hotz

19
T Zur Raumstruktur des Schweizerdeutschen Statik und Dynamik Statik und Dynamik Die nachfolgenden Ausführungen geben einen Vortrag wieder, den Verf. im Wintersemester 1958/59 in Marburg halten durfte. Absicht dieses Vortrags war, einem weitern nichtschweizerischen Fachkreis Einblick in Probleme der schwzd. Sprachgeographie zu geben, die sich bei der Arbeit am Sprachatl der deutschen Schweiz (SDS) schon jetzt als vordringlich abzeichnen; diese Probleme sind, dem AnlaB entsprechend, durchwegs mehr angeschnitten als erschõpft worden. Den Charakter des Vorlaufigen behalt die hier vorgelegte, ft unveranderte Fsung mit voller Absicht bei; die Skizze wird dereinst zum Bild zu entwickeln sein, wenn die Karten des SDS in grõBerer Zahl zur Verfügung stehen. Auf seither erschienene Literatur konnte nur noch in Anmerkungen Bezug genommen werden. Wichtige Grundzüge der Raumstruktur des Schweizerdeutschen - oder Südalemannischen, wie man mit leichter Ungenauigkeit gleich- setzen kann- sind seit langem bekannt. Ihre Erforschung, Darstellung und Verankerung in groern gesamtsüdwestdeutschen Zusammen- hangen verknüpfen wir dankbar mit den Namen BACHMANN, BoHNEN- BERGER, �lAURER, MITZKA ; ihnen wissen sich unsere Ausführungen auch da, wo sie abweichen, in Entscheidendem verpflichtet. Diese Grundzüge sind zunachst in Erinnerung zu rufen, zu erganzen, kombinatorisch zu verdichten. Vor allem aber ist meine Absicht, hinter der zur Hauptsache ja bekannten und langst fixierten Statik der Grund- verhaltnisse die Dynamik sichtbar zu machen, die dazu geführt hat oder bereits auch wieder davon wegführt; ich werde nicht davor zurückschrek- ken, auch fragwürdige Falle einzubeziehen und überhaupt die drohende Erstarrung konventioneller Linienführung durch moglichst viele Frage- zeichen aufzulockern. l. Voraussetzungen (Abb. l-3) a) Di e morphologische Reliefkarte (Abb. l ) soll vor allem den natürlichen groen Rhythmus des Landes spürbar machen mit dem Dreitakt Jura/ Mittelland/Alpen- das Ganze mit einer Grundbewegung von SW nach NO, der sich einordnen die FluJ3laufe der mittlern und unte Aare, der Rhone, des obersten Rheines . · Einpragsam ist darüber hinaus : die Offen- heit des jurassisch-transjurassischen Gebiets im NW auf die oberrheini- sche Tiefebene hin, des breiten Mittellandes nach N überhaupt ; die Durchbrüche vom Mittelland zu den Alpenpassen : Genfer See - Wallis ( > GroJ3er St. Beard, Simplon) ; Berner Oberlander Seen Haslital [207J 33

Upload: lorenzh1

Post on 06-Aug-2015

21 views

Category:

Documents


4 download

DESCRIPTION

Raum

TRANSCRIPT

Page 1: Hotz

T

Zur Raumstruktur des Schweizerdeutschen Statik und Dynamik

Statik und Dynamik

Die nachfolgenden Ausführungen geben einen Vortrag wieder, den Verf. im Wintersemester 1958/59 in Marburg halten durfte. Absicht dieses Vortrags war, einem weitern nichtschweizerischen Fachkreis Einblick in Probleme der schwzd. Sprachgeographie zu geben, die sich bei der Arbeit am Spra.cha.tlas der deutschen Schweiz (SDS) schon jetzt a.ls vordringlich a.bzeichnen; diese Probleme sind, dem Anla.B entsprechend, durchwegs mehr a.ngeschnitten a.ls erschõpft worden. Den Cha.ra.kter des Vorlaufigen behalt die hier vorgelegte, fast unveranderte Fassung mit voller Absicht bei; die Skizze wird dereinst zum Bild z u entwickeln sein, wenn die Ka.rten des SDS in grõBerer Za.hl z ur Verfügung stehen. Au f seither erschienene Literatur konnte nur noch in Anmerkungen Bezug genommen werden.

Wichtige Grundzüge der Raumstruktur des Schweizerdeutschen -oder Südalemannischen, wie man mit leichter Ungenauigkeit gleich­setzen kann- sind seit langem bekannt. Ihre Erforschung, Darstellung und Verankerung in grol3ern gesamtsüdwestdeutschen Zusammen­hangen verknüpfen wir dankbar mit den Namen BACHMANN, BoHNEN­

BERGER, �lAURER, MITZKA ; ihnen wissen sich unsere Ausführungen auch da, wo sie abweichen, in Entscheidendem verpflichtet.

Diese Grundzüge sind zunachst in Erinnerung zu rufen, zu erganzen, kombinatorisch zu verdichten. Vor allem aber ist meine Absicht, hinter der zur Hauptsache ja bekannten und langst fixierten Statik der Grund­verhaltnisse die Dynamik sichtbar zu machen, die dazu geführt hat oder bereits auch wieder davon wegführt; ich werde nicht davor zurückschrek­ken, auch fragwürdige Falle einzubeziehen und überhaupt die drohende Erstarrung konventioneller Linienführung durch moglichst viele Frage­zeichen aufzulockern.

l. Voraussetzungen

(Abb. l-3)

a) Di e morphologische Reliefkarte (Abb. l ) soll vor allem den natürlichen groJ3en Rhythmus des Landes spürbar machen mit dem Dreitakt Jura/ Mittelland/Alpen- das Ganze mit einer Grundbewegung von SW nach NO, der sich einordnen die FluJ3laufe der mittlern und untern Aare, der Rhone, des obersten Rheines.· Einpragsam ist darüber hinaus : die Offen­heit des jurassisch-transjurassischen Gebiets im NW auf die oberrheini­sche Tiefebene hin, des breiten Mittellandes nach N überhaupt ; di e Durchbrüche vom Mittelland zu den Alpenpassen : Genfer See - Wallis ( > GroJ3er St. Bernhard, Simplon) ; Berner Oberlander Seen Haslital

[207J 33

Page 2: Hotz

l

( > Grimsel > Gries); Luzern - Vierwaldstatter See - Uri ( > Gott­hard); Zürich- Walensee- Chur ( > Julier; Splügen, St. Bernhardin; Lukmanier); vom Bodensee her die breite Kerbe des St. Galler Rheintals auf Chur hin und wieder auf die ratischen Alpenpasse.

All das prafiguriert bis ins einzelne Verkehrsverhaltnisse, Stra13en­und Wasserzüge bereits des frühen Mittelalters und spater, für deren kartographischen Nachweis etwa Karte 17 des Historischen Atlasses der Schweiz beizuziehen ware1.

b) Abb.2 bringt die strukturelle Kompliziertheit der sogenannten Alten Eidgenossenschaft zur Anschauung, wie sie sich in halbtausend­jahriger Geschichte von 1291 bis 1797 entwickelt hat. Die Schweiz setzte sich zu diesem Zeitpunkt aus folgenden vier Elementen zusammen:

l. souveranen Landern und Stadten: 1111 2. Untertanengebieten einzelner Lander und Stadte: lili 3. sogenannten Gemeinen Herrschaften, d. h. gemeinsamen Unter­

tJanengebieten mehrerer souveraner Orte: m 4. sogenannten Zugewandten Orten2: :=

samt ihren Untertanengebieten2: ==:::

Unsere besondere Aufmerksamkeit gilt schon jetzt der geschichtlichen Situation des Aargaus, die sich als sprachgeographisch relevant erweisen wird. Der spii.tere Kanton Aargau (AG) zerfii.llt bis 1 797 in drei politisch, staatsrechtlich und orien­tierungsmii.l3ig vollig geschiedene Teile : der NW ist osterreichisches Territorium; der SW ist (seit 1415) bernisches Untertanenland; der O ist gemeine Herrschaft von Bern, Zürich und den alten innerschweiz. Lii.ndern : d. h. abwechselnden un d sich bekii.mpfenden Einflüssen von W, S und O ausgesetzt.

Wir vervollstandigen das Bild durch den Hinweis auf die zeitliche Dimension: die Kernlander U ri, Schwyz, Unterwalden haben 1291 als souverane Teilliaber di e Eidgenossenschaft gegründet; Aargau, Thurgau, St. Gallen, Graubünden sind erst 1803 als selbstandige Kantone dazu­gekommen, Wallis gar erst 1815; die übrigen liegen zwischen diesen Extrempunlrten.

e) Die von J. Jun entworfene, von uns nur in einem unwesentlichen Punkt berichtigte Karte der deutsch-romanischen SprachgTenze (Abb. 3)3 veranschaulicht vor allem das Zurückweichen der romanischen Sprache(n)

1 H. AM:MANN und K. ScmB, Historischer Atlas der Schweiz. 1. Aufl. 195 1 . 2 Die mal3stii.bliche Verkleinerung unseres Kartenoriginals lii.J3t den Unterschied

zwischen (souverii.nen) Zugewandten Orten und ihren Untertanengebieten nicht mehr genügend scharf in Erscheinung treten; wir bitten, das stillschweigend be­richtigen zu wollen.

3 J. Jun, Die romanisch-deutsche Sprachgrenze der Schweiz. Vox rom. 8 ( 1945/ 1946), S. 1 08. Die Abweichung betrifft das Gebiet von Appenzell; vgl. hiezu St. SONDEREGGER, Die Orts- und Flurnamen des Ka.ntons Appenzell = BSM VIII ( 1 958), S. XVI ff.; ders., Grundlegung einer Siedlungsgeschichte des Landes Appenzell a.nhand der Orts- und Flurnamen, Trogen 1958, bes. S. 9ff.

1 2081 35

Page 3: Hotz

Dú Eidgenossensdlaft bis 1797 (oknt dit it. und frz.Gtbittr) ruu!! Hi.rt.Atl. d.sdtwrlz 101

Abb. 2

36

Nor d

l

Die romanisch-deutsche Sprachgrenze der Schweiz

Normalvtrb:f.2.3.Ind. Pl. 1:-Jdc-idJ e:-1n(dJ 0:-� �:Labllitãmonr 2:-11-�dH c-il·id/-ii •=·il-id/-id �:1 3: ·t /·tf /-IIMf{llriW

Abb. 3

Abb. 4

37

Page 4: Hotz

von der Nordgrenze des schraffierten Gebiets auf die dick ausgezogene heutige Sprachgrenze.

Das schraffierte Gebiet ist bis zum 8. , 9 . Jh. romanisch: also das heutige Deutsch-Freiburg, das ganze Berner Oberland, das heutige Deutsch­Wallis, grol3e Teile der Innerschweiz, das ganze heutige Deutschbünden samt dem St. Galler Oberland und Rheintal, Liechtenstein: und südlichem Vorarlberg. Die Alemannen haben in den dreieinhalb Jahrhunderten seit ihrem Einbruch (rund 450 bis 800) also nur den néird.lichen Teil des Jura und das Mittelland besetzt, die Alpentiiler dagegen noch kaum betreten.

Der spiitere alemannische VorstoB in die Alpen, vom 9 . Jh. an, zer­reiBt die bis dahin zusammenhiingende Alpinromania in zwei von nun an getrennte Teile: einen westlichen frankoprovenzalischen und einen éistlichen lombardischen bzw. riitoromanischen.

Die schraffierten Gebiete, diese altromanischen Rückzugs-, Substrat­und zweifellos auch Symbiosegebiete, decken sich weithin nicht nur mit dem alten vorgegebenen morphologischen Faktum ,Alpen", sondern auch mit dem jüngern sprachgeographischen Faktum unsrer heutigen héichst­alemannischen Reliktgebiete.

2. Die sprachgeographische Grundstrulctur

(Abb. 4)

Von paradigmatischer Bedeutung für die riiumliche Grundstruktur des Schweizerdeutschen ist immer noch das Kriterium, das forschungs­gescbichtlich mit den Namen BossHART und ScHILD verbunden ist, dessen punktgenaue kartographische Darstellung aber erst BANGERTER

geleistet hat: di e Fonnenbildung des Plumls der N ormalverben1• Es geht dabei kurz gesagt darum, daB der alte Dreiformenplural des

Ind. Praes., wie wir ihn aus dem klassischen Ahd. und Mhd. kennen, teils bewahrt, teils abgebaut wurde - letzteres zudem in verschiedenem G rade: teils auf zwei Formen, teils auf eine. Unsre Karte zeigt, in radikaler Profilierung auf das morphologische Hauptproblem, die entscheidenden sprachgeographischen Fakten: im Wallis: Bewahrung des alten Drei­formenplurals mit Formen wie -ef-etf-unt, -ent (also iilter als manche mhd, Denkmiiler und iilter als Notker); im W esten (und bei den Bündner Walsern): Abbau auf zwei Formen: --al--adi--a bzw. --al-idl--a bzw. lil-idl-i1; im Osten: Abbau auf eine Form: --adl--adl--ad, -idl-idl-id2•

1 J. BossHART, Die Flexionsendungen des schweizerdeutschen Verbums. Frauen­feld 1 888. P. ScHILD, Rezension des Vorang., Literaturbl. 1 889. A. BANGERTER, Die Grenze der verbalen Pluralendungen im Schweizerdeutschen = BSM IV ( 195 1 ).

1 -if-idf-id in Lungern (UW) setzt den Notkerachen Zweiformentypus in der Form der Engelberger Benediktinerregel fort.

2 Dazu als Sonderfall der Typus ·'Jf·'Jf·'J von Basel-Stadt.

38 [209]

AuBer der Reliktstellung des iiuBersten Südens (Wallis) und dem GroBgegensatz WestiOst interessiert uns im jetzigen Zusammenhang einzig noch die ostliche Sonderform des altriitoromanischen Gebiets zwischen Walensee im W, dem Hirschensprung im N und Chur im S: -<m(d)l -<m(d)l--an(d) - und dies nur darum, weil man bei der Deutung dieses allen regionalen Lautgesetzen ins Gesicht schlagenden Typus an Zusam­menwirken von riitoromanischem Substrat mit kanzleideutschem Super­strat in der besonderen Situation dieser spiitgermanisierten Striche denken kéinnte1•

Reliktstellung des SüdensiWestostgegensatzlromanisch-deutsche Sym­biose: damit sind die Hauptgegenstiinde der folgenden Ausführungen am konkreten Beispiel exponiert; wir wenden uns ihnen jetzt im einzelnen zu.

3. Die hOchstalemannische Reliktstaffelung

(Abb. 5-15 )

Karte 5 setzt nochmals beim dreiformigen Verbalplural an, kombiniert ihn mit zwei andern Relikt-Erscheinungen und versteht das Ganze als internschwzd. Reliktstaffelung�.

Die Nordlinie des dreiformigen Verbalplumls (l) steht repriisentativ für eine ganze Gruppe weüerer südlichster Relikte mit Beschriinkung aufs Wallis uud seine Kolonien (vor allem die süd.lichen im Piemont und Tes­sin); ich darf stichwortmiiBig an Wichtigstes erinnern: di e volle Erhal­tung der ahd. Endvokalskala (wenigstens in qualitativer Hinsicht); damit verbunden: die weitgehende Bewahrung der ahd. Verbalklassen­unterschiede, z. B.: . filln ,füllen" (Kaus.) l jullu ,stopfen" (intens.) 1 ( iir-) follii , voll werden" (in eh.) = ahd. fullenlfollônlfollên; bewahrte Kasus-Unterschiede z. B. im Pl. der ã-Stiimme: TagaiTagoiTagu(n)l Taga; bewahrte Umlautlosigkeit im PI. der Subst. auf nhd. -el, -er: Nagla, Hobla, Achm, Hammm; bewahrte Umlautlosigkeit im Pl. der Praet.-Praes.: im Wallis wie1· gunnulier gunnedlschi gunnund; in den Südkolonien auch sonst: z. B. wier turfu(n), wier muossu(n); bewahrter Rückumlaut: ii1· isch gsatztii ,er ist gesetzt", d M atta isch gmãti ,di e Wiese ist gemiiht", dr Sack isch gfulltii ,der Sack ist gefüllt", iir isch

1 Vgl. Verf. in der FESTSCHRIFT JUD = Rom. Helv. 20 ( 1 943), bes. S. 498f. 2 Der Aufsatz von E. IútANZMAYER über .,Die Sprachaltertümer in den Mund­

arten der Tiroler Hochtiiler" (ZfM 27, 1 70ff.) wie auch seine jüngste Schrift über .,Die bairischen Kennwiirter" (Wien 1960) lassen es als wünschbar erscheinen, unsre .,Hiichstalemannismen" einmal systematisch mit den .,bairischen Sprach­altertümern" zu vergleichen : viele von IútANZMAYERS Kriterien kiinnten ebensogut in einem erweiterten Inventar unsrer Hochstalemannismen figurieren. Ich habe den sehr bestimmten Eindruck, dal3 sich diese beiden südlichsten Landschaften bei solcher Blickrichtung zu einer einzigen .,hiichstoberdeutschen" Reliktzone verbinden liel3en.

[2101 39

Page 5: Hotz

gstõrta ,er ist gestort", dr Strimpf isch gibuaztii ,der Strumpf ist ,ge­büezt' (geflickt)'' ; Bewahrung d er Formen du solt, du wilt; syntaktisch: Bewahrung des Genitivs in einem Umfang wie nirgends sonst in der Schweiz, z. B. ar isch dr Beinu unmegndii ,er ist seiner Beine nicht mehr machtig"1.

Unerschüttert steht freilich diese ganze archaische Herrlichkeit nicht mehr. Unsre Karte bezeugt im obersten Wallis eine Einbruchslinie modernerer Formen, die auf unzahligen andem Blattem des SDS greif­bar wird: es ist einer der alten Einwandererwege der Walliser selbst, Haslital-Gi-imsel-Goms, auf dem nordliche jüngere Formen seit langem nachstoi3en. Gefahrlicher ist heute wohl der innere Umbruch, dem das Wallis durch den verspateten, aber um so ungestümern Ansturm der Industrialisierung und Kommerzialisierung, durch den brüsken Übergang von volliger wirtschaftlicher Autarkie, einem selbstversorgenden Mehr­zweckbauemtum, zu moderner Geldwirtschaft seit etwa zwei Jahrzehnten ausgesetzt ist und der es wirtschaftlich, soziologisch, religios, brauchtum­lich in einen Wirbel reii3t, dessen Folgen noch nicht abzusehen sind -und der auf jeden Fall die Sprache nicht unangetastet laBt. Das Wallis erscheint heute in seinem geistigen und also auch sprachlichen Erbe unmittelbarer bedroht als manche scheinbar exponiertere Landschaft sogar des Mittellandes, der eben in jahrhundertelanger Auseinander­setzung mit Andersartigem mehr Zeit gelassen war, sich in bewahrter Haltung einen eigenen Stil vermittelnder Anpassung zu schaffen.

Unproblematisch ist die klassische Linie der Hiatusdiphthongienmg bzw. -nichtdiphthongierung (2): südl. bewahrtes schnt-afbü-afdl-a gegen nordl. diphthongiertes schnei-a f bou-a fro11:a.

Wir halten immerhin fest die Tatsache, dai3 im NO ( Appenzell, schrag schraffiertes Gebiet) noch vor hundert Jahren die Reliktbasis nachweisbar breiter war (also sicher Relikt und nicht etwa Vorstoi3 von S !}2 - und zweitens, dai3 heute im SW phonetische Übergangsformen einen Druck nordlicher Sprechweise anzudeuten scheinen, der die Reliktbastion des Bemer Oberlandes in absehbarer Zeit aufbrechen konnte3• Die Diphthon­gierung in Engelberg und ostlichem Unterwalden (UW) sowie im bünd­nerischen Schanfigg (ostl. von Chur) trifft i, ú, 1! auch in vorkonsonan­tischer Stellung (Zçit, Hpus, Hpüser), steht also offensichtlich in ganz andem Zusammenhangen als die Hiatusdiphthongierung. Im spat­germanisierten Schanfigg (i5.fl6. Jh.) konvergiert sie auffallig mit alten

l Vgl. W. liENZEN, Der Genitiv im heutigen Wa.llis. PBB 56 ( 1932), 91-138. 2 V gl. St. SoNDEREGGER, Die Orts- und Flurna.men des La.ndes Appenzell =

BSM VIII ( 1 958), S. 204ff. 3 Gena.ueres hierüber bei P. ZINSLI, Berndeutsche Munda.rt (Berner Sta.a.tsbuch

1957), s. 1 0 0 f.

40 [211]

Entwicklungen des einst auch hier gesprochenen mittelbündnerischen Riitoromanischen (lup- >louf J; romanisches Substrat ist für mich gegen alle modische Abwertung des Substrats in diesem Falle vollig unbe­zweifelbar. Das Lautsystem von Engelberg geht durchwegs hochst merk­würdige, für schweizerische Ohren verdachtige Wege und wird dereinst, we1m alle SDS-Karten vorliegen, gesamthaft von der Klostergeschichte her zu beurteilen sein.

Von der Rückzugslinie des unverdumpften langen â vor verdumpftem 9 bzw. ij (3) gibt MAURERS Karte ,schlafen" (Oberrheiner, Schwaben, Südalemannen K. 80) mit der weit nach Norden ausholenden Aus­buchtung, die unsre Abb. bloB strichelt, und gibt seine Deutung derselben als stehengebliebenen Reliktpfeilers ein Bild, das ungefahr allem wider­spricht, was wir vom sprachlichen Habitus dieser Landschaft sonst wissen.

Tatsache ist freilich, dai3 heute weite Bereiche des Kantons Zürich (ZH) Werte Ílmerhalb der nicht oder wenig verdumpften ã-Skala haben; die b'etr. Schreibw1gen des DSA-Materials sind zweifellos richtig, und Maurers Linienführung erscheint synchronisch durchaus verstandlich. Falsch ist aber seine Deutung. Wir verfügen heute über ein Relikt­material von 9-Lautungen, das mit letzter Schlüssigkeit zeigt, dai3 einst der ganze Kanton Zürich dein Verdumpfungsgebiet angehorte (vgl. unten S. 222); dafür spricht auch eine Reihe von falschen Regressionen. Das heutige Bild ist also das Ergebnis einer Verdrangungsbewegung, welche die als besonders liindlich empfundene 9-Lautung (H9r, Str9ss) durch ein- mehr oder weniger gelungenes- ,reines" ã ersetzt: zunachst in der Stadt Zürich, diesem Scbmelztiegel neuzeitlicher Bevolkerungs­mischung, dann aber auch, nach ihrem Vorbild, in der nahem und femem Umgebung. Wenn wir den Fall so deuten- und die Materialien zwingen uns dazu -, gliedert sich die rekonstruierte Nordlinie des nicht verdump­fenden alten Reliktgebiets von ã mühelos dem übrigen Bild der hochst­alemannischen Reliktstaffelung i. e. S. ein: als deren im ganzen genom­men nordlichste Staffel allerdings.

Die Fortsetzung dieser südwestdeutschen Reliktstaffelung nach N ist durch MAURERS Buch hinreichend bekannt: MA.URER K. 32 (bisfsei): Südalem. gegen Oberrhein. + Schwab.

27 (Iis/Eis): Südalem. + Oberrhein. gegen Schwab. 20 (BruederfBruder): Südalem. + Oberrhein. + Schwab.

gegen Frank.

Abb. 6 vereinigt eine Gruppe von Fiillen, die entweder nicht mit Sicherheit oder mit Sicherheit nicht als Rückzugsformen von altgerma­nischer oder wenigstens altdeutscher Ausgangsgeltung zu betrachten

[212] 41

Page 6: Hotz

R.elíktstaffrLuf18

Abb. 5

Stafft'lung von sonstigen Hõdutalnnannismen

3 '""'""'"-· ......... ,,

2•••••···,_ .......

Abb. 6

42

sind, sondern als R'llckzugsformen von hOchstens oberdeutschem, z. T. nur alemannischem, z. T. wohl nur s1ldalemannischem Ausgangsbereich.

Den Sinn dieser Gruppierung wolle man zunachst ganz schlicht in Erganzung und Vertiefung der vorangehenden Karten sehen. Unsere neuen Falle zeigen entweder fast vi:illigen Gleichlauf mit den bereits besprochenen; oder sie umspielen diese geographisch in einer Weise, welche ihre geschichtliche Einordnung in den Gesamtproze/3 des alpin­sprachlichen Reduits offenkundig macht.

Die Problematik des südlichst11n Falles (l :-rnf-n: gãnfgãrn) sei n ur gerade gestreift. Sie führt über südalemannisches Gebiet tief in gesamt­alemannische (auch schwabische) und bairische Zusammenhange und, wie Bohnenberger andeutet, wohl sogar darüber hinaus. Die Vermutung Bohnenbergers einer Rückzugsbewegung West> Ost wird durch die schweizerischen Verhaltnisse nicht besonders nahegelegt: in unserm Rahmen ist es ein klarer N /S-Gegensatz mit d em unverwechselbaren Vorzeichen der alpinen Rückzugserscheinung.

Die sowohl bei BoHNENBERGER (Die alemannische Mundart. Karte, Linie 22) als bei BANGERTER (BSM IV, Karte III, Linie l) als starre Linie eingezeichnete Front ist heute an entscheidenden Punkten in Bewegung. An der West- wie an der Ostfl.anke registriert unser Atlas-Material einen scharfen Druck von N orden: im Berner Oberland zeigen die Taleingange und Talsohlen in unmi13verstandlicher Weise die typischen Rückzugs­meldungen (,altmodisch, früher üblich, unfein"); im Ohurer Rheintal halten sich die alten n-Formen zwar in den Adverbien (,gern, fern [ = voriges Jahr], morn [ = morgen)"), verschwinden dagegen oder sind schon verschwunden in den einschlagigen Substantiven (, Garn; Dorn, Horn, Kom"). Fast unberührt steht die alte Grenze in ihrem innerschwei­zerischen Zentralstück, in den Kantonen Uri, Schwyz, Unterwalden, Glarus; hier bereitet sich, zusammen mit dem Wallis, für unsern Fall eine allerletzte Reliktstellung vor.

Die Problematik der beiden andern Falle (2: trich'iJftrinkch'iJ; 3: t01lf/ ti'iJf, tu f) ist im Folgenden Gegenstand besonderer Darlegungen; im vor­liegenden Zusammenhang sei lediglich der von Fall zu Fall weiter ni:ird­liche Grenzverlauf und insbesondere das extreme Bild des Falles 3 fest­gehalten.

Besondern geschichtlichen Durchblick vermittelt die Detailkarte zu unserer zweiten Linie (Abb. 7): ni:irdlich trinkch'iJ gegen südwestlich trich'iJ, trech'iJ, mit n-Schwund auf hi:ichstalemannischer Lautverschiebungsstufe Spirans, wie sie noch durch die piemontesischen Walserkolonien mit trinchii u. a. bezeugt wird.

12131 43

Page 7: Hotz

Abb. 7

44

Das durch Umrahmung herausgehobene Gebiet insgesamt umschreibt den heutigen zusammenhiingenden riiumlichen Bestand der hochst­alemannischen trich'iJ- (trech'iJ-) Lautung: Wallis, Freiburg, Bern ohne seinen nordlichen Rand. Das gilt auch für die meisten andern einschlii­gigen Worter mit normal-hd. -nk(-).

Mit Haklein (A) eingezeichnet sind Relikte der hochstalemannischen Lautung vor allem im ON- bzw. Fln.- und Bergnamenschatz (bes. ,Bank" und ,Winkel"). Sie erlauben uns, einen iiltern Geltungsbereich der hochstalemannischen Form zu rekonstruieren: mit ihnen kommen wir auf eine Linie, deren Gleichlauf mit unsern bisherigen Hochstalemannis­men so evident wie eindrucksvoll ist. Der ganze Ostpfeiler ist in diesem Fall also eingestürzt - mit Ausnahme eines Teils der Bündner Walser­mundarten, wovon noch zu reden sein wird.

A b er au eh der W estpfeiler scheint bereits unterhohlt. Vollen Bestand der alten Formen wahrt einzig noch das Wallis (und Teile von Freiburg). Im übrigen SW zeigt z. B. das Wort ,Anken' (Butter) schwere Einbul3en: die alte Lautung - Aach'iJ, Attch'iJ - ist entweder vollig verdriingt oder n ur no eh in Relikten erhalten; die gemeinschweizerdeutsche Form dieses Marktwortes ,Ankche' (mit Affrikata und bewahrtem n) dringt heute unwiderstehlich auch in den alpinen Raum ein.

In Gmubünden haben die grol3en Pal3stral3en im SW (Splügen, Bern­hardin) die alte walserische Einheitsfront auch bei den übrigen nk­Wortern seit langem aufgerissen und lassen den einstigen Zusammenhang nur noch in Relikten fassen.

Die Abb. 8/9 nehmen das Thema von Staffel 3 unserer Abb. 6 auf: altobd. iu in Wortern wie ,Fliege/Griebenjtief". Alles Wesentliche hier­über ist in dieser Zsch. 27 S. 65-81 gesagt. Im gegenwiirtigen Zusammen­hang sei einzig festgehalten der ungewohnlich weite ,hochstaleman­nische" Rahmen, der im Falle ,tief" mit der Lautung oit (bzw. deren Spro13lingen oi, ei, iiü, ai, ó) gegeben ist - und der gewaltige Einbruch der no-schwzd. Form ü im Falle ,fliegen", wo innerparadigmatische Entwicklung im Begriff ist, den ht:ichstalemannischen Raum bis auf wenige schmale Randfetzen zn zersetzen.

Mit Abb. 10 soll darauf hingewiesen sein, da13 auch syntaktische Phiinomene im Spannungsfeld der nordsüdlichen Reliktstaffelung stehen.

Di e Flektiertheit des priidikativen Adjektivs ( ii1" isch altiijsi isch altijes isch alts) steht südlich der durchgezogenen Linie noch in voller Vitalitiit. Der Grenzlinie vorgelagert ist ein verschieden tiefer Bereich zunehmender Anfiilligkeit an die nordschwzd.-gemeindeutsche Unflektiertheit.

12141 45

Page 8: Hotz

tief

Abb. 8

Abb. 9

46

\ . . ·i : \\

Legende: x= oLái 0= ú ll. = íe

...........

Die Relikte im NO (deren Bereich in Wirklichkeit eher noch etwas grol3er sein dürfte) zeigen das Stigma erstarrter Verwendung einer unrichtigen Form: namlich des Mask. für alle 3 Geschlechter, z. B. si isch hungrigii statt si isch hungrigi1• Die Übereinstimmung mit den frühnhd. Relikten der Flexion des Pradikativs und deren einzigem nhd. Relikt ,voller" (sie ist voller Mut) ist frappant. Sie erweist - über den Sonderfall hinaus bedeutsam- den Ablaufmechanismus des strukturellen Abbaus als nahezu gesetzmal3ig.

Die hochstalemannische Rückzugsstaffel, von der bisher anhand von laut- und formengeschichtlichen und -geographischen Befunden die Rede war, wird bestatigt und erganzt durch die W ortgeographie, von der die Abb. 11-15 einen Begriff geben mogen.

a) Abb. 11. Für den Begriff nhd. , Tante" hat fast die ganze d�mtsch­sprechende Schweiz die al te Bezeichnung der Vaterseite verallgemeinert: ,Base (Basi)", das heute seinerseits durch ,Tante" verdrangt zu werden beginnt, vor allem in den stadtischen Zentren und ihren Ablegern. Allein das Wallis, seine südlichen Aul3enorte und einzelne Bündner Walserorte sind den andern Weg gegangen und bewahren mit ,Muhme" die alte Bezeichnung der Mutterseite2•

b) Abb. 12. Komplizierter liegen die Verhaltnisse beim Begriff nhd. ,Onkel" . Au eh hier hat si eh z w ar im Reduktionsprozel3 des alten vier­gliedrigen Wortfelds im Schwzd. fast allgemein die alte Vaterseite durch­gesetzt: , Vetter", wieder mit zunehmender Überlagerung durch das modernere , Onkel".

Im Süden ist aber die alte Doppelheit gerade noch greifbar im Pomat (nordl. von Domodossola) mit

,Ohi' = Onkel mütterlicherseits ( = ôheim) ,Ettru' = Onkel vaterlicherseits ( = *attiro 1).

Das mu13 einst auch im Wallis gegolten haben, der alten Heimat dieser Südsiedler. Hier hat sich im spatern Vereinfachungsprozel3 (nach 1200) dann aber ,Ettru' für beide Seiten durchgesetzt, ebenso an den meisten andern Südorten, in Graubünden wieder nur in den beiden am meisten archaischen Walserkolonien Vals und Obersaxen. Dal3 diese Losung einst weiter verbreitet war, zeigen die beiden relikthaften Vorkommnisse von ,Etter' in Bern (Saanen) und Freiburg (Jaun). In Graubünden ist sonst - wie übrigens auch im tessinischen Bosco Gurin - die andre Einh.eits­losung üblich. geworden: ,Oh.i'.

1 So vor a.Uem im sog. priidika.tiven Attribut (,sie ist hungrig weggega.ngen"). 2 Zur wortfeldrr.af3igen, soziologischen und riiumlichen Entwicklung dieses wie

des folgenden Begriffs vgl. E. E. MÜLLER, Die Ba.sler Mundart im ausgehenden Mittelalter (Bern 1953), S. 1 82-1 88.

(215) 47

Page 9: Hotz

Nontyrmu dtr Fliktímhtit dts prãd . • ; llbtndigt Rlstt dts fltkt. Adj. A: mfllrrtt Ra!t dtsfltkt.Adj.

O � 'O 1S 10 ISKM

Abb. 10

Vorkommen von 'Muhmr'=_Tantr"

Abb. 11

48

-

Abb. 12 Nordgrmze von 'Nõss'

Abb. 13

49

Page 10: Hotz

Schlief3lich fassen wir mit den beiden Vorkommnissen von ,Barba' in Saley und Rimella (beide im Piemont) einen Zipfel des gewaltigen Ro­manisierungsprozesses, der diese Auf3enposten unaufhaltsam aushohlt.

e) Abb. 13 : ,Nõss' . Das Wort, das wir z. B . aus Notker kennen (smale­nÔJJer ,Schmalvieh") und das hier im Hochstalemannischen in ver­schiedenen bedeutungsgeographischen Auspragungen um den semantischen Kern ,junge weibliche Ziegefjunges weibliches Schaf" kreist, interessiert uns in diesem Zusammenhang lediglich als wortgeographischer Refl.ex un­serer mittleren Rückzugslinie, etwa auf der Hohe der garn-/mõro-Formen.

d) Abb. 1 4 : ,Frühling" . Im (auf unserer Karte leergelassenen) nord­schwzd. Gebiet gilt heute der nhd. Worttypus ,Frühling" (als ,Früelig' u. a.) . Daf3 auch hier einst andere Typen gegolten haben, wird durch Worterbuchangaben, z. B . Id. XII 815, nahegelegt. Diese andern Typen stehen heute i m R ückzug vor d em modern -schriftsprachlichen W ort : E s sind die auch aus andern deutschen Reliktgebieten bekannten ,Austag' (Ustag, Ustig u. a.) im W und ,Langsi' im O. Die Gesamtrückzugslinie von ,Austag' und ,Langsi' gegenüber ,Frühling" entspricht fast genau derjenigen von ,touf' gegenüber ,tief' und vor allem ,túf' (Abb. 8)1.

Wir weisen am Rande auf ein paar Sonderprobleme unsrer Karte. ,Lanzig' im Grenzgebiet zwischen innerschwz. ,Langsi' und nordschwz. ,Früelig' (Schwyz = SZ, Glarus = GL) scheint typische Grenz-Mischform zu sein, wobei eine zunachst zu erwartende Form *Langsig durch Dis­similation zu ,Lanzig' geworden ware. - Unterwalden (UW) hat, wie wieder Worterbuchbelege sichern (Id. III 1339}, den Typus ,Langsi' ebenfalls gekannt, womit er bei der nicht seltenen Konstellation Unter­walden = ostliches Berner Oberland (Hasli) = oberes Deutschwallis au eh für Hasli zum mindesten vermutbar wird : Es hat te ihn, wie so manches, unter gesamtbernischem Druck aufgegeben. Im Zusammenhang damit und mit vielen Parallelfallen bekommt die Zweiteilung des Wallis (WS}, die sich in den norditalienischen Walserkolonien des Piemont in so pragnanter Form fortsetzt und damit als sehr alt erweist, besondere Problemscharfe : Die Forschung wird bald einmal das ganze Berner Oberlander und Walliser Siedlungs- und Germanisierungsproblem neu überdenken und die Moglichkeit eines doppelten Einwanderungsweges Gemmi/Grimsel ernsthaft ins Auge fassen müssen, eventuell sogar mit zeitlicher Prioritat der Gemmi2•

l Die seither von H. WANNER, ZfM. 27, S. 141 , publizierte Kartenskizze ermõg­licht es nun, wenigstens ein Stück des Regressionsvorgangs unmittelbar zu greifen.

2 Vgl. schon H. U. RÜBEL, Viehzucht im Oberwallis = BSM II (1950), S. 143. Ich freue mich, da/3 Herr Kollege H. BÜ'rrNER als Historiker zu ganz ii.hnlichen Schlüssen gelangt ist, worüber ich mich mit ihm im Anschlu/3 an meinen Vortrag und seither mehrfach unterhalten durfte, vgl. seinen Aufsatz in diesem Heft S. 193 ff.

50 [216J

Frühlang �� 'Ustug' u.ã. e 'Lanasi' • 'L . ,

O,Qvt::J

Abb. 14

Abb. 1 S

51

Page 11: Hotz

e) Abb. 15: ,rasten". Die sprachgeographische Verwandtschaft mit der vorangehenden Abb. springt in die Augen: auch hier die Zweiteilung des Reliktgebietes, das als solches nun freilich insgesamt kleiner ist. West­liches ,lüije' und ostliches ,(g)hirme', die sich wieder im Wallis fortsetzen - in den Südorten allerdings nur zum Teil -, weichen vor vielfaltigen Varianten von ,rueje' ,ruhen" zurück. Die im Falle ,Langsi' zum Teil rekonstruierte, zum Teil nur vermutete raumliche Kontinuitat Unter­walden - ostliches Berner Oberland (Hasli) - deutsches Oberwallis ist hier augenfallige Tatsache.

Beide Karten zusammen belegen anschaulich die Existenz einer eigentlichen Gotthard-Sprachlandschaft, die sich uns auch sonst zu­sehendb kristallisiert: in ihrem lautlichen Habitus z. B. durch Palatali­sierung und Entrundung (die benachbarten romanischen Mundarten nicht fremd sind); in ihrem Wortschatz, wie wir noch sehen werden, durch Rahmenbildung für lombardische Einfl.üsse. Besondere Beharrlichkeit im Bereich der alten südalemannischen Mundarten und besonders enge Bindungen nach S (und W) schaffen hier einen Mundarttypus eigenen Profils.

Zur Begrijndung dieser Reliktstaffelung als Gesamterscheinung ist schon immer, und gewi.3 mit Recht, auf den morphologisch-topographisch gegebenen Gegensatz zwischen alpinem und voralpinem Gebiet hinge­wiesen worden, wie er auf Abb. l in Erscheinung tritt; was damit an siedlungs- und verkehrsgeschichtlichen, politischen, kulturgeschichtlichen und psychologischen Schichtungen und Bindungen zusammenhangt, ist auf S. 68 des votigen Jahrgangs dieser Zeitschrift anzudeuten versucht.

4. Der W estfOst-Gegensatz

(Abb. 16--19)

Mit den letzten Abbildungen des vorangehenden Abschnittes ist ein Problem mitberührt, das in der Diskussion über die Raumkonstanten der schwzd. Sprachlandschaft schon früh eine Rolle spielt. BACHMANN

hat gemeint, der Gegensatz WestfOst stehe an Gesamtbedeutung hinter dem NordfSüd-Gegensatz weit zurück; wir glauben heute, das Karten­gesamt des SDS werde dereinst das Gegenteil belegen.

Freilich sind wir noch nicht so weit, das jetzt schon beweisen zu konnen. Die Karten des ersten Bandes des SDS werden aber zeigen, da.3 phoneti­sches Inventar und phonologische Struktur von Westschwzd. und Ost­schwzd. tief verschieden sind; au eh Morphologie und Syntax bestatigen das alte Bosshartsche Beispiel (s. o ben S. 209 und Abb. �) immer aufs neue.

52 (217]

Rückenlraggefãss fürMilch

vs

-­_..,_

Rücks�and beim Bu��ereinsieden

... YS

.t. ...

... ...

...

-_ "---..: __. Brãnfe

Branfe � Tt4!fel � wOlübli

l ! 111 Tause 1•1•1 �;Búd<i.fl(dre� Brán� ... ChUbli l t J Tause•Olübli ãterTlJ)Jrel

Abb. 16

0.. '\: Anggmhã.írede :•:•:• Anketruese

l li l AnkelgJiüure • Gaãrnooss

- Aachschum \.. '\: Trüemig + Buttere

O Oichfeim

.A. Gsigg

'/ /, Feula

- Gsaãs

O Parangge

Abb. 1 7

53

Page 12: Hotz

Da13 entscheidende Wortschatzgegensatze in dieser Achse liegen, hat schon MAURER gesehen und belefi;, ist vorhin mit den Fallen ,Frühling" und ,rasten" nebenbei in Erscheinung getreten und wird gleich durch weitere Beispiele gestützt werden. In der schweizerischen Volkskunde scheint der Westjüst-Gegensatz sogar die einzige Achse von bedeutender Konstanz zu sein1. Wir beschranken uns im folgenden aus Mangel an umfassenderem publikationsreifem Material auf vier grundsatzliche Beispiele.

Abb. 1 6/17 sollen ganz elementar den Gro13gegensatz Westjüst an zwei eingangigen wortgeographischen Tatbestanden veranschaulichen. Eine ausführlichere Besprechung dieser beiden Karten ist gegeben im Atlas zur Geschichte des Kantons Zürich von P. Iü.A.ur und En. brnoF, Zürich 1951, S. 65-67. An dieser Stelle sei, vorgreifend, nur der betrachtliche Anteil romanischen Wortguts am Aufbau der schwzd. Sprachlandschaft festgehalten. Der westliche Haupttypus auf Abb. 16, ,Brante', ist ein ursprünglich galloromanisches Wort, das sich jenseits der deutsch­franzi:isischen Sprachgrenze in der romanischen Westschweiz fortsetzt2-ob es in der deutschen Schweiz Substrat oder Infiltrat ist, la13t sich vor­laufig nicht entscheiden. Auf Abb. 17 ist mit dem i:istlichen Haupttypus

, (G)lüüre' ein altes latino-romanisches Etymon im Spiel (vgl. Id. III 1378), dessen Alter die betrachtliche Tiefe des W/0-Gegensatzes bezeugt und dessen Geschichte zu schreiben zu den verlockenden Aufgaben europaischer Wortgeographie gehi:irt ; mit dem bündnerisch-st. gallischen ,Feula' ist auf der gleichen Karte eine ebenfalls romanische, aber geo­graphisch wie chronologisch ganz andere Schicht angeschnitten. Nicht zu übersehen ist auf beiden Abb. die prachtvoll klare walserische Siedelbahn WS> GR.

In Abb. 18 kombinieren wir fünf WJO-Gegensatze absichtlich ver­schiedener Substanz : lautliche (Linie 3), morphologische (L. l, 2), lexika­lische (L. 4, 5) . Sie zeigen die Breite und Tiefe des Gegensatzes. Im Schwingungsfeld dieser Achse liegt der ganze Kanton Aargau, aber auch Luzern und ein betrachtlicher Teil der Innerschweiz mit Zug, Uri, Schwyz, Unterwalden. Wir sind nicht erstaunt, hier auch im einzelnen eine betrachtliche Labilitat zu finden, von denen die Blatter des SDS immer wieder Zeugnis ablegen werden : so in einem tiefen Grenzsaum der BossHARTschen ,Flexionslinie" ein Labyrinth von Pluraltyp-Mischungen, allerdings mit deutlich erkennbarem Zug von O nach W, in der Richtung auf die ,gehen"-Pluralgrenze zu (s. Abb. 4, schraffiertes Gebiet im AG) ;

1 R. WEISS, Die Brünig-Napf-ReuSB-Linie als Kulturgrenze zwischen Ost- und West-Schweiz auf volkskundlichen Karten. Geogr. Helv. II S . 153ff.

2 V g!. Glossaire des Patois de la Suisse romande II, S. 802 (mit weitern bibi. Verweisen und Karte).

54 [218)

---- ----------,.

Abb. 18

Abb. 19

55

Page 13: Hotz

oder in einer breiten Zone zffischen Aare und ReuB eine im Schwzd. sonst durchaus ungewohnte Unsicherheit in der Form des unbest. Art. M. F.­wieder mit offensichtlichem Druck von O nach W; oder ,unerlaubte" Vokalisierungen von einfachem l in zffischenvokalischer Stellung (si�<J ,schielen") am Ostrand des einstigen bernischen Herrschaftsbereichs -und aus diesem heraus ostwarts drangend.

Abb. 1 9 zeigt wieder die Sonderstellung vom Paradigma her in Be­wegung gesetzter, in Unruhe geratener Verbalformen: in diesem Fall des Infinitivs der stk. Vbb. II mit dentalem Stammausgang. Der Schwin­gungsbereich zffischen ostlichem, nach dem Sg. ausgleichendem ü-Para­digma und westlichem, nach Inf. und Pl. ausgleichendem ie-Paradigma zeigt hier ganz andere Dimensionen als beim Normalbild von Abb. 1 8: Wahrend der Fall 1 (schi<Js8'djschüss<J) noch einigermal3en in der normalen Schwingungszone verlauft- allerdings auch schon mit einer ungewohn­lichen und in ihrer Richtung symptomatischen Protuberanz der Ostfront nach W, zwischen ReuB und Aare -, halt im Fall 2 (si<Jd<Jjsüd<J) alles, was sonst unentschieden und ffiderspruchsvoll erscheint, zum Osten : ni eh t nur der ganze Aargau und ganz Luzern, sondern auch samtliche Ur­

kantone (UR, SZ, UW), mit einer WfO-Grenze, die streckenweise - z. B. im Kanton Luzern - noch etwas westlicher verlauft als die westlichste unseres bisherigen Bündels ; im Fall 3 ( mrli<Jr<J Jmrlür<J) ist au eh di ese Schranke durchbrochen, und zwar so radikal, daB vom alten Í<J-Bereich nur je ein Reliktstück im N und im S übrigsteht. Einzig in Graubünden stoBen W-Typus und 0-Typus in allen drei Fallen mit fast lückenlos gebündelter Geschlossenheit aufeinander : als koloniales Walserdeutsch und spates Ostschweizerdeutsch.

Wir brauchen rncht weitere Beispiele zu haufen, um die Wirklichkeit und Geffichtigkeit des W /0-Gegensatzes zu belegen .

Für die a1tf3ersprachliche Begründung dieses Gegensatzes stützt sich die schweizerische Forschung immer noch am liebsten auf die absolut durch­sichtige Territorialgeschichte von 1415 bis 1797 ; s. o ben S. 208. Diese macht nicht nur den Gegensatz zffischen Bern und Zürich verstiindlich,

• sondern auch den zffischen einem relativ gro13flachigen Westen und einem oft aufgesplitterten Osten ; und si e laBt vor allem den typischen und für das Gesamtbild so konstitutiven Schwingungsbereich um Aare und ReuB voU verstehen.

Wir leugnen 1úcht, daB unter diesen territorialen Rahmenbildungen andere, altere liegen kom1en ; di e Dichte und Tiefe der sprachlichen Gegensatze scheint solche Annahme sogar nahezulegen. Wir sind aber der entschiedenen Meinung, daB sich die Befassung mit weitgehend spekulativen Gro13en in diesem Fall erkenntnismaBig nicht lohnt. Die

56 [2HJ]

vielberufene Ostgrenze von Burgund etwa, die man für die Jahrtausend­wende an die Aare-Reu13-Linie zu situieren pflegt (Hist. Atl. d. Schw. K. 14), ist sicher nie Volkstums- und Sprachgrenze in dem Sinn gewesen, da13 sie als Substrat für unsere heutige sprachliche W/0-Schranke ernst­lich in Betracht gezogen werden konnte1. Und die Karte der deutschen Gaue im 10. Jh. {MAURER K. 6) la13t in berechtigter Beschrankung auf ungefahre Siedlungs-Raume gerade südlich des Rheins so viele unent­schiedene, ,gau-freie" Gebiete, daB damit etwa für den in unserem · Zu­sammenhang so ffichtigen Gegensatz Aare- GauJThur-Gau ungefahr alles und nichts beffiesen werden kann - ganz abgesehen von der grundsatz­lichen Frage, ob und ffieweit diese Gaue (und selbst die allenfalls damit verbundenen Stamme) jemals melu als politische Zweckverbande waren und als solche ihrer Zusammensetzung und Herkunft nach weitgehend heterogen2•

MAURER hat an einigen eindrücklichen Karten die Aare-ReuB-Schranke als Fortsetzung der Schwarzwaldschranke dargestellt : gewissermaBen als Weitergleiten der oberrheinisch-schwabischen Gegensatze der Schwarz­wald-Achse entlang und in der durch sie gegebenen Richtung ins Süd­alemannische hinein. Ich glaube nicht mehr an die Verla13lichkeit dieser faszinierenden Kombination. Die Richtungs-Identitiit der beiden Schran­ken als solcher ist und bleibt zwar frappant. Aber der eigentliche sprach­liche Gehalt der von MAURER suggerierten Gleichung erweist sich, genau besehen, als doch recht dürftig. Von den rund 1 5 Gegensatzen der Schwarzwaldschranke, die MAURER (Oberrheiner S. 2 1 1 ) zusammenstellt, setzt sich ein einziger mit Sicherheit im Schwzd. fort ( MatteJWiese); von den schwzd. Gegensatzen an der Aare-Reu13-Linie haben die wenigsten sichere Entsprechungen an der Schwarzwaldschranke. Beim Paradefall des Vb.-Plurals klappt es gerade nicht : zwar stimmen Ostschwzd. und Schwabisch mit einformigem Pl. überein, aber im W steht zweiformigem schwzd. Pl. einformiger oberrheinischer gegenüber. Wenn man dafür spatere divergierende Entfficklung verantwortlich machen will, kann damit ebensogut die Übereinstimmung der beiden ostlichen Gebiete erklart - und entwertet werden. Es sieht überhaupt so aus, als ob die wenigen Falle von ffirklicher Deckung der Gegensatze an Schwarz-

1 In iiJmlichem Sinn B. BoESCH : ,Die Frage, inwieweit burgundische Siedlung na.ch der Reuss hin sich bewegte, bleibt immer noch offen; ma.n wird sich a.ber da.vor hüten müssen, Verwa.ltungsgrenzen und EinfluLlzonen mit Siedlungsgebieten gleich­zusetzen." (Die Schichttmg der Ortsna.men in der deutschen Schweiz im Früh­mittelalter. Jahrb. f. friink. Landesforschung 20 = Festschrift E. SCHWARZ, 203ff.)

1 Zum Problem der ,Gaue" vgl. jüngstens a.uch P. v. PoLENZ, Vorfrankische und frankische Na.menschichten (Ja.hrb. f. frank. Landesforschung 20 = Festschrift E. ScHwARz, S. 1 63ff., bes. S. 1 67) .

[220] 57

Page 14: Hotz

waldschranke und Aare-Reui3-Linie doch eher die Folge jüngerer Ein­flüsse als der Reflex siedlungsgeschichtlicher Vorgange seien.

Mit der Annahme, dal3 zwar die alteren Gegensatze hüben und drüben durch jüngere überdeckt, aber als gruppenpsychologische Gegebenheiten (MoSER) doch noch wirksam seien - jüngere Gegensatze waren gewisser­ma13en in den alten gruppenpsychologischen Gegensatzrahmen hinein­gewachsen -, geraten wir vollends in den Bereich der weder widerlegbaren noch beweisbaren Hypothesen. Wir mi:ichten in diesem Punkt bei unserer positivistischen Skepsis bleiben und dem Mythos frühmittelalterlicher Wurzeln unserer heutigen schwzd. Sprachgeographie gegenüber in ganz bewu13ter methodischer Scharfe die Grenze des heute Wissbaren mar­kieren: bei vollem Bewul3tsein, dal3 damit das letzte Wort noch nicht gesprochen istl.

5. Oberrheinische Einbr1lche in den Aare-Limmat-Raum

(Abb. 20-24)

Bekannt und hi:ichstens noch zu bestatigen und zu verfeinern ist das Bild schwabischer Einbrüche in den no-schweizerdeutschen, oberrheini­scher in den nw-schweizerdeutschen Raum. Für das erstere sei verwiesen auf unsre Abb. 16 ( Worttypus ,Butte, Bücki, Bückte' ) und wohl auch MAURERS ,nichts"-Karte (Oberrheiner K. 54) ; für das andere auf unsre Abb. 8/9 (Lauttypus ,ie' ) und 1 7 (Worttypus ,Ankeschaarede' ) sowie auf MAURERS ,hiuter"-Karte (Oberrheiner K. 58) ; für das Zusam­menspiel beider auf MAURERS ,WieseJMatte"-Karte (Oberrheiner K. 74).

Weniger durchsichtig ist bis heute der Fall geblieben, den unsre Abb. 20-24 zur Diskussion stellen : das Vorprellen oberrheinischer (elsassisch-badischer) Sti:il3e über das nordwestschweizerisch-jurassische Glacis hinaus nach Süden und Osten, unter Aufsprengung i:istlicher Flachen im Bereich von Aare und Limmat (ZH !) und Weiterstromen im Zürichsee-Walensee-Seeztal-Kanal Richtung Glarus und sogar Grau­bünden.

a) Abb. 20: , Wahe' . Die genaueren Umstande dieser Karte sind aus der Arbeit von O. RHINER ersichtlich2• Wir legen den Finger auf die hier

1 Unterdessen ist es E. E. MÜLLER (Wortgeschichte und Sprachgegensatz im Alemannischen. Bem und München 1 960) in Fortsetzung seiner sorgfii.ltigen urkundensprachlichen Untersuchungen gelungen, den sprachlichen W/0-Gegensatz ins 1 6 .-13 . Jh. zurückzuverfolgen und in bestimmten Fiillen als Ausstrahlung schwiibisch-bairisch-õsterreichischer Neuerungen in die NO-Schweiz, oberrheini· scher Schõpfungen in die NW-Schweiz begreiflich zu machen. Wir kommen damit um mehr als ein halbes J ahrtausend über die heutigen sprachgeographischen Fakten, un1 anderthalb bis zwei J ahrhunderte über die iilteste bisher gesicherte aul3ersprachliche Rahmenbildung zurück.

2 O. RHINER, Dünne, Wiihe, Kuchen, Fladen, Zelten = B SM IX ( 1 958).

58 [221 )

ã>g ( Extmn-Vm1umpfungJ A Q als fttutint }'lormalform á Q in R.lliktm

Abb . 20

Abb. 21

59

Page 15: Hotz

entscheidenden Punkte : den durch die Worterbücher gesicherten Zusammenhang des Typus ,Wahe' mit dem Oberrheinischen (RRINER S. 76) ; die Situation im Kanton Zürich (Reliktrand ,Dünne' südlich des Zürichsees ; Stadt Zürich als sekundarer Strahlungsherd von ,Wahe' , vgl. RHINER S. l lOf. ) ; die Süd-Ausbreitung von ,Wahe' in den Kanton Glarus, womit die ,Truese' -Verbreitung auf Abb. 17 zu ver­gleichen ist ; der Vorstof3 von Wort und Sache ,Wahe' ins alpine Neuland Graubünden.

b) Abb. 2 1 . Den gleichen Weg wie ,Wahe' hat einst, wenn wir lebendige und Reliktbelege zusammenschauen, die oberrheinische Extremver­dumpfung ã > 9 (geschlossenes 9 wie in nhd. ,Ohr" !) eingeschlagen. Aber in diesem Fali ist das ursprüngliche Bild zerstort durch jüngere Regressionsvorgange : Extremverdumpfung ist heute nur noch im NW­Glacis auf grof3erem zusammenhangendem Gebiet lebendig, gilt sonst als landlich-baurisch und wird zum Kennzeichen typischer Rückzugsgebiete wie des Zürcher Oberlandes und seiner Nachbarschaft.

e) Abb. 22/23. Dehnung von alter K1lrze in ojjene1· Silbe gilt heute mit strenger Lautgesetzlichkeit an drei weit auseinanderliegenden und wohl ganz verschieden zu beurteilenden Ecken der Schweiz : im jurassischen NW (oberrheinisch-frankischer Einfluf3) ; im spatgermanisierten Churer Rheintal und St. Galier Oberland (romanisches Substrat + schwabisches Superstrat ? ) ; im Kanton U ri, mit Ausnahme des abseitigen Schachentals (romanisches Substrat ? ) .

Vom NW-Glacis sind Welien sekundarer Verbreitung ausgestromt. Mit Linie l begrenzen wir einen Raum, wo Dehnung bei weitem nicht aligemein ist, aber immerhin noch eine ganze Reihe von Wortern vor aliem mit altem a erfaf3t ; di e Stof3richtung nach O gemahnt an di e frühern Abb. 20, 2 1 . Mit Linie 2 ist ein einzelrier Extremfali fixiert.

Auch bei der D. i . o. S. sind seit langerem kraftige Regressionsvorgange wirksam. Sie führen, wie Abb. 23 zeigt, zu ganz ahnlichen Reliktkon­steliationen wie bei der ã-Verdumpfung : man beachte vor aliem S und SO von Zürich, ferner den Westrand Freiburg und Bern. Im Gegensatz zu den Verhaltnissen bei langem ã und fast allen sonst beobachteten Vor­gangen verlauft die Entwicklung hler also einmal eindeutig gegen das

Muster der nhd. Schriftsprache. d) Abb. 24 : ,uns". Nicht ohne schwere Bedenken stelie ich den Fali

,uns" in den vorliegenden Zusammenhang. Das Verbreitungsbild der Form ,ois' ( < üns, mit Diphthongierung durch den verklingenden bzw. verklungenen Nasal) legt es nahe, auch für diesen Fali oberrheinische

Ausgangssteliung zu vermuten : obwohl wir wissen, daf3 ein solches Postulat heute auf3erst fragwürdig erscheinen muf3 ; der in Entstehung

60 f222]

Abb. 22

Abb. 23

61

Page 16: Hotz

F

uns

Abb. 2 4

Abb. 25

62

begriffene Elsassische Sprachatlas wird die Form hi:ichstens reliktweise belegen.

Die übrige Problematik der Karte sei n ur kursorisch berührt : die Relikte der gesamtschwzd. Ausgangsstufe ,üns' in der bernischen SW-Ecke Saanen und, rnit Walserentwicklung s > s sowie Entrundung, im obern Deutschwallis - eine schwere Belastung der WREDEschen Ingwiionenthese, soweit sie sich auf den Nasalschwund stüLzt ; wieder die walserische Siedelspur W allis > Piemont > Graubünden (der n- Schwund im untern Deutschwallis ist also n a e h der Abwanderung der K;olo­nisten erfolgt : nach 1 200) ; die schriftsprachliche Vorhut ,uns' (rnit u und n !) in Basel-Stadt. Im ganzen : ein prachtvolles Beispiel geographischer Entfaltung ge­schichtlicher S t u fen !

6. Das mmanische Elernent in der schwzd. Sprachlandschaft

(Abb. 1 6/17, 25-29)

Der entscheidende Anteil romanischen Wortguts verschiedener zeit­licher' und raumlicher Schichten am Aufbau der schwzd. Wortlandschaft ist bereits ar: den Abb . 16/17 deutlich geworden ; hier soll noch auf einige Sonderaspekte dieses Problemkreises hingewiesen werden.

a) Die ausgesprochensten Reliktgebiete im Rahmen der hi:ichst­alemannischen N/S-Staffelung sind zugleich die dichtesten Substrat-, Symbiose- und Infiltmtionsgebiete . D e r Grund dafür liegt in de n o ben S. 207 f. und Abb. 3 skizzierten Tatbestanden. Dal3 W allis und Graubünden wahre Experimentierfelder alemannisch-romanischen Ineinanderwirkens auf lautlichem, morphologischem, syntaktischem, lexikalischem Gebiet sind, ist fürs Wallis durch MoULTON, für Graubünden durch SzADROWSKY1

mit überwaltigender Anschaulichkeit und Beweiskraft belegt. Wir deuten die Gesamtsituation durch den Doppelhinweis an, da3 im Wallis so all­tagliche Dinge wie die Türe, die Türfalle, die Bettflasche, der Schrauben­zieher, der Zopf, der Keuchhusten, der Zimt romanische Namen tragen, ganz abgesehen von der Durchsetzung von sachlichen Sondergebieten wie dem Weinbau mit romanischen Elementen ; die bündnerischen Verhalt­nisse sind aus SzADROWSKY und aus den umfangreichen W ortlisten in B S G 1 1 , 13, 1 92 leicht greifbar. Aber auch die früher erwahnte charakte­ristische Bewahrung der Endsilbenvokale scheint über die schwebende Wort- und Satzbetonung der betr. Mundarten in ursachlichem Zusam-

1 W. G. MoULTON, Swiss Gerrnan Dialect and Romance Patois (Suppl. to Language, Vol. 17 , 1 94 1 ) . M. SzADROWSKY, Rii.toromanischea im Bündnerdeutschen (Bündner Monatsblatt 1 93 1 , 1-27). Eine rornanisch-deutsche Suffixverbindung (Teuth. 5 ( 1 929), S. 20 1-208).

2 L. BRUN, Die Munda.rt von Obersaxen ( 1 9 1 8) = BSG XI. P. MEINHERZ, Die Mundart der Bündner Herrschaft ( 1 920) = BSG XIII. R. HoTZENKOCHERLE, Die Mundart von Mutten ( 1934) = BSG XIX. Vgl. auch H. KEssLER, Zur Mundart des Schanfigg, PBB 55 ( 1 931) .

[223J 63

Page 17: Hotz

Ostgrenze von' Ddte' .Fõhn( )( 'D �!!t' lm »iin4ntnvolnritl

Abb. 26

Abb. 27

64

menhang mit romanischer Sprachgewohnheit zu stehen. Auf der Hohe der Nordgrenze von undiphthongiertem schni(j)e, bü(w)e, ru(w)e lernten wir (oben S. 214 und Abb. lO) die nordliche Haltestelle der Adjektivflek­tierung im Pradikat kennen ; wenig südlicher zieht die Nordgrenze der Passiv- und Inchoativumschreibung mit ,kommen" von Freiburg bis ins St. Galler Oberland (iir ischt tauftii clw, si chund nassi) : beide nicht ohne die Moglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit der Herleitung aus durch­stehender deutscher Wurzel, aber beide kaum so vital denkbar ohne· die sukzessive Nahrung aus romanischem Substrat, romanisch-alemanni­scher Symbiose und zuletzt wenigstens noch romanischer Nachbarschaft.

b) Abb. 25. Das Frühstück wird im GroBteil der deutschsprechenden Schweiz ,z Morge' u. a. benannt. Aus dieser problemlos-langweiligen Einheitslandschaft - auch das gibt es also - heben sich scharf zwei Sondergebiete ab : das ostliche Berner Oberland mit einem zusammen­hangenden, wenn auch deutlich abbrockelnden (Rest- 1) Gebiet von frz . ,déjeuner" problematischen Alters ; vor allem jedoch die Innerschweiz (Uri l Alt Schwyz l Unterwalden) mit freilich heute deutlich zurück­weichendem ,kalatze' = it. ,far colazione", das mit paradigmatischer Pragnanz die geographischen und geschichtlichen Beziehungen dieser Gebiete zur Lombardei spiegelt.

e) Abb. 26. Das aus dem Frankoprovenzalischen der westschweizeri­schen romanischen Mundarten stammende Wort ,D/lle' u. a. ,Fohre, Kiefe1·" interessiert uns hier aus zwei Gründen. Es zeigt wieder (vgl. Abb. 16117), wie romanisches Lehngut sich scheinbar mühelos ins Rahmen­werk der schwzd. Sprachlandschaft eingefügt : ,Dãle' füllt heute in geschlossener SW-Flache ein Gebiet, das nahezu punktgenau dem Geltungsbereich von hochstal. Schopfungen (oder Relikten) wie der 2.3. Sg. Ind. von ,gehenlstehen" ( geischtlgeit, steischtlsteit J entspricht. Mit seinen bündnerischen Belegen ist ,Dãle' ein Musterfall der von J. J un in seinem Meisteraufsatz behandelten Wortgruppe1 : Da es den ratoromanischen Mundarten fehlt, muB es von den Walsern nach Ratien gebracht worden sein ; vgl. Abb. 1 6, 17 .

d) [Abb. 17 . ] Den moglichen Spielraum riitischer Romanismen um­schreibt die schon früher berührte Karte 17 ,Rückstand beim Auslassen von Butter" mit dem Worttypus ,Feula' . Dieses ursprünglich ratoro­manische Wort ( < viglieuls) gilt heute im gesamten nichtwalserischen Graubünden, darüber hinaus im oberen St. Galler Rheintal und bis zum Walensee : Das sind die nordlichsten un d westlichsten Auslaufer einer alten ,churratischen" Sprachlandschaft, hinter der geschichtlich die

1 J. J un, Zur Geschichte der romanischen Reliktwõrter in den Alpenmundarten der deutschen Schweiz. Vox rom. 8 ( 1945/1946), S. 34ff.

[224J 65

Page 18: Hotz

sogenannte innere Raetia prima steht - ein Gebiet, dem im Rahmen der frankischen Organisation betrachtliche Autonomie z. B. in administrati­ver und gerade auch in sprachlicher Hinsicht eingeraumt war. Es ist sprachgeographisch dasselbe Gebiet, das als drittes durchgehende Dehnung in offener Silbe zeigt - und eben auch jenen Verbalplural auf -m( d), dessen lautgesetzwidrige Form man am liebsten aus symbiotischem Zusammenwirken von ratorom. -an (nus essan, els portan) rnit kanzlei­deutschem -ent deuten mochte.

Bündnerdeutsches (vor allem walserisches) ' Tãle' bzw. - e - ist also frankoprovenzalisches Importgut, bündnerdeutsches (vor allem rhein­talisch -pratigauisch-schanfiggerisches) ,Feula' ratoromanisches Substrat­oder Symbiosegut. Frankoprovenzalische und ratische Romanismen, noch dazu verschiedener zeitlicher Schichtung, berühren und überschneiden sich da also auf engstem Raum.

e) Abb . 27. An dieser wirren und vorlaufig ratselhaften Karte inter­essiert uns jetzt nur die ostlichste Landschaft : Graubünden und das unmittelbar anschliel3ende St. Galler Oberland. Der bündnerdeutsche Typus ,Marénd, Ohliii- , Spãtma1·end' , walserisch wie churerrheintalisch, darüber hinaus als ,marenda' u. a. auch bündner-romanisch, konnte an si eh ebensogut ratoromanisch wie frankoprovenzalisch sein : Die gleich­mal3ige Verbreitung bei Walsern und Nichtwalsern scheint sogar auf solche Doppelwurzel zu deuten. Aber im deutschen Wallis fehlt das Wort ; was schwerer wiegt : auch die früh ausgewanderten Südwalser im Piemont haben keine Spur davon. - Die Miniatur-Wortlandschaft ,Ohli-Zãbe' im sanktgallischen Vorgelande des Bündner Rheintals mochte man gerne als letzten Reflex des bündnerischen ,Ohliii Marend' bzw. , mare?Ula pintga' auffassen : damit ware wieder ein Stück Raetia prima sprachlich rekon­struiert.

f) Abb . 28. Der Fem.-Pluml a�tf -i in der südlichen Halfte des Kantons Bern (FlOug-i, Matt-i, Tann-i) lal3t sich mit gutem Gewissen aus keinem mhd. oder ahd. Paradigma herleiten. In dieser Notlage ist es wohl erlaubt, eine Losung in ganz anderer Richtung zu versuchen. Dem sprachgeo­graphisch geschulten Auge fallt sofort auf, da/3 der bernische i-Bereich aufs genaueste flankiert ist von einem (kleinern) Freiburger und einem (grol3ern) Walliser Bereich mit einem Fem.-Plural auf -e (u. ii . ) bzw. einer Sg/Pl.-Opposition -af-e, mit dem er wohl auch geschichtlich zu­sammengesehen werden mu/31. N un ist freilich das Freiburger und Walliser -e selbst problematisch : da/3 es etwa auf die frühahd. Pl. -Form der iõ-

l Man wird a.uch den fra.ppierenden ra.umstrukturell-sprachstufenmi:Wigen Parallelismus mit dem Fall-nk (o ben S. 2 1 3/2 14 und Abb. 7) nicht übersehen ; er legt von sich aus den Versuch ahnlicher Interpretation nahe.

66 [225]

Abb . 23

J)as Gmtrnkom am Au[}e

Abb . 29

67

Page 19: Hotz

Stamme zurückgeführt werden konnte, scheint sowohl durch die Be­deutungslosigkeit dieser Klasse im ahd. Femininhaushalt und ihre dortige Weiterentwicklung als auch durch die sonstige Entwicklung von solchem -e im Wallis vollig ausgeschlossen. Aber schon MouLTON hat darauf hin­gewiesen, dal3 ein Fem.-Plural auf -e in den benachbarten frankoproven­zalischen Mundarten gang und ga b ist ; Lehnworter wie das o ben behan­delte ,dala' oder wie ,alpa' konnen die erste Brücke gebildet haben, auf der diese bequeme Sg.JPl . -Opposition -aj-e, die im deutschen Sg. auf -a eine Stütze hatte, in die deutschen Nachbarmundarten einmarschierte : zuerst vielieicht bei zweisprachigen Leuten der unmittelbaren Grenz­und Symbiosezone. Das ware ein grundsatzlich wichtiges Beispiel von morphologischer Entlehnung. Im Bernischen, das die Endsilbenvokale heute zum Reduktionslaut -a abschwacht - mit wenigen Ausnahmen, von denen jede ein Problem für sich darstellt -, konnte ein solches entlehntes -e nur zwei Wege einschlagen : entweder den lautmechanischen der üblichen Abschwachung zu -a und damit des Verlusts der morphologischen Pragnanz - oder, wie oft im Schwzd. in ahnlicher Situation (vgl. ,Lasi­buech', ,s Besti ' ,das Beste"), den der Aufwertung der bedrohten Endung zu -i. Es hat den letztern Weg gewahlt.

g) Abb. 29. Wir schliel3en mit einem wieder grol3raumigeren Fall. Für das kleine Geschwür am Augenlid, das die nhd. -schriftsprachlichen Worterbücher ,Gerstenkm·n" nennen, steht im W der deutschsprechenden Schweiz eine grol3e Flache mit Varianten des Typus ,Urs(el)i' , der nach d en Worterbüchern nordwarts ins Elsassische und Badische hinübergreift ; dem grol3flachigen W steht auch in diesem Fali, wie oft, ein zerrissener und verschachtelter O gegenüber. Schon Id. I 468 vermutet als Quelle unseres W-Typus benachbartes frz. ,orgelet" und innere (benennungsmotivische) Zusammenhange zwischen dem W-Typus und zürcherischem ,Gretli' , ,Gritli' und sogar ,Tochterli' ; vereinzelt ist, was unsre Karte nicht ver­zeichnet, im SDS-Material auch ,Tockterli' ( = Dim. zu ,Tockter' ,Doktor") belegt . Was den Zusammenhang mit frz . ,orgelet" angeht, so ware - nach freundlicher Belehrung durch Herrn Dr. E. SCHÜLE - dahin zu prazisieren, dal3 in der frz . Schweiz weniger mit dem et- (ittu-jettu-) Diminutiv zu operieren ist als mit direkten Fortsetzungen von lat. HORDEOLU wie wall. ,orzwé' u. a. Die Vermutung von Id. I 468 wird heute, bei gewonnenem Gesamtüberblick, entscheidend gestützt durch die sprachgeographischen Verhaltnisse : Ein frz . -romanisches Benennungs­motiv ,orgelet = Gerstenkorn" (mit it. ,orzaiuolo" usw. ein neues Problem europaischer Wortgeographie ! ) wiire also über die Etappen Wortentlehnung und -umdeutung (Urs [el]i, nicht mehr verstandener Krankheitsname > anklingendem haufigem Madchennamen), Motiv-

68 [226]

entlehnung (, Gretli' , , Gritli' Madchenname), Motiverweiterung und zugleich -aushOhlung (,Tochterli ' ) und schliel3lich blol3en Lautanklang (,Ti:ickterli' ) über die traditionelie schwere Aare-Reul3-Schranke, die z. B . im Fali ,Brante' (Abb. 16) durchaus wirksam blieb, tief in ost­schweizerdeutsches Kernland vorgestol3en.

Diese wenigen Beispiele dürften das Wesentliche doch hinreichend deutlich gemacht ha ben : dal3 die Teilhabe romanischer Elemente am Aufbau der schwzd. Sprachlandschaft kein peripheres, sondern ein durch­aus zentrales, überali ins eigentlich Konstitutive vorstol3endes und in seinen Erscheinungsformen ungemein differenziertes Phanomen ist .

[227 1 69