Moderne aus der »Zukunftsoffensive Junge Gene-ration«. Das sagt viel über die Erwartungen. Die Vorzeichen stehen seitdem Jahr 2000 auf Wechsel, auf Erweiterung, Verjüngung und Moder-nisierung; wobei ich denke, keiner hatte damals genaue Vorstellung da-von, was eine Literaturausstellung eigentlich neu und modern macht.Medien, Interaktivität, verschiedene Betrachtungshöhen und Perspekti-ven, professionelle Beleuchtung und Grafik, inszenierende, semantischeRaumbilder sicherlich – doch reicht das? Keiner hat wohl auch darangedacht, welche Schwierigkeiten mit einem neuen Museum verbundensind, das keine für eine Museum dieser Größe übliche Infrastruktur,keine Laufkundschaft und kaum eigenes, professionell mit Ausstellun-

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:2611

  • 12

    HEIKE GFREREIS

    gen vertrautes Personal hat. Es gibt in Marbach kein Museumscafé,keinen Shop, keine Gestalter. Die Ausstellungen wurden von den Mit-arbeitern des Archivs gemacht. Das hat bei vielen Vorteilen an man-chen Punkten in Sackgassen geführt. Durch die Gedenktage-Orientie-rung und den wissenschaftlichen Anspruch, einen Forschungsbeitrag zuleisten und unbekannte Texte und Autoren zu erschließen, haben sichbei den Marbacher Ausstellungsthemen aparte, wenig publikumswirk-same Autoren gehäuft. Man kann, so war man überzeugt, nur einmalDöblin, Benn, Kafka aus dem Archiv heraus ausstellen, wenn sich nichtdurch neue Zuschreibungen oder Entdeckungen im Nachlass dieForschungslage ändert. Die Treue zu einem Ausstellungsstil hat zu des-sen Versteifung und einer problemorientierten theoretischen Aus-stellungskritik geführt, nach dem Motto: Das Gute, das man tut, ist stetsdas Mögliche, das man lässt. Es fehlt bei uns an praktischen Erfah-rungswerten mit anderen Ausstellungsweisen, mit den didaktisch-gra-fisch gestaltenden und Identifikationsbilder anbietenden Ausstellungs-typus der achtziger Jahre oder den großen, künstlerisch-spielerischenExpositionen der Jahrtausendwende.

    Marbach ist auf hohem Niveau im Ausstellungsbereich einEntwicklungsgebiet geworden, ein Ort mit einer großen Tradition, derheute außerhalb der Welt und der Zeit liegt. Das macht den Ort und dieInstitution so zauberhaft für Externe und schwierig für interne Neulin-ge (fast möchte man hier sagen: Novizen) wie mich. Die Schwerkrafteiner mit 150 Mitarbeitern personalreichen Institution, der Ablauf vonBewegungs-, Handlungs- und Denkweisen ist so schnell nicht zu än-dern. Man kann nicht einfach stoppen und andere, gar unbekannte undrisikoreiche Wege gehen. Das ist wie beim Verpassen der Straßenbahn:Man läuft noch eine Weile weiter. Mein nur kurze Zeit amtierender Vor-gänger hat diese schwelende Epochenzäsur, dieses Hangen und Bangenzwischen Horror vacui und Adventsstimmung, diese paradoxe Sehn-sucht nach einer Tabula rasa, auf der neue Speisen aufgetischt werden,die aber schmecken wie die alten, auf den Satz gebracht: »In Marbachsoll alles anders werden und alles bleiben, wie es ist«.

    Seit 2000 ist bei den Ausstellungen und Publikationen trotz in-terner Zäsuren im Großen und Ganzen alles geblieben, wie es war. Wassich unumkehrbar geändert hat, das sind die Anforderungen des neuenMuseums, die Erwartung unserer Geldgeber, aber auch unseres lang-jährigen Publikums. Dieses Publikum hat an den Marbacher Ausstel-lungen zunehmend jene Mängel entdeckt, die schon immer da waren. Eshat Neuerungen bemerkt, die ich als solche gar nicht verstehen würde.Lifting und Kosmetik – der Einsatz von Ausstellungslicht, eine andereWandfarbe, eine andere Schrifttype –, das sind keine Neuerungen. Wer

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:2612

  • 13

    VON DER A POTHEOSE DES DICHTERS

    sein Outfit ändert, muss auch seine Bewegungen, sein Verhalten undsein Denken ändern, wenn er sich nicht komisch fühlen will. Er brauchtein anderes Körper- und Lebensgefühl. Wenn wir modernere Ausstel-lungen möchten, müssen wir andere Themen erschließen und Literatur-ausstellungen gleichsam unschuldig, ohne Marbach und sein langes Ge-dächtnis, noch einmal neu von der Sache heraus denken. Sonst habenwir eine optische, aber keine inhaltliche Verjüngung und sollten es inder Tat besser lassen, wie es ist. Dann hilft nur noch die Evolution undnoch einmal hundert Jahre.

    4.) Wie kann ein Maßstäbe setzender, über Jahre hinweg etablierter,erfolgreicher Ausstellungsstil, der in seiner offenbaren Bescheidungauf die Ausstellungsebene, auf die Dinge, heute noch ideal, jedoch inden Mitteln seiner Inszenierung und seinen inhaltlichen Vorausset-zungen überaltert ist, ,modern‘ werden?

    Indem man diesen Stil beim Wort oder in diesem Fall: bei den Expona-ten, den Dingen nimmt. Seltsamerweise hat der mit der Ausstellung vonDingen sich vermeintlich bescheidende und auf optisch-akustischeVermittlungs- und Wahrnehmungshilfen weitgehend verzichtendeMarbacher Ausstellungsstil die Archivalien gerade nicht exponiert, siegerade nicht als sinnliche Dinge zugänglich gemacht. Wer eineMarbacher Ausstellung ohne Insiderwissen gesehen hat, der hat Vitri-nen mit viel Material, viel Flachware, größerer Vitrinenkapitel-beschriftung und kleinerer, umfangreicher Exponatbeschriftung gese-hen. Auf den ersten Blick ähnelten sich die Ausstellungen unabhängigvom Thema, sie hatten feste Prinzipien: Die Exponate und Vitrinen folg-ten der Leserichtung, kein Exponat wurde durch ein anderes verdeckt,eine Unterscheidung von Vorder- und Hintergrund, oben und unten, Ver-einzelung und Fülle wurde nicht angestrebt, ebenso keine Fokussierungdurch Beleuchtung oder auf die Vitrinen aufgedruckte Grafik. Unschar-fe Bereiche gab es so wenig wie mikroskopisch vergrößerte Ausschnit-te. Die Dinge waren vermeintlich objektiv und richtig, 1:1, flach und alsTeil eines Vitrinenkapitels ausgestellt. Fragt man geübte MarbacherAusstellungsbesucher, so haben sie nur selten optische Erinnerungen aneinzelne Exponate. Sie können den ,Inhalt‘ einer Ausstellung erzählenund sich an die Begleitpublikation erinnern, aber keine Lieblingsstückebenennen. Von Objekten auch nach langen Jahren beeindruckt sind dieBesuche in der Regel dann, wenn ihnen jemand an diesem Objekt etwasgezeigt, eine Geschichte dazu erzählt, es mit anderen Exponaten ver-bunden, durch sein Wissen mit Leben, mit Tiefe erfüllt hat.

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:2613

  • 14

    HEIKE GFREREIS

    Wir versuchen in Zukunft, den Archivalien eine Körperlichkeit zu ver-leihen und dieses ,Entfalten‘ von Erzählungen aus ihnen in den Mittel-punkt zu stellen. Wir werden die Archivalien einzeln beleuchten unddurch Glasböden von allen Seiten und nach Möglichkeit in ihrem gan-zen im Archiv bewahrten Umfang zeigen, Schatten und Spiegelungen,Überschneidungen und auch verborgene Orte wie zum Beispiel nichtoder nur halb lesbare Blätter oder auch Ausstellungsebenen in Über-kopf-Höhe bzw. unterhalb der Gürtellinie bewusst einsetzen. UnsereBesucher müssen und können sich recken und bücken. Im größten Raumder Dauerausstellung wird dieses materialorientierte Ausstellen unter-stützt durch Häufung, strenge Legung und Reihung. Wir stellen dort dieBestände des Archivs in ihrer durch die Raumgröße von 250 Quadrat-metern zahlenmäßig beschränkten ,Fülle‘ aus – kuriose, optisch attrak-tive Exponate ebenso wie für die Literaturgeschichte zentrale, auratischeObjekte. Sie werden nach optisch unterscheidbaren Gattungen geord-net: Manuskripte, Bücher und andere Verbreitungsmedien, Briefe, Ta-gebücher, Erinnerungsstücke, Fotos, Bilder, Skulpturen. Anders als sonstwerden dabei auch Skulpturen, Bilder und Bücher konsequent gelegt,um deren im Vergleich zu Manuskripten unmittelbare Attraktivität her-unter zu dimmen, ihr optisches Übergewicht zu reduzieren und ihnenihre (museale) Selbstverständlichkeit zu nehmen. Sie sind in einerLiteraturarchivausstellung in erster Linie ebenso wie Manuskripte Text,nicht Kunst: Auch sie sind Dinge des Archivs.

    Das serielle Reihen hilft dabei, ein auf den ersten Blick sichtba-res, in seinen Auswahlprinzipien erfassbares Raumbild zu erzeugen –ein neben einem Foto und einem Buch ausgestelltes Manuskriptblatt isttendenziell sinnlich weniger eindrücklich als eine Bibliothek oder einArchiv – und die Wahrnehmung der Besucher auf das Aussehen, aufNorm und Abweichung der Dinge hin zu lenken: auf Übergrößen undKleinstformate, transparente oder bunte Papiere, Schreib- , Streich- undOrdnungsarten, historische Veränderungen und Konstanten, persönli-che Spuren. Ich verstehe ein Museum als Übung in Demokratie. EineAusstellung sollte ohne Vorwissen funktionieren können, jedoch nichtseinfacher oder leichter machen, als es ist. Für die, die weniger wissen,muss sie den Zugang auch zu schwierigen, fremden, zeitintensiven The-men und Ideen ermöglichen, sie an Bemerkungen, die jeder machen kann,abholen; für jene, die viel wissen, sollte sie neue Wege anbieten, sieimmer wieder auf die Ebene der Dinge zurückholen oder mit künstleri-schen Übertragungen konfrontieren. Das Konzept der Dauerausstellungist daher, bei allen theoretischen Überlegungen, die hinter ihm stehen,so einfach wie möglich. In der Dauerausstellung wird der Strom des in

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:2614

  • 15

    VON DER A POTHEOSE DES DICHTERS

    Gattungen gegliederten und auf zwei inhaltliche Hauptwege (Literaturund Leben) verteilten Materials quer zu einem chronologischen Rastergeführt. Von 1900 bis 2000, was ist da im Archiv übrig geblieben? Wiesehen die Dinge aus? Was bewahren sie von der Zeit, von ihren Besit-zern, Benutzern oder Urhebern? Was kann man lesen? Gibt es Ähnlich-keiten, optische Wiederholungen, oder auch Schlüsselbegriffe? Was warzur gleichen Zeit da?

    Mit der veränderten Ausstellungsweise geht die offensive Refle-xion und das potentielle In-Fragestellen eigener Denkweisen und Sinn-erwartungen wie auch der tradierten Ordnungskategorien einher. DasMaterial ist ein permanentes Korrektiv, es lässt sich nicht auf eine ein-zige Bedeutung festlegen, es bedeutet an sich nichts, und es gibt keineobjektiv richtige, letztgültige Auswahl aus dem Archiv der Literaturund des Lebens, allerhöchstens eine, die für eine breite Öffentlichkeitleichter zugänglich ist. Da liegt letztlich der einzige Unterschied zwi-schen einer Ausstellung und einer Publikation: Sie kann die Dinge hin-stellen, sie muss nicht mit ihnen und ihren Stellvertretern reden und mitihnen etwas darstellen. Wobei wir bei Ihrer nächsten Frage sind.

    5.) Was schuldet man den neuen Medienwelten? Was kann eineLiteraturausstellung heute sein? Und wie zieht man mit ihr (mehr)Besucher an?

    Wenn ich jemanden etwas schulde, so habe ich von ihm auch etwaserhalten. Ich stehe in seiner Schuld. Ich würde das heute so oft kritisier-te (Über-)Angebot an Informationen und das Nebeneinander oder auchDurcheinander verschiedener Medien nicht für den Iconic turn und dasVerschwinden einer Schriftkultur verantwortlich machen. Gerade auchdie historisierende, malende Ausstellungspraxis des 19. Jahrhunderts(denken Sie nur an Stülers Neues Museum in Berlin oder auch dasbühnenbildartige, spätbarock anmutende Gebäude des Schiller-National-museums) erinnert daran, dass die Menschen immer und jederzeit Bil-der gebraucht haben. Durch die Medienvielfalt entsteht heute auch wie-der ein Bedürfnis nach Langsamkeit, Konzentration, langen Erzählun-gen, Kontinuität, Sinn, Eindeutigkeit, Wiederholung, Kult. 24-Stunden-Lesungen, dicke Bücher und endlose Fernsehserien sind ja durchauserfolgreich. Ich denke, die jüngere Generation hat gelernt, vieles neben-einander zu sein, relativ und unhierarchisch zu denken, zwischen denWelten und Moden und Stilen zu zappen und auf Überforderung durchAbschalten oder Gegen-Provokation zu reagieren. Das besitzt positivewie negative Seiten. Literaturausstellungen haben die Chance, der Lite-

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:2615

  • 16

    HEIKE GFREREIS

    ratur, die im Gegensatz zu anderen Künsten immer noch oft auf dieKategorie der gesellschaftlich-historischen Relevanz und also der zurIdentifikation einladenden Aktualität festgelegt wird, ein anders oderimmerhin erweitertes Image zu verschaffen. Literatur ist nicht (nur) Aus-druck menschlicher Grunderfahrungen und kritische Reflexion der so-zialen Wirklichkeit, ein Lehrstück für Generationenkonflikte, Fremden-feindlichkeit oder Recht und Unrecht, eine ziemlich ernste und erbauli-che Angelegenheit. Sie ist ein idealer Gegenstand, um ein plurales, je-doch konsequent systematisches und streng logisches Denken kennenzu lernen, zu üben und zu reflektieren. Um doch zu einer moralischenVokabel zu greifen: Toleranz im Denken zu lernen. Aber sie benötigtauch Zeit, Konzentration, Anstrengung.

    Den rationalen, aber zutiefst humanen und anti-ideologischen Plu-ralismus, den uns die Moderne geschenkt hat, werden die MarbacherAusstellungen von 2006 an offensiver ausnutzen und thematisieren. Wirwerden die Gedenkjahresausstellungen, die doch mehr den Verfassernvon Literatur als der Literatur selbst gilt, nicht aufgeben, jedoch ver-stärkt Literaturausstellungen im eigentlichen Sinne zu machen versu-chen, die unter Umständen überhaupt kein Exponat aus dem Archivbenötigen, weil sie sich auf einen Text oder auf ästhetische Erfahrun-gen, literarische Strukturen, auf Rhythmen, Wortklänge oder auch Buch-staben konzentrieren. Für die nächsten Jahre planen wir Ausstellungs-reihen, die allgemeinen ästhetisch-philosophischen, epistemologischenBegriffen gelten, der Schönheit etwa und dem Ordnen, dem Zeigen, demSchneiden, dem Verstecken oder aber auch dem Feiern. Dass die Aus-stellungen dabei je nach dem konkreten Thema alle Gestaltungsmitteleinsetzen, die es heute oder morgen gibt, knallig oder zurückhaltend,Mini oder Maxi, mal Ikea und mal Cassina, das ist für mich selbstver-ständlich. Wichtig ist, dass das Verhältnis Thema-Gestaltung stimmtund die Exponatauswahl und Gestaltungsmittel ökonomisch und zweck-orientiert eingesetzt sind. Das kann das ein Mal den Verzicht auf Expo-nate, ein anders Mal auf Medien bedeuten: Wenn ich eine Ausstellungzum Lesen und fürs Lesen zeige, warum soll der Besucher dann auchnoch unbedingt hören müssen oder bewegte Bilder sehen?

    In der neuen Dauerausstellung werden wir konsequent dieAusstellungs- von der Vermittlungsebene trennen. Wir werden keineillustrativen Raumbilder zeigen, sondern primär Objekte ausstellen:Archivalien, aber auch literarische Texte bzw. Auszüge aus diesen. Einesparsame Grundbeschriftung hilft den Besuchern bei der Orientierung.Wer mehr wissen will, wer sich führen lassen oder auch aktiv in dieAusstellung, die Projektion literarischer Texte, die wir in einem Raumplanen, eingreifen möchte, muss einen multimedialen Museumsführer

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:2616

  • 17

    VON DER A POTHEOSE DES DICHTERS

    mitnehmen, ein leichtes, laptopgroßes Gerät mit Display und Kopfhö-rer, das eigens für Marbach entwickelt wird. Dieser M3, dieser multi-mediale Museumsführer, bietet verschiedene akustische Führungen an,die wir deutlich zielgruppenorientiert benennen (für Kinder, für Eilige,für Schaulustige, für Leser), über ihn können zum Beispiel aber auchTexte transkribiert, Film- und Hörbeispiele hinzugewählt oder weiter-führende Informationen recherchiert werden. Leicht, im Schnelldurch-gang und nur spielerisch, ganz ohne etwas Askese wird zumindest dieneue Dauerausstellung im Literaturmuseum der Moderne nicht funktio-nieren. Der M3 fordert von den Besuchern, dass sie sich auf ihn einlas-sen, er gibt ihnen dafür aber auch etwas. – Ob wir damit mehr Besucheroder überhaupt Besucher anziehen? Um das beantworten zu können,müssen wir es einige Jahre ausprobieren.

    6.) Wie verändert sich allein durch ein neues Gebäude, eine andereArchitektur, auch einen anderen Namen der semantische Rahmen, derErwartungshorizont einer Ausstellung? Wie kann eine Ausstellung ge-dacht und in Szene gesetzt sein, die zu ihrem architektonischen Rah-men semantisch wie gestalterisch passt? Und was geschieht, wenn sieim architektonisch falschen Rahmen gezeigt wird oder die Semantikdes architektonischen Rahmens nicht mehr stark genug ist, weil ihreEigenart als Ausstellung nicht so groß ist, dass sie für sich alleineüberall funktioniert?

    Das Literaturmuseum der Moderne ist ein Ausstellungsgebäude, einefür die Exposition von vor allem ,flachen‘ und kleinen, kunstlicht-bedürftigen Archivalien entworfenes Museum mit sechs verschiedenenAusstellungsräumen und drei Tageslichthöfen, kein Gedenkort mit Fests-aal und Kuppel und Seitenflügeln mit ehemaligen Büroräumen und rings-um großen Fenstern wie das Schiller-Nationalmuseum. Raumkonzeptund Namen stecken für Besucher wie Ausstellungsmacher einen unmit-telbar wirksamen Erwartungshorizont ab. So lassen sich diese Fragendurch eine einfache Überlegung beantworten: Die langjährige Schiller-ausstellung ist im Schillersaal nicht auffällig; im neuen Museum aufge-stellt, würde sie als Ganzes zum Ausstellungsobjekt, mitsamt ihrer Be-schriftung und den Vitrinen. Sind die Zeltvitrinen im Schiller-National-muserum veraltet, so würden im neuen Museum ihr Retro-Charme evi-dent. Gegenstand wäre dann nicht mehr Schillers Leben und Werk, son-dern die Art und Weise, es wissenschaftlich zu erschließen und auszu-stellen. Umgekehrt funktioniert das auch, allerdings mit anderen Aus-wirkungen. Damit eine mit Medien und Projektionen, Licht und Raum-bildern oder sogar Rampen und Bühnen arbeitende Ausstellung im Schil-

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:2617

  • 18

    HEIKE GFREREIS

    ler-Nationalmuseum funktioniert, damit sie das Gebäude im jetzigenrenovierungsbedürftigen Zustand mit den Teppichen, Wänden und Be-leuchtungskörpern von 1980 nicht alt aussehen lässt bzw. in ihnen nichtmodisch-ironisch, billig-geschmäcklerisch wirkt, muss sie die Wändeund Böden überlagen, unsichtbar machen, zumindest neutralisieren. Giltdie Ausstellung im zentralen Schillersaal dann auch noch einem ande-ren als Schiller, Arno Schmidt etwa oder auch Goethe oder einem The-ma wie Schneiden, dann wird die Ausstellung – ob sie es will oder nicht– zur Provokation, zur Koketterie mit einem Sakrileg.Im Schiller-Nationalmuseum könnten wir nie die Fülle unserer Bestän-de chronologisch und nach Literatur und Leben sortiert zeigen oder zu-mindest auf diese auf ein Raumbild zielende, mit der Architektur arbei-tende, pure und reduzierte, abstrakte Weise wie im Literaturmuseumder Moderne. Zum einen hätten wir nicht den Platz, zum anderen würdeuns Architektur und Innenarchitektur zumindest im architektonisch-se-mantisch besetzten Schiller-Saal auseinander driften. Die Ausstellungwäre räumlich schief, hätte zu wenig starke, griffige Inhalte, zu wenigimprovisierenden Spielcharakter und Bühneneffekt, um der Architekturetwas entgegen zu stellen. Wäre das Schiller-Nationalmuseum größer,weniger schillerzentriert, architektonisch konsequent auch in den Sei-tenflügeln auf ein Raumerlebnis gestaltet, wäre es zum Beispiel die KingsLibrary der British Library , so sähe das wieder anders aus, wenn wirgroß »Ausstellung aus den Beständen des Archivs zum 20. Jahrhun-dert« auf die Fahnen schrieben. Wir könnten zentrale Gedanken desKonzepts in einer Kunst- und Wunderkammer-Ausstellung realisieren.Oder aber auch, ohne Fahnen, englische Literatur ausstellen. Sie wür-den darüber nicht erstaunt sein. Im Schiller-Nationalmuseum wären Siees schon, und weitaus mehr noch in Schillers Geburtshaus. Sie merken:Ob schief, ob gerade, es ist alles relativ. Es gibt keine grundsätzlichrichtige oder falsche Ausstellungskonzeption.

    gefrereis.p65 05.05.05, 18:2618