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Sensegrab Herr Minder tappt in einen Fall Ein Laupener Krimi

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SensegrabHerr Minder tappt in einen Fall

Ein Laupener Krimi

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Es war eine regnerische Nacht. Das entfernte Bellen eines Hundes durchbrach von Noflen her in kurzen Salven das Grollen der Sense. Nach tagelangem Dauerregen war der Fluss stark angeschwollen. Zwischen den Bäumen ein Stück vom Ufer entfernt war eine olivgrüne Plane ordentlich ausgebreitet. Schwere Tropfen lösten sich in einem unbere-chenbaren Rhythmus aus dem Geäst und zersprangen mit einem «Plop» auf der Plane. Einige trafen auch den Rücken des Mannes, der bäuchlings auf der Plane lag. Er war schlank, weder alt noch jung und bis auf ein paar klobige Gummistiefel an den Füssen komplett nackt. Sein Kopf war zur Seite gedreht und auf einen Baumstumpf gebettet wie auf ein Kissen. Das Gesicht war bleich, die Augen geschlossen. Drei Gestalten in langen Regenjacken mit hochgezogenen Kapuzen standen im Halbkreis um den Nackten. Sie schwiegen. An einen Baum war eine Axt gelehnt, so scharf, dass sie mühelos Papier zerschnitten hätte. Wie auf ein Kommando ergriff die mittlere Gestalt das Beil und holte zum Schlag aus. «Um Himmels willen! Ist das wirklich nötig?», platzte es aus einem der beiden Dabeistehenden heraus. Die Gestalt mit der Axt hielt mitten in der Bewegung inne, warf dem Fragenden einen strengen Blick zu und stellte das Werkzeug ab. Durch die Unterbrechung aus dem Takt gebracht, kramte sie ein Taschentuch aus der Manteltasche hervor. Sie wischte sich damit den Schweiss von der Stirn, hinter der kraftvoll Händels Wassermusik erklang. Die Har-monien füllten den Kopf. Einzig das «Plop» der schweren Tropfen, die auf die Plane trafen, vermochte wegen seiner Unregelmässigkeit die Dominanz der Musik zu durchdringen und ihre Ordnung zu stören. Es schien unglaublich, dass die nur wenige Meter entfernt Stehenden nichts von der Musik im Kopf hören konnten. Die Hörner und Trompeten jubilierten, als das Beil erneut gepackt und in einer einzigen fliessenden Bewegung entschlossen über die Schulter geschwun-gen wurde. Nun gab es kein Zurück mehr. Zum Crescendo der Bläser und dem Mantra «Es-muss-sein-Es-muss-sein-Es-muss-sein» sauste die stählerne Schneide mit voller Wucht hinab. Einer der Danebenstehenden schloss im letzten Moment die Augen, der an-dere trat beiseite und übergab sich. Angefeuert von der barocken Musik vollendeten die kräftigen Hände un-beirrt ihr blutiges Werk. Der nächste Hieb durchtrennte mit einem dumpfen Krachen die Wirbelsäule. Der Kopf löste sich vom Rumpf.

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Samstag, 31. Oktober

Der Tau auf der Matte oberhalb der Saanebrücke in Laupen glitzerte in der Morgensonne. Die Luft war frisch und feiner Nebel hing wie Atemluft in Schwaden über der Saane. «Philipp, warte!» Philipp drehte sich zu seiner Frau um. Wie üblich watschelte Cordula hintendrein und durchkreuzte mit ihrer Bummelei seinen Zeitplan schon in der ersten Viertelstunde. Jetzt lag sie gut zehn Meter zurück, sass auf ihrem breiten Hintern und warf wie ein quengelndes Kind ihren Rucksack ins Ge-büsch. Dann umklammerte sie mit beiden Händen demonstrativ den rech-ten Knöchel. «Verstaucht!», rief sie und setzte eine Leidensmiene auf. Er blickte auf die Uhr. Zwanzig nach neun. Erst vor einer halben Stunde waren sie beim Bahnhof Laupen zu ihrer Wanderung aufgebrochen! Es war nicht das erste Mal, dass Cordula eine Unternehmung sabotierte. Norma-lerweise führte sie Menstruationsbeschwerden oder Migräne ins Feld. Doch ersteres hatte sie schon vor zwei Wochen eingesetzt, um sich vor dem allwö-chentlichen Sex zu drücken. Und für eine Migräne war sie heute nicht in der richtigen Stimmung. Als er nur genervt zu den Baumwipfeln hinaufblickte, fauchte sie: «Hilfst du mir endlich?» Widerwillig setzte er sich in Bewegung und zog sie grob auf die Beine. «Autsch!» «So schlimm?» «Ja, verdammt noch mal!» Nach zwölf Ehejahren wusste er, dass Widerrede einen Streit provozieren würde, den er sowieso verlor. «Am besten kühlst du den Fuss im Fluss», schlug er beherrscht vor und rechnete damit, dass sie sich dagegen sträubte – es war immerhin beinahe November. Doch sie liess sich ohne Kommentar von ihm die steile, mit dichtem Ge-strüpp bewachsene Uferböschung hinunterhelfen. An seinen Arm geklam-mert humpelte sie über die Steine bis zur Saane, die nur gut die Hälfte ihres Bettes einnahm. «Ich kann den Schuh aber nicht selber ausziehen.» Vor zwölf Jahren wäre Philipp wild darauf gewesen, Cordula die Kleider vom Leib zu reissen. Jetzt jedoch seufzte er innerlich, kniete sich vor sie hin, half ihr aus dem Schuh und streifte die Socke von ihrem Fuss. Cordula zog schaudernd die Schultern hoch und setzte mit einem «Ui-

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iii!» ihre Zehen in das kalte Nass. Nur einen Meter entfernt ragte im seichten Wasser der Zipfel einer Plane aus dem Kies. Eine Falte bewegte sich im Takt der Wellen und gab rhyth-misch für Sekunden ein kleines Stück davon preis, was sich darin verbarg. Um die Sache genauer zu betrachten, beugte Philipp sich bis zur Wasserober-fläche hinunter. Keine zwanzig Sekunden später zückte er sein Smartphone und verständigte die Polizei.

* * * * *

Elektrisiert hielt Peter Schaub vor dem Laptop inne. Er spürte seinen Puls bis in die Fingerspitzen, als er die Nachricht auf dem Newsportal noch einmal Wort für Wort las. Nach einer halben Minute strich er sich mit der Hand über das glattrasierte Kinn und klappte den Laptop zu. Dann ging er zum Fenster. Es war sechs Uhr abends und der Himmel über Brugg dunkel. Nach-denklich betrachtete Schaub durch sein Spiegelbild hindurch die Lichter der Stadt. Überraschte ihn die eben gelesene Meldung wirklich? Hatte er nicht im Grunde genommen früher oder später damit gerechnet? Er wandte sich vom Fenster ab, nahm ein Büchlein in die Hand und strich über den vergilbten, hellblauen Umschlag. Er schlug eine mit einem Lesezei-chen versehene Seite auf, wo folgende Stelle angestrichen war: «Dafür gibt es nur eine mögliche Erklärung: Sie haben nicht nur gelogen und betrogen, sondern auch gemordet.» Die Zeit zu handeln war gekommen. Schaub erledigte zwei Telefonanrufe, packte und verliess die Wohnung. Im Gehen steckte er das vergilbte Buch in die Innentasche seiner Jacke. Als er mit seinem Gepäck auf den Korridor im vierten Stock hinaustrat und die Tür abschloss, ging der Lift auf. Ein kleines Gespenst in Begleitung seiner Mutter kam heraus. In der Hand hielt es einen durchsichtigen Plastik-beutel mit bunten Süssigkeiten und erinnerte ihn daran, dass heute Hallo-ween war. «Wie passend», dachte Schaub und fuhr mit dem Lift in die Einstellhalle.

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Sonntag, 1. November

Herr Minder stand neben der Küchentür, den Hörer seines altmodischen Telefons am Ohr. Der Geruch der Tomatensauce vom Abendessen lag noch in der Luft. «Kari, stop!», unterbrach Minder gerade seinen Freund am anderen Ende der Leitung. «Von welcher Leiche sprichst du?» Kari Burger spöttelte: «Sag mal, warst du eigentlich den ganzen Tag im Bett?» Herr Minder dachte, dass es das Beste gewesen wäre. In der Nacht hatte das Wetter umgeschlagen. Der erste Novembertag war kühl und regnerisch und liess hoffen, dass sich der restliche Monat kein Beispiel daran nahm.Deshalb hatte Minder die Wohnung kaum verlassen. In einem akuten Anfall wetterbedingter Nostalgie hatte er Fotoalben aus der Kommode geholt und

– bis auf eine Stunde, die er mit Prinz, seinem Appenzeller Hund, draussen verbracht hatte – den Sonntag mit alten Fotos und einer Flasche Rotwein in seiner Wohnstube zugebracht. Diese Nostalgieanfälle waren in den letz-ten Jahren schlimmer geworden – genau wie die Rückenschmerzen und die Krampfadern. Dabei war Minder erst zweiundsiebzig. Bevor er etwas einwenden konnte, fuhr Kari bereits fort: «Aber item. Ich meine die Leiche in der Saane. Ausser dir wissen alle davon.» Vermutlich. In einem Ort wie Laupen mit seinen dreitausend Einwoh-nern machte die Entdeckung einer Leiche in der Saane rasch die Runde. Herr Minder konnte sich gut vorstellen, wie die Neuigkeit sich am Sonntagmor-gen in der Bäckerei mitten im Stedtli verbreitet hatte und anschliessend wie eine Welle über das ganze Dorf geschwappt war. Die meisten Dorfgespräche fanden nicht in Minders Hörweite statt. Seit dem Tod seiner Frau Erna fehlten ihm sowohl Antrieb als auch Mut, um am sozialen Leben des malerischen Ortes teilzunehmen. Es wunderte ihn daher keineswegs, dass er noch nichts von diesem Leichenfund vernommen hatte. «Eine Leiche in der Saane?», fragte er. Kari brannte geradezu darauf, ihn aufzuklären. Eifrig fuhr er fort: «Sie wurde gestern aus dem Wasser gefischt; oberhalb der Saanebrücke, etwas un-terhalb der Tanklager.» «Wer ist es denn?» Ein Feuerzeug klickte leise. Kari zündete seine Pfeife an. «Im Moment weiss man es noch nicht», sagte er endlich und sog ge-räuschvoll an seiner Pfeife. «Aber ermordet, wie es scheint.» «Ermordet? Tatsächlich? Wie denn?» «Das weiss man auch noch nicht.»

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«Dann sucht die Polizei jetzt wahrscheinlich Zeugen», mutmasste Herr Minder. «Wann ist es denn passiert?» «Auch das ist schwer zu sagen», erklärte Kari. «Die Sache liegt scheinbar ewig lange zurück.» «Ach so», sagte Herr Minder enttäuscht. Vor seinem inneren Auge ver-liessen die Kriminalisten den Schauplatz, um den Archäologen Platz zu ma-chen. Kari, dem nicht entgangen war, dass Minders Interesse in sich zusammen-zufallen drohte, beeilte sich, die Spannung heraufzuschrauben: «Aber weis-st du was? Der Tote – oder die Tote – war in eine Plastikplane eingewickelt und trug Gummistiefel –», er machte ein Kunstpause und liess die Bombe platzen, «die mit Beton ausgegossen waren.» «Was du nicht sagst!», entfuhr es Minder. Also doch nichts Prähisto-risches! Genüsslich schob Kari nach: «Und das Beste: Der Kopf ist ab.» Minder holte Luft, bevor er fragte: «Du meinst, die Person ist enthauptet worden?» «Genau», bestätigte Kari. Wieder paffte er an der Pfeife und genoss sei-nen Informationsvorsprung. Der Spannung wegen verschwendete er keine Silbe an den Auftritt eines Forensikers im Fernsehen, der angemerkt hatte, dass die Enthauptung postmortem – also nachträglich – stattgefunden ha-ben könne und keineswegs die Todesursache sein müsse. Stattdessen legte Kari seine Theorie dar, wonach die Leiche aus ihrem Dornröschenschlaf tief unter dem Kies nur aufgetaucht war, weil der Hoch-wasserschutz beim Zusammenfluss von Saane und Sense ausgebaut worden war, was Grabarbeiten im Flussbett erfordert hatte. «Ich habe übrigens vorhin im <Zimmermann> noch mit Beat gespro-chen. Du kennst doch Beat Antener?», fuhr Kari fort, ohne eine Antwort zu erwarten. <Ausgerechnet Antener>, dachte Herr Minder. Antener verfügte unge-fähr über das geistige Niveau einer halbleeren Schnapsflasche. Kari breitete in den folgenden zwei Minuten den Unsinn aus, den An-tener und er ersonnen hatten. Herr Minder hörte nur mit halbem Ohr zu. Als Karis Redefluss endlich ins Stocken geriet, wandte er ein: «Die Leiche könnte auch in der Sense versenkt worden sein. Wenn ich dich richtig ver-standen habe, liegt der Fundort unterhalb des Zusammenflusses.» Die vom Schwarzsee herkommende Sense mündete fünfhundert Meter nach dem Bahnhof Laupen in die Saane, die nach Freiburg vom Schiffenen-kraftwerk zurückgestaut und reguliert wurde. Die von Kari genannten Tan-klager befanden sich unterhalb des Mündungsgebietes am rechten Ufer der

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Saane. Kari gab zu, dass das theoretisch möglich wäre, wischte Minders Einwand trotzdem mit der Bemerkung vom Tisch, die Sense führe normalerweise viel zu wenig Wasser, um eine Leiche darin verschwinden zu lassen. Herr Minder verzichtete darauf, ihm die vielen Hochwasser und damit einhergehenden Kellerüberflutungen der vergangenen Jahre in Erinnerung zu rufen. Kari machte sich gerne mit Bekanntschaften wie diesem Antener wichtig. Und dazu wollte Herr Minder ihm keine weitere Gelegenheit geben. Deshalb wechselte er das Thema und fragte: «Warst du eigentlich zu Fuss in der Süri?» «Beat hat mich mitgenommen», brummte Kari verstimmt. Wieder folgte eine Pause, die vom Klicken des Feuerzeugs beendet wurde, worauf Kari wetterte: «Man sollte eigentlich denken, die Tschuggerei hätte Besseres zu tun, als harmlose Automobilisten abzupassen.» In Minders Augen war Kari als Automobilist alles andere als harmlos. Für seine Dreiundachtzig war er zwar noch gut im Schuss, aber schon der schrottreife Subaru musste für die Polizei ein rotes Tuch sein. Zudem war Kari ein Kauz, der die Verkehrsregeln nach seinem Gutdünken auslegte. Ein Glück für Kari, dass er seine Schafe dem Schwiegersohn überlassen hatte und seither den selbergebastelten Anhänger zuhause liess. Herr Minder hat-te sich schon gefragt, wie lange es wohl dauern mochte, bis dieses Gefährt ins Fadenkreuz der Gesetzeshüter geriet. Und zu sagen, Kari unterschätze die Gefahren des Alkohols am Steuer, war stark untertrieben. Man hatte ihn sagen hören, seine Reaktion sei nie besser als nach einem Gläschen Schnaps. Das letzte Gläschen war ihm nun zum Verhängnis geworden. Die Promille im Blut hatten ihm einen Monat Billet-Entzug und eine saftige Busse einge-bracht. «Pah, 0,7 Promille!», schnaubte Kari. «Damit fahre ich bestimmt nicht schlechter als mit 0,5.» Herr Minder musste ihm Recht geben. Kari war nicht einmal nüchtern ein guter Fahrer. «Ausserdem», jammerte Kari weiter, «hätte ich geschworen, dass die neue Servierdüse mit dem Schnaps im Kafi geknausert hat. Aber –» «Kari, ich muss abklemmen. Prinz wartet auf seinen Spaziergang», unter-brach Herr Minder Karis Lamento. Als er aufgelegt hatte, sah er hinüber zu Big Ben, der Wanduhr in der Kü-che. «Tatort» hatte vor einer Viertelstunde angefangen. «Also gut», meinte er lächelnd und tätschelte Prinz, der erwartungsvoll

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zu ihm aufblickte. Wie üblich öffnete er die Wohnungstür leise und prüfte sicherheitshalber zuerst, ob die Luft rein war. Er wohnte seit über vierzig Jahren im dritten und obersten Stock eines alten Hauses mit behäbigem Mansardendach am Bärenplatz im Ortszentrum. Gepolter drang herauf. Herr Minder legte den Zeigefinger mahnend an die Lippen und nickte Prinz zu. Langsam und fast lautlos schlichen sie die Treppe hinunter. Auf dem Treppenabsatz auf halber Höhe zum zweiten Stock hielt Herr Minder an und beugte sich über das Geländer, bis er die Wohnungstüre im zweiten Stock sehen konnte. Sie war zu und von Frau Müller gottlob nichts zu sehen. Nach einem dumpfen Poltern hörte Herr Minder die Wohnungstür im ersten Stock links auf- und gleich darauf wieder zugehen. Dort hatten bis vor zwei Monaten Schwarzeneggers gewohnt. Genauer gesagt, war im letz-ten Jahr – nach dem Tod seiner Frau – nur noch Jakob Schwarzenegger hier gewesen. Doch jetzt war es seiner Tochter endlich gelungen, Jakob in einem Heim unterzubringen. Seither stand die Wohnung leer; genauso die gegenü-berliegende, in der bis vor einem Jahr zwei junge Frauen gewohnt hatten. Offenbar zogen neue Mieter in Schwarzeneggers ehemalige Wohnung ein. Auf dem Treppenabsatz standen Campingmöbel, eine Kiste mit CDs, ein Notenständer – und ein Alphorn. Herr Minder dachte mit einem Anflug von Schadenfreude: «Wenn das keinen Ärger mit Frau Müller gibt, fresse ich einen Besen.» Vor dem Haus versperrte ein glänzender, schwarzer Audi-Kombi mit of-fenem Kofferraum das Trottoir.

Als Herr Minder mit seinem Hund eine halbe Stunde später zurückkam, be-obachtete er vom Bahnhofplatz aus, wie der Audi auf dem Parkplatz hinter dem Haus neben seinem Peugeot parkiert wurde. Ein Mann stieg aus und hastete im Halbdunkel zum Eingang. Herr Minder liess sich Zeit, ging lang-sam an den Autos vorbei und stellte fest, dass der Audi ein Aargauer Kenn-zeichen trug – und unhöflich nahe an seinem Peugeot stand.

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Montag, 2. November

Es war nachmittags kurz nach vier. Herr Minder hielt eine Tasse Kaffee in der Hand und stierte aus dem Küchenfenster in den trüben Nachmittag. Er überlegte sich ernsthaft, nach einer letzten Runde mit Prinz eine Flasche Wein zu öffnen und danach früh schlafen zu gehen. Eigentlich hatte er vorgehabt, heute sein aktuelles Modellbauprojekt, den Luxusdampfer Titanic, fertigzustellen. Nach dem Morgenspaziergang mit Prinz hatte er sich in sein Arbeitszimmer begeben und Glenn Miller auf den Teller seines alten Plattenspielers gelegt. Doch nichts war ihm gelungen. Zwar sah man seinen Modellbauten ohnehin immer an, dass handwerklich nicht überaus begabte Hände am Werk gewesen waren. Es ging Minder auch nicht um das Resultat. Er schätzte die praktische Arbeit, weil sie ihm tag-träumerische Ausflüge erlaubte. Auf undurchschaubare Weise schienen das Geschehen im Kopf und das Handwerk einander zu beeinflussen. Jedenfalls war Minder aufgefallen, dass entweder beides eine Freude war oder eben nicht. Und heute hatte sowohl im Kopf wie auf dem Arbeitstisch nichts Ge-scheites Form angenommen. Er hatte vergeblich gehofft, dass die wenigen Informationen über die Leiche in der Saane, die er der Zeitung entnommen hatte und die sich erstaunlich gut mit Karis Aussagen deckten, beim Basteln in seinem Kopf eine Dynamik entwickeln würden. Dabei konnte es nicht an der Ausgangslage liegen: Eine kopflose Leiche in der Saane, deren Füsse in Gummistiefeln einbetoniert waren, enthielt massenhaft Nahrung für die Fantasie. Und doch war ihm kein vernünftiger Gedanke gekommen, wäh-rend er Farben gemischt und das Resultat mit den Bildern der Titanic im Internet verglichen hatte. Den richtigen Farbton hatte er nicht getroffen. Analog dazu hatte sich auch bei seinen Versuchen, aus den Besonderheiten des Leichenfunds Hypothesen zu Täterschaft, Motiv und Tathergang aufzu-stellen, nichts Sinnvolles ergeben. In den nächsten Tagen werde man versuchen, verwertbare DNA zu finden und zu analysieren, hiess es in der Zeitung. Denn der Weg zur Identifizierung führe über die ungelösten Vermisstenfälle der Vergangenheit. Leider hatte Herr Minder keinen Zugang zu dieser Vermisstendatenbank. Also musste er warten, bis die Polizei etwas herausfand und es auch der Öffentlichkeit bekanntgab. Diese Einsicht hatte ihn deprimiert. Er hatte das Werkzeug weggelegt, Glenn Miller zum Verstummen gebracht, das Arbeitszimmer ver-lassen und sich in der Küche einen Kaffee zubereitet. Er öffnete den Kühlschrank. Ausser einem Glas Salzgurken fand er nichts. Daher machte er sich mit der Einkaufstasche auf die Socken zum Denner, der um die Ecke lag.

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Fünf Minuten später betrat er das Souterrain eines Siebzigerjahre-Flachdachbaus, in dem sich auch die Polizeiwache befand. In sich gekehrt schlenderte er mit einem Korb in der einen und einem Zehnerkarton Bier in der anderen Hand die Regalreihen ab. Als er kurz vor der Kasse mit schlech-tem Gewissen eine Dreierpackung Schokoladenriegel zu den Ravioli- und Bohnendosen, dem Sankt-Galler-Brot und dem vakuumverpackten Käse legte, sprach ihn jemand an. «He, Ernst, das ist aber nicht gerade gesunde Kost», taxierte Kari ohne Gruss Minders Einkäufe. Herr Minder hatte noch nicht einmal den Mund für eine Erwiderung auf-gemacht, als Kari lachend nachsetzte: «Du kannst halt immer noch nicht kochen.» Bevor er darauf antwortete, warf Herr Minder einen Blick in Karis Korb, um dort nach Munition für eine Entgegnung zu suchen, fand aber nichts. In Karis Korb lagen Karotten, Kartoffeln und ein paar dicke Lauchstangen. Höchstens die Waadtländer Saucisson war aus gesundheitlicher Sicht zu be-anstanden. In Anbetracht seiner Schokoladenriegel schluckte er einen Kom-mentar dazu aber lieber hinunter. Kurzentschlossen schwindelte er: «Gemüse macht mir Blähungen.» Kari lachte nur darüber und meinte: «Wie lange lebst du nun schon allein, ohne deine Erna? Fünf Jahre? Sechs? Du wirst noch krank von diesem Büch-senfutter. Ich muss dir einen Kochkurs geben.» Vor Begeisterung über seine eigene Idee grinste er über das ganze runde Gesicht. Als Herr Minder nur halbherzig zurückgrinste, sagte er: «Aber item. Was ich dich eigentlich fragen wollte – haben wir nicht nächsten Don-nerstag im Restaurant in der Süri abgemacht?» Das war eine unnötige Frage, denn sie trafen sich seit fast zwei Jahren je-den zweiten Donnerstag in der Süri. «Ich kann dich mitnehmen, wenn du willst», schlug Herr Minder vor. Kari nickte erleichtert und blickte auf die Uhr. «Oh je! Jetzt muss ich aber Gas geben.» «Hast du noch etwas vor oder befürchtest du, dein Abendessen könnte verdorren, bis du daheim bist?», witzelte Herr Minder mit Blick auf den Lauch in Karis Korb. Kari lachte: «Nein. Das gibt morgen einen herrlichen Auflauf – mit Nidle und Greyerzer.» Er setzte eine Geniessermiene auf, als rieche er den Duft des Gratins schon. «Heute habe ich Chorprobe. Immer montags. Im <Denkmal> auf dem Bramberg.» Bevor Herr Minder fragen konnte, ob er zu Fuss hingehe, sagte Kari: «Gregor Altmann nimmt mich mit. Er holt im Stedtli auch immer Fritz

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Hafner ab.» Herr Minder kannte Fritz Hafner. Dieser wohnte in der Marktgasse. Nur ein paar Häuser lagen zwischen ihnen. Hafner war seit vielen Jahren verwit-wet und lebte mit Erika, seiner ledigen Tochter, zusammen. Wenn man dem Gerede der Leute glauben konnte, war er sehr krank. «Singt Hafner noch im Chor? Er muss doch mindestens neunzig sein», sagte Herr Minder überrascht. «Einundneunzig», präzisierte Kari. «Es geht tüchtig bergab. Aber er hat den Chor halt Jahrzehnte lang geleitet und ist gerne bei seinen Kameraden, obwohl man ihm das nicht immer anmerkt. Manchmal hat er eine miese Lau-ne, dass alle einen weiten Bogen um ihn machen. Zum Glück hat er Gregor Altmann. Er ist der Einzige, dem Fritz‘ Übellaunigkeit nichts auszumacht.» «Altmann, Fritz Hafners ehemaliger Geschäftsführer? Ist der auch im Chor?» «Klar, schon nur wegen Fritz. Gregor kümmert sich wie ein Sohn um Fritz. Nimmt ihn überall mit. Das entlastet Erika. Ja, diese Krankheit. Wenn man denkt, was für ein guter Dirigent Fritz war. Jahrzehntelang hat er den Chor geleitet. Sogar komponiert hat er. Nicht nur für uns. Er war weithe-rum bekannt. Aber item. Ich will jetzt keine Abdankungsrede halten. Er ist ja noch am Leben. Gott sei Dank.» Ein weiterer Blick auf die Uhr. «Also Ernst, ich muss», sagte er dann, klopfte Minder mit der freien Hand auf die Schulter und zottelte Richtung Kasse davon.

Nach dem abendlichen Hundespaziergang betrat Herr Minder das Trep-penhaus, wo ihn ein seltsam tiefer, wummernder Ton empfing. Prinz spitzte die Ohren und lauschte dem unbekannten Geräusch, das sich Ton für Ton in die Höhe schraubte, bis es klang, als ob ein Elefant trompetete. Das Alphorn vor der Türe des neuen Mieters fiel Minder wieder ein. Im ersten Stock blieb er automatisch eine Weile vor der Tür stehen und lauschte. Als die Alphornklänge verstummten, ging er mit seinem Hund weiter. Kaum hatten sie den zweiten Stock erreicht, wurde die Türe aufgerissen und Frau Müller stand vor ihnen. «Oh, Herr Minder!», tat sie überrascht. Wie immer trug sie eine rot-blau geblümte Schürze. Auch wie immer hatte sie zu viel Make-up aufgetragen. Die neuerdings schwarz gefärbten Haare waren kurz geschnitten, hochtou-piert und mit Haarlack festgeklebt. Selbst jetzt, als Frau Müller sich zu Prinz hinabbeugte und seinen Kopf streichelte, bewegte sich kein einziges Haar. «Guten Abend, Frau Müller. Komm Prinz, sei brav», sagte Herr Minder und versuchte Prinz an Frau Müller vorbei zu schleusen. Doch es gelang ihm nicht. Prinz sträubte sich.

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Frau Müller flötete: «Ach, Herr Minder. Jetzt lassen Sie ihn doch. Er will halt flattiert werden.» Dazu bedachte sie Minder mit einem Aufschlag ihrer schwarz umrandeten und violett angemalten Augen. Er wandte den Blick ab und sagte resoluter als sonst: «Komm jetzt, Prinz. Wir wollen Frau Müller nicht aufhalten.» «Sie halten mich doch überhaupt nicht –» Mitten im Satz wurde Frau Müller unterbrochen. Die Alphornklänge er-füllten das Treppenhaus von neuem. «Was um Himmels Willen ist das?», rief sie entsetzt. «Ein Alphorn.» «Soll das etwa Musik sein?», entrüstete sich Frau Müller. Diesen Satz hatte Herr Minder schon gehört, als der sechzehnjährige Oliver Wisler mit seiner Mutter noch im Haus gelebt hatte. Herr Minder wusste, dass Frau Müller jedem neuen Mieter im Haus grund-sätzlich feindlich gesinnt war. Nachbarn waren für sie keine Mitmenschen, sondern eine Gelegenheit, um sich aufzuregen. Und das Spektrum, wie man sich bei Frau Müller unbeliebt machen konnte, war breit: Grüsste man freundlich, dann beschwerte Frau Müller sich darüber, man glotze ihr in den Ausschnitt. Sie nicht zu beachten, war allerdings noch schlimmer. Wer sich an den Waschplan hielt, wurde von Frau Müller dafür kritisiert, stur und nicht entgegenkommend zu sein. Und wer sich nicht daran hielt, war so-wieso erledigt. Machte jemand Lärm, reklamierte sie. Hörte man dagegen nichts, kam ihr das verdächtig vor. Olivers Heavy Metal-Musik hatte sie als organisierten Krach bezeichnet. Doch Musik aus den Alpen war offenbar auch nicht ihr Geschmack. Er blickte demonstrativ auf die Uhr und wünschte Frau Müller einen schönen Abend. Sie kräuselte nur düster die Stirn. Im Hinaufgehen warf Herr Minder über die Schulter einen Blick zurück und sah, wie Frau Müller mit grimmiger Miene die Arme über der Brust verschränkte. Der Kampf gegen den neuen Mieter war eröffnet.

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Dienstag, 3. November

Der Vormittag war vergangen, ohne dass Herr Minder wusste, wie. Die Zeit war zwischen Kaffee trinken, Zeitung lesen, den Abwasch der letzten Tage erledigen und Prinz spazieren führen, versickert. Es kam ihm vor, als würde nicht nur seine Energie, sondern auch die Zeit vom grauen Novemberwetter aufgesogen. In der Zeitung hatte nichts über den Leichenfund gestanden. Um nach einem Mittagsschläfchen endlich in die Gänge zu kommen, wollte er die Wohnung wieder einmal einer gründlichen Reinigung unterziehen. Es war an der Zeit. Putzen hasste er von allen Hausarbeiten am meisten. Des-halb gönnte er sich danach hin und wieder ein Zitronentörtchen oder eine Punschkugel. Er ging rasch hinüber in die Bäckerei und stieg kurz darauf mit seiner Pa-tisserie zügig die Treppe hinauf. Im ersten Stock wäre er um ein Haar mit Frau Müller zusammengestossen. Sie spähte durch das Schlüsselloch des neu-en Mieters und versperrte den Durchgang. Als sie Minder bemerkte, rückte sie ein Stück von der Türe weg und schien tatsächlich einen Moment leicht verlegen. Doch sie fasste sich sofort wieder. «Herr Minder!», zwitscherte sie. «Ich bin gerade am Saubermachen.» Sie deutete mit dem Kinn auf den Handwischer und die Kehrschaufel, die sie in der Hand hielt. «Aha, gut», sagte Herr Minder und tat so, als glaube er ihr. Dann drängte er sich ohne weiteren Kommentar vorbei. «Er heisst P. Schaub», rief Frau Müller, deutete mit dem Daumen über die Schulter zur Wohnungstüre und eilte ihm nach. Weil er sich nicht an-merken liess, ob er sie gehört hatte, wiederholte sie: «P Punkt Schaub. So heisst der neue Mieter. Das steht auf dem Briefkasten.» «Gut», sagte Herr Minder desinteressiert. «Warten Sie doch», keuchte Frau Müller. Widerwillig blieb Herr Minder stehen und drehte sich zu ihr um. «Es ist ein Komplott gegen uns», beschwor sie ihn. «Die wollen uns bei-de rausekeln und das Haus danach luxussanieren.» Eine Verschwörungstheorie. Herr Minder hatte nichts anderes erwartet. Bevor er etwas entgegnen konnte, fuhr sie fort: «Wie erklären Sie sich sonst, dass die andere Wohnung im ersten Stock schon so lange leer steht?» Bevor er darauf reagieren konnte, gab sie die Antwort selber: «Ist doch klar. Das Haus soll mieterfrei werden. Deshalb will man jetzt auch uns loswerden.» «Ach was», brummte er. «Meinen Sie etwa, die Rendite für ein Haus wie dieses, an bester Lage, könnte nicht gesteigert werden? Wann haben Sie denn das letzte Mal eine

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Mietzinserhöhung bekommen? Schorsch hat schon lange gesagt, dass unser Mietzins ein Witz ist.» Schorsch war Frau Müllers Sohn, der in Zürich lebte, und den Frau Müller jeden Samstag besuchte, um seinen Junggesellenhaus-halt in Schuss zu halten. Herr Minder musste zugeben, dass er seit Ernas Tod nie etwas mit der Miete zu tun gehabt hatte. Vor gut zehn Jahren, noch zu Ernas Lebzeiten, hatte das Haus den Eigentümer gewechselt. Er wusste aber nicht einmal aus-wendig, wie die Immobilienfirma hiess, der das Haus heute gehörte. <Irgen-detwas-Immobilien-AG>. Frau Müller las seine Überlegungen offenbar von seinem Gesicht ab: «Se-hen Sie? Deshalb wurde dieser Alpöhi einquartiert. Aber Schorsch meint, dass wir uns das nicht gefallen lassen müssen.» Danach nannte sie ein paar Gesetzesartikel, die klangen, als hätte sie sie selber erfunden. Auch wenn Frau Müllers Geschwafel über eine angebliche Luxussanie-rung ziemlich sicher nichts anderes als eben Geschwafel war, verfolgte ihn der Gedanke daran dennoch, als er das Badezimmer von Kalk und Schimmel befreite, die Hundehaare vom abgewetzten Spannteppich saugte, den ver-kratzten Chromstahl in der Küche polierte, den Boden feucht aufnahm und den Staub von den Oberflächen wischte. Der niedrige Mietzins gab ihm stets ein wenig zu denken, wenn in den Medien von einer allgemeinen Mietzinserhöhung die Rede war. Dann führte er sich aber vor Augen, dass die altmodisch geschnittenen Wohnungen am Bärenplatz 19 weder über Geschirrspüler, Schwedenofen, Parkettböden noch ein Keramikkochfeld verfügten. Doch das hatte ihn bisher ebenso we-nig gestört, wie die abgegriffenen und aus dem Lot geratenen Schranktüren in der Küche. Der dunkle, enge Korridor, von dem die vier Zimmer, das Bad und die Küche abgingen, hätten jüngere Mieter bestimmt in die Flucht ge-schlagen.

Mit monotonem Läuten holte ihn das Telefon aus seinen Gedanken. Kari. Völlig untypisch kam er direkt zur Sache: «Fritz ist verschwunden.» «Was sagst du da?» «Fritz Hafner», wiederholte Kari, «Er ist weg.» «Wie <weg>?» «Eben, verschwunden», sagte Kari ungeduldig. «Seit gestern Abend nach der Chorprobe. Gregor hat mich vorhin angerufen.» «Wieso hat Gregor angerufen und nicht Erika?» Herr Minder wunderte sich, dass der ehemalige Geschäftsführer von Hafner Hoch- und Tiefbau der Sache nachging und nicht Erika, Fritz‘ Tochter. «Gregor gehört fast zur Familie. Und Erika regt sich furchtbar auf.»

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«Und was wollte er ausgerechnet von dir?» «Wissen, was Fritz nach der Chorprobe vorhatte», erklärte Kari. «Warum sollte Fritz gerade dir das verraten haben?», fragte Herr Min-der immer erstaunter. Es war allgemein bekannt, dass Hafners einen ausge-prägten Eigendünkel pflegten. Und Kari befand sich als Handwerker gesell-schaftlich nicht auf Augenhöhe mit Fritz Hafner, dem ehemaligen Patron eines mittelgrossen Bauunternehmens. «Fritz hatte letzten Abend Krach mit Gregor», erklärte Kari. «Mit Gre-gor zu streiten ist zwar ein wahres Kunststück, aber Fritz, dieser Streithahn, bringt auch das zustande. Item. Jedenfalls weigerte der Sturkopf sich nach der Probe, mit Gregor nach Hause zu fahren.» Es folgte eine kurze Pause. Herr Minder hörte das Klicken des Feuerzeugs. Kurz darauf sprach Kari weiter: «Gregor musste Erika anrufen, damit sie ihren Vater abholen kam. Ich konnte zum Glück mit Hans fahren. Gregor hatte es nämlich nach dem Gestürm mit Fritz so eilig, fortzukommen, dass er vergessen hat, mich mitzunehmen. Aber item: Fritz musste ausharren – und ich auch. Hans, unser Sekretär, hat mit dem Wirt noch ein paar Termine wegen der Zusatzproben für das Konzert abgesprochen. Aber item. Fritz hat sich zu mir gesetzt und mit mir geplaudert. Dann ist Erika gekommen und hat ihn mitgenommen. Die war vielleicht geladen. Stand kurz vor der Explo-sion. Ein Gruss ist ein Gruss, kann ich nur sagen.» «Und dann?», bohrte Herr Minder weiter. «Nichts <und dann>», gab Kari zurück. «Sie hat Fritz rauskomman-diert. Mehr ist nicht zu melden. Gregor ruft jetzt alle vom Chor an, die mit Fritz gesprochen und vielleicht gehört haben könnten, ob er noch etwas vor-hatte.» «So spät am Abend? Mit einundneunzig?», fragte Herr Minder. «Mir hat er nichts gesagt. Ich dachte, dass er nach Hause ins Bett will », beteuerte Kari. «Aber dort war er offenbar nicht, oder?», hakte Herr Minder nach. Kari atmete geräuschvoll aus: «Leider nein.» Erika sei nahe an einem Nervenzusammenbruch, habe Gregor berichtet. Sie mache sich grosse Vorwürfe. Ihr Vater sei beim Mittagessen komisch ge-wesen. Irgendwie ausser sich. Er habe wie aus heiterem Himmel den Teller mitsamt Spinat und Spiegelei auf den Boden geworden. Es müsse mit dem Teufel zugehen, dass der alte Mann noch nicht gefunden worden sei, habe Gregor auch noch gesagt und dann aufgehängt, um mit den anderen Chor-kameraden zu telefonieren. Nach dem Abendspaziergang stiegen Prinz und Herr Minder zu Alphorn-klängen in den dritten Stock hinauf.

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Mittwoch, 4. November

«Mein Mann hat Luna am Nacken gepackt und mir ihre angeblichen Speck-rollen gezeigt», erzählte eine mollige Dame im Wartezimmer des Tierarztes ihrer Sitznachbarin. Dazu tätschelte sie eine gut genährte Golden Retriever-Hündin. «Frauen hätten von Natur aus mehr Speck, hat er mir doch tatsächlich gesagt. Von Natur aus», wiederholte sie, um die Absurdität dieser Behaup-tung herauszustreichen. «Und Männer mehr Muskeln.» Sie schnaubte ver-ächtlich und fuhr fort. «Darauf ich: <Schade, dass du deine Muskeln alle am Bauch hast.>» Die Frauen lachten. Der Tierarzt streckte den Kopf herein und nannte einen Namen, worauf die Frau mit dem Käfig, der neben ihr stand, das Wartezimmer verliess. Eine Weile war es still. Nur Prinz, der geduldig neben Herrn Minder auf dem Boden lag, schnaufte ab und zu seufzend. Die Golden Retriever-Hün-din hechelte. «Und was hat Ihrer?», richtete die Frau sich unvermittelt an Minder. «Impfen», sagte Herr Minder. In diesem Moment erklang die Türglocke und kurz darauf betrat eine sportliche Mittvierzigerin mit einem Border Collie das Wartezimmer. Sie grüsste unbestimmt in seine Ecke, die Dame mit der Golden Retriever-Hün-din dagegen mit Namen. «Hallo Rita», sagte sie und setzte sich. Rita freute sich, dass wieder je-mand da war, mit dem sie reden konnte. Die Hunde beschnüffelten sich und der Border Collie machte Anstalten, auch Prinz einen Besuch abzustatten. Doch die sportliche Frau, sie hiess Eva, bellte einen kurzen Befehl, worauf der Hund sich sofort an ihrer Seite auf den Boden legte und reglos liegen blieb. Der Golden Retriever hechelte weiter. «Weisst du schon das Neuste?», fragte nun Eva ihre Kollegin Rita. «Erzähl», ermunterte diese sie. «Man hat Fritz Hafners Mercedes gefunden», berichtete Eva eifrig. «Echt?» «Als mein Mann heute Morgen ins Geschäft fuhr, sagte er noch, hoffent-lich ist dem Fritz nichts passiert. Sie kennen sich aus der Partei. Und als es gestern hiess, Fritz Hafner sei verschwunden, hat man sich halt Gedanken gemacht. Mein Mann hat im Scherz gemeint, dass es sich lohnen würde, Fritz zu entführen.» «Wie kommt er gerade auf eine Entführung?», fragte Rita. «Der hat Zaster zum Abwinken. Immobilien und sicher auch Bares

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– nach dem Verkauf der Firma an diese Holding.» «Ja schon, aber das meiste gehört schon den Kindern – also Erika und Lydia – habe ich gemeint», wandte Rita ein. «Fritz hat es ihnen vor Jahren überschrieben. Man sagte damals, der wolle bestimmt Ergänzungsleistungen und Sozialhilfe beantragen, wenn er einmal in ein Pflegeheim müsse. Ich glaube, da ist sogar was dran. Dieser Geizhals.» «Trotzdem könnte eine Entführung sich lohnen, oder?», wandte Eva ein. «Erika hätte das Lösegeld bestimmt bezahlt. Sie kümmert sich ja auch sonst um ihren Vater.» Rita schnaubte spöttisch: «Wegen dem Lösegeld wäre ich nicht so si-cher.» «Wie meinst du das?» «Wie ich es sage. Fritz ist für Erika vor allem eine Last und eine Mühsal. Klar kümmert sie sich um ihn. Aber hat sie eine Wahl? Ich weiss nicht –» Sie hob abwehrend die Hände und sagte: «Es tönt vielleicht herzlos, was ich jetzt sage. Aber Erika wäre mehr als froh, den alten Plagegeist los zu sein

– wenigstens eine Weile. Ich wundere mich schon lange, warum sie ihn nicht in ein Heim gibt.» «Erika ist halt so. Sie würde ihren Vater nie in ein Heim geben», gab Eva zurück. «Aber soll ich denn nun erzählen, was mein Mann heute entdeckt hat?» «Eben, Fritz Hafners Auto», sagte Rita trocken. «Und wo? Weisst du das etwa auch?», fragte Eva und klang ein wenig beleidigt. Bevor Rita antworten konnte, streckte eine junge Tierärztin den Kopf ins Wartezimmer und Rita folgte ihr mit dem hechelnden Golden Retriever. Offenbar musste Eva die Geschichte über die Entdeckung ihres Mannes unbedingt loswerden. Jedenfalls richtete sie sich jetzt an Minder und erzähl-te, dass ihr Mann ein Geschäft hinten im Bösinger Industriegebiet habe, dort wo der Auriedsteg über die Saane führe. Auf dem Parkplatz vor der Werkhal-le habe er Hafners Auto entdeckt. «Fritz Hafner hat bestimmt Selbstmord begangen», behauptete Eva. «Die Polizei sucht jedenfalls das Flussufer mit Hunden ab.» «Selbstmord? Wieso?», fragte Herr Minder irritiert. «Weil er alt war?», schlug Eva in einem Ton vor, als ob das Alter eine un-erträgliche Krankheit wäre, der man sich gescheiter beizeiten durch Selbst-mord entzöge. «Auf dem Beifahrersitz war ein Abschiedsbrief. Mein Mann hat ihn mit dem Handy fotografiert. Hier sehen Sie.» Schon streckte sie ihm ihr Smart-phone entgegen. Herr Minder nahm es ihr aus der Hand, um das Bild auf

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dem Display betrachten zu können. Die Aufnahme war durch die geschlos-sene Seitenscheibe hindurch gemacht worden. Man sah auf dem Foto die Spiegelung des Handys in der Scheibe. Auf dem safrangelben Ledersitz lag ein Blatt Papier. Es war ein sonderbarer Abschiedsbrief – offenbar eine Sei-te aus einem alten Buch. Das Papier war vergilbt und der zweispaltige Text in alter Schnörkelschrift gesetzt. Die Kopfzeile war etwas grösser und fett-er. Herr Minder konnte «Lukas 6.» entziffern. Demnach handelte es sich wohl um eine Bibelseite. Ein paar Zeilen waren mit einem roten Farbstift ungelenk umrandet. Leider war die Schrift zu klein, als dass Herr Minder die markierte Stelle hätte lesen können. Er gab Eva das Handy zurück.

Als er eine Stunde später wieder zuhause war, vergingen kaum fünf Minuten, bis das Telefon klingelte und Kari ihm mitteilte, Fritz Hafner sei tot. Man habe ihn hundert Meter oberhalb der Sense-Einmündung aus der Saane ge-zogen. «Selbstmord. Mit einundneunzig. Tragisch. Ich kann es einfach nicht glauben», seufzte er. «Montagabend war er richtig kämpferisch aufgelegt. Er hat überhaupt keinen deprimierten Eindruck gemacht.» «Aber man hat eine Abschiedsbotschaft gefunden», meinte Herr Min-der. «Und vergiss seine Krankheit nicht.» Kari überlegte und fragte: «Er hat dich nicht zufälligerweise noch ange-rufen, oder?» Herr Minder stutzte: «Mich? Nein. Wieso mich?» «Er hatte es vor. Das hat er mir Montag nach der Probe gesagt. Wegen einer Auskunft.» «Einer Auskunft?», wiederholte Herr Minder hellhörig. «Ja. Du hast doch früher im Eidgenössischen Büro für Kunst gearbeitet, oder?» «Das ist lange her», schränkte Herr Minder ein und verzichtet darauf, Kari darauf hinzuweisen, dass diese Behörde Bundesamt für Kultur hiess. «Trotzdem: Wieso ich? Er hätte dem Amt direkt telefonieren können. Man hätte ihn dann schon mit der zuständigen Stelle verbunden.» Er, Minder, wäre ohnehin nicht die richtige Ansprechperson gewesen. Denn an seinem damaligen Arbeitsplatz hatte er etwa so viel mit Kunst zu tun gehabt wie ein Emmi-Chauffeur mit Kühen. Jetzt lachte Kari: «Du hast vielleicht eine Ahnung! Ein Hafner Fritz ruft doch nicht eine anonyme Amtsstelle an und wartet, dass er mit irgendeinem Tscholi verbunden wird. Ein Hafner Fritz hat immer Kontakte. Er kennt überall jemanden, auf den er sich berufen kann. Verstehst du? Der geht nicht, wie wir normalen Leute, einfach den Dienstweg. Deshalb hat er gemeint,

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dass er sich unbedingt mit dir in Verbindung setzen möchte.» «Unbedingt? Um was für Informationen ging es denn?», fragte Herr Minder interessiert. «Er hat nach der Probe nur gesagt, es nehme ihn wirklich Wunder. Das müsse sich doch herausfinden lassen. Deshalb müsse er dringend mit dir Kontakt aufnehmen.» «Was wollte er herausfinden?» «Das hat er eben nicht gesagt», bedauerte Kari. «Und sonst? Hat er früher mal etwas angedeutet?», fuhr Herr Minder fort, in der Hoffnung, der Sache vielleicht doch noch auf die Spur zu kom-men. Denn es war doch aussergewöhnlich, dass Fritz Hafner sich an ihn wen-den wollte. Sie hatten, ausser zwei- oder dreimal über das Wetter, nie mehr als ein paar Worte zusammen gesprochen. Herr Minder konnte nicht anders, als dem Wunsch Hafners nach Informationen aus dem Kulturbereich vor dem Hintergrund des Selbstmords eine besondere Bedeutung beizumessen. «Kari», drängte er, «überleg doch noch einmal ganz in Ruhe, was er ge-sagt hat.» Postwendend sagte Kari: «Nichts weiter. Nur dass er sich bei dir nach etwas erkundigen wollte, weil du eben einmal in diesem Eidgenössischen Kunstamt warst.» Jetzt konnte sich Herr Minder nicht mehr zurückhalten. Er korrigierte: «Bundesamt für Kultur.» «Eben», bestätigte Kari. Auf einmal hatte Herr Minder eine Idee: «Könnte es mit dem Streit zwi-schen ihm und Gregor Altmann zu tun haben? Worum ging es?» Kari seufzte: «Also, ich weiss es wirklich nicht. Mir ist aufgefallen, dass die beiden auf der Hinfahrt ungewöhnlich still waren. Fritz fluchte aber noch vor der Probe im <Denkmal> auf einmal drauflos. Gregor zog ihn vor die Türe. Als sie wieder reinkamen, habe ich gehört, dass Fritz etwas von vierhunderttausend sagte.» «Vierhunderttausend was? Franken?» «Bestimmt keine Erbsen. So wie der sich aufgeführt hat, waren es tod-sicher Franken.» «Sonst noch etwas?» «Ja», kam es von Kari, «Fritz sagte, dass es jemand bestimmtes sein müs-se und hat einen Namen genannt.» «Welchen?», fragte Herr Minder neugierig. «Ich bin nicht sicher. Ich glaube, er hat <Schafer> gesagt. Oder <Scho-rer>. Es könnte auch <Karrer> gewesen sein. Ich habe es nicht richtig ge-hört», blieb Kari im Vagen.

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«Schade.» «Fritz sagte noch, es sei Diebstahl. Und er lasse sich das nicht bieten», ergänzte Kari seinen Bericht. «Diebstahl?», fragte Herr Minder interessiert nach. Doch Kari winkte ab. Das müsse nichts heissen, weil für Fritz so mancher-lei als Diebstahl gegolten habe. «Zum Beispiel der Preis für ein Bier.» Nach dem Telefonat bastelte Herr Minder an der Titanic weiter, blieb da-bei gedanklich aber an Fritz Hafners Selbstmord hängen. Es leuchtete ihm nicht ein, dass Fritz Hafner sich offenbar nach der Chorprobe umgebracht hatte, obwohl er sich von ihm, Minder, noch eine wichtige Auskunft erhofft hatte. War es ein Zufall, dass in den letzten Tagen zwei Tote aus dem Wasser gefischt worden waren?

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Donnerstag, 5. November

«Verdammt!», knurrte Herr Minder und blickte finster auf den schwarzen Audi des neuen Mieters. Das Auto stand so nah an seinem roten Peugeot-Kombi, dass Minder auf der Beifahrerseite einsteigen und auf den Fahrersitz hinüberrutschen musste, was Verrenkungen erforderte, die in seinem Alter nicht mehr so einfach waren. Für das Ausparkieren brauchte er danach alle Geduld, die er noch aufbringen konnte. Mit fünf Minuten Verspätung holte er Kari am Moosgärtenweg ab. Er kam eigentlich nie zu spät und entschuldigte sich bei Kari. Doch dieser nahm es mit der üblichen Gelassenheit. Zufrieden an seiner Pfeife nuckelnd, hatte er vor seinem Häuschen gewartet und gar nicht gemerkt, dass sein Chauffeur zu spät kam. Es war ein freundlicher Tag. Die Sonne blinzelte durch die Lö-cher in der dünnen Wolkendecke. «Ein praktisches Wägelchen hast du da, Ernst», meinte Kari und blickte sich im Auto um. «Damit kann man gut dies und das transportieren, oder?» Herr Minder nickte und konzentrierte sich auf das Fahren. Das Sträss-chen war schmal. Sie bogen auf den Birkenweg ab und warteten kurz darauf bei der Hauptstrasse auf eine Lücke im Verkehrsstrom zwischen Laupen und Bösingen. «Das ist Gregor Altmann», rief Kari plötzlich und zeigte auf einen vorüber-fahrenden anthrazitfarbenen Landrover, der Richtung Laupen unterwegs war. «Fritz Hafners ehemaliger Geschäftsführer?» fragte Herr Minder, gab Gas und fädelte nach links ebenfalls Richtung Stedtli ein. «Richtig. Bis die Firma von einem grossen Bauunternehmen übernom-men wurde. Altmann ist jetzt natürlich pensioniert. Seither wohnt er mit seiner Frau, der schönen Annemarie, in einem tollen Einfamilienhaus in Bö-singen», erklärte Kari grinsend und deutete mit dem Daumen hinter sich. Sie überquerten die Sensebrücke und bogen nach dem Bahnübergang links in die Neuengasse ab. Kurz darauf sahen sie, wie Gregor Altmann vor der Post aus seinem Wagen stieg und Erika Hafner mit Küssen auf beide Wangen begrüsste. Kari gluckste leise und sagte: «Hast du gewusst, dass Gregor und Erika einmal etwas zusammen hatten? Es ist lange her. Gregor war damals noch ledig – und Erika als Tochter des Geschäftsinhabers eine gute Partie. Man hat schon von Heirat gesprochen.» Er schüttelte den Kopf. «Kein Wunder ist nichts daraus geworden – dieses Klappergestell nimmt doch keiner, der Augen im Kopf hat.»

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Erika Hafner musste um die Fünfundsechzig sein, wirkte aber älter, weil sie leicht vornübergebeugt ging, was sie gebrechlich aussehen liess. In ihrem langen, schmalen Gesicht dominierte die gleiche Hakennase, die ihr Vater auch gehabt hatte. Sie war von einer unattraktiven, knochigen Magerkeit, die wohl ebenfalls in den Genen lag. Die grauen Haare trug sie seitlich geschei-telt und schulterlang. Sie war meistens ungeschminkt und kleidete sich un-auffällig. Bevor Herr Minder Erika in Schutz nehmen konnte, fragte Kari: «Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht an Lydia, ihre jüngere Schwester. Wann bist du nach Laupen gekommen? 74?» «73», korrigierte Herr Minder. «Im Mai haben Erna und ich geheiratet und die Wohnung am Bärenplatz 19 bezogen. 1976 ist Liselotte zur Welt gekommen.» «Ihr habt euch aber Zeit gelassen», stellte Kari belustigt fest. Herr Minder räusperte sich nur und blickte geradeaus. «Item», fuhr Kari fort, «du hast Lydia, Erikas Schwester, sicher das eine oder andere Mal gesehen», meinte er. «Sie hat sich gerne im Stedtli gezeigt. Kein Wunder: eine Schönheit wie sie war. Ganz die Mutter. Dunkle, lange Haare, himmelblaue Augen und eine Figur wie eine dieser Filmschauspiele-rinnen.» «Ist sie tot?», fragte Herr Minder und drückte aufs Gas, um den Peugeot den steilen Bärfischenhausstutz hinaufzutreiben. Kari blickte ihn von der Seite an: «Nicht, dass ich wüsste. Nein, sie ist da-mals mit ihrem Liebhaber durchgebrannt und hat den Kontakt zur Familie total abgebrochen. Das muss –» Kari dachte kurz nach. «– im Frühsommer 73 gewesen sein. Wir steckten damals unter Fritz‘ Leitung voll in den Proben zum Konzert für unser fünfzigjähriges Chorbestehen. Es gab ein ziemliches Gerede. Und als sich kurz darauf Jean-Jacques, der mittlere der Hafner-Ge-schwister, im WK umbrachte, war erst recht der Teufel los. Es wurde gemun-kelt, Lydia habe ihrem Bruder den Liebhaber ausgespannt.» Herr Minder erinnerte sich gut an das damalige Unglück. Als Erna und er im August 73 nach einer verspäteten, mehrtägigen Hochzeitsreise ins Tessin nach Laupen zurückgekehrt waren, hatte Ernas Mutter sie mit ernstem Ge-sicht empfangen und ihnen als erstes mitgeteilt, Jean-Jacques Hafner habe sich erschossen. Dieses Ereignis hatte sich in Minders Erinnerung untrenn-bar mit ihrer Hochzeitsreise verbunden. «Dabei war er erst Anfang zwanzig, der arme Bursche. Man hat es ihm zwar nicht angemerkt, aber für Fritz muss es eine Katastrophe gewesen sein. Ein paar Jahre vorher hat er schon Jeanne, seine Frau, bei einem Autounfall verloren. Und dann noch die Sache mit Lydia.» Um die Tragik dieser Ereig-nisse zu unterstreichen, stiess Kari die Luft geräuschvoll durch die Nase aus.

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