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I N F O R M A T I O N Informationszentrum Asyl und Migration Entwicklung und aktuelle Situation in Bosnien und Herzegowina, Serbien, Kosovo, Montenegro und Mazedonien Juli 2008

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Informationszentrum Asyl und Migration Entwicklung und aktuelle Situation in Bosnien und Herzegowina, Serbien, Kosovo, Montenegro und Mazedonien Juli 2008

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Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die

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samt and when citing sources.

Abstrakt

13 Jahre nach dem Ende des Bosnien-Krieges ist im Juli 2008 der wegen Kriegsverbrechen

gesuchte ehemalige bosnische Serbenführer Radovan Karadzic in Belgrad gefasst und von den

serbischen Behörden an das UN-Kriegsverbrechertibunal in Den Haag überstellt worden. Die Ver-

haftung Karadzics hat international für Aufsehen gesorgt, in Bosnien zu Freudentänzen und in Ser-

bien zu gewalttätigen Protesten geführt. Radovan Karadzic und Ratko Mladic (der noch nicht ge-

fasst ist) werden von vielen Serben weiterhin als Helden verehrt. Die Reaktionen in Serbien und

Bosnien zeigen die andauernde politische Polarisierung in der Region und machen deutlich, wie

hoch das Konfliktpotential nach wie vor ist. Nach der Festnahme des ehemaligen Präsidenten der

bosnischen Serben ist die Lage in Belgrad gespannt. Als sich Kosovo im Februar 2008 einseitig von

Serbien lossagte, kam es ebenfalls sowohl zu Freudentänzen als auch zu gewaltsamen Protesten. In

Nord-Kosovo, wo mehrheitlich Serben leben, haben sich mittlerweile die parallelen serbischen In-

stitutionen verfestigt und das Gebiet de facto abgespalten. Ruhiger ist die Situation in Montenegro

und in Mazedonien. Aber auch hier gibt es noch ethnische Konflikte und aggressiven Nationalis-

mus, was 2001 in Mazedonien fast zu einem Bürgerkrieg geführt hat. Nationalismus und Rachege-

danken zu überwinden, stellen noch ganz erhebliche Herausforderung für alle Nachfolgestaaten

Jugoslawiens dar, wobei der EU eine Schlüsselrolle zukommt.

Die vorliegende Ausarbeitung befasst sich einleitend kurz mit der historischen Entwicklung, als

Wurzel des Zerfalls Jugoslawiens und der heute noch vorhandenen Konflikte in der Region. Es

folgt ein Überblick über die aktuelle politische, wirtschaftliche und menschrechtliche Lage in Bos-

nien und Herzegowina, Serbien, Kosovo, Montenegro und Mazedonien sowie eine abschließende

Bewertung der aktuellen Situation.

abstract

In July 2008, 13 years after the end of the Kosovo Conflict, former Bosnian Serb leader Radovan

Karadzic, wanted for war crimes, was captured in Belgrade and sent by the Serbian authorities to

The Hague to stand before the UN War Crimes Tribunal. Karadzic’s arrest was an international

sensation, leading to joyous celebrations in Bosnia and violent protests in Serbia. Karadzic, along

with Ratko Mladic (still at large), is honored by many in Serbia as a hero. The reactions in Serbia

and Bosnia are examples of the on-going political polarisation in the region and serve as reminders

of how great the potential for conflict still is. Following the arrest of Karadzic, the atmosphere in

Belgrade is tense. When Kosovo declared its independence from Serbia in February 2008, the reac-

tions were much the same: celebrations on one side, violent protests on the other. In northern Kos-

ovo, primarily populated by Serbs, the parallel Serb institutions have consolidated their positions

and have become a de facto separatist movement. The situations in Montenegro and Macedonia are

by comparison calmer, yet there are still ethnic conflicts being fueled by aggressive nationalism,

having almost lead to a civil war in Macedonia in 2001.

The following composition shall first briefly outline the historical developments that resulted in the

collapse of former Yugoslavia and are still at the centre of the conflicts taking place in the region

today. It shall then provide an overview of the current political, economic and human rights cli-

mates in Bosnia-Herzegovina, Serbia, Kosovo, Montenegro and Macedonia, followed by a conclud-

ing assessment of the current situation.

I

Inhalt

1. Historisch-regionaler Hintergrund ...........................................................................................3

2. Entwicklung und Situation in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens .........................................6

2.1. Bosnien und Herzegowina ..............................................................................................6

2.1.1. Historische Entwicklung.....................................................................................6

2.1.2. Aktuelle Lage......................................................................................................7

2.1.3. Bewertung ...........................................................................................................10

2.2. Serbien ............................................................................................................................11

2.2.1. Historische Entwicklung.....................................................................................11

2.2.2. Aktuelle Lage......................................................................................................12

2.2.3. Bewertung ...........................................................................................................14

2.3. Kosovo ............................................................................................................................15

2.3.1. Historische Entwicklung.....................................................................................15

2.3.2. Aktuelle Lage......................................................................................................16

2.3.3. Bewertung ...........................................................................................................19

2.4. Montenegro.....................................................................................................................20

2.4.1. Historische Entwicklung.....................................................................................20

2.4.2. Aktuelle Lage......................................................................................................20

2.4.3. Bewertung ...........................................................................................................22

2.5. Mazedonien.....................................................................................................................23

2.5.1. Historische Entwicklung.....................................................................................23

2.5.2. Aktuelle Lage......................................................................................................24

2.5.3. Bewertung ...........................................................................................................26

Anhang..........................................................................................................................................27

Radovan Karadzic...........................................................................................................27

Die Anklage ....................................................................................................................28

II

3

1. Historisch-regionaler Hintergrund1

Slawische Besiedelung und erste Staatsbildungen

Die slawische Besiedelung des Balkanraumes seit dem 6. Jahrhundert n. Chr. führte zu einer Ver-

mischung mit der einheimischen Bevölkerung (den Illyrern, mit den heutigen Albanern verwandte

Stämme) und zur Verdrängung der lateinisch-romanischen Sprache zu Gunsten der slawischen

Sprache. Von entscheidender Bedeutung für das Schicksal der Völker war die Teilung des Römi-

schen Reiches in eine ost- und weströmische Reichshälfte, die schließlich zur Kirchenspaltung im

Jahre 1054 in die orthodoxe und katholische Kirche führte. Mit dem Niedergang des byzantinischen

Reiches kam es im südslawischen Raum zu mittelalterlichen Staatsbildungen der Kroaten, Serben

und Bosnier. Das erste kroatische Königreich (925 - 1102) war das erste slawische römisch-katholi-

sche Königreich überhaupt. Die Serben, von Ostrom byzantinisch-orthodox christianisiert, grün-

deten 1171 einen unabhängigen Staat mit dem Zentrum in Kosovo. Im Königreich Bosnien (Ende

des 12. Jh. bis 1463) bezeichneten sich alle Einwohner, gleich welcher Konfession, als Bosnier.

Allen gemeinsam waren ihre südslawische Herkunft und die Sprache.

Islamisierung

Im 14. Jahrhundert wurde die Ausdehnung des Osmanischen Reiches nach Europa systematisch

betrieben. 1361 eroberten die Osmanen unter Murat I Edirne/Adrianopel, die nach Konstantinopel

bedeutendste byzantinische Stadt. Dann richteten sich die osmanischen Heerscharen gegen den Bal-

kan. Eine Koalition aus Bulgaren, Serben, Bosniern und Albanern wurde 1389 von Murat I in der

Schlacht beim Amselfeld/Kosovo Polje niedergerungen. Bis Ende des 15. Jahrhunderts hatten die

Osmanen die Grenzen ihres Reiches weit in den Balkan hinaus ausgedehnt. 1459 wurden weite Tei-

le Serbiens und Montenegros, 1463 Bosnien und 1468 auch Albanien osmanisch, 1483 folgte die

Herzegowina. Das Osmanische Reich wuchs zu einem Vielvölkerstaat heran. Viele Menschen, die

sich nicht zum Islam bekehren wollten, wanderten ab. Serben und Kroaten flohen vor den osmani-

schen Feldzügen. Durch die starke Position der Serbisch-Orthodoxen Kirche traten nur wenige Ser-

ben in dieser Zeit zum Islam über. Nur in Bosnien und Albanien (ursprünglich christlich) kam es zu

zahlreichen Übertritten. Bis 1624 waren zwei Drittel der bosnischen Bevölkerung muslimisch.

Die Zeit bis zu den beiden Weltkriegen

Mit der Niederlage gegen die Habsburger 1683-1699 begann der Niedergang des Osmanischen Rei-

ches. Im Frieden von Karlowitz musste es auf Ungarn, Kroatien und Slowenien verzichten, es ent-

standen im Wesentlichen die heutigen Grenzen Bosniens und Herzegowinas, die bis zum Berliner

1 Bundeswehr im Einsatz, Geschichte des Balkan (Stand 23.06.2005),

http://www.einsatz.bundeswehr.de/C1256F1D0022A5C2/CurrentBaseLink/W268SR6V921INFODE, abgerufen am 15.02.2007.

4

Kongress 1878 zugleich auch Außengrenzen des Osmanischen Reiches blieben. Serbien und Mon-

tenegro wurden 1878 unabhängig, während die übrigen Landesteile des späteren Jugoslawiens bei

Ausbruch des Ersten Weltkrieges noch unter österreichisch-ungarischer oder osmanischer Fremd-

herrschaft standen. Kosovo, der Sandschak (heute teils in Serbien und in Montenegro gelegen) und

Mazedonien gehörten bis zu den Balkankriegen 1912/1913 dem osmanischen Reich an. Nach den

Balkankriegen von 1912-13 wurde Mazedonien zwischen Griechenland, Serbien und Bulgarien

aufgeteilt.

Die Niederlage Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg führte 1918 zum staatlichen Zusammen-

schluss aller Südslawen in das „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“, das 1929 den Na-

men „Jugoslawien“ annahm, es vereinigte mehr als zwanzig verschiedene Völker, die verschiedene

historische Erfahrungen, Kulturen, Sprachen, Schriften und Religionen aufwiesen. Der Gesamtstaat

blieb überschattet vom serbisch-kroatischen Gegensatz, die gemeinsame serbisch-kroatische Spra-

che vermochte es nicht, die jahrhundertelange Trennung in verschiedene Kulturräume zu überwin-

den. Die bosnischen Muslime konnten sich auf Grund ihrer Geschichte keiner der beiden Seiten

zuordnen, sie verfochten die Idee des „Jugoslawismus“.

Schon der Zweite Weltkrieg verschärfte die seit Jahrhunderten bestehenden politischen, nationalen,

religiösen und auch wirtschaftlichen Gegensätze wieder. 1941 riefen die faschistischen Ustascha

einen „Unabhängigen Staat Kroatien“ aus, dem auch Bosnien und die Herzegowina angeschlossen

wurden. Es folgte ein erbitterter Kampf mit den serbisch-monarchistischen Tschetniks. Letztendlich

konnte die kommunistische jugoslawische Volksbefreiungsarmee unter Tito die Oberhand gewin-

nen.

Das Sozialistische Jugoslawien 1945 bis 1992

Am 11. November 1945 wird die Föderative Volksrepublik Jugoslawien ausgerufen, die Monarchie

abgeschafft und Tito Ministerpräsident der Republik. Zur

Föderation gehörten Serbien, Kroatien, Slowenien, Bos-

nien-Herzegowina, Mazedonien und Montenegro als

Teilrepubliken mit jeweils eigenen Verfassungen. In Ser-

bien wurden die zwei autonomen Provinzen Vojvodina

und Kosovo errichtet. Klammer des nach wie vor sprach-

lich, kulturell und wirtschaftlich äußerst heterogenen

föderalen jugoslawischen Staatsverbandes war die Macht

der kommunistischen Partei unter ihrem Führer Tito. Der

zentralistische Parteiapparat bildete das Gegengewicht

zur föderalen Staatsstruktur.

Jugoslawien 1945-/1991:2

2 Karte: http://www.zeithistorische-forschungen.de/_ZF/images/default/calic_karte.jpg

5

Die nationalen Gegensätze konnten zwar im sozialistischen Jugoslawien (Parole „Brüderlichkeit

und Einheit“) zeitweilig eingedämmt werden, in den Republiken schürten jedoch nationalistische

Eliten die Abneigung gegen alle „Bruderrepubliken“; in den autonomem Provinzen begehrten ethni-

sche Minderheiten auf, die sich gegenüber den Republiken benachteiligt fühlten. Diese Konflikte

traten nach dem Tod Titos 1980 wieder offen zu Tage und eskalierten schließlich in den blutigen

Konflikten der neunziger Jahre.3 Die Politiker aller Teilrepubliken, insbesondere Serbiens und Kro-

atiens, wandten sich mehr und mehr nationalistischen Agenden zu. In Serbien agitierte die sozi-

alistische Partei um Slobodan Milosevic gegen die Autonomie Kosovos. Politiker aus Kroatien und

Slowenien drängten ihrerseits auf die Souveränität ihrer Teilrepubliken. Nach einem Jahrzehnt zu-

nehmender regionaler Spannungen erklärten Slowenien, Kroatien und Mazedonien 1991 ihre Unab-

hängigkeit.

Zwischen Frühsommer 1991 und Herbst 1995 durchlief der jugoslawische Krieg drei Phasen:

- Der sog. kleine Krieg in Slowenien (Juni/Juli 1991)

- Der Krieg in Kroatien (Juni/Juli 1991 bis Januar 1992, Mai und August 1995)

- Der Krieg in Bosnien-Herzegowina (April 1992 bis November 1995)

Nach der Beendigung der Kämpfe in Kroatien und Bosnien-Herzegowina 1995 konzentrierte sich

Slobodan Milosevic auf Kosovo, was schließlich zum Kosovo-Krieg (1999) führte.

3 Bundeswehr im Einsatz, Geschichte des Balkan (Stand 23.06.2005),

http://www.einsatz.bundeswehr.de/C1256F1D0022A5C2/CurrentBaseLink/W268SR6V921INFODE, abgerufen am 15.02.2007.

6

2. Entwicklung und Situation in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens

2.1. Bosnien und Herzegowina

2.1.1. Historische Entwicklung

Ein erstes selbstständiges bosnisches Reich wurde Ende des 12 Jahrhundert. n. Chr. begründet und

reichte auf dem Höhepunkt seiner Macht von der Adria bis in das serbische Kernland.4 Im Jahre

1463 kapitulierte der letzte König vor den osmanischen Truppen. Bis 1482 war auch die Herzego-

wina in türkischer Hand. Die heutigen Grenzen beruhen auf dem Berliner Kongress 1878, als das

Osmanische Reich zum Rückzug aus Bosnien und Herzegowina gezwungen war und Osterreich-

Ungarn das Recht zugesprochen wurde, das Land zu besetzen. Nach der Niederlage Österreich-Un-

garns wurde das Gebiet ab 1918 Teil des „Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen“ und

1945 Republik des späteren sozialistischen Jugoslawiens.

Im Jahre 1961 erhielten die Muslime Bosniens den Status einer eigenen „Nation“ und bezeichneten

sich zunächst als „Muslime“ im Sinne einer Nation und später als „Bosniaken“ (bosnjak, bosnjaci).

Bis 1990 wurden nationale Bestrebungen unterdrückt, erst als 1990 in den jugoslawischen Republi-

ken freie Parlamentswahlen abgehalten wurden, trat der Gegensatz zwischen den Ethnien an die

Oberfläche. Nach dem Ende des Einparteiensystems in Jugoslawien wurde 1990 die Serbische De-

mokratische Partei (SDS) gegründet mit Radovan Karadzic (vgl. Anhang) als deren ersten Vorsit-

zenden.

Bosnienkrieg 1992 - 1995

Nach den Unabhängigkeitserklärungen von Slowenien und Kroatien am 25.6.1991 beschloss am

15.10.1991 auch das bosnische Parlament (ohne die Stimmen der Serben) den Austritt aus Jugos-

lawien. Die serbischen Abgeordneten verließen daraufhin das Parlament und erklärten am 7. April

1992 die Unabhängigkeit der Serbischen Republik (Republika Srpska - RS). Sitz der damaligen

„Staatsführung“ unter „Präsident“ Karadzic“ war in Pale. Schon im Herbst 1991 kam es in Bosnien

zu ersten Gefechten und Milizenbildungen. Ein wirrer Krieg mit wechselnden Allianzen brach los.

Im Mai 1992 musste sich die jugoslawische Volksarmee aus dem bosnischen Territorium zurück-

ziehen, hinterließ aber ihre Waffen den serbischen Milizen. Die bereits im Februar 1992 entsandten

4 Geprägt war dieses Reich von der Glaubensgemeinschaft der Bogomilen, einer Abspaltung des orthodoxen

Christentums, nach deren Lehre die Welt vom Teufel geschaffen und beherrscht war, und vom Gläubigen durch eine asketische Lebensweise überwunden werden sollte. Durch diese - mit den biblischen Lehren unvereinbare und deshalb als häretisch angesehene - religiöse Orientierung geriet das Land in einen scharfen Gegensatz insbe-sondere zum Papsttum und zum ungarischen Königreich. Die Verfolgungen durch die katholischen Nachbarstaa-ten führten bei der Bevölkerung zu Sympathien für das expandierende Osmanische Reich, bereits vor der osma-nischen Besetzung traten viele Bogumilen zum Islam über.

7

UN-Soldaten gerieten immer wieder zwischen die Fronten und konnten keine Sicherheit gewähr-

leisten. In den ersten Kriegswochen eroberten die Serben rund 70 % des Staatsterritoriums, die

Hauptstadt Sarajevo wurde eingekesselt. Es gelang ihnen bei Brcko einen Korridor zwischen dem

serbischen Siedlungsgebiet im Westen und den an Serbien angrenzenden Gebieten freizukämpfen.

Die Serben waren den Muslimen und Kroaten kräftemäßig stark überlegen. Das Gebiet war von

schwersten Kampfhandlungen betroffen. Dabei versuchten zunächst die bosnischen Serben und

später auch die bosnischen Kroaten (in der Herzegowina) möglichst große Landesteile unter ihre

Gewalt zu bringen, um sie letztendlich dem jeweiligen „Mutterland“ einzuverleiben. Die bosni-

schen Serben begannen mit der Vertreibung der nichtserbischen Bevölkerung und konnten in ihrer

Serbischen Republik bis zum Sommer 1995 ein relativ stabiles Herrschaftsgebiet schaffen. Es kam

zu systematischen Vertreibungen (sog. ethnischen Säuberungen; allein in Srebrenica starben 8.000

Menschen), systematischen Morden und Vergewaltigungen, wobei ca. 278.000 Menschen ums Le-

ben kamen (darunter 160.000 Muslime, 30.000 Kroaten und 25.000 Serben) oder vermisst blieben.

Etwa 2,3 Millionen Menschen sind geflohen oder wurden vertrieben (im eigenen Land ca. 1,3 Mil-

lionen). Der Krieg wurde Ende 1995 mit dem Abkommen von Dayton beendet.5

2.1.2. Aktuelle Lage

Die derzeit gültige Verfassung von Bosnien und Herzegowina trat Ende 1995 auf der Basis des

Dayton-Abkommens6 in Kraft. Danach ist Bosnien und Herzegowina ein parlamentarisch-

demokratischer Bundesstaat, bestehend aus den beiden weit

gehend selbstständigen Landesteilen (sogenannten Entitä-

ten), der Bosnisch-Kroatischen Föderation (FBuH) und der

Serbischen Republik (Republika Srpska - RS7). Dort sind

jeweils relativ homogene Siedlungen (sog. Mehrheitsge-

biete) der drei wichtigsten Bevölkerungsgruppen entstan-

den. Innerhalb der Föderation leben überwiegend Bosnia-

ken und bosnische Kroaten. In der Republika Srpska sind

90 % der Bevölkerung serbischer Herkunft. Die Zahl der

Bevölkerung in Bosnien hatte sich nach dem Krieg von 4,3

Millionen auf 3,3 Millionen verringert.8

Karte: CIA, World Fact Book: https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/

5 Microsoft Encarta Online - Enzyklopädie 2006, http://de.encarta.msn.com, abgerufen am 15.01.2007. 6 Ende November 1995 einigten sich die Staatschefs Bosniens, Serbiens und Kroatiens nach mehrwöchiger Klau-

sur auf dem Luftwaffenstützpunkt Wright-Patterson in Dayton (Ohio) unter amerikanischem Druck auf einen Frieden und eine Verfassung für Bosnien.

7 Die „Serbische Republik“ ist nicht zu verwechseln mit dem benachbarten Staat Serbien, der offiziell als Repu-blik Serbien (Republika Srbija) bezeichnet wird

8 Herbert Büschenfeld: Kriegsfolgen und Wiederaufbau in Bosnien-Herzegowina, GR 52 (2000) Heft 2

8

Staatsaufbau / Politische Lage / Sicherheit

Bosnien steht seit Kriegsende unter Aufsicht der Internationalen Gemeinschaft. Der Hohe Beauf-

tragte (HR)9 hat im Rahmen der sogenannten „Bonner Befugnisse“ weit reichende Vollmachten.

Angesichts zahlreicher politischer Probleme verlängerte die Internationale Gemeinschaft Anfang

März 2007 das Mandat des Hohen Repräsentanten entgegen ursprünglichen Plänen auf unbe-

stimmte Zeit.10 Von den anfangs 60.000 internationalen Soldaten sind heute - im Rahmen von

EUFOR - nur noch etwas mehr als 2.500 im Land stationiert. Im November 2007 wurde wegen der

unsicheren Lage im benachbarten Kosovo auch das Mandat der EUFOR in Bosnien um ein weiteres

Jahr verlängert und zunächst keine weiteren Soldaten abgezogen. Die Unabhängigkeitserklärung

Kosovos hat in Bosnien aber nicht - wie zunächst befürchtet - zu einer Destabilisierung geführt.

Seit Kriegsende hat sich die allgemeine Sicherheitslage gefestigt und wesentlich verbessert. Die

Angst vor gewaltsamen Auseinandersetzungen, falls die internationalen Truppen abziehen, ist aber

weit verbreitet. Tatsächlich werden immer wieder geheime Waffenlager entdeckt, die ein Hinweis

auf vorhandene extremistische Strömungen sind.11 Außerdem wird vermutet, dass in Bosnien Ter-

rorzellen, die in Verbindung mit Oasma bin Ladens Al Kaida stehen, aktiv sind und Bosnien Aus-

bildungs- und Durchgangsstation für islamistische Kämpfer aus dem arabischen Raum ist.

Die Grundstrukturen eines demokratischen Rechtsstaats (Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Jus-

tiz, Pressefreiheit, etc.) sind vorhanden, die Gesetze entsprechen weit gehend europäischem Stan-

dard. Durch die antagonistische Politik der überwiegend nationalistischen Parteien ist die Funkti-

onsfähigkeit von zahlreichen Parlamenten und Regierungen in Kantonen auf der Entitäten- und der

gesamtstaatlichen Ebene aber eingeschränkt. Die regierenden Parteien blockieren sich noch immer

gegenseitig und sind oft erst unter internationalem Druck zur Zusammenarbeit und Reformen fähig.

Die lange angemahnte Polizeireform, die als Bedingung für die Unterzeichnung des Stabilisierungs-

und Assoziierungsabkommens (SAA) innenpolitisch hoch umkämpft war, konnte erst im April

2008 verabschiedet werden.

Der Gesamtsstaat ist im Vergleich zu den Entitäten schwach. Während sich Bosniaken und Kroaten

für einen einheitlichen Staat ohne Teilstaaten aussprechen, beharren die Serben auf ihrem verbrief-

ten Recht eines Sonderstaates und Hardliner unter den bosnischen Serben, allen voran der Minister-

präsident der Serbischen Republik Milorad Dodik, stellen die territoriale Einheit Bosniens immer

wieder in Frage.12 Von Seiten der Föderation wird eine stärkere Integration der Republika Srpska in

9 seit 1.7.2007 der Slowake Miroslav Lajcak 10 NZZ vom 01.03.2007, Verlängerung der Vormundschaft Bosniens 11 Der Spiegel 45/2006, Bosnien. Der Fluch von Dayton 12 Heinrich Böll Stiftung, Politischer Jahresbericht Südosteuropa 2006/2007,

http://www.boell.de/downloads/jahresberichte2007/Pol_Jb_Suedosteuropa_2006_2007.pdf

9

den bosnischen Staatsverband bzw. deren vollständige Abschaffung gefordert. Beanstandet wird

insbesondere, dass es sich bei ihr um kein historisches Gebilde handelt, sondern dass sie maßgeb-

lich durch die Vertreibungen während des Krieges 1992 bis 1995 entstanden ist. Die bosnischen

Muslime, die im Gegensatz zu den bosnischen Serben und den bosnischen Kroaten über kein „Mut-

terland“ außerhalb des Staates Bosniens und Herzegowina verfügen, befürchten daher noch immer,

dass Serben und Kroaten das Land unter sich aufteilen könnten. Auch die bosnischen Kroaten, ins-

besondere die in der Herzegowina lebenden, fühlen sich durch den Dayton-Vertrag diskriminiert, da

sie mit den bosnischen Muslimen, also ihren ehemaligen Bürgerkriegsgegnern eine gemeinsame

und nicht wie die bosnischen Serben eine eigene Entität haben.

Menschenrechtslage

Die Menschenrechte sind formal auf höchstem Niveau geschützt. Im Hinblick auf sichere Rückkehr

von Flüchtlingen und das Diskriminierungsverbot auf der Grundlage nationaler Zugehörigkeit herr-

schen noch Defizite, insbesondere in der Serbischen Republik. Mittlerweile wurde die Strafverfol-

gung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen deutlich verbessert. Nicht konsequent

durchgeführt wird dagegen die Strafverfolgung lokaler und weniger medienwirksamer Kriegsver-

brecher. Durch die Aufdeckung von Kriegsverbrechen durch das Internationale Kriegsverbrecher-

tribunal ist es zu zahlreichen Rücktritten aus verantwortlichen Positionen gekommen.

Genozid und Krieg in Bosnien haben die ehemals multi-ethnische Natur des Landes radikal verän-

dert und zu einer vollkommen neuen ethnischen Strukturierung geführt. So ist z. B. die Stadt Mostar

trotz jahrelanger internationaler Verwaltung immer noch in einen von Kroaten dominierten Westteil

und den überwiegend muslimischen Ostteil gespalten. Hier kam es anlässlich des EM-Viertelfinal-

spiels Kroatien gegen die Türkei im Juni 2008 zu schweren Ausschreitungen zwischen Kroaten und

Muslimen, die den Sieg ihrer türkischen Glaubensbrüder feierten. In drei Viertel aller Gemeinden

der Föderation gehen muslimische und kroatische Kinder in verschiedene Schulhäuser. Auch heute

kommt es nach wie vor zu Feindseligkeiten und in den sog. Minderheitsgebieten zu Diskriminie-

rungen und teilweise auch zu Übergriffen auf die jeweilige „Minderheit“. Da sich die ehemaligen

verfeindeten Bevölkerungsgruppen auch religiös definieren, ist die Religionszugehörigkeit poten-

tieller Anknüpfungspunkt für Diskriminierungen verschiedener Art. Dies zeigen immer wiederkeh-

rende Vorfälle wie die Zerstörung von Grabsteinen, Sachbeschädigungen von Moscheen und Kir-

chen.

10

Wirtschaftliche Lage

Trotz beachtlicher Erfolge wie z. B. stabile Währung13 und kaum Inflation sind die generellen wirt-

schaftlichen Aussichten für die Menschen weiterhin schlecht. Bosnien ist auf Grund der Schwäche

staatlicher Institutionen und fehlender finanzieller Mittel nicht in der Lage, ein soziales Netz zu

bieten. Sowohl Renten wie auch Arbeitslosengelder liegen unter den Lebenshaltungskosten. Das

Gesundheitssystem ist schwach, eine umfassende medizinische Versorgung nicht überall gewähr-

leistet. Ein großer Teil der Bevölkerung befindet sich außerhalb des Gesundheitssystems, primär

Flüchtlinge, Vertriebene und Roma. Die Arbeitslosigkeit liegt in beiden Entitäten offiziell bei zirka

40 %. Von wirtschaftlichen Problemen, insbesondere Arbeitslosigkeit sind große Teile der Bevölke-

rung betroffen, vorwiegend Minderheiten, Frauen und die Jugend.

2.1.3. Bewertung

Bosnien und Herzegowina hat seit Kriegsende erhebliche Fortschritte auf dem Weg zu einem fried-

lichen und demokratischen Staatswesen gemacht. Viele Flüchtlinge sind zurückgekehrt, für die Be-

völkerung herrscht Bewegungsfreiheit und zerstörte Häuser und Infrastruktur sind nahezu wieder

aufgebaut worden. Das Land hat aber noch immer mit den Kriegsfolgen und denen der Daytoner

Verfassung zu kämpfen. Diese wird nicht mehr als ausreichende Grundlage für ein modernes, EU-

fähiges Staatswesen angesehen. Alle Experten sind sich mittlerweile einig, dass die Verfassung kei-

ne Grundlage für einen normalen Staat bietet, sondern durch ethnischen Proporz die Ethnisierung

und damit die Spaltung der Gesellschaft und des Staates festschreibt. De facto haben sich die „Er-

folge“ der ethnischen „Säuberungen“ des Krieges zementiert. Die erzwungene Einheit des Landes

ist zerbrechlich. Die Mischung der verschiedenen Volksgruppen und Religionen und die anhaltende

tiefe ethnische Spaltung bleibt auch mehr als zwölf Jahre nach dem Krieg brisant. Nationalistische

Kräfte prägen nach wie vor das politische Geschehen.

13 Die Konvertible Mark wurde am 22. Juni 1998 in Bosnien-Herzegowina als Währung eingeführt. Sie war an den

Kurs der D-Mark (1 DM = 1 KM) angelehnt und ist damit heute an den Eurokurs gekoppelt (1 EUR = 1,95583 KM).

11

2.2. Serbien

2.2.1. Historische Entwicklung

Die Ära Milosevic

Nach dem Tod Titos begann der Aufstieg des serbischen Politikers Slobodan Milosevic. Er wurde

1989 Präsident von Serbien und 1990 zudem Vorsitzender der Sozialistischen Partei Serbiens und

damit zum mächtigsten Mann in Jugoslawien. Milosevic schlug offen einen großserbischen, natio-

nalistischen Kurs ein. Ziel war es, die dominierende Position Serbiens zu wahren und die serbischen

Minderheiten in den anderen Republiken zu schützen. Er installierte Gefolgsleute in Montenegro

und ließ im März 1998 die Autonomie der serbischen Provinzen Kosovo und Vojvodina aufheben,

um die Einheit Serbiens wieder herzustellen. Nach der Erklärung der Souveränität Sloweniens und

Kroatiens stürzte die ganze Region ab Mitte 1991 in einen Bürgerkrieg, in dem Serbien (über die

serbisch dominierte föderative jugoslawische Volksarmee) kroatische und bosnische Serben unter-

stützte, die die Schaffung eines Großserbien anstrebten.

Nach dem Daytoner Friedenschluss 1995 für Bosnien begann die Vorkriegszeit in Kosovo. Zwi-

schen 1990 und 1998 übten serbische Sicherheitskräfte in Kosovo de facto die Funktion von Besat-

zungstruppen aus. Mit dem Auftreten der radikalen Befreiungsarmee UCK eskaliert der Konflikt.

Im Mai 1998 begannen serbische Sicherheitskräfte mit der Offensive gegen die UCK, es folgten

Kämpfe und Massaker in Kosovo. Nach den gescheiterten internationalen Verhandlungen griff die

NATO im März 1999 Jugoslawien an, bis Milosevic im Juni dem Abzug serbischer Truppen aus

Kosovo zustimmte.

Die Zeit nach Milosevic

Milosevic verlor im September 2000 die Präsidentschaftswahlen gegen Vojislav Kostunica und

wurde, da er die Niederlage nicht eingestand, am 5. Oktober 2000 in einem Volksaufstand gestürzt.

Bei den Parlamentswahlen im Dezember 2000 errang die Demokratische Opposition Serbiens

(DOS) einen überwältigenden Sieg. Im Januar 2001 wurde Zoran Djindjic zum Ministerpräsidenten

gewählt. Milosevic wurde am 29. Juni 2001 an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag

ausgeliefert (wo er im März 2006 verstarb). Am 12. März 2003 wurde Zoran Djindjic von Attentä-

tern aus den Reihen der ehemaligen paramilitärischen Einheit „Rote Barette“ ermordet. Sein Nach-

folger wurde Boris Tadic. Mit der Annahme einer neuen Verfassung im Jahre 2003 wandelte sich

die 1992 gegründete Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) in einen losen Staatenbund um und änderte

ihren Namen in Serbien und Montenegro. Im Juni 2006 erklärte Montenegro seinen Austritt aus

dem Staatenbund. Im Februar 2008 rief die serbische Provinz Kosovo einseitig die Unabhängigkeit

aus.

12

Die innenpolitische Diskussion und Entwicklung wurden in den Jahren seit Milosevics Sturz zu-

nehmend von der Rivalität zwischen den herausragenden Führungspersönlichkeiten des ehemaligen

DOS-Bündnisses, Kostunica und Djindjic, bzw. Tadic bestimmt.

Die am 8. November 2005 begonnenen Stabilisierungs- und Assoziationsgespräche wurden im

Frühjahr 2006 von Seiten der EU unterbrochen, da nach deren Ansicht die Regierung in Belgrad

nicht genügend Aktivitäten zur Ergreifung der als Kriegsverbrecher gesuchten Radovan Karadzic

und Ratko Mladic unternahm.

2.2.2. Aktuelle Lage

Republik Serbien (Republika Sribija) seit 5. Juni 2006.

Präsident: Boris Tadic (DS), Ministerpräsident: Mirko Cvet-

kovic.

Zu Serbien gehört noch die Provinz Vojvodina (Provinz mit

Selbstverwaltungsrecht). Die einseitige Abtrennung der Pro-

vinz Kosovo erkennt Serbien nicht an. Die Einwohnerzahl be-

trägt 7.498.000, davon sind 82,8 % Serben, 3,9 % Ungarn, 2,1

% Bosniaken bzw. „ethnische Muslime“, 1,4 % Roma sowie

weitere insgesamt 21 Minderheitengruppen (Mazedonier, Bul-

garen, Deutsche u. a.).

Politische Lage

Nach der Unabhängigkeitserklärung Kosovos im Februar 2008 traten innerhalb der Regierung tief

greifende Meinungsverschiedenheiten über den weiteren Weg zur Annäherung an die Europäische

Union zu Tage. Die Regierungskoalition aus der nationalkonservativen Demokratischen Partei Ser-

biens (DSS) unter Ministerpräsident Kostunica und der pro-westlichen Demokratischen Partei (DS)

unter Präsident Boris Tadic zerbrach. Zur Unterstützung der pro-europäischen Kräfte im Vorfeld

der angesetzten Neuwahlen kam es am 29. April 2008 zur Unterzeichnung des SAA, das allerdings

erst im Kraft treten wird, wenn Serbien vollständig mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das

ehemalige Jugoslawien kooperiert.

Bei den Parlamentswahlen am 11. Mai 2008 konnte keines der beiden Lager eine eindeutige Mehr-

heit erzielen. Nach langwierigen Koalitionsverhandlungen einigten sich schließlich Ende Juni 2008

das von Präsident Boris Tadic angeführte Bündnis Für ein europäisches Serbien ausgerechnet mit

der früher von Slobodan Milosevic geführten Sozialistischen Partei Serbiens (SPS) und einigen

Vertretern von Minderheiten auf die Bildung einer Koalitionsregierung. Neuer Ministerpräsident ist

der parteilose Mirko Cvetkovic, der als treuer Gefolgsmann von Tadic gilt. Im Zentrum des Regie-

13

rungs- programms stehen die Integration in die EU, der Erhalt Kosovos im Rahmen Serbiens sowie

umfassende Struktur- und Wirtschaftsreformen.

Nur knapp zwei Wochen nach dem Amtsantritt der neuen serbischen Regierung und vier Tage nach

einem Personalwechsel an der Spitze des Geheimdienstes (BIA) erfolgte die Festnahme Radovan

Karadzics. Der serbische Außenminister kündigte an, dass auch die beiden letzten flüchtigen Ange-

klagten des UN-Kriegsverbrechertribunals, der ehemalige Militärchef der bosnischen Serben, Ratko

Mladic, und der frühere Chef der kroatischen Serben, Goran Hadzic, bald nach Den Haag überstellt

würden. Außerdem entschied die serbische Regierung, dass die serbischen Botschafter in jene EU-

Staaten zurückkehren werden, aus denen sie im Febraur aus Protest gegen die Anerkennung

Kosovos zurückbeordert worden waren. Zusätzlich zeigt sich Serbien auch zu Verhandlungen über

die Reform der UN-Mission und den Einsatz von EULEX in Kosovo bereit (vgl. 2.3.2.).

Nach der Verhaftung Karadzics demonstrierten Anhänger in Bosnien (Pale) und in mehreren Städ-

ten Serbiens, wobei es auch zu Straßenschlachten mit der Polizei und Verletzten kam. Präsident Bo-

ris Tadic erhielt anonyme Morddrohungen. Eine Funktionärin der Radikalen Partei (SRS) beschul-

digte ihn des Verrats und sagte, ihn könne das gleiche Schicksal ereilen wie den früheren Minister-

präsidenten Zoran Djindjic.

Wirtschaftliche Lage

Die serbische Wirtschaft wird als stabil beschrieben, befindet sich aber noch immer in einer schwie-

rigen Situation. 2007 konnte jedoch ein starkes Wachstum verzeichnet werden. In den vergangenen

Jahren sind auch die Realeinkommen (v. a. im öffentlichen Sektor) deutlich gestiegen.14 Ungeachtet

dessen hat sich die schlechte wirtschaftliche und soziale Lage eines Großteils der Bevölkerung noch

nicht wesentlich gebessert. Die Inflation liegt bei 15 %, das monatliche Durchschnittsseinkommen

beträgt rund 400 Euro. Die Arbeitslosenrate liegt bei 18 %, wobei jedoch auch von zahlreichen

nicht statistisch erfassten (illegalen) Beschäftigungsverhältnissen auszugehen ist. Vielen Serben

gelingt es nur, sich durch Schwarzarbeit und Auslandsüberweisungen ihre Existenz zu sichern. Ein

Drittel der Arbeitslosen ist jünger als 30 Jahre. Roma haben wegen häufig niedrigen beruflichen

Qualifikationsniveaus und sozialer Vorurteile nur schwer Zugang zum Arbeitsmarkt und gehen da-

her zu einem großen Teil der Schwarzarbeit nach. Die Schattenwirtschaft erzeugt nach Schätzungen

mindestens 30 % des BIP, die Überweisungen aus dem Ausland machen ca. 16 % aus.15

Menschenrechtslage

Die Menschenrechtslage in Serbien ist auf niedrigem Niveau stabil. Amtsmissbrauch und Folter im

Polizeigewahrsam und im Strafvollzug kommen noch immer vor. Weiterhin werden Verletzungen

des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Medienfreiheit gemeldet. Auch wenn radikale Gruppie-

14 Europäische Kommission , Progress Report, Serbia, November 2007 15 Kreditanstalt für Wiederaufbau, Deutschland (KfW), Landesinformationen Serbien, Januar 2006

14

rungen immer weniger Rückhalt in der Bevölkerung haben, sind Nationalismus und Extremismus

nach wie vor in der serbischen Gesellschaft verwurzelt. Ethnische und soziale Minderheiten, Jour-

nalisten und Aktivisten von Menschenrechtsorganisationen können Ziel von Einschüchterungskam-

pagnen bis hin zu tätlichen Angriffen sein. Die Lage der Minderheiten in Serbien entspricht bislang

nicht in allen Fällen internationalen Standards. Betroffen sind v. a. die Bosniaken im Sandzak, die

Albaner Südserbiens, die Minderheiten in der Vojvodina (Kroaten, Ungarn, etc.) und die Roma.

Insbesondere die wirtschaftliche und soziale Lage der Roma-Minderheit ist weiterhin prekär.

2.2.3. Bewertung

Eine der Hauptprioritäten der neuen serbischen Regierung ist offensichtlich die europäische

Integration, sie arbeitet diesmal ernsthaft daran, die geforderten Auflagen zu erfüllen. Noch fehlt es

aber an einer echten Vergangensheitsbewältigung, verbunden mit dem Eingeständnis eigener

Schuld. Nach der Festnahme von Karadzic erhofft sich Belgrad nun konkrete Unterstützung der EU:

den Kandidatenstatus bis zum Jahresende oder zumindest die Ratifizierung des Stabilisierungs- und

Assoziierungs- abkommens, die Abschaffung der Visapflicht und den Zugang zu den

Entwicklungsfonds. Nur so werden die Parteien ihre „unnatürliche Koaltion“, die Zusammenarbeit

mit den Staaten, die Kosovo anerkannt haben und die Festnahme Karadzics rechtfertigen könen.16

In Serbien ist die Teilung zwischen einem national-konservativen Lager, das den Westen ablehnt

und eine engere Anbindung an Russland sucht und einem pro-westlichen demokratischen Lager

nicht aufgehoben. Alle Wahlen der letzten Jahre wurden wesentlich entlang dieser Konfliktlinie

geführt, meistens nur mit einer marginalen Mehrheit für die Pro-Europäer. Die neue Regierung hat

eine starke Opposition gegen sich und verfügt nur über eine knappe Mehrheit. Trotz der jüngsten

Absetzung des Geheimdienstchefs (zuvor hatten den Posten Kostunica-Getreue besetzt) sind Ver-

waltung, Justiz, Polizei und Geheimdienst noch nicht wirklich unabhängig und entpolitisiert. Kor-

ruption und organisierte Kriminalität sind weiterhin ein großes Problem. Nationalisten und

Extremisten haben in Serbien noch immer Einfluss. Laut einer jüngsten Meinungsumfrage stehen

aber nicht mehr Kosovo, sondern die hohe Arbeitslosigkeit und der Lebensstandard bei der

Bevölkerung an erster Stelle. 67 % der Bürger Serbiens sind für einen EU-Beitritt. Westlich

orientierte serbische Jugendliche sind der nationalen Machtkämpfe, die das Land seit 15 Jahren an

der Entwicklung hindern, überdrüssig.

Serbiens größte Herausforderung für die nahe Zukunft ist sein Umgang mit dem unabhängigen

Kosovo. Es scheint derzeit unwahrscheinlich, dass Serbien ein souveränes Kosovo anerkennen

wird, dennoch besteht Hoffnung, dass es mittelfristig auch zu einer Normalisierung der

Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo kommen könnte.

16 derStandard, 23. Juli 2008, Belgrader Wunschliste

15

2.3. Kosovo

2.3.1. Historische Entwicklung

Vom 12. bis zum 14. Jahrhundert war Kosovo Kernstück des serbischen mittelalterlichen Reiches.

Unter dem Druck der osmanischen Expansion wanderten die Serben von Kosovo weiter nördlich in

die Region Belgrad. In den frei werdenden Räumen siedelten sich zunehmend Albaner an. Etwa seit

dem Ende des 17. Jahrhunderts dürfte die Mehrheit der Bevölkerung in Kosovo albanisch gewesen

sein. Bis zu den Balkankriegen 1912/1913 gehörte Kosovo dem Osmanischen Reich an. Bei der

Neuaufteilung des Balkans wurde es kein Teil des 1913 gegründeten ersten albanischen Staates,

sondern Serbien und Montenegro zugeschlagen. In der Zeit zwischen den Weltkriegen gehörte es

zum ersten jugoslawischen Staat, nach dem Zweiten Weltkrieg zu Titos kommunistischem Jugos-

lawien. Kosovo erhielt aber lediglich den Status einer autonomen Provinz innerhalb der Republik

Serbien. Unter Tito wurde der Autonomiestatus Kosovos gefestigt, die Provinz wurde weitgehend

mit den Republiken gleichgestellt, auch erhielten die Albaner die Anerkennung als Nationalität. Im

Unterschied zu den anderen Republiken hatten die Provinzen (Kosovo, Vojvodina) aber kein Recht,

sich von Jugoslawien zu lösen.

1989 hob Milosevic die Autonomie Kosovos auf, was schließlich in den Kosovo-Krieg mündete

(vgl. unter 2.2.1.). Am 24. März 1999 begann die NATO die Luftangriffe, im Juni 1999 rückte sie

nach Kosovo ein. Am 10. Juni 1999 wurde Kosovo auf der Basis der Sicherheitsrats-Resolution

1244 der vorläufigen zivilen UN-Verwaltung unterstellt. Völkerrechtlich gehörte Kosovo aber wei-

terhin zur Bundesrepublik Jugoslawien. Die nach dem Krieg einsetzende Rückkehrbewegung der

Kosovo-Albaner wurde begleitet von zahlreichen gewalttätigen Übergriffen gegenüber Serben und

anderen der Kollaboration mit den Serben beschuldigten Ethnien (insbesondere Roma).

Unter der UNMIK-Verwaltung verbesserte sich die Sicherheitslage und es entwickelten sich erste

demokratische Strukturen. Unter dem Druck der immer unzufriedener werdenden Kosovo-Albaner

stimmte der UN-Sicherheitsrat am 24.10.2005 der Aufnahme von Verhandlungen über den künfti-

gen Status der Provinz Kosovo zu. Ab Februar 2006 versuchten Vertreter der internationalen Ge-

meinschaft unter Leitung des UN-Vermittlers Marti Ahtisaari in mehreren Verhandlungsrunden

eine Einigung über den endgültigen Status Kosovos zu finden. Trotz des Widerstands Serbiens,

Russlands und der Bedenken einiger EU-Mitglieder (Zypern, Griechenland, Spanien, Rumänien)

unterstützten die USA und die meisten Länder der EU die Unabhängigkeitsbestrebungen Kosovos

unter der Bedingung, dass sich der neue Staat Kosovo dann unter internationale Oberaufsicht durch

die EU entsprechend dem Ahtisaari-Plan17 stellen würde. Die EU hat im Dezember 2007 die Statio-

17 UN Security Council, Comprehensive Proposal for the Kosovo Status Settlement, 26 March 2007,

http://www.unosek.org/docref/Comprehensive_proposal-english.pdf

16

nierung einer ca. 2.000 Mann starken EU-Mission (EULEX) beschlossen, die die UN-Verwaltung

nach einer Übergangszeit ablösen soll. Als Leiter wurde der französische General und ehemalige

KFOR-Kommandeur Yves de Kermabon, zum EU-Sondergesandten (EUSR) für Kosovo der Nie-

derländer Pieter Feith bestellt.

Das kosovarische Parlament hat schließlich am 17. Februar 2008 gegen den Willen des Mutterlan-

des Serbien seine Unabhängigkeit erklärt. In Serbien, in den serbischen Siedlungsgebieten in Ko-

sovo aber auch in anderen Ländern (Bosnien, Österreich) kam es zu teilweise gewalttätigen Protes-

ten gegen die Loslösung der Provinz. Die einseitige Sezession ist völkerrechtlich und international

umstritten. Mittlerweile haben 44 Staaten, darunter die USA und eine Mehrzahl der EU-Staaten den

neuen Staat Kosovo formell anerkannt.

2.3.2. Aktuelle Lage

Republik Kosovo (ca. 10.800 qkm). seit 17. Februar 2008 Prä-

sident: Fatmir Sejdiu (LDK), Ministerpräsident: Hashim Thaci

(PDK).

Von den schätzungsweise 2 bis 2,2 Millionen Einwohnern sind

ca. 90 . 95 % Albaner. Zu den ethnischen Minderheiten zählen

ca. 4 - 7 % Serben, 1 - 2 % Roma (Roma, Ashkali, Ägypter), 1 -

2 % Muslime (Bosniaken, Goranen, Torbesh) und wenige an-

dere (Türken, Kroaten).

Politische Lage

Die neue Republik Kosovo steht trotz Unabhängigkeit weiterhin unter internationaler ziviler und

militärischer Überwachung. Rund 17.000 Soldaten der NATO bleiben in Kosovo, darunter knapp

2.400 Deutsche. Vorgesehen war, dass UNMIK von EULEX nach und ablöst werden und nach In-

krafttreten der Verfassung am 15. Juni 2008 endgültig abziehen sollte. UNMIK kann sich aber erst

dann zurückziehen, wenn die UN-Resolution 1244 durch den Sicherheitsrat außer Kraft gesetzt

wird. Der ist jedoch durch das russische Veto blockiert. Russland und Serbien betrachten den neuen

Staat und die Präsenz der EU in Kosovo ohne UN-Mandat weiterhin als illegal. Die Kosovo-Serben

verweigerten bisher sowohl eine Zusammenarbeit mit der albanischen Regierung als auch mit

EULEX (s. u.). Als Ausweg aus der verfahrenen Situation hat der UN-Generalsekretär deshalb eine

Umstrukturierung und Verkleinerung von UNMIK vorgeschlagen. EULEX soll unter dem Schirm

der UN „statusneutral“ aufgebaut werden. Insbesondere in den mehrheitlich von Serben bewohnten

Regionen soll die Zuständigkeit der UNMIK für Polizei, Gerichte und Zoll bestehen bleiben und

diese an sämtlichen künftigen Verhandlungen über Verwaltungsfragen zwischen Belgrad und

Pristina beteiligt sein.

17

Die neue Regierung Serbiens zeigt sich mittlerweile zu Verhandlungen über die Reform der UN-

Mission und den Einsatz von EULEX in Kosovo bereit. Serbien würde dem Einsatz zustimmen,

wenn der UN-Sicherheitsrat das neue Mandat bestätigen würde.18

Vorerst kann die EU-Mission ihr Einsatzgebiet aber nicht auf den serbisch besiedelten Norden Ko-

sovos ausdehnen, hofft aber auch dort schrittweise tätig werden zu können. UNMIK hat unterdessen

eine starke Reduzierung des Personals in die Wege geleitet und schrittweise ihre Kompetenzen auf

die örtlichen Behörden übertragen; die Reform soll bis November abgeschlossen sein. Die Bereiche

Polizei, Justiz und Zoll sollen unter dem Schirm der UN in die Verantwortung von EULEX überge-

hen. Noch ist die Handlungsfähigkeit der EU eingeschränkt und es herrscht ein Provisorium. Es

etablieren sich Parallelstrukturen von UN und EU. Neben dem EU-Sonderbeauftragten (EUSR)

Pieter Feith, der für die Implementierung des Ahtisaari-Plans zuständig ist – und der eigentlich auch

als internationaler ziviler Beauftragter fungieren sollte, wenn die UNMIK abgelöst worden wäre –

agiert weiterhin der UNMIK-Verwalter (seit Juni 2008 Lamberto Zannier).

Daneben handeln die neuen kosovarischen Institutionen. Seit dem 7. Januar 2008 gibt es eine Koa-

litionsregierung unter Hashim Thaci (Demokratische Partei – PDK). Die PDK stellt sieben Minister,

die Demokratische Liga (LDK) fünf. Das Funktionieren der Regierung leidet teilweise immer noch

an der Unerfahrenheit und mangelnden Kompetenz der handelnden Personen. Die politische Elite

gilt als korrupt. Viele Politiker (u. a. Hashim Thaci) sind verdächtigt, in Korruptionsfälle und orga-

nisierte Kriminalität verstrickt zu sein. Vetternwirtschaft und Korruption sind weit verbreitet. Ko-

sovo gilt auch als Drehpunkt für Menschenschmuggel, Zwangsprostitution sowie Waffen- und Dro-

genhandel. Aus Sicht der internationalen Lenkungsgruppe (ISG) hat Kosovo seit der Erklärung sei-

ner Unabhängigkeit aber auch „große Fortschritte“ gemacht und die Führung des Landes „große

Reife“ bewiesen.19 Im April stellte die Regierung unter Ministerpräsident Thaci ihr Programm für

die nächsten zwei Jahre vor. Schwerpunkte sind die wirtschaftliche Entwicklung und die Umset-

zung des Statusprozesses.

Sicherheitslage / Lage der Kosovo-Serben

Die Sicherheitslage ist - mit Ausnahme Nord-Kosovos - seit der Unabhängigkeitserklärung stabil.

Auch die befürchteten Flüchtlingswellen sind ausgeblieben. Gewaltakte gegen ethnische Minder-

heiten sind keine bekannt geworden. Nach anfänglich gewaltsamen Protesten ist mittlerweile auch

die Lage in Nord-Kosovo und in den anderen serbischen Siedlungsgebieten etwas ruhiger ge-

worden, wird jedoch von KFOR weiterhin als „fragil“ bezeichnet.

Nach Schätzungen leben derzeit noch rund 120.000 Serben in Kosovo, davon etwa 60 % in Enkla-

ven im Süden des Kosovo und 40 % im serbisch dominierten, direkt an Serbien grenzenden Norden

Kosovos. Knapp 20.000 Kosovo-Serben halten sich im Nordteil der gespaltenen Stadt Mitrovica

18 RIA Novosti, 25.7.2008, Serbien wirbt für Kompromiss bei Umbau der UN-Mission 19 Basler Zeitung, baz.ch, 17.04.2008, Lenkungsgruppe: „Grosse Fortschritte“ in Kosovo

18

auf. Das Leben der Serben ist auf die von ihnen bewohnten Siedlungsräume, Dörfer und häufig un-

ter KFOR-Schutz stehenden Enklaven beschränkt. Nach den Ausschreitungen im März 2004 gab es

jedoch keine organisierten Übergriffe auf Serben mehr. Vereinzelt kommt es aber noch immer zu

Überfällen und Gewalttaten. Seit 1999 wurden insgesamt 135 orthodoxe Klöster und Kirchen zer-

stört.

Der überwiegende Teil der in Kosovo lebenden Serben erkennt den neuen Staat Kosovo nicht an.

Der Norden hatte sich schon vor der Unabhängigkeit nie vollständig der UN-Verwaltung unterstellt

und wurde praktisch von Belgrad regiert. Serbien finanzierte dort staatliche Institutionen in den

Bereichen Sicherheit, Gesundheit, Schulwesen und Infrastruktur. In den letzen Monaten hat es alles

darangesetzt, die serbischen Siedlungsgebiete unter seine volle Kontrolle zu bringen und versucht,

die bestehenden Strukturen mit finanziellen und politischen Mitteln weiter auszubauen und die in-

ternationale Verwaltung und den neuen Staat zu boykottieren. Nach der Abspaltung Kosovos

verweigerten kosovo-serbische Beamte (Polizisten, Richter, Eisenbahner) dem neuen Staat ihre

Dienste. Am 17. März (Jahrestag der Märzunruhen 2004) eskalierte in Mitrovica die Situation. Es

kam zu schweren Ausschreitungen, an denen bis zu 1.000 Serben teilnahmen. Bei den Unruhen

wurden rund 150 Personen verletzt, einige davon schwer, rund drei Dutzend Serben vorübergehend

festgenommen. Am 28.06.2008 (Tag der Schlacht auf dem Amselfeld) haben die Kosovo-Serben in

Mitrovica ein eigenes Parlament gebildet. Das Parlament soll „de facto“ Teil des Staatsapparates

von Serbien sein. An der konstituierenden Sitzung nahmen auch Mitglieder der Sozialistischen Par-

tei Serbiens (SPS) und Vertreter der Serbisch-Orthodoxen Kirche teil.

Menschenrechtslage

Entsprechend der Verfassung ist die Republik Kosovo ein demokratisches, multiethnisch zusam-

mengesetztes Staatswesen, das den Minderheiten starke Rechte zusichert. Alle notwendigen

Schutzmaßnahmen gegen Bedrohungen oder Diskriminierung gegenüber Minderheiten werden ge-

troffen und nationale Identitäten, Kulturen, Religionen und Sprachen respektiert. Unter UNMIK-

Verwaltung haben sich in Kosovo bereits demokratische Strukturen entwickelt. Sowohl die Polizei

als auch das Justizwesen in Kosovo stellen aber noch überaus schwache und in wesentlichen Fällen

handlungsunwillige Sicherheitsinstitutionen dar, die insbesondere für Angehörige von Minderheiten

keine neutralen Ansprechpartner präsentieren. Menschenrechtsorganisationen beklagen eine weit

verbreitete Straflosigkeit für Verbrechen, insbesondere wenn ein politischer oder ethnischer Hinter-

grund vorliegt. Viele Zwischenfälle werden nicht zur Anzeige gebracht, da die Opfer Vergeltungs-

maßnahmen durch die aus der Mehrheitsgesellschaft stammenden Täter befürchten. Niederschwel-

lige Gewalt gegen Minderheitenangehörige gehört zur Tagesordnung. Sie müssen sich im täglichen

Leben nach wie vor mit Problemen auseinandersetzen. Die gesellschaftliche Stellung der Minder-

heitengruppen ist geprägt von wirtschaftlicher und sozialer Diskriminierung; viele fühlen sich als

Bürger zweiter Klasse ohne Perspektive im Kosovo. Nach einer aktuellen Untersuchung von

19

UNICEF leben die meisten Roma unter katastrophalen Bedingungen in Slums und notdürftig er-

richteten Siedlungen am Rand der Städte.

Wirtschaftliche Lage

Die wirtschaftliche Lage in der eigentlich rohstoffreichen Region ist äußerst prekär. Noch heute ist

Kosovo eines der ärmsten Länder Europas und die soziale Lage hat sich innerhalb der letzten Jahre

dramatisch zugespitzt. Die Arbeitslosigkeit beträgt über 40 %. Gleichzeitig hat Kosovo mit einem

Durchschnittsalter von 25 Jahren nicht nur die jüngste Bevölkerungsstruktur Europas, sondern auch

die höchste Geburtenrate. 1/3 der knapp 2 Millionen Einwohner ist unter 14 Jahren. Jährlich drän-

gen 36.000 junge Leute neu auf den Arbeitsmarkt. 37 % der Bevölkerung leben mit einem Ein-

kommen von unter 1,42 Euro pro Tag unterhalb der Armutsgrenze, weitere 15 % unterhalb der ex-

tremen Armutsgrenze.

Im Haushalt Kosovos fehlen nach Schätzungen für die nächsten vier Jahre 1,4 Milliarden Euro. Am

11.7.2008 fand deshalb in Brüssel eine internationale Geberkonferenz für Kosovo statt. Insgesamt

haben die Geberländer eine Finanzhilfe von 1,2 Milliarden Euro zugesichert. Seit 1999 sind bereits

3,5 Milliarden Euro der internationalen Staatengemeinschaft nach Kosovo geflossen.

2.3.3. Bewertung

Kosovo ist noch weit davon entfernt, ein normales und stabiles politisches System zu haben. Das

diplomatische Hin und Her zwischen UNO und EU macht die Lage noch komplizierter. Die neue

Regierung steht vor einer Vielzahl von politischen und wirtschaftlichen Problemen. Noch macht die

völkerrechtlich umstrittene Unabhängigkeit eine Verankerung Kosovos in internationale Strukturen

schwierig und die überwachte Souveränität bleibt „ein Status minderer Qualität“, solange der EU

weit gehende Hoheitsrechte vorbehalten sind. Der alte Zustand wurde mehr symbolisch denn real

aufgehoben, dies könnte - bei einer anhaltend schlechten wirtschaftliche Lage - über kurz oder

lang wieder zu Frustrationen bei der Bevölkerung führen.

Kosovo ist ein de facto geteiltes Land. Fraglich ist, ob der neue Staat und EULEX ihre Autorität je

auf den serbisch bewohnten Norden Kosovos werden ausdehnen können. Mittlerweile zeichnet sich

eine Verfestigung und Erweiterung der parallelen Wirklichkeiten ab. Es droht ein lang andauernder

Konflikt. Eine ganz erhebliche Herausforderung bleibt es, alle in Kosovo lebenden Minderheiten zu

(re)integrieren und Nationalismus und Rachegedanken zu überwinden.

20

2.4. Montenegro

2.4.1. Historische Entwicklung

Im Laufe des 18. Jahrhunderts konstituierte sich Montenegro als unabhängiges modernes Staatsge-

bilde. Ende des 19. Jahrhunderts wurde Montenegro auf dem Berliner Kongress (1878) international

als unabhängiger Staat anerkannt. Bis 1918 blieb Montenegro ein souveräner Staat. Nach dem Ende

des Ersten Weltkrieges votierte das Parlament einstimmig für die Vereinigung mit Serbien. Monte-

negro wurde kleinstes Mitglied des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (Jugoslawien).

In der Sozialistischen Republik Jugoslawien war Montenegro von 1945 bis 1992 eine der Teilrepu-

bliken. Nach 1991 entschieden sich die Bürger Montenegros für den Verbleib bei Serbien. Beim

Referendum im März 1992 stimmten 96 % für die gemeinsame staatliche Zukunft. Am 27. April

1992 gründeten Serbien und Montenegro die neue Bundesrepublik Jugoslawien. Bis 1997 waren die

Montenegriner mit den Serben eng verbunden. Milo Djukanovic war ein enger Verbündeter Slobo-

dan Milosevics und in der damaligen jugoslawischen Armee mitverantwortlich für die Bombardie-

rung des unmittelbar an der montenegrinischen Grenze liegenden kroatischen Dubrovnik. 1997 ging

er auf Distanz zur jugoslawischen Führung und weigerte sich, Milosevics Kosovo-Politik mit zu

tragen. Seit dem herrschte kalter Krieg mit Serbien und Montenegro zeigte erstmals Sezessionsab-

sichten. Nur auf massivem Druck der EU kam im Jahre 2003 eine Einigung zu Stande, derzufolge

Montenegro bis 2006 in einem gemeinsamen Staatenbund mit Serbien verbleiben sollte, dann aber

eine Volksabstimmung über die Auflösung des Staatenbundes stattfinden könne. Bei der Volksab-

stimmung im Mai 2006 votierten 55,5 % für den Austritt Montenegros aus dem Staatenbund mit

Serbien. Damit wurde die vereinbarte 55 Prozent Hürde mit nur 2.000 Stimmen genommen. Die

von Djukanovic umworbenen albanischen und bosnischen Volksgruppen waren für die Erreichung

des Ziels wesentlich. Am 3. Juni 2006 hat sich Montenegro für unabhängig erklärt.

2.4.2. Aktuelle Lage

Republik Montenegro seit 3. Juni 2006.

Präsident: Filip Vujanovic (DPS)

Ministerpräsident: Milo Djukanovic (DPS)

Crna Gora, wie Montenegro (Schwarze Berge oder Schwar-

zes Gebirge) in der Landessprache heißt, hat lediglich

621.000 Einwohner. Es gibt eine montenegrinische bzw.

serbisch-montenegrinische Bevölkerungsmehrheit von etwa

70 %. Insgesamt bezeichnen sich 43 % als Montenegriner

und 32 % als Serben, 14 % als Bosniaken beziehungsweise

21

bosnische Muslime, 7 % sind Albaner und ein Prozent Kroaten.

Politische Lage

Montenegro ist Mitglied der Vereinten Nationen, der OSZE und des Europarates. Zudem wird der

Beitritt zur Europäischen Union und zur NATO angestrebt. Als erster Schritt wurde am 15. Oktober

2007 ein Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen mit der EU unterzeichnet.

Am 10. September 2006 fanden die ersten Parlamentswahlen nach der Unabhängigkeitserklärung

statt. Seitdem regiert eine Koalition aus der Demokratischen Partei der Sozialisten (DPS) von Milo

Djukanovic, der Sozialdemokratischen Partei (SDP), der Bosniakischen Partei (BP) und der albani-

schen Partei (LDP). Bei den am 06. April 2008 abgehaltenen ersten Präsidentschaftswahlen gewann

Amtsinhaber Filip Vujanovic mit über 51 % der Stimmen. Alle drei Herausforderer von Vujanovic

sprachen im Wahlkampf von Räuberprivatisierung und Vetternwirtschaft in Montenegro, einem

Polizei- und Mafiastaat, von Korruption und Kriminalität, Zigarettenschmuggel und der Bereiche-

rung einzelner Familien, von der uneingeschränkten Machtkonzentration in der DPS, die Monteneg-

ro wie ihr Privateigentum an zwielichtige Geschäftsleute aus Russland verkaufe. Vujanovic ist einer

der engsten Verbündeten von Premier Milo Djukanovic, der abwechselnd als Staats- oder Minister-

präsident sei 1991 souverän in Montenegro regiert.20 Seit Februar 2008 ist Milo Djukanovic Minis-

terpräsident. Der 46-jährige führt damit seit 1991 bereits viermal die Regierung. Zwischen 1998

und 2003 war er auch Präsident der Republik. Djukanovic, der nun schon seit fast 18 Jahren die

Politik Montenegros bestimmt, wird immer wieder sein autokratischer Führungsstil vorgeworfen.

Während des Wirtschaftsembargos gegen Jugoslawien im Zuge des Bosnienkriegs entwickelte sich

Montenegro zu einem Schmuggelnest für Benzin, Waffen und Zigaretten. Bis heute wird Djukano-

vic mit dem damaligen Geschäft in Verbindung gebracht. Die italienische Staatsanwaltschaft hat

Anklage wegen Unterstützung der Mafia und Zigarettenschmuggels über Montenegro nach Italien

erhoben. Als Ministerpräsident ist er durch Immunität geschützt.

Rechtsstaatlichkeit / Menschenrechte

Am 19. Oktober 2007 gab sich Montenegro eine moderne Verfassung. Trotz großer Fortschritte ist

das institutionelle System des Landes noch immer lückenhaft. Es bestehen noch Mängel bei der

Rechtssicherheit und in den administrativen Kapazitäten. Korruption und organisierte Kriminalität

stellen das Land weiterhin vor große Probleme. Nie aufgeklärt wurde auch die Ermordung des

Chefredakteurs der Zeitung "Dan" im Jahr 2004, die auch dem Djukanovic-Milieu zugerechnet

wird.

Die Regierung von Montenegro respektiert grundsätzlich die Menschenrechte ihrer Bürger. Alle

Minderheiten in Montenegro, vor allem auch die als „unruhig“ geltende albanische Bevölkerungs-

gruppe, wurden in das politische Leben des Staates miteinbezogen. So ist die albanische Sprache in

20 Hanns Seidel Stiftung, Serbien und Montenegro, Monatsbericht April 2008,

http://www.hss.de/downloads/0804_MB_Serbien.pdf

22

dem Hauptsiedlungsgebiet der Albaner (Städte Ulcinj und Tuzi) offizielle Unterrichtssprache in den

Schulen. Die Schüler können zwischen Serbisch/Montenegrinisch und Albanisch wählen. Lediglich

die soziale Lage der Roma ist nach wie vor schwierig und gibt laut EU-Fortschrittsbericht vom No-

vember 2007 „Anlass zu ernster Sorge“. Roma müssen nach wie vor mit äußerst schwierigen Le-

bensbedingungen und Diskriminierungen zurechtkommen. In der Mehrheitsbevölkerung sind die

Vorurteile gegen diese Minderheit weiterhin stark ausgeprägt.

Wirtschaftliche Lage

Seit der Unabhängigkeit hat sich der Kleinstaat rasch entwickelt. Serbien ist nach wie vor der größte

Wirtschaftspartner des Landes. Der größte Teil des Kapitals, das in Montenegro investiert wird,

kommt aus Russland. Die montenegrinische Wirtschaft befindet sich weiter in der Transitionsphase

zwischen sozialistischer Wirtschaft und sozialer Marktwirtschaft. Das Bruttoinlandsprodukt stieg

2007 um 7,5 %, für 2008 wird wieder ein siebenprozentiges Wachstum erwartet. Die Arbeitslosig-

keit liegt bei knapp 11 %, die Inflation bei 4 %. Als Beitrittskandidat erhält Montenegro von Brüs-

sel jährlich 33 Millionen Euro an Unterstützung.21 15 % des BIP werden heute durch Tourismus

erwirtschaftet. Das Gefälle zwischen Arm und Reich ist in Montenegro sehr hoch. Insbesondere im

Norden (Sandzak) ist die wirtschaftliche Lage noch schlecht. Das Gebiet gehört zu den Problemre-

gionen. Hier finden sich die Gemeinden mit dem geringsten Pro-Kopf Einkommen und mit der

höchsten Arbeitslosenziffer. Auf dem Land herrscht größtenteils Subsistenzwirtschaft. Viele leben

von der Schattenwirtschaft (Schmuggel, Imitation von Markenartikeln, Drogen).

2.4.3. Bewertung

Die Lage in Montenegro kann heute als relativ stabil bezeichnet werden. Montenegro ist das einzige

Land in Ex-Jugoslawien, auf dessen Territorium kein Krieg geführt wurde und kein ernsthafter eth-

nischer Konflikt stattfand. Die Trennung von Serbien vollzog sich friedlich, das Land ist seitdem

auf einen guten Weg. Probleme gibt es noch in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit (Korruption, or-

ganisierte Kriminalität) und Minderheitenrechte.

21 derStandard, 20.12.2007, Montenegro stellt Antrag auf EU-Mitgliedschaft

23

2.5. Mazedonien

2.5.1. Historische Entwicklung

1945/46–91 war Mazedonien (sozialistische) jugoslawische Teilrepublik mit eigener Verfassung.

Aus den Parlamentswahlen im November/Dezember 1990 ging die im Juli 1990 wieder gegründete

VMRO-DPMNE (dt.: Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation – Demokratische Partei der

Mazedonischen Einheit, deutsche Abkürzung IMRO) als stärkste Partei hervor, gefolgt von SDSM

(Sozialdemokratische Union Mazedoniens) und der PDP (Partei der demokratischen Prosperität,

Albanerpartei). Am 08.09.1991 stimmte die Bevölkerung in einem Referendum mit 74 % für die

staatliche Unabhängigkeit; mit Wirkung vom 19.11.1991 konstituierte sich Mazedonien als unab-

hängiger Staat.

Nach Erlangung der Unabhängigkeit

Auf der Grundlage einer am 10./11.01.1992 im albanischen Siedlungsraum organisierten Volksab-

stimmung (zu 99 % Zustimmung) proklamierte die albanische Minderheit am 05.04.1992 eine nicht

anerkannte „Albanische Autonome Republik llyria“ in ihrem Siedlungsgebiet. Die Parlamentswah-

len 1994 gewann die SDSM. Nach den Wahlen von 1998 übernahm eine Allianz aus IMRO und

DA (Demokratische Alternative) die Regierung.

In Nordwestmazedonien, im Grenzgebiet zu Kosovo und (Süd-)Serbien, provozierten ab Frühjahr

2000 bewaffnete Aktionen extremistischer albanischer Freischärler (UCK) einen neuen Konfliktfall

für die gesamte Balkanregion. Von März bis August 2001 kam es zu schweren Kämpfen mit der

mazedonischen Armee und Sicherheitspolizei. Die EU und die internationale Gemeinschaft dräng-

ten auf eine Lösung der ethnischen Probleme durch politischen Dialog.

Abkommen von Ohrid

Die Mitte Mai 2001 gebildete Allparteienregierung wurde zu einer verbesserten Integration der al-

banischen Minderheit in den mazedonischen Staat aufgefordert, u. a. Stärkung ihrer Grundrechte

und ihrer lokalen Verwaltung (Autonomie), Anerkennung des Albanischen als Amtssprache, Inte-

gration der Universität von Tetovo in das mazedonische Bildungswesen. Nach zähen Verhandlun-

gen zwischen Vertretern der slawischen und albanischen Mazedonier konnte am 13.8.2001 unter

internationaler Vermittlung in Ohrid ein Friedensvertrag unterzeichnet werden; wichtigste Punkte

waren eine Polizeireform und ein offizieller Status der albanischen Sprache in Gebieten mit min-

destens 20 % Anteil an der Bevölkerung. NATO-Truppen begleiteten die im Anhang des Friedens-

abkommens vereinbarte freiwillige Entwaffnung der UCK; 2003 übernahm die EU im Rahmen der

ESVP (Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik) die Führung der Militär- bzw. Polizei-

mission.

24

Nach den Parlamentswahlen 2002 wurde eine Koalitionsregierung aus SDSM und der im Mai 2002

gegründeten albanischen Partei DUI (Demokratische Union für Integration) gebildet. Staatspräsi-

dent Trajkovski kam bei einem Flugzeugabsturz im Februar 2004 ums Leben. Zu seinem Nachfol-

ger wurde der vorherige Ministerpräsident Branko Crvenkovski (SDSM) gewählt. Aus den Parla-

mentswahlen 2006 ging die IMRO als stärkste Partei hervor.

Im Streit um die Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos verließ die DPA (Demokratische Partei

der Albaner) im März 2008 die Koalition. Bei den von gewaltsamen inneralbanischen Machtkämp-

fen überschatteten Neuwahlen am 1. 6. 2008 wurde die IMRO erneut stärkste Kraft im Parlament.

2.5.2. Aktuelle Lage

Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien (EJR) (Re-

publika Makedonija).

Staatspräsident: Branko Crvenkovski.

Ministerpräsident: Nikola Gruevski

Die Bevölkerung beträgt (lt. Volkszählung von 2002) etwa

2,02 Mio. Einwohner, davon sind 64,2% ethnische Mazedo-

nier, 25,2% Albaner, 3,9% Türken, 2,6% Roma, 1,8% Ser-

ben, 0,8% Bosniaken, 0,5% Vlachen und ein Prozent sons-

tige Minderheiten.

Politische Lage

Aufgrund griechischen Einspruchs, der sich 1994 bis zum Embargo steigerte, wurde Mazedonien

erst 1993 unter der Bezeichnung FYROM - The Former Yugoslav Republic of Macedonia - in die

UNO aufgenommen. Im Dezember 1992 erfolgte die Stationierung von UN-Blauhelmsoldaten (bis

1999). Die wirtschaftliche und politische Isolation konnte durch die Normalisierung des Verhältnis-

ses zu Griechenland (1995; jedoch keine Einigung über den Staatsnamen) überwunden werden.

1995 wurde Mazedonien Mitglied des Europarates und trat dem NATO-Programm „Partnerschaft

für den Frieden“ bei.

Die Kosovokrise 1998/99 führte u. a. zur vorübergehenden Stationierung von NATO-Truppen. Be-

sonders der zeitweilige Massenzustrom von Kosovaren verschärfte die ethnischen Spannungen. Das

Verhältnis zu Bulgarien wurde 1999 vertraglich entspannt. Im Februar 2001 einigten sich Mazedo-

nien und Jugoslawien über den seit 1991 strittigen Grenzverlauf zwischen beiden Ländern.

Mazedonien strebt die Aufnahme in NATO und EU (2004 offizielles Beitrittsgesuch) an. Im April

2008 scheiterte ein NATO-Beschluss zur Aufnahme Mazedoniens als künftiges Mitglied wegen des

Namensstreits mit Griechenland.

25

Die Beziehungen der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien zur Europäischen Union

haben sich in den zurückliegenden Jahren rasch intensiviert. Seit Dezember 2005 hat Mazedonien

den Status eines EU-Beitrittskandidaten.

Rechtsstaatlichkeit / Menschenrechte

Die mazedonische Verfassung (vom 17. November 1991; mehrfach, zuletzt 2001, modifiziert) re-

gelt den Staatsaufbau nach dem Prinzip der Gewaltenteilung. Die Minderheitenrechte sind umfas-

send durch die Verfassung gewährleistet. Seit 1991 sind regelmäßig albanische Parteien in der Re-

gierung vertreten, 1999 haben sie sich erstmals an Präsidentschaftswahlen beteiligt.

Ein zentrales innenpolitisches Problem sind die interethnischen Beziehungen. Die bewaffneten Ü-

berfälle albanischer Extremisten 2001 brachten diese auf einen historischen Tiefpunkt und das Land

an den Rand eines Bürgerkriegs. Auf Drängen der internationalen Gemeinschaft unter Führung der

EU haben die politischen Parteien einen neuen, intensivierten, interethnischen Dialog begonnen.

Die Mehrzahl der ehemaligen albanischen Aufständischen hat sich in einer neu gegründeten politi-

schen Partei (Demokratische Union für Integration - DUI) unter Führung des ehemaligen Komman-

deurs Ali Ahmeti zusammengefunden. Diese war von 2002 - 2006 an der Regierung beteiligt, seit

August 2006 ist die zweitgrößte albanische Partei DPA an der Regierung beteiligt. Das Ohrider

Rahmenabkommen, das Grundlage für die friedliche Gestaltung der politischen Verhältnisse nach

den Ereignissen von 2001 ist, ist weitgehend umgesetzt, soweit es die Gesetzgebung betrifft.

Seit April 2008 ist es in den albanischen Siedlungsgebieten (Raum Tetovo und Kumanovo) zu Zwi-

schenfällen in Form von Brand- und Handgranatenanschlägen sowie zu Schiessereien zwischen

rivalisierenden albanischen Gruppen gekommen. Im Grenzgebiet zum Kosovo kam es vermehrt zu

Waffenschmuggel und dem erneuten Auftreten bewaffneter albanischer Gruppen.22

Wirtschaftliche Lage

Die politische Unabhängigkeit 1991 war mit einem starken wirtschaftlichen Niedergang verbunden,

erst nach 1996 setzte eine allmähliche, von Rückschlägen (Kosovokonflikt 1998/99) unterbrochene

Erholung der mazedonischen Wirtschaft ein. Das Wachstum der mazedonischen Wirtschaft lag

2006 bei insgesamt nur 3,1%; daher ist Ziel der aktuellen Regierung die möglichst schnelle Steige-

rung des Wirtschaftswachstums sowie die Bekämpfung der Korruption und der Abbau von Büro-

kratie. Das Durchschnittsnettogehalt lag im Dezember 2006 bei umgerechnet ca. 230 Euro. Die Ar-

beitslosenquote ist mit 36,3% (2006) sehr hoch. Die Quote der unfreiwillig Nichtbeschäftigten dürf-

te tatsächlich jedoch niedriger liegen, da die informelle Wirtschaft nach Expertenschätzungen ca. 40

% der nationalen Wirtschaftsleistung erbringt.23

22 Ländermonitor, 8. Mai 2008 – Nr. 17, Sektion MILA – Mazedonien – Zunehmende inneralbanische Auseinan-

dersetzungen im Vorfeld der Wahlen vom 1. Juni 2008; 23 Auswärtiges Amt, Länderinformation Mazedonien - Wirtschaftslage, Stand Oktober 2007

26

2.5.3. Bewertung

Die derzeitige Lage in Mazedonien ist zwiespältig. Einerseits sind Fortschritte in den Bereichen

Wirtschaft und Kampf gegen die Korruption zu verbuchen, andererseits ist der mangelhafte politi-

sche Dialog zwischen den Volksgruppen als Rückschritt zu bewerten. Verbesserungen in den Be-

reichen Justiz und Polizei, Minderheitenrechte und im Kampf gegen das organisierte Verbrechen

wären wünschenswert.24 Obwohl das Land seit 2005 den Status eines EU-Beitrittskandidaten hat,

kommt es regelmäßig zu erheblichen politischen Spannungen und in letzter Zeit auch wieder zu

kleineren Konfrontationen mit bewaffneten albanischen Gruppen, was dazu führte, dass die von der

Regierung in Skopje erhofften Beitrittsgespräche seitens der EU auf frühestens 2009 vertagt wur-

den.

24 Ländermonitor, 6. Dezember 2007 – Nr. 41, Mazedonien – EU-Fortschrittsbericht 2007 – Spannungen beim

Beitrittskandidaten

27

Anhang

Radovan Karadzic

Radovan Karadzic wurde 1945 in Montenegro geboren. Sein Vater kämpfte im 2. Weltkrieg auf

Seiten der ultranationalistischen Tschetniks, unter den Kommunisten kam er in Haft. Karadzics Fa-

milie wurde geächtet.25 Als er 15 Jahre alt war, zogen seine Eltern nach Sarajevo. Er studierte dort

Medizin und arbeitete bis in die späten achtziger Jahre als Psychiater, zuerst in einem Spital in der

bosnischen Hauptstadt, dann in der eigenen Praxis. In dieser Zeit ver-

fasste er auch einige Gedichtbände.

1990 wurde Karadzic der erste Vorsitzende der neu gegründeten Ser-

bisch Demokratischen Partei (SDS) in Bosnien. Angetrieben wurde er

von dem Gedanken, einen serbischen Staat zu gründen. Mit seinen

Schriften und Reden baute er ein Feindbild gegen die muslimischen

Bosniaken auf und drohte offen mit ihrer Ausrottung. Unter seiner

Herrschaft wurde am 7. April 1992 die Unabhängigkeit der Serbi-

schen Republik (Republika Srpska - RS) ausgerufen. Sitz der damali-

gen „Staatsführung“ unter „Präsident“ Karadzic“ war in Pale.

Karadzic 1994: Foto: Wikipedia.

Im Laufe des Bürgerkrieges konnte Karadzic als Oberkommandeur der Streitkräfte unterstützt von

Milosevic rund 70 % des Staatsterritoriums erobern. Es folgte dann allerdings der Bruch mit Milo-

sevic, da dieser letztendlich dem internationalen Friedensplan von Dayton zustimmte. Gegen Ende

des Krieges wurden Friedensverhandlungen nicht mit ihm, sondern direkt mit den Präsidenten Bos-

nien und Herzegowinas, Serbiens und Kroatiens (Izetbegovic, Miloseciv, Tudman) geführt. Auf an-

haltenden internationalen Druck hin musste Karadzic am 30. Juni 1996 als Präsident der Republika

Srpska abtreten. 26 Am 11. Juli 1996 wurde ein internationaler Haftbefehl wegen Völkermords,

Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen Karadzic erlassen. Dennoch führte er in Pale bis 1997 ein

fast unbehelligtes Leben, bis er untertauchte.

Unter falschen Namen lebte er jahrelang unterstützt von seinen Anhängern in Bosnien, Montenegro

und Belgrad und hat sich seinen Lebensunterhalt mit alternativer Medizin verdient. Obwohl auf

seine Ergreifung eine hohe Belohnung ausgesetzt war, gelang es ihm immer wieder, sich der Ver-

haftung zu entziehen. Zahlreiche Fahndungseinsätze und Razzien blieben ergebnislos. Am

21.7.2008 ist er in Belgrad schließlich gefasst und am 30.7.2008 nach Den Haag ausgeliefert

25 Welt Online, 22.7.2008, Nationalheld und grausamer Psychiater 26 Neue Präsidentin wurde (die später vom UN-Kriegsverbrechertribunal verurteilte) Biljan Plavsik.

28

worden. Die Festnahme erfolgte nur knapp zwei Wochen nach dem Amtsantritt der neuen

serbischen Regierung und vier Tage nach dem Personalwechsel an der Spitze des Geheimdienstes.

Der Amtsvorgänger war in der Ära Milosevics ein hoher Mitarbeiter des damaligen Nachrichten-

diestes gewesen.

Die Anklage27

Radovan Karadzic (und Slatko Mladic) wird vorgeworfen, für 75.000 zivile Opfer, für über 400

Massaker und rund 370 Lager verantwortlich zu sein. Das UN-Tribunal stützt sich auf zwei Ankla-

geschriften. Die erste ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil umfasst die Anklagepunkte Völker-

mord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen an Zivilpersonen und Zerstörung von

Kultstätten. Die Terrorisierung der Bevölkerung Sarajevos durch Heckenschützen bildet den zwei-

ten Teil der Anklageschrift. Der dritte Teil bezieht sich auf die Geiselnahme von UN-Blauhelmsol-

daten. Die zweite Anklageschrift hat die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Fall der UN-

Schutzzone Srebrenica zum Inhalt.

Der größte Teil der ersten Anklageschrift bezieht sich auf die Anfangszeit des Krieges. Karadzic

und Mladic werden verantwortlich gemacht für unrechtmäßige Inhaftierungen, Mord, Vergewalti-

gung, Folter, Raub und unmenschliche Behandlung von Zivilpersonen. Vorgeworfen werden ihnen

weiter die Verfolgung von Politikern und Intellektuellen, die Deportation von Zivilisten und die

Zerstörung von Privathäusern, Geschäften und religiösen Kultstätten, in diesem Fall Moscheen und

katholischen Kirchen. Namentlich aufgelistet werden die Leiter der Gefangenenlager Omarska, Ke-

raterm, Trnopolje, Luka, Manjaca, Susica und Foca, für die letztlich Karadzic und Mladic verant-

wortlich waren. Karadzic und Mladic hätten von den Zuständen in den Lagern genaue Kenntnis

gehabt und seien auch über das Verhalten ihrer Untergebenen genau informiert gewesen. Die Ver-

gewaltigung von Frauen und Mädchen in den Lagern war nur eine der verschiedenen Formen der

physischen und psychischen Erniedrigung der Gefangenen. Hinzu kamen eine völlig ungenügende

Ernährung, katastrophale hygienische Verhältnisse und fehlende medizinische Betreuung. Die In-

haftierung von Zivilisten in Lagern geschah vor dem Hintergrund ethnischer Säuberungen. Ein an-

deres Mittel der Vertreibung war die Beschießung stark frequentierter öffentlicher Plätze mit weit

reichender Artillerie, was jeweils zu Blutbädern führte und oft den beabsichtigten Exodus der Zivi-

listen bewirkte. Aufgelistet werden zwischen Juni 1992 und Mai 1995 insgesamt zwölf Fälle.

Im zweiten Teil der Anklage werden 70 Opfer serbischer Heckenschützen in Sarajevo namentlich

aufgelistet. Die beiden Angeklagten ordneten die Beschießung der bosnischen Hauptstadt nicht nur

an, es existieren auch Filmaufnahmen, auf denen Karadzic sich selbst als Heckenschütze betätigt.

Der dritte Teil der Anklage betrifft die Geiselnahme von Blauhelmsoldaten durch bosnische Serben

zwischen dem 26. Mai und dem 2. Juni 1995. Die Gefangennahme der UN-Soldaten erfolgte un-

27 NZZ 23. Juli 2008, die Untaten des Karadzics in Bosnien

29

mittelbar nachdem die UN der NATO die Erlaubnis erteilt hatte, mit Luftangriffen die weitere Be-

schießung Sarajevos zu verhindern. Noch am Tag des UN-Beschlusses zerstörten Flugzeuge der

NATO zwei Munitionslager bei Pale, Karadzics und Mladics Operationszentrum. Am Tag darauf

wurden sechs weitere Waffenlager bombardiert. Die Streitkräfte der bosnischen Serben nahmen als

Reaktion darauf über 360 UN-Angehörige als Geiseln; die Anklageschrift spricht von 284 Friedens-

soldaten, die in Pale, Sarajevo, Gorazde und andernorts an mögliche Ziele für Nato-Flugzeuge an-

gekettet und so als menschliche Schutzschilde missbraucht wurden, um weitere Bombardierungen

zu verhindern.

In der zweiten Anklage, die sich mit Vorfällen nach dem Fall der muslimischen UN-Schutzzone

Srebrenica befasst, werden Karadzic und Mladic Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlich-

keit und Verletzung des Kriegsrechts vorgeworfen. Am 11. Juli 1995 hatten die serbischen Truppen

Srebrenica beinahe kampflos eingenommen. Die bosniakischen Verteidiger waren entkräftet und

demoralisiert. Auf Befehl Karadzics wurde die UN-Schutzzone Srebrenica mit über 40.000 bosni-

schen Flüchtlingen von serbischen Truppen ohne Widerstand der niederländischen UN-Truppen

eingenommen. Der Kommandant der für die Region zuständigen niederländischen UN-Truppen

hatte zuvor vergeblich bei verschiedenen Stellen appelliert, die Schutzzone mit Luftangriffen gegen

den serbischen Ansturm zu verteidigen. Im Nachhinein wurde diese verweigerte Hilfeleistung von

verschiedenster Seite als eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Vereinten Nationen

bezeichnet. Nach dem Fall der Stadt hatte Mladic laut Anklageschrift den gefangen genommenen

muslimischen Männern einen sicheren Abtransport aus der Stadt versprochen. Die Männer wurden

von ihren Familien getrennt und später an verschiedenen Orten exekutiert. Dasselbe Schicksal er-

fuhren am 14. Juli auch alle Muslime der Stadt, die sich bereits in serbischer Gefangenschaft be-

fanden. Laut übereinstimmenden Angaben verschiedener Quellen fanden in Srebrenica mehr als

7000 Muslime auf diese Weise den Tod. Die Täter haben die Spuren sorgfältig zu verwischen ver-

sucht. Einige der Opfer von Srebrenica wurden mehrere Male aus- und wieder eingegraben, um die

Suche nach ihnen zu erschweren.

31

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