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Page 1: In Dankbarkeit und Freude meinen vier Kindern gewidmet · Vorwort Zahllosen Lehrmeisterinnen und Lehrmeistern der Melancholie, die ihre Melancholie leben, durfte ich begegnen; von
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In Dankbarkeit und Freude

meinen vier Kindern gewidmet

– Janos – Gabriel – Jasmin – Ajlina –

und meiner Lebensgefährtin Monika K.

mit Philip und Katja

Page 3: In Dankbarkeit und Freude meinen vier Kindern gewidmet · Vorwort Zahllosen Lehrmeisterinnen und Lehrmeistern der Melancholie, die ihre Melancholie leben, durfte ich begegnen; von

Josef Zehentbauer

Melancholie

Die traurige Leichtigkeit des Seins

PDF E-Book auf Grundlage der 4., korrigierten Auflage

von 2014

Peter Lehmann Publishing · Berlin · Shrewsbury· 2016

Page 4: In Dankbarkeit und Freude meinen vier Kindern gewidmet · Vorwort Zahllosen Lehrmeisterinnen und Lehrmeistern der Melancholie, die ihre Melancholie leben, durfte ich begegnen; von

Auch erhältlich als ePUB E-Book (ISBN 978-3-925931-48-2),

MobiPocket E-Book (ISBN 978-3-925931-49-9) und als ge-

druckte Ausgabe (ISBN 978-3-925931-45-1). Informationen

zu diesen Ausgaben finden Sie im Internet unter www.peter-

lehmann-publishing.com/buecher/zehentbauer_melan.htm

Original 2001 im Kreuz Verlag (Stuttgart)

Copyright by Josef Zehentbauer 2001, 2014 und 2016

Alle Rechte vorbehalten

Peter Lehmann Publishing

Berlin   Shrewsbury (UK)

Eosanderstr. 15 · 10587 Berlin

Tel. +49 / (0)30 / 85 96 37 06

[email protected]

www.peter-lehmann-publishing.com

Umschlagbild: Johannes Vermeer, Das Mädchen mit dem

Perlenohrring (Ausschnitt)

Umschlaggestaltung: Birgit Vogel, Berlin

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-925931-62-8

Page 5: In Dankbarkeit und Freude meinen vier Kindern gewidmet · Vorwort Zahllosen Lehrmeisterinnen und Lehrmeistern der Melancholie, die ihre Melancholie leben, durfte ich begegnen; von

Vorwort

Zahllosen Lehrmeisterinnen und Lehrmeistern der Melancholie,

die ihre Melancholie leben, durfte ich begegnen; von ihnen habe

ich wertvolle und tiefgründige Weisheiten erfahren.

Die 1. Auflage dieses Buches erschien 2001 im Kreuz Verlag.

Mittlerweile gibt es Übersetzungen in mehreren Sprachen, und

sicherlich haben einige Zehntausend Menschen das Buch gele-

sen (den niederländischen Buchtitel finde ich besonders faszi-

nierend: »De troost van melancholie«). Unzählige Male wurde

mir von Leserinnen und Lesern dankbar versichert, dass sie sich

durch dieses Buch in ihrer Melancholie tief verstanden fühlen.

Alle Menschen können den Reichtum der Melancholie in ihrer

Seele spüren – die einen weniger, die anderen mehr. »Melancho-

lie – Die traurige Leichtigkeit des Seins« ist ein Handbuch für

Individuen, die sich selbst, die Mitmenschen und die gesamte

Welt mehr begreifen wollen und nach Tiefgang, Kreativität und

positiver Kraft streben.

Der berühmte Philosoph und Melancholie-Forscher Raymond

Klibansky schrieb mir – was mich tief berührt – in einem persön-

lichen Brief folgende Zeilen: »Ihr Melancholiebuch bereitet mir

Freude. Je mehr Menschen Gelegenheit haben, über den proble-

matischen Charakter der Melancholie nachzudenken, desto bes-

ser.«

Nach dem Erscheinen des Buches gab es unter meiner Mitwir-

kung zahlreiche Interviews, Zeitschriftenartikel, Vorträge, Radio-

und Fernsehsendungen, und zusammen mit meinem Freund, dem

Theologen Alfred Rott, Melancholie-Seminare (wiederholt auf

der Fraueninsel / Chiemsee), die ein heftiges Medienecho aus-

lösten.

Die Erstauflage wurde seinerzeit von Monika Littel niederge-

schrieben. Bei der jetzt vorliegenden erweiterten und aktuali-

sierten 3. Auflage unterstützte mich mein Neffe, der Kunsthisto-

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Page 6: In Dankbarkeit und Freude meinen vier Kindern gewidmet · Vorwort Zahllosen Lehrmeisterinnen und Lehrmeistern der Melancholie, die ihre Melancholie leben, durfte ich begegnen; von

riker und Lektor Markus Zehentbauer. Ich danke ihm herzlich

für seine kreative Mitarbeit.

Bei der Lektüre dieses Buches werden Sie als Melancholikerin

oder Melancholiker spüren, zu den »Besonderen«, den »Außer-

gewöhnlichen« zu gehören, ohne dabei überheblich zu werden.

Und Sie werden merken, dass zur Melancholie nicht nur Trau-

rigsein gehört, sondern auch eine große Prise Lust und Freude.

Also – viel Spaß beim Lesen!

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Inhalt

Einleitung 9

Die traurige Ästhetik des Seins 13

Die Melancholie als ausgezeichnete Charaktereigenschaft 31

Sei gegrüßt, Heilige Melancholie 51

Bin ich depressiv? 59

Angst – die gutwillige Begleiterin 89

Im Diesseits das Jenseits schauen 101

Die Romantik lebt 121

Wahnsinn und Genie 137

Eros – Rose mit Dornen 149

Saturn oder Pluto 157

Der Mensch zwischen Grausamkeit und Liebe 165

Allein gegenüber Gott – Zur Philosophie der Melancholie 179

Epilog 194

Anhang: Übungen zum traurigen Glück 195

Literaturverzeichnis 210

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Page 9: In Dankbarkeit und Freude meinen vier Kindern gewidmet · Vorwort Zahllosen Lehrmeisterinnen und Lehrmeistern der Melancholie, die ihre Melancholie leben, durfte ich begegnen; von

Einleitung

Im Licht der untergehenden Sonne begegnet uns eine zierliche

Frau mit blassblauem Turban ... Als sie schon beinahe vorüber-

gegangen ist, dreht sie sich noch einmal um und schaut uns tief-

sinnig, freundlich an, mit einem traurig berührenden Lächeln ...

Sie zeigt eine Sehnsucht nach unendlicher Geborgenheit, die es

nie geben wird auf Erden ... Melancholie ...

Melancholie erfasst alle Menschen, alle Tiere und wohl auch

die Pflanzen und all die Dinge um uns, und Melancholie dringt

über das Irdische hinaus und strebt ins Jenseitige. Jeder hat die

Melancholie im Herzen, die einen mehr, die anderen weniger,

manche verdrängen sie und wieder andere gehen auf in der Me-

lancholie und erleben die traurige Leichtigkeit des Seins.

Die Melancholie ist niemals Krankheit, sondern eine wunder-

bare Charaktereigenschaft, voll von Tiefgang, innerer Kreativi-

tät, Frieden und (stiller) Leidenschaft. Nicht irgendeine Stim-

mung ist die Melancholie, sondern sie ist lebensnotwendig wie

die Luft zum Atmen. Vor allem künstlerisch oder lebenskünstle-

risch wirkende Melancholiker bauen kunstvolle Brücken zum

Unbeschreiblichen, zum Transzendenten. So sind die Melan-

cholischen in einer ungemein privilegierten und gleichermaßen

leidvollen Situation: Sie schöpfen aus dem tiefen Fundus

menschlicher Existenz, können in traurigem Glück schweben,

können aber auch hinabstürzen in die Tiefen ausweglosen Seins,

in depressives Leiden.

Am anderen Pol der Melancholie lagert die Trostlosigkeit der

Depression. Depression ist ein deutliches Zuviel an Melancho-

lie, doch ist auch die Depression nicht primär Krankheit (auch

wenn die Psychiatrie anderes behauptet), sondern Depression ist

– oft sehr belastende – Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod.

Die Frage, ob und wann Depression zur Krankheit wird, lässt

sich einfach beantworten: Ein depressiver Mensch ist dann

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krank, wenn er sich selbst als krank empfindet. Jedoch: Nicht je-

des Leiden ist Krankheit.

Melancholie und Depression sind zwei Begriffe, die Unter-

schiedliches verkörpern. Nochmals sei betont, dass die Melan-

cholie eine »gesunde« Art ist, in dieser Welt zu sein. Und für ei-

nen Depressiven wird es eine Erleichterung sein, wenn er aus

den Tiefen des Tränensees hochkommt (oder von anderen hoch-

gezogen wird) und sich – wieder – in das besinnlich schwanken-

de Boot der Melancholie rettet …

Die milliardenteure Neurotransmitter- und Psychopharmaka-

forschung erklärt bestenfalls einen Teil des stofflichen Äquiva-

lents der Melancholie, geht aber am eigentlichen Wesen der Me-

lancholie vorbei. Die Melancholie – diese Spannung zwischen

Trauer und Licht – soll nicht bekämpft oder therapiert werden,

sondern man sollte ihren Wert erkennen und respektieren. Wün-

schenswert wäre nicht weniger, sondern mehr Melancholie auf

dieser Welt, dann wäre sie friedlicher und gerechter, das Elend

in der Dritten Welt würde man mindern, und vielleicht würden

die Männer mit dem Kriegführen aufhören. Mehr Melancholie

könnte uns wieder mit den Zyklen der Natur verbinden, brächte

mehr profundes Wissen und – mehr Liebe. Dabei geht es nicht

darum, in die Strömungen von »new age« und esoterischen Mo-

deerscheinungen einzutauchen, sondern das Phänomen Melan-

cholie soll – wieder – wahrgenommen werden … die Melancho-

lie, die beharrlich die derzeitige Kultur des Konsumismus über-

dauert und infrage stellt ...

Schon der griechische Philosoph Aristoteles wies darauf hin,

dass »außerordentliche Menschen« – ob in Philosophie oder

Dichtung – Melancholiker sind. In der Melancholie wohnt

schier unerschöpfliches kreatives Potenzial. Die Melancholie

zeigt sich uns in vielen Facetten, und wir erleben und betrachten

»nur« die menschlich erfahrbaren Varianten. Ein solches Erfah-

ren und Darstellen der Melancholie kann nicht systematisch ge-

schehen. Und auch die Melancholie ist per se nicht einer Syste-

matik unterworfen. Es gilt einfach: Die Melancholie ist. Auch in

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Page 11: In Dankbarkeit und Freude meinen vier Kindern gewidmet · Vorwort Zahllosen Lehrmeisterinnen und Lehrmeistern der Melancholie, die ihre Melancholie leben, durfte ich begegnen; von

den nachfolgenden Kapiteln wird nicht nach einer aufgezwun-

genen Systematik vorgegangen. So werden Sie (scheinbare)

Widersprüchlichkeiten finden, surreale Vergleiche, traurige und

freundliche Perspektiven und – nicht selten – Pathos.

In den Text des vorliegenden Buches sind Gedichte und Zitate

eingestreut, die Sie bitte nicht nur mit den Augen, sondern mit

Ihrem Herzen lesen sollten. Wenn innere Reflexion und Kunst

zusammenfließen, dann werden bedeutende Aspekte des Seeli-

schen in den Bereich des Aussagbaren gebracht: Solchermaßen

entstehende Seelengedichte und Seelenbilder können uns –

wenn wir dafür offen sind – mehr berühren und bereichern als

tonnenschwere theoretische Abhandlungen.

Die Vernunft wird von einem melancholisch-romantischen

Menschen nicht verachtet, aber die Vernunft gibt ihre Rolle als

Oberlehrer der Wissenschaft auf und lässt sich einbetten in die

Poetik der Emotionen. Kopf und Herz gehen eine Einheit ein,

und statt der allseits vorherrschenden vernunft- und zweckbe-

tonten Wissenschaft entsteht eine empfindsame Wissenschaft:

Eine zu erforschende Blume wird nicht aus der Erde gerissen

und in mikroskopische Feinschnitte zerstückelt, sondern man

betrachtet die unversehrte Blume und versucht, sich in sie einzu-

fühlen, versucht, zur Blume zu werden. Die dabei gewonnene

Wahrnehmung und Erkenntnis wird nicht mit Tinte, sondern mit

Herzblut niedergeschrieben: Das mag pathetisch klingen, und

dennoch widerspricht es nicht der Ratio.

Ähnlich wie die unversehrt belassene Blume wird in dem vor-

liegenden Buch der melancholische Mensch mit großer Achtung

und Empathie betrachtet und beschrieben. Es wird nicht nur die

Würde des melancholischen Menschen respektiert, sondern zu-

sätzlich wird gefordert, man möge der Melancholie mehr Raum

geben und ihr mehr Wertschätzung zeigen, auf dass sie – die Me-

lancholie – zum Vorbild werde für möglichst viele Menschen …

Ziel dieses Buches ist es, den Millionen von Melancholikern

zu mehr Selbstbewusstsein zu verhelfen und die ausgesprochen

positiven Aspekte der Melancholie – neu – zu entdecken. Ziel ist

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überdies, sich als Melancholiker zu outen, ähnlich wie Lesben

und Schwule sich zu ihrer – sexuellen – Besonderheit bekennen.

Vor ein paar Jahren sagte ein allseits bekannter deutscher Politi-

ker: »Ich bin schwul – und das ist auch gut so!« Ähnlich könnten

alle hundertprozentigen Melancholiker in die umtriebige Welt

hinausrufen: »Ich bin Melancholiker – und dies ist wunderbar!«

Die Melancholie kann nicht endgültig beschrieben werden,

denn beim Sich-hinein-Begeben in die Melancholie kommt man

zu keinem Ende … Die Melancholie selbst ist endlos … Wenn

Sie wollen, treten Sie nun ein in den gleichermaßen dunklen wie

hellen Palast der Melancholie.

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Die traurige Ästhetik des Seins

Eine Geschichte sollte ich erzählen, und ich erzähle:

Ein traurig lächelnder Mann, der viel erlebt hat, verlässt sein

Zuhause und begibt sich auf eine lange Wanderung. Monat um

Monat, Jahr um Jahr wandert er dahin … schließlich wird er

müde, sehr müde und er – der gerade ein Tal durchqueren will –

setzt sich am Wegrand erschöpft zu Boden. Da erst sieht er, dass

eine hohe Mauer vor ihm steht und ein großes verriegeltes Tor.

Vor dem Tor ragt eine Wächterin, groß von Gestalt, mit langen

wallenden Haaren und einem Schwert in Händen.

»Darf ich eintreten?«, fragt der Mann.

Doch die Wächterin schüttelt den Kopf und sagt: »Nein.«

Da bleibt der Mann auf der Stelle kauern und wartet … und

wartet. Manchmal reicht die Wächterin ihm einen Krug mit

Wasser, eine Schale mit Reis … und der Mann wartet weiterhin

… wartet … wartet… Zeiten vergehen, lange, lange Zeiten …

Schließlich spürt der Mann, dass sein Ende naht, und er wagt

noch einmal, die Wächterin zu fragen: »Darf ich eintreten?«

Und die Wächterin antwortet: »Warte noch ein Weilchen …«

Der Mann bleibt in sich versunken, doch mit letzter Kraft

blickt er erneut zur Wächterin empor und spricht mit leiser, ge-

brochener Stimme: »Darf ich dich noch etwas fragen?«

Es antwortet die Wächterin: »Ja.«

»Warum?«, so fragt der Mann, »warum ist in all der langen,

langen Zeit, in der ich hier kauere und warte, kein anderer

Mensch gekommen, um Einlass zu erbitten?«

Die Wächterin lächelt freundlich: »Dieses Tor ist nur für dich

bestimmt.«

Da lächelt – unendlich müde – auch der kauernde Mann, lä-

chelt und seufzt tief … schließt die Augen. Nun öffnet die Wäch-

terin das Tor ganz weit, verneigt sich gegenüber dem Mann und

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Page 14: In Dankbarkeit und Freude meinen vier Kindern gewidmet · Vorwort Zahllosen Lehrmeisterinnen und Lehrmeistern der Melancholie, die ihre Melancholie leben, durfte ich begegnen; von

macht eine einladende Geste: »Tritt ein …« Alsdann entschwin-

det die Wächterin … und die Sonne verbleicht im Nebel …

Die eigentlichen Wahrheiten des Lebens werden überaus behü-

tet. Und selbst wenn das Tor zur Wahrheit offen stünde, wissen

wir nicht, ob wir es wagen würden, die Schwelle zu überschrei-

ten.

In all den Augenblicken dessen, was wir Leben nennen, spü-

ren wir hinter den lauten Tumulten des Alltags eine monotone

Einsamkeit. Und diese Einsamkeit kann sich zum Alleinsein

wandeln und dann Wegweiser werden bei der Suche nach der

Wahrheit des Lebens. Aber was heißt schon »Wahrheit«?

Jedenfalls verkriecht sich die Einsamkeit, wenn wir im Job

aufgehen, mit Kindern herumtollen, laut lachend mit anderen

Kaffee trinken, vor dem Fernsehapparat oder vor dem Computer

sitzen, Zeitschriften lesen, uns amüsieren, ablenken. Vielerlei

Arten von Ablenkung verführen uns, und vielleicht mögen viele

denken: Das ist angenehm und (vermeintlich) förderlich für das

Wohlbefinden.

Müssen wir denn unbedingt in den Tiefen schürfen und die

Grenzen unserer Existenz ergründen? … Müssen wir die Leiden

dieser Erde spüren und nach dem Jenseitigen schauen?

Wir müssen nicht. Doch da ist ein amorphes Sein in uns – in je-

dem Menschen (!) –, ein amorphes, dunkles und dennoch lichtes

Sein, das über die Individualität hinausragt. Dieses amorphe

Sein hat ein ernst lächelndes Antlitz, zeigt eine traurige, stille

Freude und stellt immer wieder fundamentale und ins Jenseits

zielende Fragen, die ohne Antwort bleiben. Dieses schwer er-

fassbare, alle Menschen tief im Herzen berührende Sein hat ei-

nen Namen: Melancholie.

Manche Menschen spüren nur wenig Melancholie oder ver-

drängen sie, andere werden von der Melancholie angezogen wie

von einem Magneten und versinken darin. Solche, von der ver-

schwommen-lichten Traurigkeit besonders erfüllte Menschen

werden Melancholiker genannt und sind Grenzgänger auf dem

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Page 15: In Dankbarkeit und Freude meinen vier Kindern gewidmet · Vorwort Zahllosen Lehrmeisterinnen und Lehrmeistern der Melancholie, die ihre Melancholie leben, durfte ich begegnen; von

schmalen Pfad zwischen Diesseits und Jenseits. Und manchmal

bauen die Melancholiker kunstvolle Brücken zum Unbeschreib-

lichen und zum Transzendenten.

Melancholie ist keine Krankheit, sondern eine – vielleicht tra-

gische – Auszeichnung, die den von der Tiefe des Lebens durch-

webten Menschen aus der grauen Durchschnittsmasse hervor-

hebt, ob die Betroffenen dies wollen oder nicht.

In melancholischen Menschen – wie in anderen Menschen

auch – gibt es ein inneres Gleichgewicht, das für Balance sorgt

und ein Abstürzen in Qualen, Grauen oder Panik verhindert.

Kippt dieses Gleichgewicht aus verschiedensten, individuellen

Gründen, dann kann beim melancholischen Menschen die Be-

findlichkeit umschlagen in leidvolle Schwermut, in tief betrübte

Depression. Dieser Zustand von unendlich bedrückender Trau-

rigkeit und schmerzlicher Trostlosigkeit wird meist als Krank-

sein, gar als depressives Kranksein erlebt und unterscheidet

sich erheblich von der – letztendlich gesunden – bittersüßen Me-

lancholie.

»Durch des Lebens Wüste irr ich glühend

Und erstöhne unter meiner Last,

Aber irgendwo, vergessen fast,

Weiß ich schattige Gärten kühl und blühend.

Aber irgendwo in Traumesferne

Weiß ich warten eine Ruhestatt,

Wo die Seele wieder Heimat hat,

Weiß ich Schlummer warten, Nacht und Sterne.«

(Hermann Hesse, »Irgendwo«)

Der melancholische Mensch geht nie konform mit dem Modi-

schen, dem Zeitgeist oder dem Trend von Werbung oder Show-

business, er durchschaut die oberflächlich leeren Fassaden und

leidet an der Hohlheit der derzeitig herrschenden Religion des

Konsumismus. Der Melancholische ist hierbei kein laut poltern-

der Kritiker, sondern zeigt durch sein resigniertes Verhalten und

durch sein betrübtes Gesicht, dass er das blendende Theater voll

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von Pseudo-Fröhlichkeit nicht teilen mag. Glitzernde Sternchen

vollführen allerlei scheinbare Kunststückchen und gefallen sich

in der Bewunderung durch das Publikum. Solch sorglos-unbe-

schwerte, gar um Begeisterung heischende Existenzen werden

von melancholischen Menschen mit Argwohn bedacht. Die Me-

lancholischen fungieren ein wenig als Spielverderber: Sie haben

gewissermaßen den göttlichen Auftrag, allen Menschen das

Endliche und Tiefgründige des menschlichen Seins vorzuleben.

Und das tun sie meist mit Inbrunst. Dabei wird die Melancholie

oftmals zu einem dauernden, launigen Jammern, das alles infra-

ge stellt und manchmal zum Wahnsinn treibt, aber eigentlich zur

Erkenntnis streben will. Wenn der Melancholische zum Wahn-

sinn treibt, dann betrifft dies keineswegs nur ihn – nicht selten

werden vom melancholischen Menschen auch Familienangehö-

rige, Arbeitskollegen, Freunde durch eine Flut von Pessimis-

mus, Seelenschmerz und Todessehnsucht mitgerissen und hin-

eingestürzt in einen Tränensee, oder sie werden dazu gebracht,

sich genervt vom Melancholischen abzuwenden.

Das Menschsein zeigt per se etwas Tragisches. Die Melancho-

lischen übersteigern gewissermaßen dieses Mensch-Sein und

bringen seine Tragik zur traurig-besinnlichen Blüte. Melancho-

lie wird somit zur stimmigen Antwort auf die – letztendlich so

empfundene – Unerträglichkeit des Seins. Der Philosoph und

Melancholiker Søren Kierkegaard meint: »Ich sage von meinem

Kummer, was der Engländer von seinem Haus sagt – mein Kum-

mer is my castle.«

Manchmal gibt sich die Melancholie als traurige Ästhetik des

Seins … Da ist der wehmutsvolle Rückblick in die eigenen ver-

gangenen Jahre oder Jahrzehnte … vergangenes Glück, das nie,

nie mehr wiederkehrt … Da ist die Lektüre oder das Theaterer-

lebnis griechischer Tragödien … oder ein herzberührender, trä-

nenbenetzter Film … Der »Tod in Venedig« oder eine andere,

emotionsvolle Traurigkeit … Gustav Mahler oder Francesco

Guccini … Die gefühlvoll bewegte Stimme einer Popsängerin

»… und wenn ich sterb’, dann stirbt nur ein Teil von mir, und

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Page 17: In Dankbarkeit und Freude meinen vier Kindern gewidmet · Vorwort Zahllosen Lehrmeisterinnen und Lehrmeistern der Melancholie, die ihre Melancholie leben, durfte ich begegnen; von

stirbst du, bleibt deine Liebe mir …« … In Wehmut und Liebe

Abschied nehmen … ein schön trauriges Gedicht … in schwer-

mütigen Träumen tränenverschleiert versinken … und: … seuf-

zen … ja, seufzen …

Das Seufzen ist der existenzerhaltende Odem des melancholi-

schen Menschen und erleichtert ein wenig die Bürde des Lebens.

Und das Seufzen kann sehr wohl über lächelnde Lippen kom-

men, und nach einem besonders inbrünstigen Seufzer kann gar

ein fröhliches Lachen stimmig sein.

»Mit leisen Harfentönen

Sei, Wehmut, mir gegrüßt!

Du, so die Freude weinen,

Die Schwermut lächeln heißt,

Kannst Wonn’ und Schmerz vereinen …«

(Johann Gaudenz von Salis-Seewis, »Die Wehmut«)

Süße Melancholie wird willkommen geheißen, und als sanfter

Schauer bringt sie die Freude zum Weinen und das Weinen zum

Lächeln. Freudentränen kennt jeder, doch die meisten haben ge-

lernt, sie meisterlich zurückzuhalten und keine tiefen Regungen

zu zeigen – cool bleiben heißt das Motto, cool bleiben wie

Humphrey Bogart oder David Bowie oder hyper-cool wie ein

Marlboro-Cowboy. Wer dagegen – bewusst – ein melancholi-

sches Bad nimmt, taucht ein in eine sanfte, honiggleiche Tristez-

za, wo Seelenschmerz und Wonne sich vereinen: Dann beginnt

die Schwermut wissend zu lächeln und aus dem Dunkel wird ge-

heimnisvolles Zwielicht. Der müde Kopf darf gelassen auf den

ausgestreckten Armen ruhen, und leise nähert sich die große

Trösterin – die Hoffnung. Sie schmiegt sich sanft dazu und

bringt Glanz in die Augen. Die Hoffnung nimmt das Leiden bei

der Hand und weist vielen Melancholischen den Weg zum abso-

luten Trost: Gottes Sterne leuchten, und seine Sonne wärmt uns,

und so kann man – wenn man gläubig ist – sich von Göttlichem

getragen fühlen.

Die Melancholiker sind empfänglich für die Worte der Verkün-

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Page 18: In Dankbarkeit und Freude meinen vier Kindern gewidmet · Vorwort Zahllosen Lehrmeisterinnen und Lehrmeistern der Melancholie, die ihre Melancholie leben, durfte ich begegnen; von

der von Heilslehren und Religionen – ob Christentum oder Hin-

duismus, ob Osho oder Buddha … und ebenso empfänglich für

Ideologien – ob Marxismus oder Kapitalismus. All diese Verkün-

der sind Propheten des Morgen. Doch das Morgen ist ungewiss,

denn jederzeit kann das Heute – im Diesseits – bereits das Ende

sein. Und das Jenseits ist mit einer Heilslehre nicht begreifbar.

Die melancholische Freude ist oftmals ernsthaft, ja sogar trau-

rig, aber auch eine traurige Freude erquickt das Herz. Die Freud-

losigkeit dagegen entsteht nicht aus der melancholischen Stim-

mung, sondern hat ihre Ursache im Wissen. Bei manchen Men-

schen vergehen mehrere Jahre ohne heftige, freudige Erregung.

Für ein Kind in einer wohlwollenden Umgebung vergeht kein

Tag ohne lebhaft-freudiges Sprühen, und sei es wegen kleiner

Anlässe. Die Unwissenheit des Kindes lässt Freude entflammen,

das Wissen des Erwachsenen (Alltagssorgen, kleine und große

Belastungen, politische Unwetter etc.) drückt und bedrückt und

kann gar jegliche Freude ersticken.

Wenn ein Melancholiker Glückliches erfährt – eine schöne Wan-

derung, berufliche Anerkennung oder Verliebtheit –, dann wird

dieses Glückliche nicht einfach angenommen, sondern – wie ei-

ne unfertige Speise – sorgfältig gewürzt mit Wehmut, bitterer

Zukunftssicht und süßer Traurigkeit. Erst dann entstehen, fein ab-

geschmeckt, trauriges Glücklichsein und melancholische Freude,

die sehr wohl sinnlich genossen werden können. Ein solch »um-

ständliches« Glücksempfinden wird in der modernen Glitzer-

welt von »Dont’t worry, be happy« nicht verstanden. Für den

Melancholischen gilt eher: »Do worry and – perhaps – be happy.«

Viele Melancholiker fühlen sich schon angesichts der immer

wiederkehrenden Anforderungen des Alltags überfordert und

wehren sich innerlich, in die alltägliche Tretmühle einzusteigen.

Werden Melancholische mit neuen, großen Anforderungen kon-

frontiert, dann fühlen sich manche von ihnen rat- und hilflos und

können eigentlich nur noch resigniert weinen.

Die meisten Leserinnen und Leser kennen wohl das Märchen,

das wie folgt beginnt:

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»Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine

schöne Tochter. Und es traf sich, dass er mit dem König zu

sprechen kam und ihm sagte: ›Ich habe eine Tochter, die weiß

die Kunst, Stroh in Gold zu verwandeln.‹ Da ließ der König die

Müllerstochter alsgleich kommen und befahl ihr, eine ganze

Kammer voll Stroh in einer Nacht in Gold zu verwandeln, und

könne sie es nicht, so müsse sie sterben. Sie wurde in die Kam-

mer eingesperrt, saß da und weinte, denn sie wusste um ihr Le-

ben keinen Rat, wie das Stroh zu Gold werden sollte …«

Ähnlich ratlos wie Müllers Tochter, aussichtslos ausgeliefert –

so empfinden sich Melancholiker angesichts der alltäglichen

Herausforderungen; und selten hat man im Alltag das große

Glück, das der schönen Müllerstochter beschert wurde: Ihr half

ein kleines Männlein mit dem geheimen Namen Rumpelstilz-

chen, alles Stroh zu Gold zu verwandeln.

Indem ein melancholisch gestimmter Mensch bei einem posi-

tiven Erlebnis gleich das Negative oder das potenziell Negative

mitbetrachtet, vollzieht er gewissermaßen eine Gesamtschau des

Ereignisses, sieht die Licht- und Schattenseiten gleichermaßen.

Dies schafft ihm eine einzigartige Übersicht im Leben. Er lässt

sich nicht blenden von einer augenblicklichen Versuchung und

sagt zu einer Chance, die einmalig scheint, nicht gleich begeis-

tert »ja«. Angesichts einer berghohen Herausforderung flüchtet

sich der Melancholische nicht in den Glauben, irgendein Rum-

pelstilzchen werde ihm schon helfen, sondern er neigt eher dazu,

das ganze Vorhaben seufzend aufzugeben. Die Umgebung wirft

dem Melancholiker allzu gern vor, er sei zu zauderhaft, ergreife

Chancen nicht, sei zu pessimistisch und überhaupt – nichts kön-

ne man ihm Recht machen. Wenn der Melancholische es schafft,

sich weitgehend von diesen drängenden Meinungen seiner Um-

gebung zu befreien (was wahrlich nicht leicht ist), dann wird er

merken, dass er – entgegen der Meinung der anderen – nicht ein-

geschränkt wahrnimmt, sondern ein breites Spektrum an Mög-

lichkeiten einbezieht. Wird der Melancholische sich seiner an-

nähernd ganzheitlichen Wahrnehmung bewusst, dann erfährt

seine Gestimmtheit erhellende Momente, und er erkennt sein

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Page 20: In Dankbarkeit und Freude meinen vier Kindern gewidmet · Vorwort Zahllosen Lehrmeisterinnen und Lehrmeistern der Melancholie, die ihre Melancholie leben, durfte ich begegnen; von

diskret-überlegenes Wissen; er spürt und ahnt mehr als andere,

welche Unternehmungen gefährlich, ruinös oder sinnlos sind.

Ja, dieses Erkennen ist etwas ganz Besonderes, denn der Melan-

choliker traut sich ansonsten eher wenig zu und spürt immer

wieder die Trauer, weniger zu sein als andere. Dieses Sich-klei-

ner-Fühlen als andere resultiert nicht aus Misserfolgen oder aus

unzulänglicher Begabung, sondern ist eine Grundüberzeugung,

die selbst durch offensichtliches Können, durch Erfolge und An-

erkennung nicht widerlegt werden kann. Man kann dies einen

Mangel an Selbstvertrauen nennen oder aber – richtiger – große

Bescheidenheit. Doch in unserer auf Ich-Stärke getrimmten Ge-

sellschaft sind Durchsetzungsvermögen, das »Andere-Überflie-

gen-Können« und aufgeblasenes Selbstwertgefühl die aner-

kannten Parameter für individuelles Wohlergehen.

Wenn das Power-Ego der Selbstwertapostel von seinem künst-

lich errichteten Thron herabsieht, dann lässt sich melancholische

Bescheidenheit, die sich selbst klein macht, nicht verstehen.

»Wer sich verneigt,

wird Größe erlangen

Wer nichts besitzt,

dem gehört alles

Wer bescheiden ist,

der wird erhöht

Lerne nachgiebig und weich zu sein

– so handeln die Weisen

und sind so Kinder der Wahrheit.«

Weise Worte von Laotse. Vergleichbares findet man – so man

will – auch im Neuen Testament.

In der herrschenden Kultur des Konsumismus muss man wis-

sen, was man will, man muss Ziele haben, man muss sich beruf-

lich durchkämpfen, und wer mit aller Macht seiner Ellbogen ir-

gendeine Hierarchieleiter erklimmt, der hat gewonnen und gilt

als Siegertyp. Bei solchen Wettrennen bleiben die Melancholi-

schen oft auf der Strecke – oder treten erst gar nicht an den Start:

Dann gelten sie rasch als Versager, als Feiglinge, als jemand, der

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nicht weiß, was er will. Tragischerweise sind die melancholi-

schen Menschen besonders empfänglich für solche Negativprä-

dikate: Sie schauen in den Spiegel und sehen sich als Versager,

das Selbstwertgefühl ist unter die Nullmarkierung gesunken. In

solchen Zeiten – und es gibt unendlich viele dieser Beispiele –

ist die Gefahr groß, dass der Melancholische innerlich ins

Schwanken gerät und in seine andere Ausprägung – ins Depres-

sive – umkippt. Am anderen Pol der Melancholie tut sich die

Depression auf wie ein schwarzer, tiefer Brunnen, in den man

hineinfallen kann.

Statt die Melancholiker zu verunsichern und aufzufordern, am

täglichen Überlebenskampf teilzunehmen und dabei die Schwer-

ter oder Revolver zu zücken, statt Durchhalteparolen zu verkün-

digen, könnten die unreflektiert vor sich hin kämpfenden »nor-

malen« Menschen von den Melancholikern gar Bedeutendes ler-

nen: friedlich sein und gleichmütig (= gleichen Mutes), nicht nur

nach außen schauen, sondern auch nach innen.

Ähnlich wie die Melancholie ist auch die Angst ubiquitär im

Leben auf dieser Erde. Und ebenso wie die Melancholie ist die

Angst ein in der Seele jedes (!) Menschen wirkendes Element.

Manche Menschen spüren kaum oder nur in zugespitzten Situa-

tionen Angst, andere sind von Angst besessen und wie gelähmt.

Der Melancholische hat eine ganz besondere Beziehung zur

Angst. Zwar begleitet die Angst jeden Menschen das ganze Le-

ben lang, von der Geburt bis zum Tode, doch der Melancholi-

sche spürt besonders intensiv diese dauernde Begleitung der

Angst. Die Angst ist dem melancholischen Menschen nahe und

vertraut, auch wenn er oftmals unter ihr leidet.

Angst ist notwendige Begleiterin und hat im Alltag durchaus

schützende Funktionen (Angst vor einem Verkehrsunfall etwa

lässt uns vorsichtig sein), doch Angst ist auch eine Spiegelung

unserer Abhängigkeiten und unseres Wissens um den Tod. Vor

allem die irrreale, unbestimmte Angst, die Angst, die scheinbar

grundlos ist und nicht fassbar – diese Angst lässt uns unge-

schminkt und nackt unser In-der-Welt-Sein hautnah erfahren.

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Im Zustand der irreal-unbestimmten Angst werden wir der irdi-

schen Sicherheiten beraubt und leben nun Wand an Wand mit

dem uns unbekannten Kosmischen, dem Alles oder dem Nichts.

Zum Melancholiker gehört weniger die spontan entstehende

Freude, wohl aber die stille Freude, ein introvertiertes Genießen

und – heimliche – Muße. Heimlich bleibt die Muße deshalb oft,

weil den Melancholiker zu viele Verpflichtungen rufen und Mü-

ßiggang eigentlich nicht erlaubt ist. Sich zuständig fühlen für

das Leiden anderer, für Ungerechtigkeit und Elend – auch dies

gehört zum Bild des Melancholischen. Der Melancholische

übernimmt nicht unbedingt die moralischen Vorstellungen an-

derer, sondern er selbst ist gelebte Moral – immer im Bewusst-

sein, nicht eigentlich das zu erreichen, was er »sollte«.

Nicht vermindern, sondern vermehren sollte man die Melan-

cholie auf Erden. Wäre mehr Melancholie auf dieser Welt, dann

gäbe es weniger Gewalt, weniger Elend in der Dritten Welt, viel-

leicht keine Kriege mehr und weniger Ungerechtigkeit und Un-

gleichheit, es entstünden mehr Gleichklang mit den natürlichen

Rhythmen dieser Erde und ein Mehr an tiefem Wissen und …

mehr Liebe.

»Trocknet nicht, trocknet nicht,

Tränen der ewigen Liebe!

Ach, nur dem halbgetrockneten Auge

Wie öde, wie tot die Welt ihm erscheint!«

(Johann Wolfgang von Goethe, »Wonne der Wehmut«)

Wenn Melancholie und spirituelles Suchen sich verbinden, kann

sich der Zugang öffnen zu einer erfüllenden, geistigen Welt. Da-

bei tut sich der Melancholische leichter, wenn er nicht im Mysti-

schen forschen muss, sondern wenn er sich an relativ festen reli-

giösen Strukturen orientieren kann. Wer als Melancholiker die

heiligen Stätten seiner geistigen Welt betritt, kann sich leichter

als andere hingeben, sich öffnen und ins Innerste schauen. Das

melancholische Ergriffensein kann leise Wunder wirken, Wun-

der, über die man nicht spricht. Søren Kierkegaard, dessen ganze

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