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Schriftenreihe Band 294/1 Diskussionsbeiträge zur politischen Didaktik Heimat Analysen, Themen, Perspektiven Bundeszentrale für politische Bildung

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Schriftenreihe Band 294/1

Diskussionsbeiträge zur politischen Didaktik

Heimat Analysen, Themen, Perspektiven

~ Bundeszentrale für politische Bildung

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- Einordnung des Interpretationsergebnisses in den geschichtlichen Bedeutungszu­sammenhang, dabei - Feststellung der Notwendigkeit des Abbaus eigener Vor-Urteile - Feststellung der Korrektur des eigenen Erkenntnisstandes.«69

Neben den Möglichkeiten originaler Begegnungen mit Objekten bieten Analysen regionaler Quellen die wichtigsten Zugänge zum Verständnis der geschichtlichen Dimension der Heimat.

69 H. Forster (Hrsg.), Allgemeine Lernziele zur Geschichte und Sozialkunde mit Beispielen für den Unterricht in der gymnasialen Oberstufe (Ploetz Didaktik Schriften für einen lernziel­orientierten Unterricht), Würzburg 1975, S. 12.

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DIETER EMIG / ALFRED G. FREI*

»... die Fremdheit der Dinge und Personen aufheben«

Über Versuche, Heimat neu zu entdecken

Kurz nachdem Kernkraftgegner am 23. Februar 1975 den Bauplatz für das geplante "'crnkraftwerk im südbadischen Wyhl besetzt hatten, nahm die freie "Volkshoch­_chule Wyhler Wald« ihre Arbeit auf. Das Programm dieser unabhängigen Initiative lImfaßte neben Vorträgen über technische und wirtschaftliche Fragen der Kernener­~ic auch Themen aus der Geschichte der badischen und elsässischen Freiheitsbewe­~ungen, in deren Kontinuität sich die Kernkraftgegner sahen. Weitere Programm­,chwerpunkte der freien Volkshochschule waren Lieder- und Heimatabende; die "'ernkraftgegner sahen den alemannischen Dialekt als einen »der grundlegenden Pfciler der gesamten Bewegung« an l

. Die Menschen im Wyhler Wald erhofften sich daraus Kraft für ihren Kampf gegen das geplante Kraftwerk, das sie als zentral ~cplanten, von außen kommenden Eingriff in ihre gewachsene und natürliche lebenswelt verstanden.

Seit Anfang dieses Jahrhunderts hatten Philosophen wie Edmund Husserl, Karl ':"pers, Walter Benjamin oder Ernst Bloch die Geschichte der industriell-kapitalisti­'l'hen Zivilisation in diesem Sinne als Geschichte der Entfremdung der Menschen von den sie umgebenden Dingen und von ihren Mitmenschen interpretiert. Jürgen Ilabermas bezeichnete diesen Prozeß als »Kolonialisierung der Lebenswelt«2. »Ent­wllrzelungen, Enteignungen der gewohnten Lebenswelt vollziehen sich millionenfach allch auf Ebenen, welche die normale und alltägliche Bewegungsrichtung der Ratio­nalisierung und Modernisierung industrialisierter Gesellschaftsordnungen ausma­rhen«. schreibt Oskar Negt3

. »Heimat«, so fährt er fort, sei »der absolute Gegenbe-

U. Beller, Bürgerprotest am Beispiel Wyhl und die Volkshochschule Wyhler Wald, in: 11. Haumann (Hrsg.), Vom Hotzenwald bis Wyhl. Demokratische Traditionen in Baden, Köln 1977, S.269-290, hier: S.287; H. Niehaus. In der Tradition demokratischer Lieder: Lieder aus der Zeit des Vormärz, der Revolution 1848/49 und des gegenwärtigen Kampfes oer badisch-elsässischen Bürgerinitiativen gegen den Bau von Kernkraftwerken, in: ebd .. S. 291-320. Zur Kritik an der im Titel dieses Buches unterstellten Kontinuität der »demokra­tischen« Bewegungen vgl. den Beitrag der Arbeitsgruppe des Projekts Regionale Sozialge­schichte (Konstanz), Neue Regionalgeschichte: Linke Heimattümelei oder kritische Gesell­schaftsanalyse? , in: Das Argument, 126 (1981), S. 239-252, hier: S. 243 f. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handeins, Bd. 2, Frankfurt1M. 1981, S. 522.

'\ O. Negt, Wissenschaft in der Kulturkrise und das Problem der Heimat, in: Th. Noetzel/ 11. D. Zahn (Hrsg.). Die Kunst des Möglichen. Neokonservatismus und industrielle Kultur, Marburg 1989, S. 138-152; hier: S. 150 (wiederabgedruckt in diesem Band).

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griff« zu diesen Entwurzelungen und Entfremdungen - ein »Zukunftsbegriff«. »... der Idee der Heimat einen emanzipatorischen Sinn abzugewinnen«, heißt »die Fremdheit der Dinge und Personen« aufzuheben4

Der Verlust an persönlicher Vertrautheit und Sicherheit5 hat sich im letzten Jahrzehnt aufgrund der technologischen Entwicklung sowie wirtschaftlicher und sozialer Krisenerscheinungen weiter beschleunigt. Unter den vielfältigen Reaktionen hierauf greifen wir Versuche heraus, gegen Entfremdungs- und Entwurzelungsten­denzen mit aufklärerischer Geschichtsarbeit6 neue Heimaten zu schaffen. Heimat ist allerdings nicht erst seit zehn Jahren politisch-kulturelles Thema. Deshalb zunächst einige Bemerkungen zur Begriffsgeschichte.

1. Heimat und Heimatbegriff

Das Wort »Heimat« hatte in den Jahrhunderten vor der Industrialisierung konkrete und materielle Bedeutung: Heimat war im alltäglichen Sprachgebrauch an den Besitz von Haus und Hof gebunden. »Der Älteste kriegt die Heimat«, hieß es im Schwäbi­schen. Gemeint war, daß der älteste Sohn den elterlichen Hof erbte. Dieses mit Haus und Hof verknüpfte Heimatrecht war auf die Gemeinde bezogen. Heimat stellte einen materiellen Versorgungsanspruch gegenüber der Gemeinde dar. Aus dieser sozialen Sicherung waren allerdings die Besitzlosen, also das Gesinde oder die Taglöhner ausgeschlossen.

Diese Form von Heimatrecht entsprach einer stationären Gesellschaft. Mit der beginnenden Industrialisierung wuchs an deren Rändern die Zahl der Heimatlosen, der Vagabunden und Bettelleute. Industrialisierung erforderte Mobilität. Nun wurde die Freizügigkeit der Arbeitskräfte gesetzlich verankert; gewachsene räumliche Bin­dungen und somit der alte, konkrete und materielle Heimatbegriff waren für die »freie«, das heißt kapitalistische wirtschaftliche Entwicklung hinderlich.

Im Lauf des 19. Jahrhunderts trat an die Stelle des konkret-materiellen ein kompensatorischer Heimatbegriff. Ein Beispiel mag das verdeutlichen. In dem um die Jahrhundertmitte von Wilhelm Ganzhorn geschriebenen Lied »Im schönsten Wiesen­grunde« geht es in der ersten Verszeile noch um Heimat im konkreten Sinn: »Im schönsten Wiesengrunde ist meiner Heimat Haus.« Dann aber kommen Blumen, Bächlein und Vögel- Naturklischees ohne konkreten örtlichen Bezug. Während die Industrialisierung in einem in der bisherigen Menschheitsgeschichte nie dagewesenen Tempo und Ausmaß die Welt zu verändern begann, wurde kulturell die vorindu­strielle statische Lebensweise idealisiert und überhöht.

4 Ebenda, S. 146f, S. 149, S. 152. 5 H. Lübbe, Politischer Historismus. Zur Philosophie des Regionalismus, in: Politische

Vierteljahresschrift, 20 (1979) 1, S.1-15, hier: S. 9. 6 A. G. Frei, Geschichtswerkstätten als Zukunftswerkstätten. Ein Plädoyer für aufklärerische

Geschichtsarbeit, in: G. Paul/B. Schoßig (Hrsg.), Die andere Geschichte, Köln 1986, S.258--280 und D. Emig, Geschichtsarbeit als >demokratische Aktion<. Bemerkungen zur Arbeit der Geschichtswerkstätten, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Bun­desrepublik Deutschland. Geschichte - Bewußtsein, Bonn 1989, S. 225-232.

Das bürgerliche Heimatbild war eine »ausgeglichene, schöne Spazierwelt«. Hei­mat als Kompensationsraum war »Besänftigungslandschaft, in der scheinbar die Spannungen der Wirklichkeit ausgeglichen« waren, wie Hermann Bausinger heraus­'carbeitet hat7

Dieser nun nicht mehr materiell und räumlich konkret bezogene, sondern unächst ideologisch-abstrakte Heimatbegriff konkretisierte sich im Deutschland des

19. Jahrhunderts in mehrfacher Weise: Die heftige Industrialisierung in der zweiten Jahrhunderthälfte brachte eine förmliche Heimatbewegung hervor. Nicht nur die deutsche Wirtschaft, auch die kompensatorische Heimatbegeisterung wuchs rasant. Schon um die Jahrhundertwende begann Heimat zur Kulisse zu werden: War die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung »einem rücksichtslosen Verwer­tungs- und oft Zerstörungsprozeß«8 unterworfen, traten in der Architektur (Hei­matstil), in der Mode (Trachten) oder in der Musik (Heimatlieder) floskelhafte

itate und Embleme dessen, was der Verwertungsprozeß gerade zerstörte, ihren Siegeszug an. »Heimat« war die Kulisse, hinter der die wirtschaftliche Modernisie­rung rücksichtslos vorangetrieben werden konnte. Die Requisiten dieser Kulisse wie Trachten und >altdeutsches< Mobiliar wurden bereits seit Beginn unseres Jahrhunderts erfolgreich vermarktet - »Heimat« begann schon damals zum Geschäft zu werden. Nachdem Haus und Hof für die Mehrheit der Menschen keine Haltepunkte für »Heimat« mehr bieten konnten, wurde im Kaiserreich das abstrakt-ideologische Heimatgefühl politisch zur »Vaterlandsliebe« erhöht. Das neu gegründete Deut­sche Kaiserreich füllte seinen Nachholbedarf an Nationalbewußtsein. Aus dem Bächlein wurde jetzt der Vater Rhein. Die Helden der Heimat- und Bauernro­mane zeigten, wie man hartes und karges Dasein, soziale Gegensätze und Entbeh­rungen zwar tapfer, gleichzeitig aber als unveränderlich hinnimmt.

- Das aus dem diffusen Heimatgefühl zusammengebackene >>Vaterland« war vor allem ein Identifikationsangebot an die Arbeiter. Diese waren aus ihren familiären Zusammenhängen gerissen, aus allen Richtungen in die neuen Industriestandorte zusammengeströmt und dort zum großen Teil in schnell hochgezogenen Mietska­sernen zusammengepfercht. Handwerkliche Qualifikationen und Traditionen, die vor der Industrialisierung Sicherheit und Selbstbewußtsein gegeben hatten, wur­den zunehmend entwertet. Die an den Volksschulen im Kaiserreich eingeführte »Heimatkunde« sollte die Kinder aus einfachen Verhältnissen zur Liebe zum »Vaterland« erziehen9

. Allein, diese ideologischen Integrationsangebote verfin­

7 H. Bausinger, Auf dem Weg zu einem neuen, aktiven Heimatverständnis. Begriffsge­schichte als Problemgeschichte, in: Der Bürger im Staat, 22 (1983), S.211-216. Unser Argumentationsgang hält sich an diesen Text. Vgl. neben diesem anregenden und wichtigen Aufsatz auch die Beiträge: Heimat - Aus dem Grimmschen Wörterbuch und W. Jens, Nachdenken über Heimat. Fremde und Zuhause im Spiegel deutscher Poesie, in: H. Bienek (Hrsg.), Heimat. Neue Erkundungen eines alten Themas, München 1985, S.I1-13 und S.I4-26.

8 H. Bausinger (Anm. 7), S. 214. 9 Vgl. H.-D. Schmid, Zur Geschichte der Heimatkunde, in: G. Schneider (Hrsg.), Geschichte

lernen und lehren. Festschrift für Wolfgang Marienfeld zum 60. Geburtstag, Hannover 1986, S.49-81.

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gen nicht überall. Zu kraß waren die realen Klassengegensätze. Die sozialistische Arbeiterbewegung selbst wurde vielen ihrer Mitglieder zur Ersatzheimat lO•

- In der Krise am Ende des 19. Jahrhunderts wurde das »Heimat-Gefühl« zum Instrument gesellschaftlicher Auseinandersetzungen: Industrielle und Großagra­rier rangen um den Weg der Wirtschafts- und vor allem der Zollpolitik. Hier setzten die Großagrarier auf die Großstadtfeindschaft der Heimatbewegung. Die antistädtische Agrarromantik beruhte auf realen Kosten der Modernisierung, wie sie in den neuen städtischen Wohnquartieren mit ihren hygienischen Verhältnis­sen besonders handgreiflich waren. Diese Agrarromantik sollte jetzt politisch gegen die vom städtischen Industrie- und Handelsbürgertum betriebene Freihan­delspolitik eingesetzt werden. Deshalb arbeiteten agrarische Interessenverbände und Heimatvereinigungen eng zusammen ll.

Die ideologische Aufrüstung des Kaiserreichs endete auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Die deutsche Niederlage vergrößerte die Orientierungslosigkeit: Nicht nur das europäische Staatensystem, auch das politische und soziale System in Deutschland gerieten ins Wanken. In dieser Situation setzten Eduard Sprangerl2 und andere konservative Theoretiker erneut auf die jetzt wieder kleinräumlicher gedachte deutsche Heimat als nationale Kraftquelle. Eine »Heimatkunde« sollte sowohl soziale, politische, ökonomische und kulturelle Ungleichzeitigkeiten in der Gesell­schaft ideologisch verkleistern helfen, als auch mit der Rückbesinnung auf die »Totalverbundenheit mit dem Boden« (Spranger) die Unübersichtlichkeit moderner Gesellschaften zurückführen auf einfache Strukturen vorkapitalistischer , agrarischer Lebensweisen13.

Der Nationalsozialismus konnte an dieses Konzept leicht anknüpfen. Er ergänzte den »Bodenmythos« um den »Blutmythos« und erweiterte das Konzept nationali­stisch. Gegenüber den auf rücksichtslose gesellschaftliche und wirtschaftliche Moder­nisierung zielenden Kräften des NS-Staates erwiesen sich die konservativen Heimat­ideologen jedoch als politisch wenig durchsetzungsfähig. Sie lieferten lediglich die ideologische und propagandistische Fassade für die Modernisierungsdiktatur.

Nach einer kurzen Konjunkturphase des Heimatbegriffs in der direkten Nach­kriegszeit verloren Heimatbekenntnisse und Diskussionen um den Heimatbegriff an Relevanz. Zum einen war der Begriff durch den Nationalsozialismus diskreditiert und zum anderen verlangten die Wachstumsschübe der fünfziger und sechziger Jahre von »braunem« Ballast befreite, mobile und unverdrossen vorwärtsschauende soziale Träger gesellschaftlicher Entwicklungsmodelle. Stärker als frühere Wachstumspha­

10 Vgl. dazu: W. Kaschuba, Arbeiterbewegung - Heimat - Identität, in: Tübinger Korrespon­denzblatt, hrsg. im Auftrag der Tübinger Vereinigung für Volkskunde e. V., 20 (1979), S.11-15.

11 D. Kramer, Die politische und ökonomische Funktionalisierung von >Heimat< im deutschen Imperialismus und Faschismus (1), in: Diskurs, 6/7(1973), S. 3-22, hier: S. 7ff.

12 Siehe die informative Auseinandersetzung mit dem Sprangersehen Entwurf: W. von Bre­dow, Heimat-Kunde, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 32/1978, S. 19-30 und H.-D. Schmid (Anm. 9), S. 68ff.

13 Mitte der zwanziger Jahre lebten bereits über 40 Prozent der deutschen Bevölkerung in Mittel- und Großstädten. Die Sprangersehen »Wurzeln der Erde« und die »umfassenden, seelisch schützenden Kräfte des Bodens« konnten damit auch schon damals nur ideologische Funktionen haben.

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sen griff das »Wirtschaftswunder« in das Alltagsleben ein: Dieses »fordistischc .. Wachstumsmodell beruhte vor allem auf der Industrialisierung des Alltags und tb privaten Konsums. Autos, Kühlschränke, industriell gefertigte Möbel und Klcidcl, Fertignahrungsmittel und Fertigbauteile verdrängten die Reste traditioneller Ver~OI

gung, die sich insbesondere auf dem Land noch erhalten hatten. »Kein faschistisclll'l entralismus hat das geschafft, was der Zentralismus der Konsumgesellscha It

geschafft hat«, schrieb Pier Paolo Pasolini in seinen Freibeuterschriftcn '4 . Kalll schlagsanierungen veränderten die Struktur der Städte, Autobahnen crschlo~~l'1I

einstmals abgelegene Landschaften, Wasser und Luft wurden als >kostenlosc< Roh stoffe intensiv verwertet, die Müllberge wuchsen unaufhörlich.

wei Jahrzehnte lang schienen diese Kosten des Wachstums durch den auf lHl'ltl'1 Front zunehmenden privaten Wohlstand zurückerstattet zu werden. Seit Mllll' dl'l siebziger Jahre geht diese Rechnung jedoch an vielen Stellen nicht mehl ,1111

Arbeitslosigkeit und schwindende Zuwächse bei den Einkommen aus unsclb~l'lIHII~·,ll

Arbeit entzauberten das »Wirtschaftswunder«. Die Folgekosten dcs Wal'll~t 1I1ll\ konnten immer weniger kompensiert werden, zumal diese Kosten übcrpr 0POI t1011,11

stiegen und vor allem im ökologischen Bereich immer stärker sichtbar und CI 101111 h,11

wurden, »Die Legalitäts- und Identitätsbasis der Nachkriegsgesellschaft« gelll'tlll\ Schwanken« und »das Bedürfnis nach Verortung in ideellen Strukturen, nach l'llll'llI politisch-kulturellen Gruppen- und Gesamtkonsens« nahm ZUIS.

Nachdem durch die Reformbewegung Ende der sechziger Jahre neuc Pill tlllp" tionsformen diskutiert und erprobt worden waren und die Parole von »mchl Iklllll kratie wagen« mehrheitsfähig war, zeigten diese Probleme des Wachstum~ "1Il'1I politische Folgen. Hatten beispielsweise Großbaumaßnahmen zu Zeitcn des Wirt schaftswunders« als Inbegriff des Fortschritts gegolten, formierten sich jCllt ~elh~l 01111

dem flachen Land Bürgerinitiativen gegen Autobahnen, Kraftwerke, Flughatcll IIlId Fabrikerweiterungen. Frauengruppen und Friedensinitiativen traten ncbcn ulld oll quer zu klassischen politischen Trennungslinien für deren Ziele ein.

In dieser Situation gewann der Gedanke an »Heimat« wieder an Aktualltüt. AIII der einen Seite besannen sich die Befürworter der herrschenden wirhchaltlllil technischen Entwicklung darauf, daß die ideologische Integrationskrall dll'~l'~

Modells rasch aufgezehrt wird, wenn seine sichtbaren Folgekosten dic matclIl'Ik'1l Gewinne übersteigen. Die ideologische Rückbesinnung auf »Heimat« und" VoItl'l land« sollte den materiellen Integrationsverlust kompensieren helfen. Da/u dll'!ll'1I beispielsweise die Geschichtspolitik der Bundesregierungl6

, der mit dem »\ [1~lOII kII

Streit«17 unternommene Versuch, deutsche Geschichte neu zu bewerten, 0l1cI 1111

14 P. P. Pasolini, Freibeuterschriften, Berlin 1978, S. 29. 15 G. PauUB. Schoßig, Geschichte und Heimat, in: dies. (Hrsg.) (Anm.6). S. I~ ~() hili

S.16. Aus ganz anderem Blickwinkel kommt zu ähnlichen Befunden: W. WCllknkld Geschichte und Politik, in: ders. (Hrsg.), Geschichtsbewußtsein der Deutschcn. MatcII,i1ll'l\ zur Spurensuche einer Nation. Köln 1987, S. 13-32.

16 Vgl. Geschichtswerkstatt Berlin (Hrsg.), Dic Nation als Ausstellungsstück (Gc~dlllhl'

werkstatt Nr. 11), Hamburg 1987. 17 Siehe dazu neuerdings die resümierende Würdigung aus polnischer Sicht: H. Ol"cw.,k,

Licht- und Schattenseiten einer Kontroverse. Bemerkungen zum sogenanntcn IIi.,Wllkl I

streit, in: Neue politische Literatur, (1989) 2, S. 278-290 und H. GerstenbergcrlD. Schnudt (Hrsg.), Normalität oder Normalisierung. Geschichtswerkstätten und Faschismll~an,i1V"l'

Münster ]987.

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sen, wie sie beispielsweise Hermann Lübbe und andere konservative Theoretikerl8

vertreten. Gemeinsamer Nenner ist die Absicht, die Kosten des Wachstums kulturell zu kompensieren.

Auf der anderen Seite wuchs in Initiativen und Protestbewegungen »der Wunsch nach Beheimatet-Sein« und setzte »politische Energie frei«, wie der Kulturwissen­schaftler Dieter Kramer schreibt19

. Diese Initiativen versuchen mit dem Eingehen auf die konkrete räumliche Umgebung und auf deren Geschichte Sicherheit und Kraft für die Bewältigung alltäglicher Probleme und politische Auseinandersetzungen zu gewinnen. »Heimat« soll aktiv angeeignet und damit gestaltet werden. Für dieses Bestreben werden im folgenden einige ausgewählte Beispiele vorgestellt2o •

2. Über Versuche, Heimat neu zu entdecken

Das Wyhler Beispiel steht inzwischen nicht mehr allein. Bereits im Juni 1983 entdeckte >Der Spiegel< eine »neue Geschichtsbewegung in der Bundesrepublik«. Diese Bewegung von Initiativen und Gruppen, die sich ihre historische und aktuelle Umwelt kritisch aneignen wollen, ist inzwischen noch breiter und vielfältiger gewor­den. So berichtete >Der Spiegel< im November 1989 von einer wachsenden Zahl von Frauengruppen, die sich in vielen Städten der Bundesrepublik mit Frauengeschichte beschäftigen. Im niedersächsischen Achim informiert die dortige Geschichtswerkstatt über die Weserverschmutzung und gibt als Mitglied im Niedersächsischen Heimat­bund e. V. umweltpolitische Stellungnahmen ab21

.

Aus dieser Vielfalt greifen wir eine Reihe von Gruppen und Projekten heraus, um einige typische Beispiele für Versuche, Heimat neu zu entdecken, vorzustellen. Angesichts der großen Vielfalt in diesem Bereich kann diese Auswahl jedoch nicht repräsentativ sein. Die systematische Darstellung unterstellt den Gruppen keine

18 Siehe den informativen und lesenswerten ,Reisebericht< von C. Leggewie, Der Geist steht rechts. Ausflüge in die Denkfabriken der Wende, Berlin 1987.

19 D. Kramer, Die Provokation Heimat, in: Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirt­schaft, 4 (1981) 13, S. 32-40, hier: S. 37.

20 Die Diskussion um die ambivalenten Möglichkeiten von ,Erinnerungsarbeit< und Spuren­suche kann hier nicht entfaltet werden. Vgl. aus verschiedenen Perspektiven: W. Ruppert, Erinnerungsarbeit in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Erinnerungsarbeit. Geschichte und demokratische Identität in Deutschland, Opladen 1982, S. 9-23; H. HeerlV. Ullrich (Hrsg.), Geschichte entdecken, Reinbek 1985; D. Kramer, Von der Spurensuche zur Zukunftswerk­statt, in: Revier-Kultur, (1987) 1, S. 7-16; aus der Perspektive politischer Bildungsarbeit die Beiträge in Materialien zur politischen Bildung, (1985) 3, das dem Schwerpunkt Heimat gewidmet ist, und das aus der konkreten Jugendbildungsarbeit hervorgegangene Buch von D. Lecke (Hrsg.), Lebensorte als Lernorte: Handbuch Spurensicherung, Frankfurt/M. 1983.

21 Vgl. Der Spiegel (1983) 23 und (1989) 45; zur Achimer Geschichtswerkstatt siehe eh. Just/ H. Willenbrock, Ein widerwärtig schmeckendes Getränk. Wie die Weser zum Abwasser­kanal wurde und warum die Deutschen so oft zur Bierflasche greifen, in: Achimer Geschichts-Hefte. Regionalhistorisches Magazin der Geschichtswerkstatt Achim, Achim 1988, S. 20-26; Geschichtswerkstatt Achim im Verein für Regionalgeschichte Achim e. V., Eine Dokumentation über die Veranstaltungen und Aktivitäten der Geschichtswerkstatt Achim 1987/88, Achim 1988, S. 15.

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strukturellen Ähnlichkeiten, sondern möchte dem Leser den Überblick erleichtern22 .

u diesem Zweck werden örtliche Herkunft, thematische Anknüpfungs- beziehungs­weise Ausgangspunkte, die organisatorischen Träger, der Verlauf der Initiativenar­beit sowie die von den Gruppen und Projekten angeregte Annäherung an »Heimat« dargestellt.

2.1 Mellnau: Ein Dar/macht Theate?3

I. Ort: Mellnau ist ein 850 Einwohner zählendes Dorf im Kreis Marburg-Biedenkopf in Nordhessen. 2. Themen und Anstöße: Die aus einem Jugendtreff entstandene Initiative widmet sich mit der »Spurensicherung« der Vergangenheit ihres Ortes. Dabei sollen histo­risch-politische Entwicklungen an ihren konkreten Auswirkungen und »Spuren« festgemacht werden, die sie im Dorf hinterlassen haben. 3. Träger: Die Initiative wurde am Anfang wesentlich getragen von Jugendlichen aus dem Dorf, die im Jugendzentrum zusammenkamen. Sie wurden dabei von Pädagogen unterstützt. Inzwischen sind auch erwachsene Dorfbewohner an der Spurensicherung beteiligt. 4. Verlauf: Erstes Projekt der Initiative war ein Heft »Spurensicherung in Mellnau: Jugendliche forschen in der Geschichte ihres Ortes«, das 1980 die Ergebnisse der Forschungen zu Veränderungen in der dörflichen Welt festhielt. Aus einem dieser Beiträge entstand im folgenden Jahr eine »Postgeschichte in Mellnau«, die in kon­krete Probleme der Gegenwart eingriff: Sie sollte dabei helfen, die Pläne der Post zu vereiteln, den Service ihrer Dienststelle in Mellnau einzuschränken. Rasch wurde aus einem historischen Projekt eine öffentliche Kontroverse über die Rationalisierungs­maßnahmen der Post, in die nun auch viele Erwachsene aktiv eingriffen.

Im folgenden ging die Initiative dann auf weitere Einzelaspekte der Dorfge­schichte ein: Erstmals wollte der örtliche Gesangverein sich nicht mehr mit der üblichen »Festschrift« begnügen. Er regte eine »alternative Vereinschronik« zum hundertjährigen Bestehen an. Auch eine Chronik der örtlichen Feuerwehr griff über die bisher übliche reine Aufzählung von Fakten hinaus und beschäftigte sich mit Problemen wie der heutigen Wasserversorgung des Dorfes. Weitere Arbeiten dieser Art folgten.

Das größte Projekt, das im Rahmen der dörflichen Spurensicherung in Angriff genommen wurde, war die Aufführung eines Theaterstücks, das Aspekte der Geschichte des Dorfes darstellte, vor allem aus der Kaiserzeit und der Weimarer Republik, als Mellnau als »rotes Dorf« galt. Dieser Mythos sollte mit den Mitteln des Theaters hinterfragt werden. Die Aufführung fand schließlich bei einem Dorffest im

22 Über die Entwicklung im Bereich der Geschichtsinitiativen informiert regelmäßig die vom bundesweiten Zusammenschluß der Geschichtswerkstätten , der Geschichtswerkstatt e. V., herausgegebene Zeitschrift »Geschichtswerkstatt«, die im ergebnisse-Verlag Hamburg erscheint.

23 Th. Kinstle, Spurensicherung in Mellnau. Jugendliche und Erwachsene forschen in der Geschichte ihres Dorfes, in: G. Paul/B. Schoßig (Hrsg.) (Anm. 6), S.131-141; W. Praml, Schaustellen - in Sachen eigener Geschichte und Dorfansichten - mit Theater über Geschichten aus dem Dorf, in: ebenda, S. 146-165; dort weitere Literaturhinweise.

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Freien statt und wurde trotz Problemen in der Entwicklungsphase ein großer Erfolg. 5. Auf der Suche nach »Heimat«: Durch die Bemühungen der "Spurensucher« sind viele Bereiche der dörflichen Lebenswelt dokumentiert worden, die sich gerade in den letzten Jahren stark gewandelt haben. Die vielen an Spurensuche und Theaterar­beit beteiligten Jugendlichen gewannen durch die Beschäftigung mit der Vergangen­heit ein neUes Verhältnis zu ihrer dörflichen Heimat. Vieles sahen sie nun mit anderen Augen, da sie es mit Früherem in Verbindung bringen konnten. Ebenso vermochten sie jetzt bisher im Ort nur oberflächlich bekannte historische Erscheinun­gen wie den Nationalsozialismus für sich zu konkretisieren, indem sie sie im Zusam­menhang des Dorfes sahen. Manche gaben auch an, daß sie zu den älteren Dorfbe­wohnern und deren Erzählungen nun ein neues Verhältnis gewonnen hätten, da sie nun wüßten, wovon die Rede sei.

2.2 Hecker-Gruppe Singen: Heimatpflege auf den Spuren eines demokratischen Revolutionärl

1. Ort: Im Jahr 1848 zog der badische Revolutionär Friedrich Hecker (1811-1881) mit einer kleinen Schar Demokraten von Konstanz in Richtung Karlsruhe, um die Regierung des Großherzogs zu stürzen und durch eine demokratische Republik zu ersetzen. Ihm schloß sich dabei unter anderem eine Gruppe von vierzehn Leuten aus Singen (Hohentwiel) an, das damals noch ein Bauerndorf war. Der Zug Heckers wurde im Schwarzwald von Truppen des Deutschen Bundes zerschlagen. 2. Themen und Anstöße: Aus der alemannischen »Muettersprochgsellschaft« ent­wickelte sich der Plan, den Zug der Singener Mitstreiter Heckers nachzuvollziehen, um an einen der wichtigsten deutschen Demokraten des vorigen Jahrhunderts zu erinnern. 3. Träger: Die Singener Heckergruppe war 1984 im Rahmen der »Muettersproch­gsellschaft« entstanden. Am nachgestellten Zug nahmen vierzehn Mitglieder teil, die von der Stadt Singen im Rahmen der Förderung freier Kulturarbeit finanziell und organisatorisch unterstützt wurden. Fast alle vierzehn Mitglieder der Gruppe üben industrielle, handwerkliche und kaufmännische Berufe aus. Das Spektrum reicht vom Fabrikarbeiter bis zum Floristen. 4. Verlauf: Zunächst beschafften sich die Mitglieder der Heckergruppe Gewänder nach historischem Vorbild, um sich äußerlich in die Mitstreiter Heckers zu verwan­deln. Außerdem informierten sie sich über die historischen Vorgänge der Revolution von 1848 und deren Hintergründe (zum Beispjel durch Exkursionen zum Freiheits­museum in Rastatt).

Nachdem sie mehrfach an Heimatzügen teilgenommen hatten, brachen die Singe­ner »Revolutionäre« im Oktober 1988 von Singen auf und nahmen den Weg, den einhundertvierzig Jahre zuvor die Scharen Heckers gezogen waren. An den einzelnen Orten, die auf dem Weg lagen, wurden sie mit Interesse begrüßt und weckten so die örtliche Erinnerung an die Revolution in Baden. Der Zug führte bis nach Scheideck

24 J. Runge, Hecker lebt! Die Singener Heckergruppe auf den Spuren des großen Revolutio­närs, in: Singener Jahrbuch 1988/89, hrsg. von der Stadt Singen, Konstanz 1989, S. 125-132.

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bei Kandern und Günterstal bei Freiburg, wo Hecker und seine Leute besiegt worden waren. 5. Auf der Suche nach »Heimat«: Der Singener Heckerzug wollte im Sinne Gustav Heinemanns an demokratische Traditionen erinnern, die gerade in Baden sehr stark waren, aber immer noch nicht ausreichend gewürdigt werden. Mit der historischen Bekleidung und den Aktionen soll das politische Anliegen Heckers bewußtgemacht werden. Nicht nur in Singen, sondern auch in den einzelnen Orten, die Heckers Zug berührt hatte, regte die Rekonstruktion dazu an, sich mit diesem Teil der regionalen Geschichte zu beschäftigen.

Von ihrem Rekonstruktionsprojekt im Herbst 1988 ist die Gruppe so zu weiteren Taten motiviert, daß sie für 1991 eine deutsch-amerikanische Spurensicherung plant: Die »Hecker«, wie die Mitglieder der Gruppe in Singen genannt werden, möchten die weiteren Lebensstationen des in die USA vertriebenen Demokraten besuchen.

2.3 Stadtteilarchiv Ottensen: Eine Geschichtswerkstatt schlägt Wurzeln25

1. Ort: Ottensen ist ein Arbeiterviertel im Hamburger Stadtteil Altona. 2. Themen und Anstöße: Ein Anstoß für die Aktivitäten in Ottensen war eine Ausstellung über den Hamburger Stadtteil St. Georg im Jahr 1978. Nach diesem Vorbild, aber mit sehr großer Beteiligung der Bewohner, sollte die Alltagsgeschichte von Ottensen und seine Entwicklung vom Dorf zum Industrie- und Arbeiterviertel dokumentiert werden. Dabei sollten vor allem auch Zusammenhänge zwischen der Vergangenheit und der heutigen Situation Ottensens hergestellt werden. 3. Träger: Die Aktivitäten gingen zunächst von der Vorbereitungsgruppe für eine Ausstellung über Ottensen aus, die mit Unterstützung der Hamburger Kulturbehörde am Museum in Altona tätig war. Sie bestand aus Kunsthistorikerinnen, einem Architekten, Graphikern und Soziologen. Die bald darauf eingerichtete Geschichts­werkstatt, das »Stadtteilarchiv«, wird von einem Verein getragen, der seit seiner Gründung 1980 von vierzig auf inzwischen etwa hundert Mitglieder angewachsen ist. 4. Verlauf: Das aus der Vorbereitungsgruppe entstandene Stadtteilarchiv trug Quel­len aller Art zur Geschichte des Stadtteils Ottensen zusammen: Photos, Zeitungsaus­schnitte, verschiedene Arten von Dokumenten, Gebrauchsgegenstände und anderes. Dabei wirkten die Bürger Ottensens aktiv mit und machten das Archiv so zu einem

25 E. von Dücker, Das Stadtteilarchiv Ottensen: Sammelstelle für Geschichte und Geschich­ten. Historische Spurensicherung als ein Beitrag zur politischen Kultur eines Hamburger Stadtteils, in: G. PauUB. Schoßig (Hrsg.) (Anm. 6), S. 191-202; Ausstellungsgruppe Otten­sen-Altonaer Museum, Ottensen: Zur Geschichte eines Stadtteils, Ausstellungskatalog, Hamburg 1982; Die Bahrenfelder Straße: Zur Geschichte einer Straße - Straßengeschich­ten. hrsg. vom Stadtarchiv Ottensen, Hamburg 1984; Von Nägeln mit Köpfen: Fundort Ottenser Drahtstifte-Fabrik, hrsg. vom Stadtteilarchiv Ottensen, Hamburg 1989; U. Hoppe/ P. Plambeck, Erfahrung - Erinnerung - Geschichte: Probleme im Umfang mit lebensge­schichtlichen Interviews, Hamburg 1989; U. Hoppe/P. Plambeck/I. Vesper. Was verbindet OttenserInnen mit ihrem Stadtteil? Untersuchung zur altersspezifischen Wahrnehmung eines Ortes, Hamburg 1988; Stadtteilarchiv Ottensen (Hrsg.), Ohne uns hätten sie das gar nicht machen können: Nazi-Zeit und Nachkrieg in Altona und Ottensen. Hamburg 1985; Frauengeschichtsgruppe des Stadtteilarchivs Ottensen, Aufgeweckt: Frauenalltag in vier Jahrhunderten. Ein Lesebuch, Hamburg 1988.

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lebendigen Zentrum der Forschungen zur Geschichte Ottensens. Außerdem wurden in einem Projekt »Selbsterzählte Geschichte« über sechzig Interviews geführt, die nach der Methode der »Oral history« Lebensgeschichte mit Stadtteilgeschichte ver­knüpften.

Das gesammelte Material wurde in einer umfangreichen Ausstellung verarbeitet, die 1982/83 neun Monate lang im Museum Altona zu sehen war und über 70000 Besu­cher anlockte. Es gelang allerdings nicht, die neuen Sichtweisen, die aus der Beteili­gung der Ottenser Bürger entstanden waren, in die Dauerausstellung des Museums einzubringen. Ersatzweise wurden Teilbereiche der Ausstellung später bei verschie­denen Anlässen noch einmal an anderen Orten in Ottensen gezeigt.

Mit Informations- und Diskussionsveranstaltungen (»Stadt-Gespräche«) zu histo­rischen und aktuellen Themen (zum Beispiel zur Schließung von Industriebetrieben) gestaltet das Stadtteilarchiv das politische Leben in Ottensen mit. Ähnlichen Zwek­ken dienen die »Sonntagsspaziergänge«, bei denen vor Ort Gespräche zu bestimmten Themen (etwa zur Industrialisierung, zum Widerstand im Nationalsozialismus, zur Verkehrsplanung) geführt werden.

Zu den derzeitigen Arbeitsschwerpunkten des Stadtteilarchivs gehören Umwelt­und Frauengeschichte sowie die Renovierung einer ehemaligen Drahtstifte-Fabrik, die 1986 angekauft wurde und als Sitz des Archivs, als kulturelles Zentrum, sozusagen als aktives Denkmal der Industriearchitektur Ottensens erhalten werden soll. Außer­dem wurden die Sammlungen des Archivs ausgeweitet und systematisiert und meh­rere Broschüren und Bücher veröffentlicht. 5. Auf der Suche nach »Heimat«: Mit der Arbeit des Stadtteilarchivs gelang es, eine große Zahl von Bewohnern des Stadtteils Ottensen für dessen Geschichte zu interes­sieren und vor allem Fragen danach anzuregen, wie aktuelle Probleme mit Entwick­lungen der Vergangenheit verknüpft sind. Gerade auch die Veranstaltungen zu aktuellen Problemen des Stadtteils stießen auf großes Interesse.

2.4 Der Kölner Frauengeschichtsvereine. V. 26

1. Ort: Köln ist heute mit knapp einer Million Einwohner die drittgrößte Stadt der Bundesrepublik. In der über zweitausendjährigen Geschichte der Stadt tauchen

26 I. Franken/G. E. Kiesewalter, »Mein Geschichtslehrer hat mich belogen: Frauen entdecken ihre Historie. Ein Beispiel aus Köln«, in: Das Parlament, (1986) 20/21; I. Franken/I. Hoerner, Hexen. Die Verfol~ung von Frauen in Köln, Köln 1987; G. E. KiesewalterlI. Franken, Tour de fernrne. Uber den Versuch, im lokalen Bereich ein feministisches Geschichtsbewußtsein aufzuarbeiten, in: Anschläge, Magazin für Kunst und Kultur, 14 (1988), S. S--9; I. Franken, Vorwärts im Rückwärtsgang. Ein Beitrag zur Frauen(geschichts-) bewegung in Köln, in: Stadtbuch Köln, Köln 1988; G. E. Kiesewalter, Touristin in der eigenen Stadt - Historische Stadtrundfahrten für Frauen in Köln. Erfahrungsbericht und Praxisanleitung, vorgetragen auf dem Schweizer Historikerinnenkongress, Bern 1988 (erscheint 1990 im Chronos-Verlag); I. Franken, Frauen in den Städten - Geschichte von Hexen, Huren und Heiligen?, in: Der Städtetag, (1990), S.9-13. Vgl. auch als weiteres lokales Beispiel aus diesem Bereich: Frauengeschichtswerkstatt Singen (I. Eisenhart-Kiefer, J. Kasper, M. Lorinser, B. Quetting, B. Ruckhaberle), Zwischen Fabrik und Familie. Die Singener Frauengeschichtswerkstatt berichtet über ihre Arbeit, in: Singener Jahrbuch 19891 90, S. 103-114.

einige Frauen an bekannter Stelle auf: Die Stadtgründerin, die Stadtheilige und nicht zuletzt die »Jungfrau« im Karneval sind Frauen. 2. Themen und Anstöße: Weniger bekannt schien bis vor kurzem die Geschichte der vielen anderen Frauen zu sein, die in Köln gearbeitet und gelebt haben. So wünschte sich nach einigen Artikeln in einer örtlichen Frauenzeitung zu frauengeschichtlichen Themen eine Leserin, daß in Köln ein Stadtrundgang zur Frauengeschichte angebo­ten wird. Dieser Rundgang wurde im April 1985 erstmals durchgeführt und läuft seither mit großem Zuspruch weiter.

Im Zusammenhang mit diesem Stadtrundgang gründeten zwei Frauen, die Geschichtslehrerin Irene Franken und die Pädagogin Gwen Edith Kiesewalter, 1985 den Kölner Frauengeschichtsverein. Die Gründerinnen kamen aus der Frauenbewe­gung. Sie möchten die Rolle der beiden Geschlechter in der Gegenwart als geschicht­lich geworden und somit als veränderbar begreifbar machen. Der regionale Bezug soll Frauengeschichte konkretisieren. Die Frauen bevorzugen eine möglichst sinnliche Vermittlungsform und stützen sich vor allem auf Bilder, Gedichte oder Gedenkta­feln. Bei ihren Führungen zeigen sie Wohnhäuser und Arbeitsplätze.

Frauengeschichte hat hierbei einen anderen Blickwinkel als die traditionelle, von Männern dominierte Geschichtsforschung und Geschichtsdarstellung: In Politik, Militär, Vereinen und an der Universität waren Frauen allenfalls kleine Minderhei­ten. Deswegen beschäftigt sich der Frauengeschichtsverein vor allem mit der alltäg­lichen Geschichte von Haushalt, Wohnen und Arbeit.

Der Frauengeschichtsverein strebt an, Frauengeschichte in Einrichtungen wie dem Verkehrsamt, dem Archiv, dem Museum oder in den Stadtgeschichtsbüchern und anderen Geschichtsdarstellungen als selbstverständlich zu verankern. 3. Träger: Einige aktive Frauen tragen die inhaltliche Arbeit des Vereins, indem sie in Köln praktisch Frauengeschichte erforschen und vermitteln. Diese Frauen sind vor allem Historikerinnen und Pädagoginnen. Dabei sind jedoch auch Studentinnen und eine interessierte Rentnerin. Im gemeinnützigen Verein, der die Arbeit organisa­torisch trägt, sind Frauen und Männer Mitglieder. In die Arbeit von Arbeitsgruppen werden grundsätzlich auch Interessierte ohne historische Vorbildung einbezogen.

Der Verein wurde bisher nicht von der öffentlichen Hand unterstützt. Er hofft jedoch in nächster Zeit auf eine Projektförderung.

Die Arbeit des Frauengeschichtsvereins findet inzwischen das Interesse von vielen Gruppen und Verbänden. Der Verein arbeitet mit anderen Geschichtswerkstätten, mit der Volkshochschule, mit dem Stadtarchiv (bei der Suche nach Quellen zur Frauengeschichte) sowie mit Partei- und Kirchengruppen zusammen. 4. Verlauf: »Wohl eine Initiative von Feministinnen, war der Verein kein Elitegrüpp­chenfür Feministinnen!« schreibt die Vereinsgründerin Irene Franken27

• Der Verein möchte alle Frauen einbeziehen.

Seine Arbeitsergebnisse setzt der Verein oft in gezielte politische Eingriffe um: So wurde schon auf dem ersten Stadtrundgang zur Frauengeschichte im Jahr 1985 symbolisch eine Straße umbenannt, um auf die Geschichte der Frauen aus Köln aufmerksam zu machen: Die Sträßchen »Unter Seidenmacher« und »Seidenmacher­gäßchen« bekamen ein neues Straßenschild mit der Aufschrift »Seidenmacherinnen­

27 Schreiben an die Verfasser vom 25. November 1989.

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gäßchen«: In Köln hatten nicht Seidenrnacher, sondern vor allem die in Frauenzünf­ten organisierten Seidenmacherinnen die Seide hergestellt.

Der Verein fordert, daß Denkmäler nicht Männersache bleiben, informiert über die Geschichte der Hexenverfolgungen in Köln und meldet sich kritisch zu Wort, wenn beispielsweise in Ausstellungen Frauengeschichte unter den Tisch fällt.

Die starke öffentliche Anerkennung für die Vereinsarbeit drückt sich inzwischen auch darin aus, daß der Verein mit Unterstützung der Arbeitsverwaltung eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme mit drei befristeten Stellen durchführen kann. Die Stelleninhaberinnen erforschen die Frauengeschichte des 19. Jahrhunderts und suchen nach Wegen, diese anschaulich zu vermitteln. Im Vordergrund soll weiter die mündliche Geschichte stehen. Die Frauen wollen »Oral history« zu Ende denken: Geschichte soll nicht nur mündlich erforscht, sondern beispielsweise in Stadtführun­gen oder Stadtspielen auch mündlich vermittelt und besprochen werden. 5. Auf der Suche nach »Heimat«: Die Frauen im Frauengeschichtsverein stehen dem traditionellen Heimatbegriff skeptisch gegenüber. Frauen hatten oft kein von Ehe­männern, Vätern oder Brüdern unabhängiges Heimatrecht oder Bürgerinnenrecht. Der Verein verweist darauf, daß auch heute die Ausländerinnen hinsichtlich des Bleiberechts benachteiligt sind. Wollte der Verein zunächst keine Identifikation mit einem bestimmten Raum herstellen, so zeigte sich im Lauf der Arbeit, daß der örtliche Bezug zu einer verstärkten Identifikation mit der Stadt führen kann, auch wenn er dabei kritische Momente beibehält. Lokalgeschichte macht deutlich, unter welchen Bedingungen Frauen als Opfer und Täterin, als Herrscherin und Beherrschte in der Geschichte aktiv waren.

Wichtig ist dem Frauengeschichtsverein der aktuelle Bezug seiner Arbeit. Die Frauen möchten sich aktiv mit den unterschiedlichen Bedingungen der beiden Geschlechter bei der Suche nach »Heimat« auseinandersetzen.

2.5 Zeche Gneisenau: Von der Bildungsmaßnahme zur Kulturinitiative28

1. Ort: Gneisenau ist eine Kohlenzeche in Derne, einem Ort zwischen Dortmund und dem nördlich gelegenen Lünen. Sie wurde 1873 eingerichtet und begann 1886 mit der Kohlenförderung. Zeitweise waren bis zu 5000 Bergleute dort beschäftigt; damit war Gneisenau eine der größten Schachtanlagen des Reviers. Im Jahre 1985 wurde die Kohlenförderung auf Gneisenau eingestellt. 2. Themen und Anstöße: Entstanden ist das Projekt einer Dokumentation des Lebens auf und mit Gneisenau aus Wochenendseminaren, die die Volkshochschule

28 Leben mit Gneisenau, hundert Jahre ... : Eine Zeche zwischen Dortmund und Lünen, Begleitbuch zur Ausstellung der VHS Dortmund im Museum für Kunst und Kulturge­schichte der Stadt Dortmund vom 12. September - 26. Oktober 1986, Essen 1986; S. Kar­hardt, ),Zur Gneisenau-Ausstellung ziehen auch Kaninchen und Tauben ins Museum ein«, in: Ruhr-Nachrichten vom 23. August 1986; K. Schmidt, Gneisenau: »Nicht Geschichte der Zeche, sondern das Leben mit ihr«, in: Ruhr-Nachrichten vom 12. September 1986; »Aus­stellung versprüht die Vitalität des Bergmannsalltags«, in: Ruhr-Nachrichten (Lünen) vom 26. September 1986; M. Siegel, Bergleute mit enzyklopädischem Gedächtnis: Ein Dortmun­der Arbeitskreis zur Geschichte des Alltags rekonstruierte das »Leben mit Gneisenau«, in: Die Neue Ärztliche, 194 (1986).

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Dortmund seit 1981 in Derne abhielt. Der Kontakt zwischen Volkshochschulmitar­beitern und Bergleuten intensivierte sich, als 1983 der Entschluß zur Stillegung der

eche Gneisenau bekannt wurde. Von da ab wurde das Leben der Bergleute und Ihrer Familien in allen Aspekten, sowohl bei der Arbeit als auch in der Freizeit, umfassend dokumentiert. 1. Träger: Die Leitung des Projekts hatte die Volkshochschule Dortmund, die 1985 .luch ein Stadtteilbüro in Derne einrichtete. Die Zahl der Bergleute von Gneisenau, die an dem Projekt mitarbeiteten, stieg von anfänglich dreißig auf schließlich mehr als hundert an. Gefördert wurden die Aktivitäten auch von der örtlichen Industrie­(it;werkschaft Bergbau und Energie. I. Verlauf: Von den Bergleuten und der Volkshochschule wurden viele Zeugnisse i1U~ Arbeit und Freizeit zusammengetragen. Man sammelte Photos und befragte Ill.:ben zahlreichen Kumpels auch neue Auszubildende der Zeche.

Aus dem Material wurde 1986 unter aktiver Mitarbeit der Bergleute eine gut hl.:suchte Ausstellung im Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dort­lIlund zusammengestellt, die sich in mancher Hinsicht von gewöhnlichen Ausstellun­~I.:n unterschied. Die wenigen schriftlichen Erklärungen schrieben die Bergleute mit der !land. Wichtiger als die Texte waren die Führungen durch die Ausstellung von den Bergleuten selbst. Das gesammelte Material sollte möglichst in seinem ursprüng­lu:hen Funktionszusammenhang erscheinen, um eine gewisse »Zechen-Atmosphäre« .lIll.udeuten. So wurden Werkzeuge und andere Gegenstände aus der Zeche nicht ~l'reinigt, um für den Besucher auch den Schmutz in einer Kohlenzeche nachvollzieh­hilr zu machen. Weiter wurde ein Stollen nachgebaut, durch den die Besucher "riechen konnten. Der Eingang des Museums war zu einer Waschkaue umgestaltet. Aus der Freizeit der Bergleute waren zeitweise auch Kaninchen und Tauben in der Ausstellung zu sehen.

Der Begleitband zur Ausstellung »Leben mit Gneisenau, hundert Jahre...« spiegelt diese ungewöhnliche Konzeption wider. Er enthält neben zahlreichen Photos Ikschreibungen des bergmännischen Alltags und die Erinnerungen alter Bergleute.

Aus dem Projekt heraus entstand der Plan, einen Teil der Zeche Gneisenau als Iksucherbergwerk zu erhalten. Dies sollte es jedem Besucher ermöglichen, sich einen I'indruck vom Alltag der Kohlenbergleute zu verschaffen. Die in Dortmund gezeigte Ausstellung sollte dabei dauerhaft im Gebäude eines ehemaligen Luftschachts der

eche untergebracht werden. Diese Vorhaben konnten trotz anfänglich guter Aus­Sichten nicht verwirklicht werden, da sich vor allem der Betreiber der Zeche Gneise­lIau. die Ruhrkohle AG, dagegensteIlte. Ersatzweise soll jetzt in einer ehemaligen ~dlllle in Lünen-Oberbecker ein Museum zur dauerhaften Ausstellung der Exponate l'lngerichtet werden. " Auf der Suche nach »Heimat«: Hauptanliegen der Arbeit, die zu der Ausstellung und dem Begleitbuch führte, war es, die durch die Zechenschließung bedrohte I, ,istenz der Bergleute, wie sie fast hundert Jahre lang mit der Zeche Gneisenau yelbunden war, zu dokumentieren. Die Bergleute sollten sich dabei in der Ausstel­lung wiedererkennen; es sollte ihr »ganzes« Leben dargestellt werden, wie es durch den Kohlenbergbau geprägt wurde. Aus der Ausstellung heraus entwickelte sich eine starke Museumsinitiative, die zum Selbstbewußtsein der Bergleute wesentlich beige­llagen hat. Aus der zunächst »von oben« (von der Volkshochschule) angeregten Bddungsmaßnahme ist so eine Kulturinitiative »von unten« erwachsen.

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2.6 Wetz/ar: Die IG Metall erforscht Arbeitergeschichtt?9

1. Ort: Wetzlar ist eine Industriestadt (Buderus-Metallwerke, optische Industrie) im mittelhessischen Bergland. 2. Themen und Anstöße: Die Initiative hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte der Arbeiterbewegung in Wetzlar nachzuzeichnen. Dabei sollen nicht zuletzt die Betroffenen, nämlich die Arbeiter selbst, mit ihrer eigenen Geschichte vertraut werden, um mit Hilfe der Geschichte ihre eigene Situation begreifen zu können. 3. Träger: Die Forschungen zur Arbeitergeschichte in Wetzlar gingen von Mitglie­dern der IG Metall-Verwaltungsstelle in Wetzlar aus. Sie bekamen dabei später Unterstützung von der Zeitung der IG Metall und von einem Studenten, der an einem ähnlichen Thema arbeitete. 4. Verlauf: Erste Pläne, sich mit der Geschichte der Arbeiter in Wetzlar zu befassen, entstanden 1979, als die IG Metall-Mitarbeiter bei einem Besuch der Gedenkstätte Plötzensee in Berlin von einem Arbeiter der Wetzlarer Buderus-Werke erfuhren, der 1942 wegen angeblicher hochverräterischer Handlungen hingerichtet worden war. Dies war die Anregung zu einer ausgedehnten Suche nach Informationen in alten Zeitungen, Archiven der Gewerkschaften, der Buderus-Werke und an weiteren Stellen. Vor allem aber wurden Zeitzeugen befragt, die sich noch an das Leben der Arbeiter während der Weimarer Republik und der NS-Zeit erinnern konnten.

Die Ergebnisse dieser Forschungen wurden in verschiedenen Broschüren veröf­fentlicht. Es kam zu einer Ausstellung und es entstanden Bücher - »Damit die nicht machen, was sie wollen« (1982) und »Panzerrohre zu Pflugscharen« (1987) -, in denen viele der aufgefundenen Dokumente abgedruckt sind. 5. Auf der Suche nach »Heimat«: Die Forschungen zur Arbeitergeschichte in Wetz­lar waren ein neuer Beitrag zur Geschichte der Stadt, nachdem die Arbeiter in der Ortsgeschichtsschreibung bisher kaum vorgekommen waren. Die Metallarbeiter konnten nun zeigen, daß Wetzlar nicht nur die Stadt Goethes und des Reichskammer­gerichts war, sondern auch eine Hochburg der Arbeiterbewegung. Ihre Arbeiten regten das weitere Interesse an der Arbeitergeschichte in Wetzlar stark an.

2.7 Flossenbürg: Die DGB-Jugend erforscht Verflechtungen zwischen Wirtschaft und NS-Staa~O

1. Ort: Flossenbürg liegt in der Oberpfalz, etwa zwanzig Kilometer östlich von Weiden. Dort gab es in der NS-Zeit von 1938 bis 1945 ein Konzentrationslager,

29 Damit die nicht machen, was sie wollen: Dokumente aus der Geschichte der Arbeiterbewe­gung in Wetzlar 1889 bis 1945, hrsg. von der Verwaltungsstelle Wetzlar der Industriegewerk­schaft Metall für die Bundesrepublik Deutschland. Wetzlar 1982; K. Lohnstein, "Damit die nicht machen, was sie wollen!« Die IG-Metall-Verwaltungsstelle Wetzlar auf den Spuren der örtlichen Arbeiterbewegung, in: G. PauVB. Schoßig (Hrsg.) (Anm. 6), S. 108-116; Panzer­rohre zu Pflugscharen: Zwangsarbeit, Wiederaufbau, Sozialisierung Wetzlar 1939-1956, Text und Dokumentation von W. Rossmann, hrsg. von der Verwaltungsstelle Wetzlar der Industriegewerkschaft Metall, Marburg 1987.

30 R. Homann, Die Geschichtsforschung im KZ Flossenbürg, in: Jugendnachrichten: Zeit­schrift des Bayerischen Jugendrings, (1988) 12, S.6-8; L. Kamp, Erforschung der

l!l'~~cn Häftlinge vor allem die örtlichen Granitvorkommen ausbeuten mußten, aber dUdl in der Rüstungsproduktion (Messerschmidt-FIugzeuge) beschäftigt wurden. I)"ncben wurden die Häftlinge in großem Umfang an regionale Wirtschaftsbetriebe H'll11ietet, was zu vielen Außenlagern und -kommandos des KZs führte. 1 themen und Anstöße: Ziel der Initiative ist es, die nationalsozialistische Vergan­'l'nheit an einem regionalen Beispiel aufzuarbeiten, um unklare Vorstellungen in der CHfcntlichkeit und vor allem der Jugend über diese Zeit zu beseitigen. Solche lJnklarheiten hätten nicht zuletzt zur Ausbreitung neonazistischen Gedankenguts duch unter jungen Leuten geführt.

Vor allem geht es darum, die wirtschaftlichen Verflechtungen des Lagers mit den Iktlieben in der Region zu erforschen und darzustellen, ebenso auch die Berührungs­punkte des Lagers und seiner Insassen mit der örtlichen Bevölkerung. \ Trüger: Die Initiative kam von der DGB-Jugendgruppe Weiden, aus der heraus die Interessierten 1986 eine eigenständige »Arbeitsgemeinschaft ehemaliges KZ l'lm~enbürg« bildeten. Ein Teil von ihnen war vorher bereits mit der Erforschung des "-J:~ Iiersbruck (einem Außenlager von FIossenbürg) beschäftigt gewesen.

Oie Arbeitsgemeinschaft ist sehr unterschiedlich zusammengesetzt; neben Arbei­tl" n und Arbeiterinnen verschiedener Berufsgruppen gibt es darin Erzieher und Slllialpädagogen, Schüler, Studenten, einen arbeitslosen Historiker und einen DGB­fugendbildungsreferenten. Inzwischen sind auch drei ABM-Stellen bei der Arbeitsge­mcinschaft eingerichtet worden. Für die Arbeit, die bisher zum großen Teil aus p' ivaten Mitteln der Beteiligten finanziert wurde, hat inzwischen auch das Europa­parlament Zuschüsse bereitgestellt. '\. Verlauf: Den Anstoß zur Beschäftigung mit dem KZ Flossenbürg gab die Verwü­~tung der dortigen Gedenkstätte durch Neonazis im Jahr 1983. Die Arbeitsgruppe, lhe sich daraufI1in bildete, leistete in erster Linie Archivarbeit. Dazu wurden Doku­mente aus dem Bundesarchiv Koblenz, aus Dachau, aus Stadtarchiven, regionalen

citungsarchiven und einigen ausländischen Archiven (unter anderem Prag, Wien, Washington) herangezogen und ausgewertet. Dagegen waren Archive von Firmen, die Material zur Ausnutzung der Arbeit von KZ-Häftlingen enthalten (vor allem das des Rüstungsbetriebs MBB) den Nachforschenden nicht zugänglich. Bei der Arbeit in Archiven und an den Dokumenten sollten im übrigen alle Mitglieder der Arbeits­gemeinschaft möglichst gleichmäßig beteiligt werden.

Die Gruppe legte den Schwerpunkt auf Archivarbeit. Die Befragung von Zeitzeu­gen zum Thema »wirtschaftliche Zusammenhänge« war weniger ergiebig, da frühere KZ-Häftlinge oder Bewohner der Umgebung des KZs kaum etwas über Hinter­gründe erfahren hatten. Zur Abstimmung der Arbeit und zur Vertiefung der eigenen Kenntnisse führten die Mitglieder der Gruppe mehrere Seminare und Arbeitstreffen durch.

Die Arbeitsgemeinschaft machte ihre Ergebnisse auf mehreren Wegen zugäng­lich. So stellte sie zwei Wanderausstellungen zusammen: »Die wirtschaftlichen Ver­flechtungen des KZs Flossenbürg und seine Außenkommandos« sowie »Vermächtnis Flossenbürg - vom KZ zur Parkanlage«, die sich hauptsächlich mit der Nachkriegsge­schichte des Lagers befaßte. Diese Ausstellungen sollen nicht zuletzt auch ein

Geschichte des ehemaligen KZs Flossenbürg: Bericht über die Aktivitäten der DGB­Jugendgruppe Weiden, in: M. Scharrer, Macht Geschichte von unten: Handbuch für gewerkschaftliche Arbeit vor Ort, Köln 1988, S. 279-289.

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Gegengewicht zur offiziellen Ausstellung in der Gedenkstätte Flossenbürg sein, in der die wirtschaftlichen Zusammenhänge des KZ-Systems nur knapp dargestellt werden.

Ähnlichen Zwecken dienen auch die »alternativen Lagerbegehungen«, die von der Arbeitsgemeinschaft häufig durchgeführt werden, sowie Dia-Vorträge in Schulen und auf Gewerkschaftsveranstaltungen. Außerdem beteiligt sich die Gruppe an den bereits seit den fünfziger Jahren jährlich zur sogenannten »Reichskristallnacht« in Flossenbürg abgehaltenen Gedenkfeiern. 5. Auf der Suche nach »Heimat«: Ein konkretes Ergebnis der Bemühungen der Arbeitsgemeinschaft ist, daß sie ein Gegengewicht zur offiziellen Darstellung in der Gedenkstätte des KZs Flossenbürg gesetzt hat, indem sie vor allem darauf hinweist, daß die Konzentrationslager nicht von ihrer Umwelt völlig abgeschnitten waren, sondern daß es vielfältige Beziehungen gab, die das Leben in der Umgebung des KZs während seines Bestehens prägten.

Zwei Äußerungen von jugendlichen Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft zeigen auf, daß ihr Bemühen um die Erforschung des KZs auch etwas mit Heimat zu tun hat: »Durch die Arbeit vor Ort ist Faschismus für mich kein abstrakter Begriff mehr« und »Irgendwie ist (die Erinnerungsarbeit) ein Ausdruck von Heimatverbundenheit.«

2.8 Eckerwald: Aufder Suche nach»Wüste 10«31

1. Ort: Der Eckerwald liegt bei Zepfenhan östlich von Rottweil/Württemberg. Dort befand sich während des Krieges die Baustelle für ein Werk zur Ölgewinnung aus Ölschiefer. Auf dieser wurden KZ-Häftlinge eingesetzt, die im benachbarten Schör­zingen, einem Außenlager des KZs NatzweilerlStruthof (Elsaß) untergebracht waren. 2. Themen und Anstöße: Die Initiative für eine Gedenkstätte Eckerwald entstand nach einer Gedenkveranstaltung im Mai 1985, zum vierzigsten Jahrestag des Kriegs­endes. Ziel der Initiative ist es, die Arbeitsstätte im Eckerwald (damaliger Projekt­name »Wüste 10«) in ihrem jetzigen ruinösen Zustand der Besichtigung als Gedenk­stätte zugänglich zu machen. Dabei sollen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen der KZ-Häftlinge für den Betrachter wenigstens ansatzweise nachvollziehbar werden. Der Gedanke des Mahnmals soll unterstützt werden durch eine Dokumentation und eine in der Anlage aufgestellte Bronzeplastik. 3. Träger: Die Initiative besteht aus Bürgern von Zepfenhan und Umgebung. Sie hat sich im Jahr 1987 als eingetragener Verein konstituiert und wurde bei ihren bisherigen Aktivitäten von den Städten Rottweil und Schömberg unterstützt. 4. Verlauf: Die Unternehmungen der »Initiative Gedenkstätte Eckerwald« begannen mit der Gedenkveranstaltung am 5. Mai 1985. Erst später kam dann die konkrete Idee eines Gedenkpfades durch das Gelände des Arbeitslagers auf. Dieser Pfad wurde inzwischen in freiwilliger Arbeit der Mitglieder der Initiative, unterstützt durch Waldarbeiter der Stadt Schömberg und Teilnehmer eines SCI-Workcamps32, begeh­bar gemacht und ausgeschildert.

31 Eckerwald. Die Arbeitsstätte Zepfenhan des KZ-Außenlagers Schörzingen. Gedenkpfad und Dokumentation, o. O. 1988 (Faltblatt).

32 Der SCI (Service Civil International) ist eine 1920 von dem Schweizer Pierre Ceresole gegründete und heute in über zwanzig Ländern und vier Kontinenten vertretene Freiwilli­

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J'crncr wurde der Plan der Anlage, soweit möglich, rekonstruiert und eine 1\lonzcplastik, die der Rottweiler Bildhauer Siegfried Haas entworfen hatte, aufge­,ll,llt. Für interessierte Besucher bietet die Initiative Führungen an.

Außerdem führte die Initiative einige Veranstaltungen durch, die sie in direkten "ontakt mit ehemaligen Häftlingen brachten, so eine Begegnung mit Luxemburger \lIgchörigen der Amicale de NatzweilerlStruthof (Vereinigung ehemaliger Häftlinge

11\" KZs NatzweilerIStruthof), bei der gemeinsam die Anlage im Eckerwald besucht "lWIC eine Gedenkveranstaltung auf dem Friedhof des KZs Schörzingen durchgeführt lVIII dc; ein ähnliches Treffen mit ehemaligen polnischen Häftlingen fand im Frühjahr I<)1\1) ~tatt.

" Auf der Suche nach »Heimat«: Die Aktivitäten der Initiative waren der erste Vl'I~IICh seit Kriegsende, die Überreste der Schieferölfabrik im Eckerwald, von der 'irh noch recht viel erhalten hat, zugänglich zu machen. Mit dem Gedenkpfad, der 1'1 'I auf einen wichtigen Schauplatz der Geschichte dieser Region aufmerksam macht, 1\1 nlln auch die aktive und öffentliche Auseinandersetzung über »Vergangenheit« Illoglich.

1 () Buttenhausen: Ein Landwirt erinnert an jüdische Geschichte-'3

I Ort: Buttenhausen ist ein Dorf auf der Schwäbischen Alb bei Münsingen (zu dem I" Inzwischen gehört). Seit 1787 waren dort Juden ansässig, denen ein Schutzbrief der ( j 111 ndherrschaft (des Freiherrn von Liebenstein) Rechtssicherheit gewährte.

Sic spielten eine große Rolle für die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung Ib Ortes. Zeitweise gab es in Buttenhausen ebensoviele jüdische wie christliche J"IIlwohner. . Themen und Anstöße: Die Initiative, an die jüdischen Bürger von Buttenhausen 11 crinnern, ging von einer Einzelperson, dem Landwirtschaftsmeister Walter Ott,

ilUS. Die Erinnerung an die einst große Bedeutung der Juden für das Dorf soll gerade <luch deshalb wachgehalten werden, weil es seit der NS-Zeit keine jüdischen Einwoh­ncr in Buttenhausen mehr gibt. 1. Träger: Die Erinnerung an die Buttenhausener Juden beruht in erster Linie auf der Arbeit von Walter Ott. Er wird dabei durch seine Familie und von ehemaligen ßuttenhausener Juden, die im Ausland leben, unterstützt. Inzwischen hat sich die Stadt Münsingen durch die Herausgabe eines Gedenkbuches beteiligt.

genorganisation, deren Ziel der praktische Einsatz für den Frieden ist. In den Workcamps leben junge Leute aus vielen Ländern zwei bis vier Wochen zusammen. Neben ihrer praktischen Arbeit kümmern sie sich auch um die politischen Hintergründe. Inhaltliche Schwerpunkte sind Schutz der Umwelt, alter und neuer Faschismus, Ausländerfeindlichkeit, Dritte Welt und Friedenssicherung durch Abrüstung.

33 D. Strothmann, »Der kleine Rabbiner von Buttenhausen: Wie einer die Erinnerung an die Nachbarn mit dem gelben Stern wachhält«, in: Die Zeit, (1983) 25; Juden und ihre Heimat Buttenhausen: Ein Gedenkbuch zum 200. Jahrestag des Buttenhausener Judenschutzbriefes am 7. Juni 1987, hrsg. von der Stadt Münsingen, bearbeitet von G. Randecker (korr. Auflage), Münsingen 19882

; K. Pieroth, Der »kleine Rabbiner« aus dem Judendorf: Landwirt Walter Ott bewahrt die Erinnerung an das Zusammenleben von Juden und Christen in Buttenhausen, in: Kirchenzeitung Bistum Aachen vom 6. März 1988, S. 16--18.

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4. Verlauf: Walter Otts Tätigkeit begann 1973 mit dem eher zufälligen Fund alter Akten über die Judengemeinde in Buttenhausen. Davon ausgehend bemühte er sich, das jüdische Leben in Buttenhausen umfassend zu erforschen, legte ein umfangrei­ches Dokumentationsarchiv an und korrespondierte mit ehemaligen jüdischen Ein­wohnern. Eine Frucht dieser Arbeit war das 1987 zum 200. Jahrestag der Schutzbrief­gewährung von der Stadt Münsingen herausgegebene Gedenkbuch »Juden und ihre Heimat Buttenhausen«.

Daneben kümmert sich Ott vor allem intensiv (praktisch täglich) um den alten jüdischen Friedhof, wobei er die jüdischen Bestimmungen zur Totenruhe und zur Friedhofspflege genau beachtet. Außerdem sorgte er für ein Hinweisschild auf den jüdischen Friedhof. 5. Auf der Suche nach »Heimat«: Als konkretes Ergebnis der Bemühungen Walter Otts ist hervorzuheben, daß ein »vergessener« Teil der Geschichte Buttenhausens, eben seine jüdischen Bürger, wieder in die Erinnerung der Dorfbewohner gebracht wurde. Der wiederhergerichtete Friedhof dokumentiert dies ebenso wie die verschie­denen Veranstaltungen, die Ott initiiert hat.

Dieses Beispiel zeigt, wie durch die Initiative eines einzelnen aktive Erinnerungs­arbeit an die Stelle von Vergessen und Verdrängen treten kann.

2.10 Hannover-Ahlem: Bürger gestalten selbst ein Mahnmal34

1. Ort: Ahlem ist ein Stadtteil im Westen von Hannover. Während des Zweiten Weltkrieges war dort ein Außenlager des KZs Neuengamme eingerichtet, dessen Häftlinge in den dortigen Asphaltstollen unterirdische und damit bombensichere Produktionsstätten für die benachbarten Rüstungsbetriebe (Continental-Gummi­werke, Maschinenfabrik Niedersachsen-Hannover) schaffen sollten. 2. Themen und Anstöße: Ziel der Initiative »Bürger gestalten ein Mahnmal« ist es, durch eine Gedenkstätte an die Arbeit der KZ-Häftlinge in den Asphaltstollen zu erinnern, die unter unvorstellbar grausamen Bedingungen ablief. 3. Träger: Zu der Initiative hat sich eine Gruppe von Bürgern aller Berufe und Altersgruppen zusammengeschlossen. Unter ihnen befindet sich auch eine Zeitzeu­gin, die die Bedingungen in den Asphaltstollen (die auch der Zivilbevölkerung als Luftschutzbunker dienten) noch selbst erlebt hat.

Diese private Initiative wird bei ihrer Arbeit von verschiedenen Institutionen unterstützt, so von der Volkshochschule Hannover, vom Kulturamt der Stadt, vom Historischen Seminar der Universität und von Kirchengemeinden der Umgebung. 4. Verlauf: Im Jahr 1987 entstand mit Unterstützung der Landeshauptstadt Hanno­ver der Arbeitskreis »Bürger gestalten ein Mahnmal«, der einen Entwurf für die Gedenkstätte erstellen sollte. Dies nahm mehr Zeit in Anspruch, als die Beteiligten

34 »Wir sahen lebende Skelette am Wegesrand: Augenzeugin erinnert sich/Bürger stellten ihre Vorschläge für ein Mahnmal vor«, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 14. April 1988; »Die grauenvollen Erinnerungen werden in Asphalt eingemeißelt: Bürger zeigten neueste Entwürfe für ein Mahnmal«, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 13. April 1989; »Mit Hammer und Meißel das Unfaßbare in eine Form bringen: Bürger gestalten ein Mahnmal in Erinnerung an 750 Tote/Asphaltreliefs sollen an KZ-Opfer in Ahlem erinnern«, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 20. April 1989.

111 ~PI linglich angenommen hatten. Sie informierten sich ausführlich über das Lager in \hkm und besuchten andere KZ-Gedenkstätten, bis sie einen vorläufigen Entwurf

kiligslellen konnten, in dem der Eingang eines Stollens nachgebildet wird, auf den 1I 111: sich verjüngende Allee von Stangen hinführt. Die Wände des Stollens sollen mit \~phaltplatten verkleidet werden, auf denen Reliefs angebracht sein sollen. Mit der ~lhwierigen Bearbeitung der Asphaltplatten ist die Gruppe zur Zeit beschäftigt. , Auf der Suche nach »Heimat«: Besonders bemerkenswert an der Initiative ist, daß ,lI h hier Bürger nicht damit zufriedengaben, ein Mahnmal anzuregen, sondern auch dl'1I Entwurf und die künstlerische Ausführung in die eigene Hand nahmen. Als \Il\vnhner des ehemaligen KZs sehen sie es als ihre Aufgabe an, an die Leiden und 111 das Sterben der KZ-Häftlinge zu erinnern.

\ Die Fremdheit der Personen und Dinge aufheben

I )11' vorgestellten Versuche, Heimat neu zu entdecken, möchten »die Fremdheit der 1'l'I\nncn und Dinge aufheben«, indem sie Geschichte und Gegenwart ihrer räum­111 hl'n und sozialen Heimat kritisch erforschen und darstellen. Ausgehend von den ""~gewählten Beispielen lassen sich folgende Punkte festhalten:

Ortlich sind die Initiativen über die ganze Bundesrepublik verstreut. Die von der ()eschicht~werkstatte. V. in ihrer Zeitschrift »Geschichtswerkstatt« immer wieder veröffentlichten Listen von Kontaktadressen und Ansprechpartnern lassen erken­nen, daß solche Initiativen in fast allen Städten und Regionen aktiv sind. Regio­nale Schwerpunkte oder Verdichtungen sind jedoch nicht festzustellen. Die Mitglieder der Gruppen und Initiativen sind sozial stark gemischt. Ähnlich wie in Bürgerinitiativen in anderen Bereichen kommen sie aus allen sozialen Gruppen der Bevölkerung. fhematisch beziehen sich die Gruppen auf ihre Lebenswelt und ihre Erfahrungen. So unterschiedlich wie diese Erfahrungen und die Lebenswelten sind auch die rhemen. Angesichts der besonderen Belastung der deutschen Geschichte stellt ledoch die lokale Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Opfer einen Schwerpunkt dar. Die historisch orientierten Initiativen beschäftigen sich vor allem mit der neueren Geschichte, insbesondere mit dem 19. und dem 20. Jahr­hundert. Die Gruppen sind in der Regel locker organisiert. Es gibt weder ein einheitliches

rganisationsmodell noch einheitliche Benennungen. Die überregionale Zusam­menarbeit, beispielsweise im Rahmen der bundesweiten Geschichtswerkstatt e. V. oder in der von der Aktion Sühnezeichen innerhalb der evangelischen Kirche angebotenen Koordination für die Gedenkstättenarbeit, dient vor allem dem gegenseitigen Informationsaustausch und soll die Arbeit der Gruppen zwar anre­gen, aber nicht vereinheitlichen. In einzelnen Bereichen streben Arbeitsgruppen zu bestimmten Themen den Vergleich zwischen einzelnen Gemeinden und Regio­

35nen an •

\~ A. G. Frei, Geschichte aus den »Graswurzeln«? Geschichtswerkstätten in der historischen Kulturarbeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 2/1988, S. 35-46.

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- Bei der Darstellung von Geschichte gehen die Initiativen über die klassischen Vermittlungsformen wie Bücher und Vorträge hinaus. Sie erproben unterschiedli­che kulturelle Ausdrucksformen wie Theater, Kunst oder Film. Dies soll den subjektiven Zugang zur Geschichte erleichtern36 .

- Im Gegensatz zu den führenden Historikern in Frankreich und den meisten Fachkollegen in den angelsächsischen Ländern behaupten viele deutsche Histori­ker noch immer eine strikte Trennung zwischen heute und gestern37

• Die Initiati­ven hingegen verknüpfen Vergangenheit und Gegenwart miteinander und versu­chen, die Ergebnisse ihrer historischen Arbeit einzubringen, wenn es darum geht, über die Gestaltung der Zukunft zu entscheiden.

- Die Initiativen gestalten ihre Arbeitsformen relativ offen: Anstatt daß eine kleine Gruppe von "Experten« einer großen Zahl von »Konsumenten« sagt, was zu tun' ist, sollen möglichst alle gleichberechtigt und aktiv mitarbeiten. Die Fachleute versuchen, ihr Wissen zu verallgemeinern, um nach und nach möglichst alle zu »Experten« zu machen38.

- Neben der öffentlichen Resonanz dieser Versuche, Heimat neu zu entdecken, ist deshalb die Binnenwirkung innerhalb der Initiativen von besonderer Bedeutung: Hier zeigten die vorgestellten Beispiele, daß der kritische Umgang mit Geschichte und Gegenwart der eigenen Lebenswelt Möglichkeiten aktiver Beheimatung bietet.

»In eine Welt zu kommen, wo das Subjekt nicht mehr behaftet ist mit einem Fremden« nannte Ernst Bloch als Kern des »Prinzips Hoffnung«39. Das »aufgedeckte Angesicht der Welt« sei die Voraussetzung für Heimat als Inbegriff »einer rechten, guten, humanen, für Menschen erträglichen und endlich für den Menschen gebauten Welt«40. Der Bloch-Interpret Heinrich Hauß sieht Blochsche Gedanken in neuen Tendenzen der regionalen Geschichtsarbeit umgesetzt. Er verweist beispielhaft auf die von Dieter Schott und Werner Trapp in ihrem Buch »Seegründe« gesammelten Arbeitsergebnisse von Geschichtsinitiativen und Wissenschaftlern aus dem Boden­seeraum. Die Grundrisse Blochschen Denkens kämen in diesen neuen Versuchen, mit Geschichte kritisch umzugehen, zum Ausdruck, so wenn Dieter Schott und Werner Trapp in der Einleitung ihres Buches das Anliegen formulieren, Geschichte

36 Zu dem Versuch, unterschiedliche kulturelle Ausdrucksformen in der Geschichtsarbeit zu verwenden, vgl. A. G. Frei, Erinnern - Bedenken - Lernen: Über den Versuch, das Unbeschreibliche zu beschreiben, in: ders.lJ. Runge (Hrsg.), Erinnern - Bedenken ­Lernen, Sigmaringen 1990 (im Erscheinen).

37 Vgl. hierzu die zusammenfassenden Bemerkungen von R. GrieslV. Ilgen/D. Schindelbeck, Gestylte Geschichte: Vom alltäglichen Umgang mit Geschichtsbildern, Münster 1989, S. 12-16; sowie J. Abu-Lughod, On the Remaking of History: How to Reinvent the Past, in: B. Kruger/P. Mariani (Hrsg.), Remaking History (Dia Art Foundation: Discussions in Contemporary Culture 4), Seattle 1989, S. 111-129, hier: S. 111.

38 D. EmigiA. G. Frei, Geschichtswerkstätten und außerschulische Bildung, in: U. Becherl K. Bergmann (Hrsg.), Geschichte - Nutzen oder Nachteil für das Leben, Düsseldorf 1986, S.153-155.

39 Tagträume vom aufrechten Gang: Sechs Interviews mit Ernst Bloch, hrsg. von A. Münster, Frankfurt/M. 1977, S. 76.

40 Zitiert nach H. Hauß, Höchstversuchter Füllebegriff - Heimat als Kategorie und Prinzip ­Zum 100. Geburtstag Ernst Blochs (1885-1977), in: Badische Heimat. 65 (1985), S. 715-723, hier: S. 719.

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Ilicht als etwas von unserem Leben Abgetrenntes, sondern als Vorgeschichte der (j~genwart zu begreifen«, und die gewachsene »Sensibilität für die eigene Lebens­IJmwelt. .. mit der Frage nach deren Geschichte« zu verbinden41 . Heimat ist nach Illoch auf die »Fernkategorie Identität« bezogen. Heimat und Identität sind damit IIll'ht nur lokal bestimmt, sondern von globalen Faktoren abhängig. Heimat muß Wl.:lt-Ileimat sein.

Aktuelle politische und wirtschaftliche Entwicklungen - wie beispielsweise der H'·ßinnenmarkt 1992 - akzentuieren und aktualisieren dieses Problem von Heimat IIl1d kultureller Identität: Der Bedarf an kultureller »Identitätsarbeit« ist davon ..hhiingig, ob und wie »den Menschen der gesellschaftliche Zusammenhang in den .. h~lrakten Formen von Ware, Geld, Kapital und Staat gegenübertritt«42. Die EG­lIlIegration wird diese Zusammenhänge weiter abstrahieren. Die Chancen kultureller Vll'Ifalt, die sich aus dem europäischen Zusammenschluß ergeben, können deshalb IIl1lcl bestimmten gesellschaftlichen und politischen Umständen in ein Gefühl von Ikdrohung umschlagen: »Wo Heimat bedroht wird... , entsteht daher ein fruchtbarer IIlHlen für den Fremdenhaß«43, schreibt Oskar Negt.

Die Erfolge der Rechtsextremisten in neuerer Zeit zeigen, daß dieses Thema .. klllcil ist. In seiner Studie über die extreme Rechte in der Bundesrepublik stellt der I'olllikwissenschaftier Richard Stöss den neuen Rechtsextremismus in den Zusam­1I1l'Ilhang »mit dem sozialen Wandel moderner Industriegesellschaften« sowie »mit lklll ßedeutungsverlust sozialer Milieus, die ehedem eine kollektive Identitätsbildung I Illlilglichten.« Die Menschen seien »heute auf sich selbst zurückgeworfen. Sie 1I11,,~cn allein mit Gefühlen der Unsicherheit und Widersprüchen fertig werden und folglich höheren Belastungen bei der Ausbildung autonomer Handlungsfähigkeit \1 .. lldhalten.« Weiter würden »Folgewirkungen wirtschaftlicher Modernisierungspro-l\~~« und der Gegensatz »zwischen Modernisierungsgewinnern und Modernisie­

IlIllgweriierern« den Rechtsextremismus begünstigen: »Krisenbetroffenheit und pes­\lIl1i,lische Zukunftserwartungen bewirken das Gefühl der Benachteiligung, Abkop­1ll'llIng, Ausgrenzung, wecken Vorurteile gegenüber Fremden und Schwachen und I'lIcugcn den Wunsch nach autoritären Konzepten.«44

Auch die »Verdrängung und Verharmlosung des Nationalsozialismus«, wie sie vor kllllcrn auch von einigen Teilnehmern des »Historiker-Streits« bezweckt wurde, hat 1,IlII Stöss das Erstarken des Rechtsextremismus begünstigt.

Fr fordert deshalb eine aufklärerische Geschichtsarbeit, die allerdings über die 1I1\lorische Fixierung hinausgeht und die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse l'lllllczieht. Es gehe darum, »langfristig Ansätze einer politisch-demokratischen All­Llg~kultur zu entwickeln, indem alltägliche demokratische Verkehrsformen und Vl'l haltensmuster eingeübt werden.« Hierbei komme Initiativen und Projekten hl:~ondere Bedeutung zu, die »unmittelbar kollektive und solidarische Betätigungs­

11 D. Schott/Wo Trapp, Seegründe - Notizen zur Veränderung der Geschichtslandschaft am Bodensee, in: dies. (Hrsg.), Seegründe: Beiträge zur Geschichte der Bodenseeregion, Weingarten 1984, S. 9-17, hier: S.12 und S.17.

I' ('. Auernheimer, Kulturelle Identität - ein gegenaufklärerischer Mythos? In: Das Argu­mellt, 175 (1989), S. 381-394, hier: S. 388.

1\ O. Negt (Anm. 3), S. 139. '.\ R. Stöss, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik: Entwicklungen - Ursachen - Gegen­

maßnahmen, Opladen 1989, S. 231 und S. 235ff.

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und Qualifikationsmöglichkeiten erschließen und Selbstorganisation und Selbsthilfe ermöglichen«45.

Die von Richard Stöss umrissene Herausforderung an die politische Bildung wird auch von Erziehungswissenschaftlern wie Helmut Fend oder Hartrnut und Thilo Castner erkannt46 . Thilo und Hartrnut Castner fordern beispielsweise, daß »der von der kritischen Jugendarbeit in den letzten Jahren konzipierte erfahrungsbetonte Lern- und Bildungsbegriff« weitere Verbreitung findet47 . Die von uns beschriebenen Initiativen ermöglichen erfahrungsbetontes Lernen. Wie von Richard Stöss gefordert, koppeln sie "Aufklärung und Betroffenheit miteinander ... , indem die Beteiligten selbst Aktivitäten entfalten, dabei von ihren eigenen Interessen und Bedürfnissen ausgehen und an persönliche Erfahrungen anknüpfen«48. Gegen die modernisierungs­bedingten Entwurzelungen und Entfremdungen, gegen die Angst vor Fremden und Anderen, können solche Initiativen deshalb dazu beitragen, durch aufklärerische Geschichtsarbeit und aktive politische Bildung Heimat an möglichst vielen Orten neu zu definieren und zu schaffen, so wie Ernst Bloch am Ende des Prinzips Hoffnung sagt: »Mit diesem Blick also gilt: Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat«49.

45 Ebd., S. 239 und S. 251 f. 46 H. Fend, Mädchen in der Stadt denken weniger rechtsextrem, in: Frankfurter Rundschau

vom 18. Mai 1989, S. 9; H. Castner/Th. Castner, Rechtsextremismus und Jugend: Erschei­nungsformen - Ursachen - Gegenstrategien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B. 41-42/ 1989, S. 32-39.

47 H. Castner/Th. Castner, (Anm. 46), S. 39. 48 R. Stöss (Anm. 44), S. 249f. 49 E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 3. Bde., Frankfurt/M. 1977, Bd. 3, S. 1628.

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. Heimat als sozialer Raum

CII RISTIAN SALZMANN

R~gionales Lernen ­Ein Weg zur Erneuerung des Heimatgedankens?*

WII l'rleben in diesen Jahren eine überraschende Wiederbelebung des Heimatgedan­~lll\, die sich zur Zeit - für jedermann sichtbar - in den drei großen, die Heimat Idll~tl'renden Bereichen Natur, Geschichte und Sprache abspieltl.

I)te konkrete Natur um uns herum ist unter dem Stichwort Umweltschutz zum 1'1'~l'lIstand der Sorge geworden. Die Geschichte spricht wieder zu uns in Ausstellun­'111, in den Fassaden historischer Gebäude, in alten Liedern und so weiter, und wir dill worten mit der Renovierung alter Häuser, mit dem Wunsch, in ihnen zu wohnen, dll' Altstadt wieder zu beleben, unsere ganze Kultur wieder zurückzubinden an die \ l'l ~angenheit, wie sie hier in unserem Lebensbereich erfahrbar ist. Und die Men­\1 hl'n bekennen sich wieder zu ihrer Heimatsprache. Der Dialekt wird als eine dem Il'glOnalen Lebensbereich angemessene eigentümliche Ausdrucksmöglichkeit erfah­Il'lI, die bewußt bejaht wird. Allenthalben werden die Gemütswerte der kleinen 1I11l'ISchaubaren Region wieder entdeckt, und man schämt sich ihrer nicht, man hl'kennt sich zu ihnen.

(,crade die junge Generation entwickelt, wenn ich recht sehe, eine auffällige 1·lllpfindsamkeit gegenüber der Heimat. Ist das ein Rückschritt? Ich glaube nicht! N:ll'h über dreißig Jahren der Verdrängung, den Folgen unserer Geschichte, begin­IIl'll wir, die Heimat wieder als etwas zu sehen, das wir zum Leben brauchen. Ich bin lkl Auffassung, daß sich darin eine menschliche Grunderfahrung ausdrückt, die von

Der für die Buchveröffentlichung überarbeitete Beitrag von Christian Salzmann wurde erstmalig veröffentlicht in: Blätter für die Lehrerfortbildung, Ehrenwirth, 39 (1987) 7/8, S.285-290. Wir danken der Redaktion für die freundliche Genehmigung des Wiederab­urucks in diesem Band. In diesem Beitrag habe ich Elemente früherer Veröffentlichungen neu gruppiert und mit Überlegungen verknüpft, die im Zusammenhang mit dem von mir zur Zeit geleiteten Projekt »Aufbau eines Netzes von Lernstandorten« entstanden sind. Dieses Projekt wird von der »Arbeitsgruppe Osnabrücker Schulmodell: Regionales Lernen - Interkulturelle Erziehung - Humane Schule« unter meiner Leitung durchgeführt. Von den Veröffentlichun­gen, auf die ich mich beziehe, sei hier genannt: C. Salzmann: Die pädagogische Aufgabe des Sachunterrichts, in: Grundschule, 14 (1982) 2, S. 46-50.

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