inhaftiert reader de
TRANSCRIPT
INFORMATION
zu der Fotoausstellung „INHAFTIERT“ von
Franziska Vu (Berlin)
Fotografien und Berichte aus der Untersuchungsanstalt der
Staatssicherheit
in Zusammenarbeit mit
Zentrum für zeitgenössische Kunst „Soviart“
Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen
Kulturring in Berlin e.V.
Im Zentrum für zeitgenössische Kunst „Soviart“ in Kiew
Andiievskyi uzviz 22-a
3. - 27.06.2010
2
Stasiopfer
Als Stasiopfer werden Personen bezeichnet, deren Leben, Gesundheit, persönliche Freiheit oder
Eigentum aufgrund politischer Verfolgung durch Maßnahmen des Ministeriums für Staatsicherheit
in der Zeit der DDR zu Unrecht beeinträchtigt wurde.
Stasi-Gefängnisse
Das Ministerium für Staatssicherheit hatte eigene Untersuchungshaftanstalten in allen Bezirken der
DDR. Darüber hinaus verfügte es über die Kontrolle von Strafhaftanstalten. Beispiele sind die
Gefängnisse in Bützow, Brandenburg (Zuchthaus Brandenburg), Berlin (Gedenkstätte Berlin-
Hohenschönhausen), Halle (Roter Ochse), Cottbus, Bautzen (Gelbes Elend), Chemnitz (Haftanstalt
Chemnitz) und in Hoheneck. Betroffene aus diesen Gefängnissen haben über Zustände und
Verhörpraktiken berichtet, die als Folter gewertet werden. Da jedoch keine äußeren Spuren von
diesen Praktiken zu sehen waren und die Betroffenen stattdessen psychologische Schäden
davontrugen, werden diese Verhörmethoden auch als Weiße Folter bezeichnet.
http://de.wikipedia.org/wiki/Stasiopfer
http://khpg.org
http://library.khpg.org
http://archive.khpg.org
3
FRANZISKA VU
wurde 1976 in Berlin geboren. 1999 schloss sie eine Ausbildung zur
Fotografin ab und arbeitete zunächst als Fotografin bei Fotografie: Schumann. Seit
2003 ist sie freischaffende Fotokünstlerin und Dozentin an der Fachschule Potsdam. Sie ist
Gründungsmitglied des 2005 entstandenen „Art Club Kulanshi“. Ihre Arbeiten werden im
In- und Ausland gezeigt und wurden mehrfach ausgezeichnet.
Für das Projekt „Inhaftiert – Fotografien und Berichte aus der Untersuchungshaftanstalt für
Staatssicherheit“ war sie für den Kulturring in Berlin e.V. tätig. Es wurde für den Marion
Dönhoff-Preis für internationale Verständigung und Versöhnung 2005 nominiert.
FRANZISKA VU
was born in 1976 in Berlin. In 1999 she completed her degree in photography
and landed her first job as a photographer at Fotografie: Schumann. Franziska Vu has been
a freelance photographer since 2003 and she works as an instructor at the Potsdam
Technical College. She is a founding member of the Kulanshi Art Club, established in 2005.
Her award-winning work has been shown in Germany and abroad. Vu created ”Detained –
Photographs and Eyewitness Accounts from a Stasi Jail“ on behalf of Kulturring in Berlin e.V.
The project was nominated for the 2005 Marion Dönhoff Award for international understanding
and reconciliation.
w w w.franziska-vu.de
4
Dr. Jörg Kürschner
- VERBOTENE LITERATUR -
Geboren 1951 in Hannover. Heute arbeitet er als Parlamentskorrespondent in Berlin und wurde
im November 2003 zum 1. Vorsitzenden des „Förderverein Gedenkstätte Berlin –
Hohenschönhausen“ gewählt. Er studierte Rechtswissenschaften in Bonn und arbeitete nach dem
Examen als wissenschaftlicher Assistent bei einem Bundestagsabgeordneten. Bereits 1972 begann
eine Freundschaft mit einem DDR-Deutschen aus Jena.
Warum wurden Sie inhaftiert?
Ich bin Ende Dezember 1979 bei der Einreise in die DDR inhaftiert worden,
als man mein Auto durchsuchte und feststellte, dass ich mehrere Bücher und
viele Zeitungsausschnitte dabei hatte, deren Einfuhr verboten war. Nach DDR-Strafrecht waren dies
Hetzschriften. Konkret waren es Bücher von Rudolf Bahro „Die Alternative“, von Reiner Kunze
„Die wunderbaren Jahre“, von Robert Havemann „Fragen, Antworten, Fragen“, und es waren auch
Kopien von Zeitungsausschnitten aus dem „Spiegel“ und der „Zeit“, die sich mit der DDR befassten.
Wussten Sie, dass diese Literatur in der DDR verboten war und was für
Konsequenzen dies für Sie haben kann?
Ich wusste, dass die Einfuhr verboten war, sonst hätte ich die Literatur nicht versteckt. Ich habe
allerdings niemals gedacht, dass ich zu fünf Jahren und acht Monaten verurteilt werden würde und
davon zwei Jahre absitzen musste. Das kann man als Naivität bezeichnen, es war halt so und es ist
so passiert.
Warum haben Sie überhaupt Bücher in die DDR geschmuggelt?
Ich war mit einem DDR-Deutschen aus Jena befreundet, den ich bereits 1972 in Polen kennen
gelernt hatte. Er war an Literatur von und über DDR-Oppositionelle interessiert. Vor meiner
Inhaftierung hatte ich ihm schon zweimal Bücher mitgebracht.
Hat Ihr Freund nach Ihrer Inhaftierung Ärger mit der Stasi bekommen?
Natürlich! Als Besucher aus dem Westen benötigte man eine Einladung. Diese
hatte mein Freund aus Jena ausgesprochen. Es ging um die Silvesterfeier
1979/1980. Bei meiner Inhaftierung haben die Stasimitarbeiter sofort gesehen, wer mich
eingeladen hat. Und dieser Freund ist dann observiert und etwa zweieinhalb Monate später auch
inhaftiert worden. Er wurde ebenfalls wegen staatsfeindlicher Hetze verurteilt.
13
Wie lange waren Sie inhaftiert?
Ich war zwei Jahre in der DDR inhaftiert. Von 1979 bis 1981 wegen des Vorwurfs der
staatsfeindlichen Hetze. Verurteilt worden bin ich vom Bezirksgericht Gera zu fünf Jahren und acht
Monaten. Ungefähr fünf Monate der Untersuchungshaft habe ich hier, in dem zentralen
Untersuchungsgefängnis des MfS in Berlin-Hohenschönhausen, verbracht.
5
Haben Sie Ihren früheren Stasi-Vernehmer nach der Wende wiedergetroffen?
Nein. Ich habe versucht ihn ausfindig zu machen, weil ich eine Strafanzeige
gegen ihn gestellt hatte wegen Freiheitsberaubung und Nötigung. Damit wollte ich deutlich
machen, dass ich mich mit dem menschenrechtswidrigen Handeln dieses Stasimannes nicht einfach
so abfinden wollte. Ich wollte ihm Ärger bereiten, ihn persönlich delegitimieren. Als Jurist war ich
ziemlich sicher, dass er nicht verurteilt werden würde. Joachim G., so der Name des Vernehmers,
war nach polizeilicher Auskunft nicht auffindbar. Das Verfahren ist dann erwartungsgemäß
eingestellt worden. Strafanzeigen habe ich auch gegen den Vorsitzenden Richter und den
Bezirksstaatsanwalt gestellt.
Was haben Sie während der Haft in Hohenschönhausen erlebt?
Zunächst wusste ich gar nicht, dass ich in Hohenschönhausen war. Ich war in
Einzelhaft, konnte also mit niemandem reden. Erst nach ca. eine Woche habe
ich durch den Vernehmer erfahren, wo ich wirklich war. Wenn ich meine zwei
Jahre Haftzeit rekapituliere, komme ich zu dem Ergebnis, dass die Zeit in
Hohenschönhausen die Schlimmste war; eben aufgrund dieser totalen Isolation, sowohl in der
Einzelzelle, als auch insgesamt. Der Vernehmer besaß das Kommunikationsmonopol und war sich
dessen bewusst. Dann darf man den Haftschock nicht vergessen. Insgesamt war
Hohenschönhausen psychische Folter, und die war außerordentlich schwer zu ertragen.
Weswegen wurden Sie noch verhört?
Den Sachverhalt musste ich zugeben, weil ich ja bei der Einreise auf frischer Tat ertappt worden
war. Es ging in den späteren Vernehmungen darum abzuklären, wen ich in der DDR gekannt habe,
und es ging um mein gesellschaftliches Umfeld in der Bundesrepublik. Zunächst bin ich fast täglich
zu dem Vernehmer gebracht worden. Das ließ später nach.
Ich war sogar ganz froh, dass ich oft dort hingebracht wurde, weil ich mir
dadurch eine rasche Beendigung dieses Verfahrens erhoffte, was eine völlig
irrige Vorstellung war, wie sich später herausstellte. In Wirklichkeit hat
der Vernehmer meine Situation und sein Kommunikationsmonopol ausgenutzt.
Von jeder Vernehmung wurde handschriftlich ein Protokoll erstellt, das ich
unterschreiben sollte. Ich habe es meistens unterschrieben, manchmal nicht.
Es war völlig egal, ob man es unterschreibt, völlig egal.
Hat die Stasi Bekannte, Freunde und Ihre Familie in das Ermittlungsverfahren
einbezogen?
Während des sechsmonatigen Ermittlungsverfahrens sind mir verschiedene
Zeugenaussagen vorgelegt worden. Zum einen von DDR-Deutschen, die ich zum
Teil nur sehr entfernt kannte. Damit war mir klar, dass die Stasi meine
Einreisen in die DDR und nach Ostberlin kontrolliert hatte. Es wurde genau
recherchiert, mit wem ich Kontakt hatte; Tagesaufenthalte in der „Hauptstadt der DDR“
eingeschlossen. Was die BR Deutschland anging, so überraschte mich der Vernehmer damit, dass er
mir den Namen meiner Stammkneipe in Bonn nannte. Dass die Stasi das politische Bonn infiltriert
hatte, ist nach der Wende offenkundig geworden. Nicht zuletzt durch die Recherchen von
Gedenkstättenchef Hubertus Knabe.
6
Wie sind Sie freigekommen?
Es gab ja seit Anfang der sechziger Jahre zwischen den beiden Staaten in
Deutschland den Freikauf, so hieß es im Westen. Ich bin freigekauft worden.
Nach ziemlich genau zwei Jahren, im Dezember 1981. Damals hatte Bundeskanzler Helmut
Schmidt die DDR offiziell besucht. Wenige Tage danach bin ich entlassen worden.
Woher wusste die Bundesrepublik von Ihrer Inhaftierung?
Es gab zwischen den beiden Staaten ein Konsularabkommen, das die DDR
verpflichtete, Inhaftierungen von Westdeutschen innerhalb eines bestimmten
Zeitraumes der Bundesrepublik zu melden. Rechtsanwalt Wolfgang Vogel hat meinen Fall
übernommen. Meine Hoffnung, ich würde nach Abschluss der Ermittlungen aus der DDR
ausgewiesen, also nicht zu Strafhaft verurteilt, erfüllte sich nicht. Nach der Hauptverhandlung mit
dem niederschmetternden Urteil habe ich auf Rechtsmittel verzichtet, auch auf Anraten meines
Anwalts, denn erst mit einem rechtskräftigen Urteil kommt man, wie er es formulierte, in die
„Exportkiste“, d. h. also in den Kreis derjenigen, die auf der Freikaufliste stehen.
Wie wurden Sie nach Hohenschönhausen gebracht?
Mit einem Kleintransporter B1000. Das war ziemlich schlimm. Erstens aufgrund der Kälte, es war
ja Dezember, und man saß da in Handschellen gefesselt in einer ganz kleinen Zelle dieses B1000,
die verschlossen war. Mir hat man die Brille abgenommen, und ich wusste nicht wo es hin ging.
Wenn es einen Unfall gegeben hätte - es schneite, das sah ich beim Betreten des Wagens – die
Folgen wären nicht auszudenken gewesen. Das war schon schlimm.
15
Warum wurde Ihnen die Brille abgenommen?
Das war so eine Methode der Stasi, um Macht zu demonstrieren und zugleich
meine eigene Bedeutungslosigkeit zu unterstreichen. Man sollte sich als völlig ausgeliefertes Wesen
begreifen, und so war es.
Was war das schlimmste Erlebnis für Sie?
Diese Isolation, diese Ungewissheit! Sie wussten ja nie, was passiert. Sie
sitzen da, es ist ruhig, Sie hören nichts, keine Geräusche und Sie wissen
nicht, was passiert während der Untersuchungshaft, und das macht einen total mürbe. Ich kenne
Mitgefangene, die waren so froh, wenn sie vom Vernehmer geholt und angesprochen wurden, dass
sie geheult haben. Die Isolation, die Ignoranz des Gefängnispersonals und die üblen Tricks des
Vernehmers. Ein Beispiel: Am Ende der Vernehmung, unmittelbar bevor mich der Schließer in die
Zelle zurückbringen wollte, sagte der Vernehmer: „Ach übrigens, ich habe da noch einen Brief von
Ihrer Freundin, den kriegen Sie dann nachmittags.“ Da war ich total euphorisch, endlich Post! Aber
nachmittags war dann keine Vernehmung; ich bekam den Brief also nicht. Es hat dann 4-5 Tage
gedauert, bis ich ihn lesen konnte. Und so was macht natürlich mürbe. Ein weiteres Beispiel:
Meinen allerersten Brief habe ich an meine Mutter geschrieben. Nach der Verhaftung war ich
natürlich froh, endlich ein Lebenszeichen geben zu können. Nach drei, vier Tagen habe ich den
Brief zurückbekommen. Der Vernehmer sagte mit gespieltem Bedauern: „Tut mir leid, den Brief
konnten wir so nicht rausschicken. Einzelne Formulierungen in dem Schreiben gehen so nicht.“
7
Und ich hatte geglaubt, meine Mutter, die sich große Sorgen machte, hätte meine Zeilen längst
gelesen. Das ist psychische Folter. Ebenso das Wecken der Illusion, es würde in meinem Fall nicht
zum Strafverfahren kommen, zumal sich die Argumentation des Vernehmers gar nicht so
unplausibel anhörte. „Die DDR kann es sich doch gar nicht leisten, den Bürger eines anderen
Staates wegen staatsfeindlicher Hetze, also wegen eines politischen Delikts, zu verurteilen. Das
kann man sich international gar nicht leisten“,
so die Worte des Vernehmers. Das habe ich eine Zeit lang geglaubt. Und als ich dann merkte, wie
ich verladen worden war, das war schon sehr schlimm.
Konnten Ihre Freunde oder die Familie in Westdeutschland Sie erreichen?
Die haben sich natürlich um mich gekümmert. Ich hatte allerdings in den zwei Jahren nur einmal
Besuch von meiner Mutter; im Beisein eines Stasi-Vertreters. Die Bedingungen waren so unwürdig,
dass ich dann keine weiteren Besuche mehr wollte. Ich habe Briefe bekommen, aber nach meiner
Freilassung festgestellt, dass mir nur ein Bruchteil der Briefe ausgehändigt wurde. Ich selber durfte
alle 10 Tage in Anwesenheit des Vernehmers einen einseitigen Brief schreiben. Dieser hat den
Brief dann durchgelesen und entschieden, ob er abgeschickt wird oder nicht. Man durfte den
Sachverhalt, also den Grund der Inhaftierung, nicht erwähnen und nicht einmal andeutungsweise
über das eigene Empfinden schreiben.
Würden Sie Ihren Vernehmer ansprechen, wenn Sie Ihn heute träfen?
Selbstverständlich! Bei der Polizei sind mir Fotos vorgelegt worden aus einer Reihe ähnlich
aussehender Männer, und da habe ich ihn, es waren ja immerhin schon 10-12 Jahre her, wieder
erkannt. Ob ich ihn heute auf der Strasse wieder erkennen würde, glaube ich eher nicht.
Was empfinden Sie für ihn?
Verachtung, er war ja ungefähr gleichaltrig, und er hat sich in den Dienst
einer Diktatur gestellt, und so etwas verachte ich zutiefst.
Was empfinden Sie, da Ihr Vernehmer nach der Wende nicht verurteilt
worden ist?
Ich bin durch und durch Realist. Ich kenne den deutsch-deutschen Einigungsvertrag. Dieser ist so
angelegt, dass eine strafrechtliche Verurteilung früherer Täter nur in Ausnahmefällen möglich ist.
Mich bringt vielmehr auf, dass ehemalige Stasi-Generale heute ihr menschenrechtswidriges
Handeln leugnen, indem sie zum Beispiel die schlimmen Haftbedingungen in Abrede stellen. Oder
sie verunglimpfen die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen durch die wahrheitswidrige
Behauptung, dort seien Zellen nachträglich eingebaut worden. Diese Leute gehörten ins Abseits
gedrängt, gesellschaftlich, politisch, in jeder Beziehung, total.
Wie verarbeiten Sie Ihre Erlebnisse?
Die Entlassung liegt jetzt 25 Jahre zurück. In den ersten Jahren habe ich
häufig von der Haftsituation geträumt. Ein Albtraum! Das wird mit zunehmendem zeitlichen
Abstand weniger, passiert aber auch heute noch. Da merkt man, wie tief so etwas sitzt. Ich kann
mit meinem Schicksal gut umgehen. Insbesondere deshalb, weil das sozialistische System auf den
Müllhaufen der Geschichte geworfen wurde. Ich habe den „Förderverein Gedenkstätte Berlin-
8
Hohenschönhausen“ mitgegründet, und gelegentlich führe ich auch Besuchergruppen durch die
Gedenkstätte. Das ist sicherlich auch eine Form der Verarbeitung. Erwähnen möchte ich noch eine
scheinbare Kleinigkeit, die mir aber sehr wichtig ist. In der Gedenkstätte gibt es einen
Aufenthaltsraum für die Besucherreferenten, der ist verschlossen. Als einer der Referenten verfüge
ich über einen Schlüssel und kann selbst entscheiden, ob ich den Raum öffne oder nicht. Mit
meinem eigenen Schlüssel! Dies ist vielleicht so ein Akt der Befreiung und für mich
persönlich sehr befriedigend.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass das wiedervereinigte Deutschland aber auch Privatpersonen und
Unternehmen genug Geld zur Verfügung stellen, um die Gedenkstätte finanziell abzusichern. Es
dürfen nicht länger Gebäudeteile verfallen wie das Haftkrankenhaus, das aus baupolizeilichen
Gründen nicht betreten werden darf. Und am Herzen liegt mir folgendes: Opfer der
kommunistischen Diktatur dürfen nicht länger Opfer zweiter Klasse sein, weil es vorher die Opfer
der NS-Diktatur gab. Folter ist immer schlimm, ob von SED-Sozialisten ins Werk gesetzt oder von
NSDAP-Sozialisten. Das ist unerheblich, wenn man verzweifelt in der Zelle hockt.
© INTERVIEW: Franziska Vu
9
Edda Schönherz
- DIE FERNSEHMODERATORIN -
Geboren 1944 in Berlin. Sie war eine bekannte Moderatorin des DDR- Fernsehens. Ihre
Meinungen standen oft im Widerspruch zu den politischen und gesellschaftlichen Auffassungen.
Sie wollte ihren Beruf als Journalistin frei und unzensiert ausüben können. Sie erkundigte sich
nach Ausreisemöglichkeiten aus der DDR und wurde daraufhin 1974 verhaftet. Erst zwei Jahre
nach ihrer Freilassung durfte sie mit ihren zwei Kindern nach München ziehen, wo sie wieder
eine Arbeit beim Fernsehen fand.
Warum wurden Sie inhaftiert?
Im August 1974 habe ich eine Urlaubsreise mit meinen zwei Kindern - Annette (12) und René (11)
– nach Ungarn genutzt, um mich in einer westlichen Botschaft nach Ausreisemöglichkeiten zu
erkundigen. In der DDR konnte ich das nicht riskieren, da wäre ich sofort weg gewesen. Ich habe
das auch ein bisschen provoziert, weil ich mir gesagt habe: Honecker hat die Helsinkiverträge
unterschrieben, jetzt müssen sie sich auch an einer Einhaltung der Menschenrechte messen lassen.
Natürlich hatte ich immer im Hinterkopf, dass die DDR mir noch einige Knüppel in den Weg legen
wird. Und so war es auch: Alle Botschaften wurden abgehört und fotografiert. Vorsichtshalber habe
ich einige wenige Vertraute vor der Reise informiert, wie etwa meinem Verwandten im
Bayerischen Landtag. Wenn irgendetwas passieren sollte, und ich verschwinde von der Bildfläche,
dann weißt du wo ich bin. Ich habe so wenig Menschen wie möglich eingeweiht. Auch meine
Kinder habe ich größtenteils herausgehalten. Im Dezember verurteilte man mich wegen
„staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme“ und „Vorbereitung eines ungesetzlichen Grenzübertritts
in besonders schwerem Fall.“
Können Sie Ihren Haftvorgang schildern?
Ich wurde schon in Ungarn festgenommen. Und in der DDR war die Stasi längst informiert.
Obwohl mir die Ungaren gesagt haben: „Aus humanitären Gründen haben wir dem Staatsorgan der
DDR nichts davon gesagt, Sie können beruhigt zurückreisen.“ Aber das war eine Farce. Als ich in
Ost-Berlin ankam, war mir klar, dass wir unter ständiger Kontrolle waren. Zum Fernsehen
zurückgegangen, hat man mir gesagt, mein vorgesehener Dienst wäre abgesagt worden. Eine
Woche später standen morgens 12 Stasi-Mitarbeiter vor meinem Bett: „Kommen Sie mit zur
Klärung eines Sachverhalts.“ Sie brachten mich nach Lichtenberg, in das Ministerium für
Staatssicherheit. Ich kann mich noch genau an meinen ersten Vernehmer erinnern. Wegen seines
Zynismus: „So Frau Schönherz, es gibt zwei Wege für Sie. Hinter Ihnen die Tür, wo Sie wieder raus
können zu Ihren Kindern, oder die Tür da drüben, die weiter reinführt.“ Und da habe ich gesagt:
„Passen Sie mal auf, Sie wissen genau, welche Tür für mich bestimmt ist. Und wenn ich schon hier
drin bin und noch keinen Ausreiseantrag für mich und meine Kinder gestellt habe, dann mach ich
das jetzt. Und nun können Sie mich fragen.“ Dann haben sie mich fast rund um die Uhr verhört,
nach einer kurzen Nacht ging es weiter. Dann kam die Vorführung vor dem Haftrichter. Ich weiß
gar nicht mehr, was er mir da vorgeworfen hat. Irgendwelche Sachen. Das war für mich alles nur
eine Farce. Seitdem habe ich nur gedacht, hier musst du durch, und bring das so schnell wie
möglich hinter dich. Ich wurde anschließend in den zentralen Stasi-Knast nach Hohenschönhausen
10
gebracht. Aber das habe ich nicht gewusst. Von jetzt an wusste ich nie, wo ich war. Vom Stasi-
Ministerium in der Normannenstraße sind die mit mir zweieinhalb bis drei Stunden durch die
Gegend gefahren. Und wo können sie landen in drei Stunden? Das weiß man nicht!
Waren Ihre Kinder während der Festnahme im Haus?
Ja. Die Stasi hatte alles observiert und in das ganze Haus Abhörwanzen eingebaut. Sie wussten also
genau, wann meine Kinder zur Schule gehen und so brauchten die auch nicht zu klingeln.
Hatten Sie damals einen Lebensgefährten?
Ich hatte einen Freund. Er war Regisseur beim Fernsehen. Er wurde auch inhaftiert. Wir saßen
zusammen drei Jahre. Mein Lebensgefährte war auch in Ungarn, er wollte auch in den Westen.
Wurden Sie informiert, was mit Ihren Kindern geschieht?
Nein. Es waren gerade die Eltern meines Freundes zu Besuch, als wir verhaftet wurden. Sie haben
sich um die Kinder gekümmert. Daher wusste ich, dass sie erst einmal betreut werden. Meine
Kinder mussten nicht in ein Heim und wurden auch nicht zwangsadoptiert. Ich glaube, in meinem
Fall hätte die Stasi aufgrund meines Bekanntheitsgrades dies nicht gewagt. Denn da kamen bald
Anfragen der Presse: „Wo ist Edda Schönherz, Staransagerin des DDR-Fernsehens?“ Dann hieß es:
„Die ist krank, die nimmt sich eine Auszeit.“ Allerdings erst nach einem halben Jahr, nachdem ich
in den Frauenknast Hoheneck eingeliefert worden war, war ich hundertprozentig sicher, wo meine
Kinder waren.
Was haben Sie gedacht, als Sie nach Hohenschönhausen gebracht wurden?
Man macht sich natürlich tausend Gedanken, die einen durch den Kopf gehen. Wo fahren die dich
hin? Was wollen die von dir? Wie lange wird das dauern? Was ist mit den Kindern? Geht alles klar?
Wissen die draußen Bescheid? Besorgen die dir einen Anwalt? Und, und, und.
Wie lange waren Sie inhaftiert?
Da ich prominent war, ist man an meine Kinder nicht rangegangen. Auf der anderen Seite diente
ich als abschreckendes Beispiel. Ich habe volle drei Jahre absitzen müssen. Bis zum letzten Tag,
was ja eher selten war. Viele wurden nach wenigen Monaten von der Bundesrepublik Deutschland
freigekauft und sind ausgereist. Mein Verwandter aus München hätte mich zwar freigekauft, aber
die DDR hat mich nicht frei gelassen.
Wie oft wurden Sie verhört?
Das kann ich gar nicht mehr sagen, da gab es keine Regelmäßigkeit. Aber das war ja das Prinzip der
Stasi. Man sollte sich den Tag nicht einteilen können. Man hat auch wochenlang in der Zelle
gesessen, ohne dass sich etwas getan hat. Und glauben Sie mir, wenn Sie so lange allein in einer
Zelle sitzen, dann sehnen Sie sich danach, wieder verhört zu werden. So komisch wie das klingt,
aber diese Isolation macht Sie kaputt und fertig. Sie können nichts machen. Stehen und
beschäftigen sich nur mit sich selbst.
11
Was für Druckmittel wurden bei Ihnen angewandt?
Die Stasi verstand sich auf das Prinzip der psychischen Folter. Das fing damit an, dass ich über
nichts informiert wurde. Was ist mit meinen Kindern, wie lange dauert das Verfahren, wo befindet
man sich überhaupt. Die unerträgliche Isolationsfolter. Und man wird gedemütigt. Ich musste mich
nackt ausziehen. Da wird einem gezeigt, wer die Macht hat und wer ohnmächtig ist. Bei
Vernehmungen gilt das Prinzip „Zuckerbrot und Peitsche“. Einmal wird man beleidigt, dann
wieder freundlich behandelt. Die Zersetzung der eigenen Persönlichkeit soll durch das gegenseitige
Ausspielen der Menschen erreicht werden.
Da sagt der Vernehmer: „Ach, noch einen schönen Gruß von Ihrem Freund. Ich soll Ihnen
ausrichten, dass er sich von Ihnen getrennt hat. Er hat inzwischen eine andere Freundin gefunden.
Das können Sie ihm nicht verübeln. Bedenken Sie mal, wie lange Sie hier schon drin sitzen.“ Da
fangen Sie an zu grübeln. Ist das wahr, ist das nicht wahr. Sie können plötzlich nicht mehr klar
unterscheiden und einordnen, weil Sie schon so lange isoliert sind. Der Einzige, den Sie sehen und
mit dem Sie sprechen, ist Ihr Vernehmer. Alle anderen gibt es ja nicht mehr. Das hat mich krank
gemacht. Ich bin fast durchgedreht.
Was war das Schlimmste für Sie?
Schwer zu sagen. Das Ausziehen vor einer Uniformierten, entblößt vor ihr zu stehen und dann
noch seine Monatsartikel auf den Tisch packen zu müssen. Das war ein Schock. Und die untersucht
das noch und nimmt das alles auseinander. Mit einem Handschuh werden dann noch alle
Körperöffnungen untersucht. In dem Moment habe ich einen Schock bekommen. Doch das konnte
ich nicht beeinflussen, das macht das Unterbewusstsein. Von dieser Minute an setzte meine Regel
aus. Meine Periode kam erst einen Tag nach der Entlassung aus dem Gefängnis wieder. Nach etwa
drei Jahren. Da hat sich mein Körper gewehrt, das war einfach zu viel. Ich habe das nach außen
nicht gezeigt. Jetzt hat man natürlich gedacht, ich wäre schwanger. Und nichts ist uneleganter, als
eine schwangere Edda Schönherz im Knast. Na, was machen wir denn da? In den Akten habe ich
gelesen, dass man mir daraufhin Abtreibungspillen gegeben hatte – ohne mich zu fragen.
Wie haben Sie sich gefühlt?
Jeder Mensch kann nur bis zu einem gewissen Moment etwas ertragen. Dann schreitet das
Unterbewusstsein ein. In dem Moment war mir klar, du kannst nichts machen, du bist denen völlig
ausgeliefert. Du musst eine Mauer um dich herum bauen, um zu überleben. Das war mein einziges
Ziel. Dann beginnt so ein Leben wie in einem Tunnel. Hinten im Tunnel sah ich ein Licht. Da
wollte ich hin. Alles andere um mich herum, rechts und links von mir, habe ich versucht, an mir
vorbei ziehen zu lassen.
Sprechen Sie mit Ihren Kindern über die Zeit?
Ich versuche mit ihnen darüber zu sprechen und habe sie auch zu einer Führung durch die
Gedenkstätte mitgenommen. Aber vielleicht versuchen sie die Zeit ein wenig zu verdrängen, denn
diese war sehr, sehr unschön für sie. Die Erinnerungen sind schlimm. Das kann ich verstehen. Ich
schreibe ein Buch, das meinen Kindern gewidmet wird. Damit sie wissen was war.
12
Machen Ihnen Ihre Kinder Vorwürfe?
Nein. Sie sind glücklich, dass sie ein Leben unter besseren Bedingungen aufbauen konnten. Wobei
ich immer das Gefühl habe - aber das mag nicht stimmen - dass da irgendwo ein Vorwurf ist. Das
ist vielleicht ein schlechtes Gewissen, was ich mir selber einrede. Weil ich die drei Jahre nicht
mehr auffangen kann.
Haben Sie Folgen davon getragen?
In der Haft hatte ich furchtbare Albträume: Meine beiden Kinder stehen am Abgrund. Ich sehe das,
renne hin, um sie zu retten, greife zu und dann sind sie weg. Der zweite Traum: Ich komme ins
Fernsehstudio und finde mein Studio nicht. Muss aber anfangen, denn die Sendung beginnt. Und
ich rase durch die Gänge; vergebens. Noch heute verfolgt mich der Albtraum mit meinen Kindern.
Ich sehe meine Kinder immer in dem Alter, in dem ich sie verlassen musste. Das ist offenbar eine
fehlende Verarbeitung dieser Traumata.
Wie erging es Ihnen nach der Entlassung?
Nach der Haftentlassung musste ich noch zwei Jahre warten, ehe ich und meine Kinder in den
Westen ausreisen konnten. In dieser Zeit arbeitete ich bei der Caritas als Fotografin. Eigentlich
hatte man mir einen Arbeitsplatz als Hilfsarbeiterin in einer Großbäckerei zugewiesen. Das habe
ich abgelehnt. Arbeit schändet nicht, habe ich gesagt, doch werde ich nicht mehr für diesen Staat
tätig. Da haben die DDR-Behörden mir gedroht. Wenn ich nicht innerhalb von 4-6 Wochen eine
Arbeit nachweisen könne, dann käme ich ins AE, d. h. Arbeitserziehung. Wieder 2-5 Jahre
Zuchthaus, denn in der DDR gab es offiziell keine Arbeitslosen und keine Asozialen. Die saßen alle
in den Zuchthäusern. Der Bischof der evangelischen Kirche hat sich dreimal verleugnen lassen,
aber die katholische Kirche hat mir geholfen und mich an die Caritas vermittelt. Somit hatte ich
wenigstens ein Auskommen für meine Kinder und mich. Wir konnten in unserem Haus bleiben.
Nachdem ich in die Bundesrepublik ausgereist bin, musste ich erst einmal wieder in meinem Beruf
Fuß fassen. Ich wollte der Stasi beweisen, dass die mich nicht geschafft haben. Trotz allem.
Natürlich haben mir meine Verwandten geholfen. Ich hatte mich bei fünf Sendern beworben. Vier
hatten sofort geantwortet und wollten mich einstellen. Der Bayerische Rundfunk war der
schnellste, ich wollte gern in München bleiben. Nach West-Berlin zog es mich nicht, denn die
Mauer hätte ich vor meinen Augen nicht ertragen können. Da wäre ich wieder eingesperrt
gewesen. Und München – so dachte ich - ist weit weg. Aber die Stasi hatte einen langen Arm, der
reichte bis dorthin. In meinen Stasi-Unterlagen der Gauck-Behörde konnte ich erlesen, dass ich bis
1988 im Visier der Stasi war. 1992 wurde ein Produktionsleiter als Stasimitarbeiter beim
Bayerischen Rundfunk entlarvt.
Wie verarbeiten Sie die Erlebnisse?
Ich konnte über zwanzig Jahre nicht darüber reden, meine Kinder auch nicht. Die sind immer noch
ein bisschen blockiert, aber irgendwann muss man das aufarbeiten. Das ist ganz wichtig. Denn
diesen Abschnitt des Lebens kann man nicht unter den Tisch kehren. Aber viele ehemalige
Häftlinge können diese Zeit nicht aufarbeiten, sind gesundheitlich gar nicht mehr in der Lage dazu.
Manche sind so blockiert und können sich nicht öffnen bei diesem Thema. Ich selbst muss mich
mit meiner Haft beschäftigen und auseinandersetzen. Und somit sind die von mir geleiteten
13
Führungen durch die Gedenkstätte und das Buch, welches ich schreibe, gewissermaßen eine
Aufarbeitung.
Was empfinden Sie für die Menschen, die Ihnen das angetan haben?
Was soll ich für sie empfinden? Ich habe überlegt, was die Vernehmer dazu gebracht hat, so eine
Arbeit überhaupt zu übernehmen. Wenn jemand hundertprozentig von diesem Regime überzeugt
war, dann sage ich: „Na ja, o.k.“ Aber wenn jemand das nur aus Profitgier, Karriere gemacht hatte,
dann hat er jetzt Schwierigkeiten. Ich sage mir immer: „Die Menschen müssen morgens in den
Spiegel gucken können.“ Viele sagen: „Ich kenne dich zwar nicht, aber ich wasche dich trotzdem.“
Dann haben sie ein Problem. Ich muss immer in den Spiegel gucken können und mich wieder
erkennen. So ist meine Maxime des Lebens.
Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft?
Vor allem, dass ich gesund bleibe. Und dass meine Kinder gesund bleiben. Wir möchten in
unserem Leben zufrieden in die Zukunft blicken können. Ich wünsche mir besonders, dass die
schlimme Vergangenheit uns nie wieder einholt. Obwohl die Stasi-Genossen wieder ihre Köpfe
herausstrecken und ihre Opfer verhöhnen wollen. Sie haben überhaupt nichts begriffen. Und ich
hoffe, dass uns allen die Kraft gegeben ist, dagegen zu halten und zu sagen: „Hier und heute, jetzt
nie mehr!“
© INTERVIEW: Franziska Vu
14
Horst Jänichen
- DER AKTIVIST -
Geboren 1931 in Berlin. Dort wurde er im April 1946 durch das sowjetische Ministerium für
Staatssicherheit (MGB) verhaftet. Der 15-jährige wurde, wie Tausende andere Jugendliche in
dieser Zeit, zu Unrecht verdächtigt, einer nationalsozialistischen Terrororganisation
anzugehören, dem so genannten Werwolf. Nach seiner Entlassung 1948 berichtete er über seine
Lagerhaft und verteilte Flugblätter im Ostteil Berlins. Jänichen engagierte sich in einer politischen
Widerstandsorganisation, der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU). Daraufhin wurde er
erneut verhaftet, im Dezember 1950, durch das neu gegründete DDR-Ministerium für
Staatssicherheit (MfS).
Warum wurden Sie 1946 inhaftiert?
Als der Krieg zu Ende war, bin ich ohne Gefangenschaft nach Hause und wieder zur Schule
gegangen. Am 23. April 1946 bin ich unter „Werwolfverdacht“ verhaftet worden. Ich war wie
andere nie ein Werwolf, was die Russen aber nicht hinderte, eine Vielzahl junger Leute zu
inhaftieren und in diese Lager zu stecken. Ich bin in ein Kellergefängnis nach Friedrichsfelde
gebracht worden, von dort wurde ich in das Speziallager 3 nach Hohenschönhausen transportiert,
das spätere zentrale Untersuchungsgefängnis des sowjetischen Geheimdienstes für die „Sowjetische
Besatzungszone“. Ab 1951 wurde dieses Kellergefängnis vom DDR-Ministerium für Staatssicherheit
(MfS) genutzt, das so genannte „U-Boot“.
Wie wurden Sie inhaftiert?
Ich bin zu Hause verhaftet worden, und man brachte mich nach Friedrichsfelde in einen so
genannten GPU-Keller, die in Wohnblöcken eingerichtet waren. Es war im April 1946, ein sehr
warmes Frühjahr. An meinem letzten Ferientag hat es zehn Minuten vor sechs Uhr geklingelt. Es
standen zwei Zivilisten vor der Tür. Einer hatte so einen Staubmantel an und man sah am Hals die
russische Uniformjacke: „Sind Sie Horst Jänichen? Sie mögen mal mitkommen“. Ich sollte
Kopfkissen und Decke mitnehmen, es könnte zwei, drei Tage dauern. Und meine Mutter hat
gesagt: „Du ziehst Dir eine Skihose und eine Joppe an.“ Es war aber sehr warm, und ich habe
protestiert. Gott sei Dank setzen sich Mütter meistens durch. Ich zog Joppe und Skihose an, und so
hatte ich in dem kalten Winter im Kellergefängnis etwas Warmes zum Anziehen. Andere
Mithäftlinge wurden im Sommer in Hemden mit kurzen Ärmeln verhaftet und mussten in dieser
Kleidung im kalten Winter Appell stehen. Insofern war ich begünstigt.
Wie ging es weiter?
Von Hohenschönhausen aus wurde ich in das ehemalige NS-Konzentrationslager Sachsenhausen
gebracht und erst nach mehr als zwei Jahren Haft wieder entlassen. Bei unserer Entlassung wurden
wir zur Verschwiegenheit verpflichtet. Wir durften also nicht über unsere schlimme Zeit im
sowjetischen Internierungslager reden.
15
Wie hat man Sie behandelt?
Schlafen durfte man von 22.00 bis 6.00 Uhr, die Vernehmungen waren nachts. Aber am Tag durfte
man nicht schlafen. Das wurde regelmäßig kontrolliert. Gerade mal Sitzen war erlaubt, doch
musste man immer in der Mitte der Pritsche sitzen. Man konnte sich also nicht anlehnen. Darauf
wurde streng geachtet. Wenn man einmal eingeschlafen war, musste man eine Stunde stehen. Ich
war sechs Wochen in diesem Keller. In diesen sechs Wochen durfte ich mich kein einziges Mal
waschen. In der ersten Zelle, in die ich kam, war ein Mensch, etwa 40 Jahre alt. Ich dachte erst,
der hat eine Macke, der sah völlig verwahrlost aus. Er vegetierte dort schon drei Monate. Ein
Vierteljahr nicht gewaschen, ein Vierteljahr nicht rasiert, ein Vierteljahr nicht Haare geschnitten,
ein Vierteljahr nicht gekämmt, so sah der auch aus. Da waren wir Jüngeren besser dran, denn wir
hatten noch keinen Bartwuchs.
Wie wurden Sie verhört?
Bei den Vernehmungen wurden die Menschen misshandelt. Ich habe keine Vernehmung erlebt, in
der ich nicht mindestens eine Ohrfeige gekriegt habe. Wir sind also geschlagen und getreten
worden.
Wie erging es Ihnen nach Ihrer Entlassung?
Meine Mutter habe ich nie wieder gesehen. Sie war schon im Oktober 1946 gestorben. Das habe
ich erst zwei Jahre später erfahren, als ich entlassen wurde. Ich habe zu Hause geklingelt, und eine
fremde Frau hat die Tür aufgemacht. Mein Vater hatte eine neue Frau. Ich hatte zuvor Blumen von
meinem Entlassungsgeld gekauft, die habe ich dann zum Friedhof gebracht. Meine Mutter ist 500
Meter Luftlinie vom Lager Hohenschönhausen gestorben, und ich habe es nicht gewusst. Ich habe
mich dann mit einigen Freunden zusammen getan. Wir haben uns an die Vorwürfe erinnert, die
man den Deutschen 1945 gemacht hat: „Ihr habt von den Untaten der Nazis gewusst und
geschwiegen.“ Diesem Vorwurf wollten wir uns nicht erneut aussetzen. Wir sind nach West-Berlin
zur KgU gegangen und haben über unsere Erlebnisse in den sowjetischen Internierungslagern
berichtet. Dort bekamen wir Flugblätter, die wir im Ostteil der Stadt verteilten. Das waren
regelmäßige Aktionen. Mit Pinsel und Farbe haben wir ein großes „F“ an die Wand gemalt. Das
war das Signum der Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit. Die Menschen erkannten dieses
Zeichen. Und am 1. Mai 1949 haben wir von der KgU Flugblätterraketen erhalten. Das waren
Papprohre mit Streuzettel, die antikommunistische Parolen enthielten. Wir haben die
Flugblätterraketen während der Maidemonstration am Alexanderplatz abgeschossen. Am 29.
Dezember 1950 sind wir dann wieder verhaftet worden.
Hatten Sie nicht, gerade wegen Ihrer schrecklichen Hafterlebnisse, Angst wieder in Haft
zu kommen?
Angst, dass ich erwischt werde, hatte ich immer. Aber man glaubt immer, man wird nicht erwischt.
Wie jeder, der etwas Verbotenes macht. Wir kannten natürlich das Risiko, gerade weil wir schon
einmal inhaftiert waren. Ich würde heute, über ein halbes Jahrhundert später, ähnlich reagieren.
Immer in der Hoffnung, dass so eine Situation nicht mehr kommt.
16
Wie lange dauerte die zweite Haft?
Ich musste wieder in ein solches Kellergefängnis, jetzt beim DDR-Staatssicherheitsdienst. Ich bin zu
acht Jahren Zuchthaus und den obligatorischen Sühnemaßnahmen verurteilt worden. Während der
Haft wurde ich noch wegen Gefangenenmeuterei zu einer zusätzlichen Gefängnisstrafe von
zweieinhalb Jahren verurteilt. Wir hatten einen Ausbruchsversuch vorbereitet. Wir waren zu
zehnt, und ab drei Personen gilt das als Meuterei. Diese zweieinhalb Jahre Gefängnis hat man mir
später auf Bewährung erlassen, die übrigen acht Jahre Zuchthaus habe ich in Berlin-Rummelsburg,
im „Roten Ochsen“ in Halle und überwiegend im berüchtigten Zuchthaus Waldheim verbüßt.
Was bedeuten die obligatorischen Sühnemaßnahmen?
Diese waren mit Ehrverlust verbunden und in der DDR bis 1958 üblich. Die Sühnemaßnahmen
bedeuteten: Man durfte weder Mitglied einer Partei, noch einer Gewerkschaft sein. Man durfte
weder wählen, noch gewählt werden. Man durfte keine Zuwendungen aus öffentlichen Kassen
beziehen und unterlag Wohnraum- und Aufenthaltsbeschränkungen. Man durfte nur mit einfacher
Arbeit beschäftigt werden. Man durfte für die Dauer von fünf Jahren nach der Freilassung weder
ein Kraftfahrzeug führen, noch halten. Das ist, wenn Sie so wollen, das Ende der bürgerlichen
Existenz.
Wussten Sie, wo Sie inhaftiert waren?
Bei der ersten Inhaftierung bei den Russen war das kein Geheimnis. Ein Geheimnis wurde es erst
beim DDR-Staatssicherheitsdienst. Bei meiner zweiten Inhaftierung bekam ich eine Schweißerbrille
aufgesetzt, und mir wurden die Hände auf dem Rücken gefesselt. In dem engen Transporter saßen
neben mir ein Begleiter und vor mir noch zwei weitere. Dann sind wir losgefahren. Eigentlich eine
Fahrstrecke von 10 Minuten, doch wir sind fast eine Stunde gefahren. Ich habe Straßenbahnen
quietschen hören und auch die Geräusche einer Hochbahn erkannt. Da wusste ich, dass ich in der
Schönhauser Allee war, woanders gab es keine Hochbahn. Plötzlich war die Hochbahn wieder
weg, dann kam sie wieder, dann war sie noch mal weg. Da wusste ich, die Stasi fährt mit mir im
Kreis. Bald haben sie mich in das Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen gebracht und mir
dann die Brille abgenommen.
Welche Druckmittel hat der Staatssicherheitsdienst angewendet?
Eigentlich ist solch ein Kellergefängnis schon psychische Folter, auch ohne dass einem etwas
angetan wird. Beim Staatssicherheitsdienst war es die Einzelhaft, keine Verbindung nach draußen,
nichts, womit man sich beschäftigen konnte. Man musste den Tag nutzlos verbringen. Wenn man
endlich einmal schlafen konnte, wurde man zur Vernehmung geholt. Am nächsten Tag musste man
wieder wach bleiben, so dass auch Schlafentzug ein Teil der psychischen Folter war. Geschlagen
wurde ich bei der Stasi übrigens nicht. Doch hat mich diese ständige Einzelhaft schwer belastet.
Die Zeit verging nicht.
Was war für Sie das Schlimmste?
Das ist ganz schwer zu sagen. Bei der ersten Haft war für mich das Schlimmste, der Moment, als
ich nach Hause kam. Als ich erfuhr, dass meine Mutter schon so lange tot war. Das war damals für
mich das Schlimmste. Auch diese Schläge bei den Russen waren furchtbar. Ein Freund von mir
starb im Lager an TBC. Die TBC-Kranken waren gesondert untergebracht. Ich versprach meinem
17
Freund, dass ich seine Mutter nach meiner Haftentlassung informiere. Ich habe ihm immer gesagt:
„Das ist Quatsch, das erledigst Du selbst.“
Aber ich wusste, mein Freund kommt nicht wieder lebend aus dem Gefängnis heraus. Und die
erste Frau, der ich begegnet bin, war seine Mutter. Als sie hörte, dass ich wieder zu Hause bin, hat
sie mich gefragt: „Was ist mit Helmut?“ Ich konnte es ihr erst nicht erzählen. Ich habe es ihr später
erzählt. Das war ganz furchtbar. Das war für mich auch ein ganz schlimmes Erlebnis. Der Mutter
meines Freundes sagen zu müssen: „Du, Dein Sohn kommt nicht mehr wieder.“ Das habe ich mich
in dem Moment nicht getraut.
Wie erging es Ihnen nach der Entlassung?
Ich bin am 9. Januar 1959 aus dem Zuchthaus Waldheim entlassen worden und nach Berlin-
Lichtenberg zurückgekehrt. Nachdem ich einen Personalausweis erhalten hatte, verließ ich
Ostberlin einen Tag später mit der S-Bahn. Dann meldete ich mich in West-Berlin im
Aufnahmelager Berlin-Marienfelde als Flüchtling. Ich lebe also seit 1959 im Westteil der Stadt.
Was empfinden Sie für die Leute, die Ihnen so etwas angetan haben?
Wenn Sie mich so fragen, ich empfinde keinen Hass. Das ist Vergangenheit. Das ist vorbei. Die
Leute waren vielleicht von ihrem Staat überzeugt. Ich mache häufig Führungen in Sachsenhausen
und werde immer wieder gefragt: „Gibt es einen Unterschied zwischen der Zeit vor 1945 bei den
Nazis und nach 1945 bei den Russen?“ Aus meiner Sicht gibt es da Unterschiede. Ich denke,
Gestapo-Keller, Stasi-Keller und NKWD-Keller kann man miteinander vergleichen. Da gibt es kaum
Unterschiede. In dem Moment, in dem man im Lager war, nach dem Krieg, hatte man seine
„Ruhe“. Da ist niemand körperlich gefoltert, da ist auch keiner erschossen oder erhängt worden.
Die Menschen vegetierten einfach, warteten auf den nächsten Tag, wenn man so will, auf den Tod.
Der Unterschied ist folgender: Vor 1945 waren es Todeslager, nach 1945 waren es Sterbelager. Ein
weiterer Unterschied: Bei Todesfällen vor 1945 wurde den Angehörigen die Urne ausgehändigt. Bis
heute haben aber die Angehörigen, die nach 1945 in den sowjetischen Internierungslagern
Todesfälle zu beklagen hatten, keine offizielle Todesnachricht bekommen.
Es kommt auch nicht darauf an, ob jemand schuldig oder unschuldig sitzt. Auch Schuldige haben
ein Recht auf menschenwürdige Behandlung. Dies war in beiden Systemen leider nicht so.
Wie verarbeiten Sie Ihre Erlebnisse?
Bei mir liegt das ja nun schon sehr lange zurück. Ich habe inzwischen einiges relativiert. Los lässt
es einen nie. Zehneinhalb Jahre Haft bleiben nicht in der Anstaltskleidung stecken. Man träumt,
man vergisst das nicht. Meine Frau hat mich nachts mehr als einmal geweckt. Sie sagt: „Du
schreist.“ Im Unterbewusstsein ist das immer vorhanden. Du wirst es nicht los. Die Führungen, die
ich hier in der Gedenkstätte Hohenschönhausen leite, sind eigentlich weniger für mich selbst eine
Aufarbeitung. Wenn man aber zehneinhalb Jahre im Zuchthaus gesessen hat, weil man den Mund
nicht gehalten hat, dann wäre dies vertane Zeit, würde man den Mund halten, wenn man endlich
reden darf. Und deswegen bin ich hier. Richtig bewusst geworden ist es mir erst wieder nach der
politischen Wende 1989, als man die Massengräber in Sachsenhausen gefunden hatte. Ein Freund
von mir liegt in so einem Massengrab. Als die Gräber aufgemacht wurden, ist mir das natürlich
wieder in den Kopf gekommen.
18
Sie haben ab 1959 in Westberlin gelebt. Wie war Ihnen zu Mute, als Sie durch die DDR
gereist sind?
Bis 1972 bin ich nur geflogen. Einmal im Jahr hat der Berliner Senat eine Flugreise für politische
Flüchtlinge, die nicht durch die Zone fahren durften, nach Hannover bezahlt. Dann musste man
von Hannover die weitere Reise antreten. Mit Abschluss der innerdeutschen Verträge im Jahr 1972
wurden wir aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen und durften wieder in die DDR ein- und
durchreisen. Meine Schwiegereltern, die in Ludwigsfelde wohnten, stellten einen Einreiseantrag
für uns. Ich bin dann mit meiner Frau und meinen Kindern eingereist und saß am Steuer. Meine
Frau sagte damals: „Man, du bist ja ganz blass.“ Ich sah wieder Leute mit Uniformen da rumtoben.
Ich habe zu meiner Frau gesagt: „Übernimm Du mal das Steuer, gib mir die Papiere, ich erledige
hier alles.“ Das war ein bisschen Aktionismus. Erst wenn ich wieder Westberlin erreicht hatte, war
es mir eigentlich schön. Man war sehr burschikos, und ich tat so, als ob es mir nichts ausgemacht
hat. Aber in Wirklichkeit hat es mich immer bedrückt, und ich war immer froh, wenn ich
ungeschoren in Westberlin gelandet bin.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ach wissen Sie, ich bin in der Zielgeraden. Bei mir ist nicht mehr viel zu erwarten. Ich wünsche
mir, dass ich so weiterleben kann, wie ich es in den letzten Jahren konnte. Ich bin eigentlich,
wenn man so will, mit meinem Leben zufrieden. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass
wir in der Hochzeit des Kalten Krieges entlassen worden sind, nämlich 1959. Wir haben alle eine
viel längere Haftzeit hinter uns, als die später Inhaftierten, aber uns hat man geholfen. Wir sind
untergebracht worden, im öffentlichen Dienst zum Beispiel. Man hat gesagt: „Wir beschäftigen
Euch mit einer Tätigkeit, und was Ihr daraus macht, ist Eure Sache.“ Aber man hat den Anschluss
bekommen. Diejenigen, die in der Spätphase der DDR inhaftiert waren, die sind, auf Deutsch
gesagt, ganz beschissen dran. Die sind in der DDR nichts geworden, weil sie dagegen waren und
werden jetzt nichts, weil sie in der DDR nichts geworden sind. Ein Leben praktisch an der
Sozialhilfegrenze. Das muss sich ändern.
© INTERVIEW: Franziska Vu
19
Dr. Matthias Bath
- AM GRENZÜBERGANG -
Geboren 1956 in Westberlin. Arbeitet heute als Staatsanwalt in Berlin. Als er zwanzig Jahre alt
war, wurde er von einem hochrangigen Funktionär der Jungen Union gefragt, ob er drei
Menschen über die Grenze in den Westen bringen würde. Für seine Hilfe wurde er als
Westbürger zu fünf Jahren Haft verurteilt.
Wieso hat man gerade Sie um Hilfe gebeten?
Ich war in den 70er Jahren in der Jungen Union engagiert und der Funktionär stammte aus
Dresden und war 1965 in den Westen geflüchtet. Bis 1990 gab es zusätzlich zu den
Kreisverbänden der Jungen Union für die West-Berliner Stadtbezirke einen Kreisverband
„Arbeitsgemeinschaft Ostsektor“ für die acht Ost-Berliner Stadtbezirke. Hier waren vor allem
Flüchtlinge, freigekaufte Häftlinge und Übersiedler aus Ost-Berlin Mitglieder. Mein Auftraggeber
war damals Vorsitzender von dieser Ostsektorarbeitsgemeinschaft.
Warum wurden Sie inhaftiert?
Wegen Fluchthilfe. Ich habe versucht, drei Menschen aus der DDR zu holen. Ich habe die Fahrt
nicht selbst organisiert, diese aber übernommen. Ich bin von jemandem angesprochen worden,
dem ich Vertrauen geschenkt habe, der selber aus der DDR geflüchtet war. So habe ich mich bereit
erklärt, Leute, im Kofferraum versteckt, aus der DDR zu schmuggeln.
Wurden Sie verraten?
Ich habe lange Zeit gedacht, dass da Verrat im Spiel sei. Aber inzwischen weiß ich aus meinen
Stasiunterlagen, dass dem nicht so war. Das Fahrzeug hatte eine verstärkte Heckfederung. Auf diese
Weise sollte abgesichert werden, dass das Fahrzeug nicht durchhängt, wenn Leute darin liegen.
Und diese Heckfederung war so gut verstärkt, dass das Fahrzeug etwas zu hoch stand. Das ist bei
der Einreise aufgefallen.
Was passierte dann mit Ihnen?
Ich wurde in Marienborn aufgefordert, den Kofferraum zu öffnen, dann wurden die Flüchtlinge
entdeckt. Wir wurden für festgenommen erklärt. Dann fand eine Vernehmung in dem
Kontrollpunkt statt, die die ganze Nacht dauerte. Ich habe zunächst keine Angaben gemacht, aber
dann hat man mir später die Frau aus dem Kofferraum gegenüber gestellt, und die hat dann in
meinem Beisein ausgesagt. Jetzt wusste ich, dass ich zumindest zu meinem Auftraggeber und der
Vorgeschichte Angaben machen kann, weil das nun bekannt war.
Hat man Sie dann nach Berlin-Hohenschönhausen gebracht?
Ja, und zwar sollte ich zunächst nach Magdeburg gebracht werden, weil Marienborn zum Bezirk
Magdeburg gehörte. Die ersten Vernehmer kamen auch aus Magdeburg. Aber dann stellte sich
heraus, dass mein Auftraggeber in Hohenschönhausen zentral bearbeitet wurde vom Ministerium
für Staatssicherheit (MfS). Aufgrund der zentralen Bearbeitung wurden alle Leute, die praktisch
durch meinen Auftraggeber festgenommen wurden, hier nach Hohenschönhausen gebracht, dem
20
zentralen Sitz des Untersuchungsorgans der Staatssicherheit. Aber man hat mir nicht gesagt, wo ich
hingebracht werde. Wir wurden vielmehr in einem geschlossenen Kleintransporter, der als
Gefangenenfahrzeug eingerichtet war, befördert. Das war, was die Größe angeht, mit einem VW-
Bus zu vergleichen. In diesem Fahrzeug sind hinten auf der Ladefläche fünf Transportzellen
eingerichtet für jeweils eine Person. Unter sehr beengten Verhältnissen kann man sitzen und man
kann nicht rausgucken. Das Fahrzeug ist geschlossen. Und in dieses geschlossene Fahrzeug musste
ich in Marienborn einsteigen, und in der hell erleuchteten Garage in Hohenschönhausen bin ich
wieder ausgestiegen.
Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie im Transporter waren?
Verzweifelt war ich schon in dem Moment, wo es hieß, dass ich den Kofferraum aufmachen soll.
Und in dem Transporter habe ich erstmal gedacht, das ist ja unmöglich, dass man unter solchen
Bedingungen transportiert werden kann. Das war äußerst beengt. Ich passte gerade mit meinen
Schultern in die Zelle. Außerdem war ich noch mit einer Handschelle gefesselt. Ich fand das
schrecklich.
Wie oft wurden Sie verhört?
Ich bin am Anfang täglich vernommen worden, später vielleicht zweimal die Woche. Es gab auch
eine Phase, etwa nach zwei Monaten Untersuchungshaft, da wurde ein Monat Vernehmungspause
eingelegt. Dieser Unterbrechung folgten weitere Vernehmungen. Anschließend wurde mir
mitgeteilt, die Vernehmungen seien abgeschlossen. Das war im Juli 1976.
Wie lange waren Sie in Hohenschönhausen?
Ich war vom April bis August 1976 hier. Dann bin ich nach Frankfurt/Oder gebracht worden. Das
dortige Bezirksgericht hat mich zu fünf Jahren Haft verurteilt. Anschließend war ich vier Wochen
von September bis Oktober in Hohenschönhausen und bin dann in den Strafvollzug nach Berlin-
Rummelsburg gekommen.
Wie sind Sie entlassen worden?
Ich habe fünf Jahre bekommen. Üblicherweise hätte ich nach vielleicht einem Drittel oder der
Hälfte der Gesamtstrafe freigekauft werden müssen. Das klappte aber in meinem Fall nicht. Ich bin
im Wege eines Austauschs im Sommer 1979 freigekommen, und zwar bin ich in Rummelsburg
abgeholt worden vom MfS. Die Stasi hat mich nach Lichtenberg gebracht, wo es ja in der
Magdalenenstraße auch ein Untersuchungsgefängnis gab. Dort wurde mir mitgeteilt, dass ich
vorzeitig entlassen werde. Von Lichtenberg bin ich in das Büro des Rechtsanwalts Wolfgang Vogel
gebracht worden. Das war am 19. Juli 1979. Die Frau von Rechtsanwalt Vogel hat mich dann nach
Westberlin gefahren ins Rechtsanwaltsbüro Stange. Und dort bin ich quasi dem Vertreter der
Bundesregierung übergeben worden. Dann war ich wieder im Westen.
Wie verarbeiten Sie diese Erlebnisse?
Es ist ja schon sehr lange her. Wir reden ja im Grunde über Dinge, die ungefähr dreißig Jahre
zurückliegen. Der größte Teil meines Lebens liegt nach der Haft. Da ist natürlich auch viel passiert.
Die Ereignisse schrumpfen natürlich nicht auf Null, aber sie verlieren auch diese ganz große
Bedeutung, die sie nach meiner Entlassung hatten. Als ich entlassen wurde, war ich 23 Jahre, und
21
da glaubte ich, das war das wichtigste Ereignis deines Lebens. Inzwischen ist es eines unter vielen.
Ich habe ein Buch über die Haftzeit geschrieben. Das hat mir vielleicht auch geholfen, die Dinge zu
verarbeiten.
Konnten Sie während der Inhaftierung Kontakt mit Ihrer Familie aufnehmen?
Die DDR hat den Westberliner Behörden meine Festnahme mitgeteilt. So erfuhren meine Eltern,
dass ich in der DDR inhaftiert bin. Es gab ja dann diese Rechtsanwälte, die mit dem Ostberliner
Rechtsanwalt Vogel in Verbindung standen. Über diese Rechtanwälte wurde dann arrangiert, dass
ich auch Besuch von meinen Eltern bekommen konnte. Meine Eltern konnten mich Ende Mai
1976 das erste Mal besuchen. Die Besuche fanden allerdings nicht in Hohenschönhausen statt,
man wurde dann immer in die Magdalenenstraße nach Lichtenberg gefahren. Später bekam ich
dann alle 2 bis 3 Monate Besuch.
Was empfinden Sie für die Menschen, die Ihnen das angetan haben?
Die haben ihren Job für die falsche Sache gemacht. Ich hätte das an ihrer Stelle nicht getan.
Insofern empfinde ich natürlich keinerlei Sympathie für sie, aber auch keine große Antipathie. Sie
sind mir gleichgültig.
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Menschen zu so etwas fähig sind?
Sie dachten wohl, sie tun ihrem Staat etwas Gutes oder ihr Staat würde es Wert sein, dass man sich
so verhält. Natürlich war die ständige Abwanderung von Menschen für die DDR ein existentielles
Problem. Wer den Staat DDR bejahte, war wohl auch bereit, mit militanten Methoden etwas für
die DDR zu tun. Das war ihre Einstellung, dass sie ihren Staat schützen und Gegner ihres Staates –
und ich war natürlich ein Gegner – bekämpfen wollten.
Haben Sie noch Kontakt zu den Leuten, denen Sie durch die Flucht helfen wollten?
Nein. Es war ein junger Mann und eine Frau mit Kind. Ich dachte, es wäre ein
zusammengehörendes Paar mit Kind. Später erfuhr ich, dass die Frau zum Vater des Kindes wollte,
der war in Westberlin und quasi der Auftraggeber der Geschichte. Der junge Mann wollte
studieren, was ihm in der DDR verwehrt worden war. Sein Bruder, der schon vorher in den
Westen geflohen war, war der Auftraggeber. Der junge Mann hat sich über die Rechtsanwälte nach
meiner Freilassung bei mir gemeldet. Den habe ich kennen gelernt, doch war er durch die Haft
ziemlich traumatisiert. Obwohl er wesentlich kürzer inhaftiert war als ich. Er war zu dreieinhalb
Jahren Haft verurteilt und 1977 freigekauft worden. Ich war vielleicht nicht so traumatisiert, aber
doch so empfindlich, dass ich mit jemandem, der so ein Hafttrauma hatte, nicht viel zu tun haben
wollte. Irgendwie war mir die Sache unheimlich, dass jemand quasi unter Verfolgungsängsten
leidet. Die Frau hat sich nicht gemeldet, aber ein Mitarbeiter der Ständigen Vertretung hat mir
erzählt, dass sie 1978 freigekauft wurde. Was aus dem Kind geworden ist, weiß ich nicht.
Finden Sie es schade, dass Sie von der Frau nichts gehört haben?
Ich hätte mich gefreut, wenn ich mal was von ihr gehört hätte. Aber erwarten konnte man es
nicht. Wir kannten uns ja nicht. Also eigentlich habe ich die Fluchthilfe unter falschen
Voraussetzungen gemacht. Ich bin davon ausgegangen, das sind Freunde und Bekannte meines
Auftraggebers und ich hole eine Familie. Später habe ich erfahren, das sind gar keine Freunde und
22
Bekannte. Er hat halt Aufträge gekriegt, Leute rauszuholen, die er auch nicht kannte. Diese Leute
kannten sich auch untereinander nicht. Also es stimmte alles hinten und vorne nicht. Da kann man
nicht erwarten, dass die Frau besonderes Interesse an dem Fahrer hat, der sie rausholen sollte.
Denn den hat sie auch nur einmal gesehen.
Sind Sie sauer auf den Auftraggeber?
Ja, ich finde es nicht in Ordnung. Also er hat mich nicht verraten. Er hatte auch ein Interesse, dass
ich mit den Leuten wohlbehalten in den Westen komme. Aber er hat mir nicht die Wahrheit
gesagt. Er hat mir Sachen erzählt, um die Dinge in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen. Ich
hätte es vielleicht auch gemacht, wenn ich die Wahrheit gewusst hätte. Aber irgendwo war ich
doch ein bisschen desillusioniert, als ich dann erfuhr, wie es sich tatsächlich verhalten hat. Der
Auftraggeber hat auch vieles nicht eingehalten. Er hatte gesagt, dass er sich mit meinen Eltern in
Verbindung setzt, wenn etwas schief geht. Das hat er auch nicht getan. Ich bin von ihm
menschlich enttäuscht. Es ist auch eine Frage, wie viel Vertrauen man einem Menschen geben
kann. Ich bin hier sehr vertrauensvoll gewesen, danach war ich das nicht mehr. Ich bin
vorsichtiger und misstrauischer geworden.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Einen glücklichen Lebensabend.
© INTERVIEW: Franziska Vu
23
Sigrid Paul
- DIE VERZWEIFELTE Mutter -
Geboren 1934 in Dommitsch bei Torgau an der Elbe. Sie erlernte den Beruf der Zahntechnikerin,
heiratete 1957 Hartmut Rührdanz und zog zu ihm nach Ost-Berlin. Im Januar 1961 wurde ihr
Wunschkind Torsten geboren, der leider mit Problemen auf die Welt kam, da die Ärzte bei der
Entbindung gepfuscht hatten. Die Ärzte im Ostteil der Stadt waren fachlich überfordert, so dass
die Mutter ihren Sohn in die Universitätsklinik nach Westberlin brachte. Da die Eltern nach dem
Mauerbau keine Ausreiseerlaubnis erhielten, um zu ihrem immer noch kranken Baby zu
kommen, entschieden sie sich zur Flucht mit gefälschten Pässen. Leider missglückte ihr
Fluchtversuch. Im Februar 1963 wurde Sigrid Paul inhaftiert, nachdem sie die drei Studenten, die
sie bei ihrem Fluchtversuch kennen gelernt hatte, bei sich hatte übernachten lassen. Diese
wollten durch einen Tunnel in der Brunnenstraße flüchten. Dieses Vorhaben wurde aber an die
Stasi verraten.
Wie wurden Sie inhaftiert?
14 Tage nach dem Fluchtversuch der Studenten bin ich auf dem Weg zu meiner Dienststelle direkt
auf der Strasse gekidnappt worden. Ich bin morgens so gegen 7.30 Uhr zur Bushaltestelle
gegangen. Auf dem Weg dorthin kamen zwei Männer auf mich zu, packten mich an den
Oberarmen und hielten mich fest. Dann fuhr eine schwarze Limousine vor, ich wurde ins Auto
gedrückt und war für die Öffentlichkeit verschwunden. Man brachte mich in die
Normannenstrasse. Dort war das Ministerium für Staatssicherheit (MfS).
Hat niemand versucht, Ihnen zu helfen?
Der Busfahrer hat den Vorfall beobachtet. Er hat noch den Bus vorgezogen, gehalten und die
vordere Tür aufgemacht. Ich habe mich natürlich gewehrt und laut geschrieen. Gegen die beiden
starken Männer hatte ich aber keine Chance.
Wie wurden Sie behandelt und verhört?
Meine erste Vernehmung dauerte 22 Stunden. Was ich anhand meiner Stasiakten auch belegen
kann. Ein 22 Stunden dauerndes Verhör ist psychische Folter. Es gab fast keine Pausen. Ich durfte
nur auf die Toilette. Wenn es soweit war, hat man mich in eine Zelle gebracht. Dort stand ein
Kübel anstelle einer Toilette und es gab etwas zu trinken. Aber am Anfang stand ich so unter
Schock, dass ich weder essen noch trinken konnte. Nach dieser endlosen Vernehmung hat man
mich in einen Transportwagen gesetzt. Darin gab es kein Fenster, keine Luke, keinen Lichtschlitz.
Ich wurde irgendwohin gebracht und wusste nicht mehr, wo ich war. Ich hörte irgendwann mal
Tore quietschen, und als der Wagen sich öffnete, war ich in einem Gebäude. Ich habe erst viele,
viele Jahre später erfahren, dass ich im zentralen Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für
Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen war. In der Zentrale des Terrors.
Worum ging es bei den Verhören?
Bei den Verhören standen immer diese drei Studenten im Mittelpunkt, die bei uns Quartier
bekommen hatten. „Wie haben Sie sich kennen gelernt? Mit welchen Absichten sind die drei
24
jungen Leute zu Ihnen gekommen? Weshalb haben Sie Ihnen ein Quartier gegeben?“ Ich versuchte
natürlich, alles runter zu spielen. „Wir sind jung, wir haben gleiche Interessen. Wir sind zusammen
gerudert, gesegelt….“ Natürlich habe ich mich gegen das Geständnis gewehrt, dass wir uns bei
einem gemeinsamen Fluchtunternehmen kennen lernten. Wahrscheinlich dauerte das Verhör
deshalb so wahnsinnig lange. Jahre später haben wir erfahren, dass die Stasi uns auch der Spionage
verdächtigt hatte. Da war aber nichts dran. Wir hatten mit keinem Geheimdienst Kontakt, wir
haben nicht spioniert.
Was geschah mit Ihrem Mann, nachdem Sie gekidnappt worden waren?
Mein Mann ist aus der Wohnung geholt worden. Die Stasi-Vertreter haben geklingelt und den
bekannten Satz gesagt: „Wir bitten um ein Gespräch zur Klärung eines Sachverhaltes.“ Ich erfuhr
sehr schnell, dass mein Mann auch inhaftiert worden war.
Wie haben Sie sich beim Verhör gefühlt?
Bei einer 22-Stunden-Vernehmung kommt man sicherlich irgendwann an einen Punkt, an dem
man total erschöpft ist. Bei mir war das nicht so. Ich muss wohl unter Adrenalin gestanden haben,
so dass ich einfach nicht abschalten konnte. Nach 17 oder 19 Stunden merkte ich, dass mir
plötzlich eine innere Kraft zuwuchs. Also habe ich für mich beschlossen zu schweigen. Und ich
spürte, wie eine imaginäre Mauer in meinem Körper wuchs. Immer höher und immer fester. Diese
Mauer schützte mich vor den unangenehmen Fragen, denen ich schon seit Stunden ausgesetzt war.
Die Vernehmer wechselten alle drei bis vier Stunden. Es waren immer drei bis vier Vernehmer, die
gleichzeitig versuchten, Fragen zu stellen. Jedenfalls habe ich dann für mich beschlossen: ich bin
unschuldig, ich habe niemanden umgebracht, ich habe niemanden bestohlen. Die müssen mich
jetzt nach Hause lassen. Ich habe mir gesagt: Kein Wort mehr. Und das habe ich eingehalten. Die
hätten mich in diesem Moment an die Wand stellen und erschießen können; ich hätte mich nicht
gewehrt. Mein Entschluss, standhaft zu schweigen, funktionierte. Mit der Folge, dass ein
Vernehmer hinter mir stand und ganz laut sagte: „Ihr Mann ist auch hier.“ Da habe ich nicht
reagiert. „Sie glauben uns das wohl nicht.“ Ich habe immer noch nicht reagiert. „Wir müssen Ihnen
wohl erst einen Beweis bringen.“ Keine Reaktion meinerseits. Ich hatte meine Mauer gebaut. Das
führte dazu, dass ich eine halbe Stunde später einen Zettel auf meinem Oberschenkel fand. Darauf
stand in der Handschrift meines Mannes: „Mach` mit der Vergangenheit ein Ende und fang mit
mir eines Tages wieder von vorne an, Hartmut!“ Und da wusste ich, ihn hat man auch
festgenommen.
Wie lange waren Sie in Hohenschönhausen?
Ich durfte meinen Anwalt ein halbes Jahr nicht sprechen. Nach knapp sechs Monaten
Untersuchungshaftanstalt in Berlin wurden wir in die Stasi-Untersuchungshaftanstalt Rostock
verlegt. Im August 1963 wurden wir verurteilt. Im Gerichtssaal sahen wir auch die drei Studenten
wieder, die man in Haft genommen hatte. Und am Ende wurden mein Mann und ich wegen
Beihilfe zur Republikflucht zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Wir wurden nicht nach dem
Strafgesetzbuch der DDR verurteilt, sondern nach dem Strafergänzungsgesetz: „Wegen
gemeinschaftlichen Handelns zum illegalen Verleiten zum Verlassen der DDR.“ Die DDR versuchte
bei einer Erstinhaftierung immer die Höchststrafe zu verhängen, niemals die Mindeststrafe. Mein
Mann und ich mussten dann noch etwa sechs Wochen in der Haftanstalt in Rostock bleiben.
25
Getrennt von einander wurden wir wieder in die Untersuchungshaftanstalt Berlin-
Hohenschönhausen zurückgebracht und dort im Arbeitsprozess eingesetzt. Nach 19 Monaten
Stasihaft wurden mein Mann und ich von der Bundesregierung freigekauft. Trotz des Freikaufs
wurden wir nicht zu unserem immer noch kranken Sohn nach West-Berlin entlassen.
Was waren Ihre Aufgaben?
Ich musste zu Beginn dreieinhalb Monate im U-Boot verbringen und gehörte zum Putzkommando.
Wir wurden nachts um zwei Uhr geweckt, mussten Gänge und Vernehmerräume reinigen, Kübel
sauber machen und ähnliches. Stets mussten wir vier bis fünf Stunden arbeiten, ehe wir überhaupt
ein Frühstück erhielten. Zwischen sieben und acht Uhr war die Reinigungsarbeit beendet, dann
konnte man duschen und frühstücken. Anschließend musste ich Näharbeiten in einem Raum
unterm Dach ohne Fenster verrichten. Später wurde mir in dem neuen Zellentrakt in einer
Kellerzelle ein Zahntechnikerlabor eingerichtet. So konnte ich in meinem Beruf arbeiten. Die Stasi
ließ fast alle Dienstleistungen von Häftlingen erbringen.
Wie ging es Ihnen bei der Arbeit? Was für Erfahrungen haben Sie gemacht?
Der Einsatz im Putzkommando war nicht das Schwerste für mich. Da war ich eigentlich froh, dass
ich arbeiten konnte und abgelenkt war. Schlimmer war für mich, aber das hängt mit meiner
Persönlichkeit zusammen, um zwei Uhr früh aufstehen zu müssen. Das war eine Schwierigkeit für
mich, aber daran konnte ich mich langsam gewöhnen. Als Zahntechnikerin habe ich zu einer
christlichen Zeit mit der Arbeit begonnen. Die Anstaltsleitung hat darauf geachtet, dass man nicht
mehr als acht Stunden arbeitete. Da ging es mir wesentlich besser. Mein Kellerlabor lag neben zwei
Arrestzellen, den Gummizellen. Als ich dort arbeitete, hörte ich das Schreien eines Mannes, der in
der Gummizelle lag: „Hier kommen wir nie wieder raus.“ Das schrie er Tag und Nacht. Er wusste
ja nicht, wann Tag und wann Nacht war. Nach ca. drei Wochen holte die Stasi den armen Mann
aus der Gummizelle heraus. Ich wurde sofort abkommandiert, um die Zelle zu reinigen. Zwar war
ich offiziell nicht mehr dem Putzkommando zugewiesen, doch drückte man mir einen Eimer und
einen Schrubber in die Hand. Jetzt musste ich in dieser Gummizelle Kot- und Blutspuren
beseitigen. Das vergisst man nicht. Man vergisst die Schreie nicht, und man vergisst auch diese
Situation nicht.
Haben Sie einen Ihrer Vernehmer nach der Haft wieder gesehen?
Seit der Wende 1990 suche ich meinen Vernehmer. Ich möchte mit ihm mal, jetzt wo wir alle in
Freiheit leben, ein Gespräch führen. Er weiß dies, aber er weigert sich. Vor einigen Jahren habe ich
vermutet, der wartet die Verjährung ab und ist feige. Nach Ablauf der Verjährungsfrist klingelt er
vielleicht bei mir, denn er weiß, wo ich wohne. Aber vor einigen Wochen habe ich erfahren: Der
Vernehmer ist auch jetzt nicht bereit, mit mir zu sprechen. Er blockt ab, wörtlich. So feige sind
diese Leute. Jetzt, da wir alle in der Freiheit angekommen sind und uns in Augenhöhe unterhalten
könnten, da ich ihm auch mal Fragen stellen könnte und nicht er das Gespräch diktiert, da sind sie
zu feige, mit einem ins Gespräch zu kommen.
Was empfinden Sie für diesen Menschen?
Ein armer Irrer. Für mich ist das ein Mensch ohne Charakter. Als die Stasi Macht und Waffen hatte
und uns Häftlinge demütigen konnte, da haben sie das gnadenlos ausgespielt. In der Freiheit sind
26
sie zu feige für ein Gespräch. Ich will ihm ja nicht das Messer an die Kehle setzen. Ich möchte
mich nämlich nicht belasten. Das liegt mir fern. Aber an diesem Verhalten erkenne ich, das sind
arme, irre, feige Menschen. Zu einer Entschuldigung sind die doch gar nicht fähig, das erwarte ich
nicht. Er soll mir aber wenigstens einzelne Punkte meiner Anklageschrift erklären.
Wurden Sie während der Haft über Ihren kranken Sohn informiert?
Während der Untersuchungshaft hatte ich keinen Kontakt zu meinem Sohn.
Da hatte ich ja auch keinen Kontakt zu den Angehörigen, zu meinem Anwalt und auch keine
Schreiberlaubnis. Also wusste ich auch nach einem halben Jahr nicht, wie es meinem Sohn geht.
Nach der Verurteilung fand ein Gespräch mit dem Anwalt statt, anschließend konnte ich
regelmäßig Post empfangen. Erlaubt war, einmal im Monat einen Brief mit 21 Zeilen zu versenden.
Außerdem hatte man einmal im Quartal 40 Minuten Sprecherlaubnis mit einem Angehörigen. Man
wurde für das Gespräch nach Berlin-Rummelsburg gebracht. Bei den Gesprächen bekam ich
natürlich Informationen über den Gesundheitszustand meines Sohnes. Zu unserer großen
Überraschung erhielten wir kurz vor Weihnachten sogar einen Brief des behandelnden Arztes, der
den Gesundheitszustand von Torsten schilderte.
Wie erging es Ihnen in dem Moment?
Es war sehr schwer. Das ist ein Punkt, wenn Sie mich auf meinen Sohn ansprechen, dann kriege
ich mich nicht mehr ein. Da kann ich erstmal nicht weitermachen.
Waren Sie in Einzelhaft?
Nein, ich war immer in einer Gemeinschaftszelle. Außer einmal zehn Tage in Rostock. Da erhielt
ich Steharrest, genau während der Prozesstage. Im Putzkommando war ich mit mehreren Frauen
untergebracht, im berüchtigten
U-Boot. Während meiner Arbeit als Zahntechnikerin kam ich häufig mit anderen Frauen
zusammen, da war ich im Keller des neuen Zellentraktes inhaftiert.
Konnten Sie mit Ihrem Mann sprechen?
Für die vier inhaftierten Ehepaare hatte die Stasi Sondersprecherlaubnis eingerichtet. Einmal im
Monat konnte man dreißig Minuten mit seinem Ehepartner sprechen; unter Bewachung. Berühren
durften mein Mann und ich uns nicht, aber wir konnten uns für eine halbe Stunde sehen.
Was war das Schlimmste für Sie?
Da fange ich gleich wieder an zu heulen. Es ist schwierig darüber zu reden. Also ganz schwer war
dann eben doch, wenn man Post bekam oder eine Information über den Gesundheitszustand
meines Sohnes. Wenn ich keine Post bekam, keine Nachricht hatte, dann spielten die eigenen
Vorstellungen eine stärkere Rolle. Aber manchmal kam der Punkt, da war ich unausstehlich, da
konnte ich mich nicht beherrschen. Ich heule heute noch, wenn ich daran denke. Die Gedanken
an meinen Sohn waren das Schlimmste, nicht das Strafmaß, nicht die Situation, nicht das Umfeld.
Wie verarbeiten Sie Ihre Erlebnisse?
Die Führungen in der Gedenkstätte haben mir sehr geholfen. Es war natürlich ein sehr, sehr
schwieriger Weg. Aber die Erfahrung, darüber sprechen zu können, hat mir sehr geholfen, meine
27
Erlebnisse von damals zu bewältigen. Außerdem habe ich etwas zu Papier gebracht. Ich denke,
auch das ist eine Form der Bewältigung.
Haben Sie Folgen davon getragen?
Danach bin ich noch nie gefragt worden, aber dann erzähle ich Ihnen etwas sehr Persönliches. Ich
habe eine sehr schöne, helle Wohnung mit Fenstern nach drei Seiten, habe keine Türen in der
Wohnung und keine Vorhänge vor den Fenstern. Das ist einfach eine Folge der Inhaftierung.
Wie erging es Ihnen nach der Haftentlassung?
Ich hatte das ganz besondere Glück, dass meine Chefin mich nicht entlassen hatte; weder nach der
Inhaftierung noch nach der Verurteilung. Als ich freigekauft wurde, konnte ich meine Tätigkeit als
Zahntechnikerin in der DDR nahtlos fortsetzen. Aber ich konnte nach wie vor nicht in den Westen
reisen. Als mein Sohn endlich im Sommer 1965 nach Hause zurückkehren konnte, war er fast fünf
Jahre alt.
Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft?
Ich habe keine großen Zukunftspläne. Seit Jahren habe ich mich so eingerichtet, dass ich in der
Gegenwart lebe. Ich versuche immer, das Beste aus dem Leben zu machen. Ich bin vor vielen,
vielen Jahren angesprochen worden, meine Erlebnisse aufzuschreiben. Zehn Jahre lang sträubte ich
mich, dann habe ich doch angefangen zu schreiben. Inzwischen habe ich den Text beendet. Es ist
mein Wunsch, meine Hoffnung für die Zukunft, dass diese Schrift mit dem Titel „Mauer durchs
Herz“ einmal in Buchform vorliegt. Es sieht ganz optimistisch aus.
© INTERVIEW: Franziska Vu
28
Herbert Pfaff
- DER ZWEITE PASS -
Geboren 1934 in Berlin. Herbert Pfaff war zweimal in Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert. Beim
ersten Mal war er 20 Jahre alt. Während eines Besuchs im Ostberliner Bezirk Pankow fand der
Westberliner einen Personalausweis der DDR. Diesen wollte er bei der Polizei abgeben. Auf dem
Weg dorthin bekam er Schmerzen. Hilfsbereite Menschen brachten Pfaff ins Krankenhaus. Bei
der Aufnahme im Krankenhaus wurden zwei Personalausweise in seiner Kleidung entdeckt.
Können Sie Ihren Haftvorgang schildern?
Nachdem ich im Krankenhaus behandelt worden war, fragte mich ein Arzt oder
ein Pfleger nach meinen Personalien. Ich sagte eher lässig: „Na da kiek doch mal in meine Jacke
rein, da ist mein Ausweis drin.“ Ohne in diesem Moment daran zu denken, dass auch der
Ostausweis in meiner Jacke steckte. Er nahm die Ausweise und sagte keinen Ton. Nach 20
Minuten kamen auf einmal zwei Volkspolizisten anmarschiert. Hatten den Ostausweis und meinen
Westausweis in der Hand. Ich wurde aufgefordert, zwecks Protokollaufnahme mitzukommen. Die
Vopos nahmen meine Wenigkeit in die Mitte, und wir fuhren aufs Revier. Nach einer halben
Stunde des Wartens kam ein Herr in Zivil. Ich müsste zu einer anderen Dienststelle mitkommen,
wurde mir mitgeteilt. Dann ging es die Treppe hinunter, und vor der Tür haben sie meine Jacke
genommen und mir über den Kopf gezogen. Mein Kopf wurde nach unten gedrückt: „Bücken Sie
sich!“ Bums war ich im Auto drin. Wieder gefunden habe ich mich im berüchtigten U-Boot in
Hohenschönhausen, in einer Zelle ohne Fenster.
Was wurde Ihnen vorgeworfen?
Nach einer längeren Zeit, die ich nicht einschätzen konnte, ging die Zellentür auf. „Kommen Sie!“
Ich bin auf die 112, ins Vernehmungszimmer gebracht worden. Mir wurde eröffnet, ich werde der
Agenten- und Spionagetätigkeit verdächtigt; ein Verbrechen gegen den Weltfrieden eingeschlossen.
„Es ist günstiger, Sie gestehen sofort, welcher Agenten- und Spionageorganisation Sie angehören.“
Immer wieder wurde die Frage gestellt: „Welcher Agenten- und Spionageorganisation gehören Sie
an?“ Ich habe damals als Zwanzigjähriger Namen von so genannten Agentenorganisationen gehört,
die ich gar nicht kannte.
Glauben Sie, dass der DDR-Ausweis bewusst auf dem Bürgersteig lag?
Die Stasi hat damals gelogen, die lügen heute noch. Der Besitzer des Ausweises ist natürlich
vernommen worden. Darüber bin ich nicht informiert worden. Der Ausweisbesitzer hat behauptet,
er könne sich an nichts erinnern. Er habe den Ausweis vorschriftsmäßig im Brustbeutel getragen
und eigentlich nicht verlieren können. Ob er deshalb an einen Diebstahl denke, war die nächste
Frage. Die Antwort war, der Ausweis könnte vielleicht eine Fälschung sein. In meinen Stasiakten
habe ich später gelesen, dass der Ausweisbesitzer Hauptmann der Staatssicherheit aus Prenzlau
war.
Haben Sie ihn nach der Wende getroffen?
Meine jetzige Frau stammt aus Prenzlau, und so habe ich nach 1992 ihre ganze Verwandtschaft
29
verrückt gemacht. Zwei kannten ihn. Dann bin ich zu ihm hinmarschiert, habe gesagt wer ich bin,
und dass ich ihm immerhin sieben Monate im U-Boot zu verdanken habe. Ich habe ihn gefragt,
warum er damals den Verlust des Ausweises nicht zugegeben hat? Und wie hat er reagiert: „Ich
kann mich an den Fall überhaupt nicht mehr erinnern.“
Was empfinden Sie für den Menschen?
Teilweise totale Verachtung! Auf der anderen Seite muss man so realistisch
sein und bedenken, dass er wahrscheinlich selbst Angst hatte. Wenn er die
Wahrheit gesagt hätte, hätte das unangenehme Folgen für ihn gehabt.
Welche Druckmittel wurden bei Ihnen angewendet?
Die ersten sechs Wochen wurde ich fast täglich und sogar nächtlich vernommen. Also Schlafentzug
wurde voll und ganz durchgezogen, und tagsüber durfte ich nicht auf der Pritsche liegen, auch
nicht nach nächtlichen Vernehmungen. Zur Genüge körperliche Misshandlungen, Backpfeifen,
Lampe in die Fresse, Fußtritte in den Hintern. Für jedes „Nein“, das ich sagte, hat man mir in die
Fresse gehauen oder den Stuhl unterm Hintern weggezogen. Dies werfe ich immer Herrn Siegfried
Rataizik vor, dem ehemaligen Kommandanten von Hohenschönhausen. Er behauptet frech, es sei
nicht geschlagen worden. Die früher leitenden Stasi-Obristen kriegen keine Strafe; das ist ja alles
verjährt. Das ist traurig. Die bekommen eine dicke Pension, fahren einen dicken Mercedes, haben
eine dicke Fresse und träumen von ihrer Rehabilitierung. Das ist die Realität.
Was war für Sie im U-Boot am schlimmsten?
Das Alleinsein. Alle fünf Minuten ging die Klappe in der Zellentür auf, und
dann hat so ein olles Schweineauge durchgeguckt. Ob es Tag oder Nacht war,
diese ständige und totale Kontrolle. Dann sitzt man da allein und weiß nicht, was jetzt passiert. Es
gehen einem die schlimmsten Sachen durch den Kopf. Von Kopfabschlagen bis Genickschuss oder
irgendetwas.
96
Wie verarbeiten Sie die Erlebnisse?
Durch Führungen in der Gedenkstätte Hohenschönhausen. Bei jeder Führung
beschreibe ich das geschehene Unrecht und gebe es an die Besucher weiter.
Damit so etwas nicht mehr passiert; zumindest nicht in Europa. Ich weiß
natürlich, Unrecht geschieht noch in Chile, in China und auch in Staaten, die unbedingt Mitglied
der EU werden wollen.
Was für gesundheitliche Folgen haben Sie davongetragen?
Die erste Zeit war natürlich furchtbar schlimm. Da bin ich nachts schweißgebadet aufgewacht, vom
Bett gesprungen und habe automatisch mein Bett gemacht. Das war immer Vorschrift. Oder ich
höre die lauten Geräusche, als wenn das Zellenschloss entriegelt wird. Heute, beim Verlassen der
Gedenkstätte und beim Passieren des riesigen, eisernen Rollentors, wo ich niemals freiwillig
durchgehen konnte, ist das alles, was hier drin war, für mich gestrichen.
Wie wurden Sie entlassen, und wie haben Sie sich dabei gefühlt?
Man hat mich früh morgens zum Vernehmer gebracht. Er setzte sich mit dem
Hintern auf den Tisch und sagte: „Jetzt passen Sie mal auf, lange Rede kurzer Sinn. Die Regierung
30
der Deutschen Demokratischen Republik hat beschlossen, Sie wegen Ihrer absoluten Jugendlichkeit
zu entlassen.“ Das war es. Ich musste eine Schweigeverpflichtung unterschreiben. Mir sind die
Augen verbunden worden, und ich wurde etliche Male durch das Gebäude kreuz und quer geführt,
bis es dann plötzlich hieß: „Bücken Sie sich, Sie sind im Auto.“ In dem Moment, da man
verbundene Augen hat, kann man denen nicht ganz glauben. Dann habe ich mit verbundenen
Augen im Auto gesessen. Neben mir saß jemand, auf der anderen Seite saß jemand, vorne saßen
zwei Vögel und fahren und fahren und fahren. Dann hielt der Wagen, die beiden Stasi-Leute
stiegen mit mir aus und unwillkürlich dachte ich: Jetzt muss es gleich knallen, und du bist weg. Mir
wurde aber die Augenbinde abgenommen. Ich war ganz benebelt, habe keine Umrisse mehr
wahrgenommen, nichts. Dann sagte man mir: „Drehen Sie sich jetzt nicht um, wir fahren ab, Sie
sind jetzt frei.“ Ich stand mitten im Wald. Keine Strasse, nichts. Ich wusste nicht, wo ich bin. Ist
das hier vielleicht Moskau oder woanders, habe
ich gedacht. Und dann die Angst, dass ein Mann hinter dem Baum steht. Ich bin nach vorn
gelaufen, habe immer gehorcht, ob ich irgendwelche Geräusche höre, außer dem
Vogelgezwitscher. Wieder gefunden habe ich mich in Köpenick im Wald, in der Nähe des
Müggelsees.
Wie haben Ihre Eltern reagiert als Sie plötzlich wieder zu Hause waren?
Die Freude war natürlich groß. Dann kam die Frage: „Junge, wo kommst Du denn jetzt her?“
Meine Antwort: „Na ja, ich habe eine heiße Frau kennen gelernt. Sie heißt Hannelore.“ Ich hatte
Angst, weil ich am Beispiel von Walter Linse gesehen hatte, dass diese Strolche selbst vor
gewaltsamen Entführungen aus West-Berlin nicht zurückschrecken. Die Stasi hat mir gedroht:
„Unser Arm reicht weit. Wir kriegen Dich überall, wenn Du die Schweigeverpflichtung brichst!“
Ich habe über drei Jahre meine Schnauze gehalten. Und als ich dann gesagt habe, wo ich war, da
hat es mir keiner mehr geglaubt. Auch meine Familie nicht. Meine Mutter hat mir vorgehalten:
„Mein Junge, Du warst doch irgendwo anders. Du bist nämlich anders geworden. Nachts wirst Du
schweißgebadet wach und schreist.“ Und ich habe meiner Mutter geantwortet: „Ach, das ist doch
Quatsch! Was Du Schreien nennst, ist Rufen nach der Hannelore.“
Was haben Sie nach der Entlassung gemacht?
Ich schwor mir: Das habt ihr nicht umsonst gemacht. Ich schloss mich Gruppen an, von denen ich
mehr oder weniger wusste, dass sie gegen die DDR arbeiteten. Die Kampfgruppe gegen die
Unmenschlichkeit (KgU) zum Beispiel. Entscheidend war für mich der 13. August 1961. Bau der
Schandmauer. Dann ging das los. Wir schossen von West-Berlin Luftballons, Raketen und
Flugblätter nach Ostberlin. Doch das war mir alles zu wenig. Ich habe meinen Arbeitskollegen,
dessen Frau und dessen zwei Kinder über die Grenze gebracht. Das sprach sich in Westberlin rum.
Daraufhin kamen vier Wochen später zwei Herren von der politischen Polizei aus Westberlin. Sie
fragten mich, ob ich an Fluchthilfe interessiert sei. Und so ist es dann gekommen. Ich sagte ja. Und
ich wusste voll und ganz, was auf mich zukommt, wenn die mich am Arsch kriegen. Das hat mich
keinesfalls abgehalten. Nicht im Geringsten. Auf Empfehlung habe ich dann beim Deutschen Roten
Kreuz (DRK) in Westberlin angefangen. Als DRK-Mitarbeiter war ich in den Passierscheinstellen in
Westberlin eingesetzt. Mein angeheirateter Schwager
– heute kann ich das ja sagen – war in der Bundesdruckerei beschäftigt. Dort wurden
Personalausweise hergestellt. Und da kam die große Idee. Ich hatte bis zu 50 Personalausweise
31
blanko in meiner Tasche. Diese wurden mit Bildern und Namen von denjenigen versehen, die ich
aus der DDR herausgeholt habe. Die Ausweise wurden vorher auf eine Westberliner Adresse
ausgestellt. Sonst hätte ich keine Passierscheine gekriegt. Die wurden sogar von einer Dienststelle
als echt abgestempelt. Daraufhin habe ich Passierscheine beantragt. Ich habe diese auch
bekommen. Es ist mir gelungen, 46 Menschen aus der DDR auszuschleusen.
Wie vollzog sich Ihre Inhaftierung?
Am 02. November 1964 schnappte die Falle am Bahnhof Friedrichstrasse zu. Als DRK-Angehöriger
besaß ich einen Dauerpassierschein für Ostberlin. Ich konnte mich mit meiner Uniform im Osten
frei bewegen. Am Grenzbahnhof Friedrichstraße musste ich stets durch einen besonderen Schalter
gehen, der auch für die Ostberliner Eisenbahner, die im Westen arbeiteten, bestimmt war. Plötzlich
stand da ein Mann vor mir: „Herr Pfaff, Ministerium für Staatssicherheit, kommen Sie mal mit zu
einer kleinen Befragung.“ Mir ging sogleich der Gedanke durch den Kopf: „Na ja, dann landest Du
wieder in dem ollen Keller.“
Wie konnte die Stasi Ihre Fluchthilfe beweisen?
Nach acht Monaten war mein Vernehmer schon recht siegessicher. Er knallte
meine Anträge für die betreffenden Personen auf den Tisch: „Sehen Sie, diese Personen sind alle
nicht mehr bei uns. Das Gutachten beweist Ihre Handschrift. Sie haben die Dinger alle selber
ausgefüllt. Was wollen Sie noch leugnen.“ Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich dachte, die
Banditen vernichten hinterher alles. Scheiße, in Hohenschönhausen wurden die Anträge gestapelt.
Da konnte ich nichts mehr sagen.
Wie lange waren Sie inhaftiert?
Ich wurde am 17. Juni 1965 verurteilt, der in Westdeutschland als „Tag der
Deutschen Einheit“ gefeiert wurde. Die Staatsanwältin sagte hämisch: „Schauen Sie ruhig aus dem
Fenster, bei Ihnen ist heute Feiertag. Sie haben noch einen Feiertag, zwei Jahre und sechs Monate
Zuchthaus.“ Bumm, dann war es geschehen. Ich erhielt „nur“ zwei Jahre und sechs Monate Haft,
weil die Staatsanwältin der Ansicht war, die Hauptschuld liege beim Ministerium für
Staatssicherheit (MfS). Man hätte erkennen müssen, dass es sich um neue Ausweise handelte. Mit
der Folge, dass keine Passierscheine mehr ausgestellt worden wären. Das war mein Glück. Doch
ich musste die zweieinhalb Jahre bis zum letzten Tag absitzen.
Wie wurden Sie behandelt, im Vergleich zum U-Boot?
Es gab keine Backpfeifen, sie haben grundsätzlich betont: „Wir haben Zeit, wir haben Zeit.“ Die
Verhöre waren „humaner“. Verglichen mit früher gab es keine körperlichen Misshandlungen.
Doch Misshandlungen sind nicht nur physisch durch Gewalt möglich, sondern auch psychisch.
Welchen Misshandlungen waren Sie bei Ihrer zweiten Inhaftierung ausgesetzt?
Zwei Tage vor meiner Verurteilung musste ich zum Vernehmer. Der hat ganz
„schonend“ gesagt: „Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen beibringen soll. Ihre
Frau ist mit einem Kind tödlich in Westberlin verunglückt. Ich habe schon mit dem Genossen
General über die Sache gesprochen.“ Meine ehemalige Frau und meine Tochter, die mich schon
dreimal zum Opa gemacht hat, leben heute noch.
32
Wurden Sie verraten?
Ich ahnte damals nicht, dass es in Westberlin auch Stasi-Agenten gibt. Das
waren die so genannten IMW, Informative Mitarbeiter West. Und erst aus
meinen Stasiakten weiß ich: Mein Zugführer vom Roten Kreuz in Westberlin
war Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Stasi. Der lieferte mich ans Messer.
Er hatte ausgesagt: Ein Mitarbeiter von mir beantragt am laufenden Band
Passierscheine.
Haben Sie ihn später deswegen angesprochen?
Erst einmal war ich platt. Ich habe ihn sechs Wochen später aufgesucht. Die
erste Frage, die er mir stellte: „Ach, Du weißt es jetzt?“ Er wurde erpresst. Seine Mutter war damals
verstorben und hinterließ Barvermögen. Seine Schwester wohnte in Plauen. Er hatte sich mit seiner
Schwester auf der Transitstrecke getroffen, um ihr den Erbanteil bar zu übergeben. Dabei wurde er
fotografiert und gefilmt. In Dreilinden, bei der Einreise nach Westberlin, hat man ihn heraus
gewunken und die Fotografien vorgelegt. Ihm wurde erklärt: „Es gibt zwei Möglichkeiten:
Entweder verschwinden Sie für 10 Jahre in einem Hotel ohne Klinke, oder Sie bleiben beim Roten
Kreuz. Dort haben wir noch keinen von uns ‚eingeklinkt’. Sie können der erste sein. Denken Sie an
Ihre Schwester in Plauen. Wenn Sie nicht wollen, wie wir wollen, geht die auch in den Knast“.
Dann hat er unterschrieben und war IM der Stasi.
Was empfinden Sie heute für ihn?
Es ist logisch, dass ich ihn nicht mehr sehen will. Auf der anderen Seite ist er auch ein armes
Schwein. Ich weiß von anderen, die mit ihm Kontakt haben, dass er furchtbar darunter leidet. Aber
ich bin in diesem Moment rigoros und sage, der leidet viel zu wenig.
Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft?
Ich und noch Zukunft? Ich bin 72 Jahre alt. Zumindest wünsche ich mir, dass
die Stasiakten nicht wie vorgesehen zum Jahresende geschlossen werden. Die
ganze Welt soll erfahren, was hier für ein diktatorisches, tyrannisches System geherrscht hat. Mit
welchen Mitteln die Menschen in ihrer Persönlichkeit erpresst und verletzt wurden. Und ich bleibe
hier in Hohenschönhausen, bis ich umfall
© INTERVIEW: Franziska Vu
33
Mario Röllig
- DER JUNGE ROMANTIKER -
Geboren Oktober 1967 in Ost-Berlin. Er ist Homosexueller und lernt während eines Ungarn-
Urlaubs seinen ersten Freund kennen, einen Bonner Politiker. Die Stasi wird auf den 19-jährigen
aufmerksam und verlangt, dass er ihr „Inoffizieller Mitarbeiter“ (IM) wird. Er weigert sich.
Daraufhin wird Röllig massiv unter Druck gesetzt. Als einzigen Ausweg sieht er die
Republikflucht. Am 25. Juni 1987 versuchte er, über Ungarn nach Jugoslawien zu fliehen. Er
wird jedoch gefasst und von der ungarischen Grenzpolizei dem Ministerium für Staatssicherheit
(MfS) übergeben.
Warum missglückte Ihr Fluchtversuch?
Ich wusste, dass an der „grünen“ Grenze zwischen Ungarn und Jugoslawien nur Soldaten
kontrollierten; ohne Minenfelder und Stacheldraht, nicht wie an der innerdeutschen Grenze. Ich
dachte, entweder schaffe ich es, oder ich werde erschossen. Die dritte Möglichkeit, verhaftet zu
werden, hatte ich mir nie überlegt. Allerdings war mir nicht bekannt, dass die dort ansässigen
Bauern im Nebenjob Grenzhelfer waren. Einer dieser Grenzhelfer entdeckte mich schon von
weitem und verfolgte mich. Als der Abstand zwischen uns nur noch ca. 30 Meter betrug, forderte
er mich auf, stehen zu bleiben und schoss in die Luft. Danach schlugen neben mir die Kugeln
rechts und links ein. Der Bauer schien also recht gut zielen zu können. Ausgerechnet zu diesem
Zeitpunkt bin ich ausgerutscht und aus Angst liegen geblieben.
Wie wurden Sie von Budapest nach Hohenschönhausen gebracht?
Nach einer Woche wurde ich mit anderen Jugendlichen in die Garage des Polizeigefängnisses von
Budapest gebracht. Dann ging es in einem Touristenbus zum Flughafen. Wir wurden direkt zur
Gangway gebracht, Flugziel Ost-Berlin. Dort erwartete mich das gleiche Spiel, nur grausamer. An
der Gangway stand ein Stasi-Mann mit Maschinenpistole und sperrte die Anderen und mich in
einen kleinen Transporter B1000 ein. Der Transporter war äußerlich als Fahrzeug des „Centrum
Warenhaus Berlin Alexanderplatz“ getarnt. Der bewaffnete Stasi-Mann fuhr hinten im Container
mit. Zwei Fahrer trugen über ihren Stasiuniformen die Kittel des in der DDR bekannten
Warenhauses. In meiner Angst fragte ich: „Wo komme ich denn jetzt hin, komme ich in das
Zuchthaus Berlin–Rummelsburg, in das Gefängnis für Verbrecher?“ Der Stasi-Mann brüllte mich an
und sagte einen typischen Standardsatz: „Solche wie Sie sind viel schlimmer, Sie werden schon
sehen, wo wir Sie hinbringen. Wir müssen nicht nett zu Ihnen sein.“ Dann schloss sich für mich
einer der fünf winzigen Käfige in dem Transporter. Mir wurden vorher Handschellen und
Fußfesseln angelegt. Die Fahrt dauerte ca. fünf Stunden.
Wie erging es Ihnen dann in Hohenschönhausen?
Ich stolperte direkt aus dem dunklen Transporter in hellstes Neonlicht. Das plötzliche grelle Licht
machte mir Angst. In der Schleuse / Garage des Gefängnisses standen die Stasi-Leute rechts und
links Spalier. Sie trugen Reitstiefel, Reithosen und Gummiknüppel. Verprügelt haben sie uns nicht,
aber sie schrieen und beleidigten uns. Wir mussten die Hände auf den Rücken halten und einem
34
einzelnen Wärter in einem Meter Abstand durch den Gefängnisflur folgen. Es war eine sehr
schreckliche Situation. Ich kam mir vor wie in einem Nazifilm, aber es war in meiner Heimat, der
DDR. Das erste, was ich entdeckte, waren rechts und links in Augenhöhe angebrachte Drähte an
der Wand. Der Wärter bemerkte dies und stellte klar: „Übrigens, das sind Alarmdrähte. Wenn Sie
auf mich losgehen, dann ziehe ich daran und in wenigen Augenblicken kommt das
Überfallkommando, und Sie werden ruhig gestellt. Das möchten Sie doch nicht, oder?“
Wie wurden Sie behandelt und verhört?
Während des Verhörs musste ich viele Stunden auf einem unbequemen Holzhocker sitzen. Das
änderte sich zu besonderen Anlässen wie dem Unterschreiben von Geständnissen. In diesen
Stunden durfte ich als „Vergünstigung“ auf einem gepolsterten Stuhl sitzen. Verhört wurde ich von
insgesamt drei Stasioffizieren. Einer war der „gute Freund“, einer war die autoritäre Vaterfigur und
der dritte kam dazu, wenn die anderen nicht weiterkamen und brüllte laut. Der „gute Freund“, der
Untersuchungsführer in den Verhören, war eigentlich der Schlimmste, da er für mich das Idealbild
für eine Beziehung oder Freundschaft gewesen wäre, aufgrund seiner Art und seines Aussehens.
Ein Typ wie aus einem Modellkatalog: braun gebrannt, trug braun gewelltes Haar, hatte stahlblaue
Augen und war gut gekleidet. Die Stasi wusste aus ihren Akten, dass ich schwul bin. Psychologisch
geschickt setzten sie den „richtigen“ Offizier in den Verhören auf mich an. Das war grauenvoll und
leider nicht ohne Erfolg. Der Stasi-Offizier hat mir durch seine freundliche Art mehr Informationen
entlocken können als mir lieb war. Zum Beispiel schaltete er demonstrativ das Tonbandgerät aus
und sagte: „Jetzt können wir ja mal frei reden. Erzählen Sie mir, wer Ihre Hintermänner bei Ihrer
Flucht waren?“ In Wirklichkeit liefen die Tonbandgeräte in den Schränken mit.
Wie oft wurden Sie verhört?
Fast täglich. Am Wochenende war Pause, dafür wurde am Wochenbeginn nachgeholt. Ein Verhör
dauerte durchschnittlich 5-8 Stunden, manchmal aber auch nur eine Stunde. Ich habe aber auch
mal 22 Stunden am Stück erlebt. Die Offiziere haben sich abgewechselt, damit sie sich ausruhen
konnten. Die Typen waren Schreibtischtäter, das waren Beamte. Die haben morgens um acht Uhr
mit ihrer „Arbeit“ begonnen und wollten abends pünktlich Feierabend machen.
Wurde Ihre Familie als Druckmittel missbraucht?
Meine Mutter hatte gesundheitliche Probleme. In der Haft hat die Stasi mir gedroht: „Wenn Sie
nicht reden, verhaften wir Ihre Eltern. Wir wissen, Ihre Mutter ist nicht gesund. Ob sie die
Bedingungen bei uns während der Haft durchhalten würde, das können wir nicht garantieren.
Wollen Sie nun aussagen?“ Und dann griffen sie zu extrem fiesen Methoden. Als ich aus dem
Verhörzimmer in die Gefängniszelle gebracht werden sollte, klingelte plötzlich das Telefon. Ich
stand noch im Türrahmen des Verhörbüros. Der Offizier nahm den Hörer ab und sagte bewusst
zum Mithören: „Die Eltern verhaftet. Musste das sein?“ Heute weiß ich, unter seinem Schreibtisch
war ein Knopf, um das Klingeln des Telefons auszulösen. In diesem Moment drehte ich mich um
und sagte: „Was, Sie haben meine Eltern verhaftet. Die wissen doch gar nichts von meiner Flucht,
das können Sie doch nicht machen.“ Darauf antwortete der Vernehmer: „Das geht Sie gar nichts
an, aber vielleicht sind Sie morgen ein bisschen kooperativer und sprechen mit mir, z.B. über Ihre
Freunde im Westen?“
35
Welche weiteren Druckmittel wurden bei Ihnen eingesetzt?
Nachdem ich während des Verhörs stundenlang auf dem Holzhocker sitzen musste, ließ sich der
Offizier mein Lieblingsessen bringen und aß vor meinen Augen zu Mittag. Dann rauchte er die
Zigarettenmarke, die auch ich rauche. Ich dachte: Nee, ich gucke zur Wand und zähle die Blätter
auf der Tapete. Ich will nicht antworten. Einmal wurden mir auch die Gummizellen im Keller
angedroht. „Wenn Sie hier nicht reden, wir haben auch andere Unterbringungsmöglichkeiten.“ In
dieser Situation ging so der letzte Rest Heimat DDR für mich verloren. Am Tag durfte ich keinen
Sport in der Zelle treiben, und ich durfte nicht auf der Pritsche sitzen, sondern nur auf dem
Schemel, der in der Mitte der Zelle stand. Man musste aufrecht und gerade sitzen, Gesicht zur Tür.
Alles hing von der Laune der Wärter ab. Der Blickwinkel des Spions in der Zellentür umfasste auch
die Toilette. Saß man zu lange darauf, wurde barsch befohlen: „Runter!“ Das war auch sehr
peinlich, keinerlei Intimsphäre zu haben. Während des Schlafens musste ich auf dem Rücken
liegen, Hände links und rechts neben mir. Von 22 Uhr bis 6 Uhr in der Nacht leuchtete über der
Zellentür eine 70 bis 100 Watt Glühbirne alle 5 bis 30 Minuten abhängig vom Wärter. So hat die
Stasi mich in den ersten Wochen bearbeitet. Irgendwann hatten sie es geschafft. Innerlich bin ich
zusammengebrochen, war nervlich am Ende. „Wenn Sie hier nicht reden, wir haben Zeit. Um Sie
kümmert sich draußen keiner mehr. Niemand weiß, wo Sie sind. Wenn Sie hier nicht reden, dann
sitzen Sie hier Tage, Wochen, Monate. Und wenn wir das wollen, dann kommen Sie hier niemals
raus!“
Was war für Sie am schlimmsten?
Am schlimmsten empfand ich, dass die Zeit nicht vergehen wollte. Dass jede Minute, jede Stunde,
jeder Tag eine Ewigkeit war. Glasbausteine als Zellenfenster waren grauenhaft. Die ganze Zeit
keine Blume, keinen Baum, keine Wiese, immer nur kahle Betonwände in der Zelle. Keine
Besuche, keinen Rechtsanwalt, keine sonstige Ablenkung – absolute Isolation. In meiner Zelle
achtete ich auf jedes Geräusch im Gefängnisflur. Einmal bekam ich mit, wie ein Inhaftierter mit
seinen Fäusten gegen seine Zellentür schlug und schrie: „Ihr habt doch versprochen, mich zum
Verhör zu bringen, Ihr habt es mir doch versprochen.“ Diese Situation geht mir heute noch durch
Mark und Knochen, damals wurde die eigene innere Angst noch stärker und größer.
Wie ging es dann weiter?
In den ersten Wochen saß ich in der Zelle und im Verhör wie ein Häufchen Elend. Ich sagte einige
Gedichte aus meiner Schulzeit immer wieder auf oder sang leise Lieder. Aus Sehnsucht nach
Freiheit habe ich immer gesungen: „Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf
Hawaii….“ Damit habe ich die Wärter oft zur Weißglut gebracht. Obwohl ich mich unglücklich,
frustriert und wütend fühlte, war das für mich ein innerer Sieg. Doch nach etwa sechs Wochen
lagen meine Nerven blank, da habe ich im Verhör gesagt: „Ich möchte sofort Literatur in meine
Zelle, sonst werde ich hier verrückt und wahnsinnig.“ Da reagierte der „Untersuchungsführer“:
„Wir sind doch keine Unmenschen, natürlich kriegen sie Literatur in Ihre Zelle.“ Und ich erhielt
Bücher, die ich nun wirklich nicht lesen wollte. Ich wollte raus und bekam natürlich Reiseliteratur.
Das war besonders grauenvoll, denn am Ende der Welt, an einem Ort der nicht existiert, bekam ich
Bücher über die Tierwelt der Karibik oder einen Wanderurlaub in der Schweiz. Ich bin vor Wut
gegen die Zellentür gesprungen. Daraufhin brachte man mich ins Haftkrankenhaus und stellte mich
dort ruhig.
36
Wie verarbeiten Sie Ihre Haftfolgen?
Ich denke manchmal heute noch an die Ausweglosigkeit in den Verhören und in der Zelle. Noch
heute schrecke ich aus Albträumen nachts hoch und schaue, ob ich „vorschriftsmäßig“ auf dem
Rücken liege. In diesen Momenten werde ich wütend und frage, warum das nicht vergeht. Ich
lerne auch, diese schreckliche Zeit als Teil meines Lebens anzuerkennen. Verdrängen hilft nur eine
gewisse Zeit lang, aber irgendwann kommt alles wieder hoch. Da ich unter anderem von einem
sehr guten Jugendfreund an die Stasi verraten wurde, stellt sich bei mir immer wieder Misstrauen
ein, begleitet von Angst. Auch gegenüber Freunden und Bekannten heute. Das erschwert,
Beziehungen und Freundschaften zu pflegen. Ich fühle mich unter Menschenmassen unwohl, leide
unter Platzangst, ausgelöst durch die damaligen Fahrten in den engen, getarnten Stasitransportern.
Wie sind Sie freigekommen?
Meine Eltern hatten eine sehr gute Freundin aus Westberlin über meine Verhaftung informiert. Sie
tat alles, von finanziellen Dingen bis hin zu ihrem Einsatz bei Anwälten in der Bundesrepublik. Ich
hatte das große Glück, am 07. März 1988 freigekauft zu werden.
Haben Sie Ihre Stasi-Vernehmer jemals wieder gesehen?
Während meiner Arbeit im KaDeWe kam 1999 ein Kunde auf mich zu und kaufte für 1500 Mark
Havanna-Zigarren. Der Herr, der mir begegnete, war etwa 40 Jahre alt, sehr schick, sehr modisch
gekleidet. Ich erkannte einen der Stasioffiziere aus Hohenschönhausen wieder, diesen Modelltyp,
den „guten“ Freund, der mir damals sagte: „Es werden für Sie fünf Jahre, wegen versuchten
Grenzdurchbruchs und Unbelehrbarkeit.“ Mir wurde heiß und kalt, ich fing an zu zittern.
Was mach` ich denn jetzt bloß? Ich habe den Mann an seinem Ärmel festgehalten und sagte: „Wir
kennen uns.“ Er fragte: „Ja, woher denn?“ „Sie waren vor 12 Jahren Stasioffizier im Gefängnis in
Berlin-Hohenschönhausen und haben mich damals verhört. Ich war ein Jugendlicher, der doch nur
die DDR verlassen wollte und sein Menschenrecht in Freiheit und in einer freien Gesellschaft zu
leben, wahrnehmen wollte. Meinen Sie nicht, dass Sie Menschenrechte verletzt haben? Für das
Regime der SED in der DDR?“ Er schaute mich an und sagte: „Was soll das jetzt, was wollen Sie
von mir?“ Ich erwiderte: „Na ja, denken Sie vielleicht heute etwas anders über die Vergangenheit,
reflektieren Sie, wollen Sie sich vielleicht mal bei mir entschuldigen?“ Und auf einmal merkte ich,
wie sich sein Gesicht, starr und kalt, maskenhaft verwandelte.
Er sah mich hasserfüllt an und brüllte: „Wissen Sie, Reue ist was für kleine Kinder. Wofür soll ich
mich bei Ihnen entschuldigen? Sie sind doch ein Verbrecher.“ In diesem Augenblick kamen in mir
alle Verhöre, alle durchwachten Nächte in der Zelle, alle Erlebnisse aus diesem Gefängnis wieder
hoch. Obwohl ich doch glaubte, meine Hafterlebnisse verarbeitet zu haben, bin ich
zusammengebrochen und musste mit dem Notarzt in die Psychiatrie gebracht werden. Und erst
nach mehreren Monaten im Krankenhaus habe ich durch meine Eltern und Freunde sowie die
guten Ärzte wieder neuen Lebensmut gefunden. Sie haben mir gesagt: „Wenn Du jetzt aufgibst und
keine Kraft mehr hast, hat die Stasi doch erreicht, was sie damals wollte.“
Wie verarbeiten Sie heute Ihre Erlebnisse?
Für mich ist es sehr wichtig, dass ich die heutige Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen als freier
Mensch betreten kann. Als Besucherreferent mache ich den Gästen deutlich, dass die alten Stasi-
37
Seilschaften wieder funktionieren. Gerade in Berlin. Getarnt unterm demokratischen Deckmantel.
Wir haben heute die Schlüssel des Gefängnisses in der Hand, und ich kann durch das Gefängnistor
einfach gehen. In der Gedenkstätte kann ich mit Besuchern kontrovers diskutieren und werde
dafür nicht in eine Zelle gesteckt. Das ist ein ganz tolles Gefühl.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich will keinen Hass, keine Rache, keine Vergeltung. Hass zerstört mich nur selbst. Ich würde nur
verbittert in die Vergangenheit zurückschauen, ohne freien Blick für die Zukunft, die ich selbst
mitgestalten möchte. Mir geht es vielmehr um Wahrhaftigkeit. Es muss klar sein, dass die DDR eine
Menschen verachtende Diktatur gewesen ist. Diese Tatsache kann ich als ehemaliger politischer
Häftling an keinem Ort besser verdeutlichen als in der heutigen Gedenkstätte. Ich wünsche mir, die
ehemals von kommunistischer Diktatur verfolgten Menschen in Ostdeutschland würden endlich
ordentlich geehrt und ein zentrales Denkmal erhalten wie etwa die während der Nazidiktatur
ermordeten Juden im Zentrum Berlins.
© INTERVIEW: Franziska Vu