ismo ne neu mann die flucht der gauklerin - bilder.buecher.de · 6 nichts mehr verloren. die zeiten...
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Si mo ne neu mann
Die Flucht der Gauklerin
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Buch
ma rie ist eine Frem de in ih rem Dorf in West fa len. ei nes Ta ges hat te sie blut ü ber strömt vor der Tür des ar men Bau ern ul rich ge stan den und war von da an bei dem Wit wer ge blie ben. Die jun ge Frau re det nicht da rü ber, wo her sie kommt und was sie in das ab ge le ge ne Dorf ge trieben hat. Denn sie hat angst. Sie fürch tet, dass ihr bru ta ler Zieh va ter sie fin den und Ra che an ihr üben wird. als die ser tat säch lich in dem Dorf auf aucht, ge lingt ma rie in letz ter Se kun de die Flucht. Sie schließt sich der bun ten Pil ger grup pe eines Spiel manns an. auf dem ge fah renvol len Weg zum weit ent fern ten alt va ter ge bir ge ge sel len sich im mer neue Weg ge fähr ten zu den Rei sen den, so auch der edle, ge heim nis volle Kreuz rit ter Kon rad, in den sich ma rie un sterb lich ver liebt. Doch als die men schen um sie he rum an einer furcht ba ren Pla ge er kran ken, wird Kon rad be zich tigt, die Pest in sich zu tra gen. ein ver zwei fel ter Wett lauf ge gen den Schwar zen Tod be ginnt. und auch ma ries Zieh va ter ist ihr
dicht auf den Fer sen …
Wei te re in for ma ti o nen zu Si mo ne neu mann so wie zu lie fer ba ren Ti teln der au to rin
fin den Sie am ende des Bu ches.
Si mo ne neu mannDie Flucht
der GauklerinHistorischer Ro man
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Si mo ne neu mannDie Flucht
der GauklerinHistorischer Ro man
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Die ses Buch ist auch als eBook er hält lich
Verlagsgruppe Random House FSc® n001967 Das FSc®zertifizierte Papier München Super für dieses Buch
liefert arctic Paper mochenwangen GmbH.
1. auf a geori gi nal aus ga be Juni 2013
co py right © 2013 by Wil helm Gold mann Ver lag, mün chen,in der Ver lags grup pe Ran dom House GmbH
um schlag ge stal tung: uno Wer be agen tur, mün chenum schlag mo tiv: Fine Pic, mün chen; The Bridg eman art Lib rary/
a Vil la ge Fair, Scho evaerdts, ma thys (c.1665p.1694)/ale xan der Gall ery, Lon don, uK
Re dak ti on: eva Wag nermR · Her stel lung: Str.
Satz: BuchWerkstatt GmbH, Bad aiblingDruck und Bin dung: GGP me dia GmbH, Pöß neck
Prin ted in Germ anyiSBn: 9783442476930www.gold mannver lag.de
Be su chen Sie den Gold mann Ver lag im netz
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• Pro log •mes si na auf Si zi li en, im ok to ber 1347
Ihr seid Brü der vom Deut schen or den, nicht wahr?«Kon rad von Tie fen brunn nick te nur miss mu tig. Das bös wil
li ge Ge sicht des man nes ge fiel ihm nicht. er war es ge wohnt, in sei nem wei ßen um hang mit dem schwar zen Kreuz nicht über all auf Ge gen lie be zu sto ßen. Den noch konn te er sich nur sel ten dazu durch rin gen, den meist bloß durch Bli cke, Worte und Ges ten ge äu ßer ten Feind se lig kei ten der men schen mit der glei chen mil de zu be geg nen, wie sie sei nem Bru der crispin zu ei gen war.
»Was wollt ihr hier?«, frag te der son nen ge gerb te, klein gewach se ne Wirt wei ter, der sich kei ne mühe gab, sei ne ab neigung zu ver ber gen.
»Wein und eine war me mahl zeit, wenn’s be liebt«, knurr te Kon rad und fass te da bei un will kür lich un ter sei nen man tel und an den Griff sei nes gro ßen, schar fen Schwer tes. Die ser Si zi li a ner be gann ihm auf die ner ven zu ge hen.
»Das mein te ich nicht«, er wi der te der Wirt un ge rührt, während er be reits da bei war, den fünf un ge lieb ten Gäs ten von seinem schlech tes ten Wein ein zu schen ken. er ent schul dig te sich nicht ein mal, als ei ni ge rote Trop fen auf den man tel des jun gen Bru ders Fried rich spritz ten.
»Was meinst du dann?«, frag te Kon rad und kos te te von dem bit te ren Wein, wo rauf in er an ge wi dert das Ge sicht ver zog.
»ihr Leu te aus den Län dern jen seits der al pen habt hier
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nichts mehr ver lo ren. Die Zei ten der Züge ins Hei li ge Land sind vo rü ber, kei nes eu rer Schiff e muss mehr von Si zi li en aus über set zen. und auch die Ära eu rer Kai ser aus dem Ge schlechte der Stau fer hat ein trau ri ges ende ge fun den. alle Ban de zwischen euch und un se rer in sel sind nun ge löst, wir brau chen euch hier nicht mehr und ha ben euch hier nie ge braucht.«
Das wa ren kla re Wor te.»ich ver ste he«, er wi der te Kon rad bloß und kipp te mit einer
gleich gül tig wir ken den Ges te den Fu sel auf den Bo den. »Jetzt hät ten wir ger ne bes se ren Wein und et was zu es sen.«
Da bei griff er er neut un ter sei nen wei ßen man tel und holte aus ei nem dort ver bor ge nen Beu tel drei Sil ber mün zen hervor, die er vor dem Wirt auf den Tisch warf. Die ser mach te sogleich gro ße au gen, und sein Ge sicht be gann sich wie durch ein Wun der zu er hel len.
»Wie der Herr wün schen«, stieß er rasch aus, lang te fink nach dem Geld und dem Krug mit ge pansch tem, sau rem Wein und kehr te im nu mit ei nem grö ße ren Krug zu rück, des sen in halt von kräf i ge rem Rot und zu dem auch kräf i ge rem Duf war.
»So wol len wir es ha ben«, grins te Kon rad und zwin ker te seinen Brü dern zu. »Hier auf Si zi li en ist es doch nicht not wendig, einen Wein zu trin ken, der schlim mer schmeckt als un sere Kul mer Trau be.«
Die an de ren lach ten, wohl wis send, wie un ge nieß bar der ordens ei ge ne Re ben saf aus dem kal ten nord os ten des Kon tinents war.
Sie wa ren fünf an der Zahl: Kon rad, des sen Rit ter bru der cris pin, dann noch der jun ge Rit ter an wär ter Fried rich so wie die bei den ge stan de nen, tap fe ren Sa ri ant brü der Wal ter und Ber told, de nen al lein ihre nicht a de li ge Her kunf den Rit terstand ver sag te. eine mo na te lan ge Rei se durch zahl rei che Balleien, die Zweig stel len ih res or dens, hat ten sie hin ter sich. auf
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ge bro chen von der un weit des nörd li chen ost mee res ge le genen ma rien burg, hat ten sie in ei nem gro ßen Bo gen Thü rin gen, West fa len, Loth rin gen und Fran ken durch quert, über all Sta tion ge macht, um dann den be schwer li chen Weg über die al pen zu den or dens be sit zun gen in ita li en an zu tre ten. im Ge päck einen auf rag ih res Hoch meis ters Hein rich von Duse mer. Vorder grün dig ging es da bei um die Vi si ta ti on der Bal leien. Konrad und des sen Leu te soll ten de ren wirt schaf li che, aber auch mo ra li sche Si tu a ti on in au gen schein neh men und da rü ber Bericht er stat ten – eine wich ti ge auf ga be, die dem Hoch meis ter in des sen weit ab ge le ge nem Sitz ein gro ßes an lie gen war. Tatsäch lich gab es da aber noch einen wei te ren, einen un aus gespro che nen Grund für die se lan ge Rei se: Hein rich von Dusemer war es wich tig, Kon rad von Tie fen brunn für eine gan ze Wei le fern der ma rien burg zu wis sen. es hat te einen Vor fall ge ge ben, in wel chen der mit un ter stör ri sche, leicht auf rausen de und we nig um sich ti ge Rit ter ver wi ckelt ge we sen war – ein zu nächst un be deu ten der Vor fall, ein Streit oder viel mehr eine Schlä ge rei mit zwei jun gen edel leu ten. Lei der je doch hat te die se hand fes te aus ei nan der set zung eine gan ze Ket te un an geneh mer Fol gen nach sich ge zo gen, die den Hoch meis ter dazu zwan gen, sei nen Günst ling Kon rad von Tie fen brunn mög lichst weit fort zu schi cken, um nicht nur die sen, son dern auch die Re pu ta ti on des gan zen or dens zu schüt zen.
So wa ren Kon rad und sei ne Leu te nun von der ost see bis ans mit tel meer ge zo gen, wo ihre letz te Sta ti on Si zi li en hieß. auf der in sel ver füg te der or den über nie der las sun gen und Be sitzun gen, die noch aus den ruhm rei chen Zei ten der Kreuz zü ge stamm ten, und die se Gü ter galt es zu hal ten und zu ver walten. Grund sätz lich war das Hal ten und Ver wal ten so wie das meh ren von Land mitt ler wei le zum Haupt an lie gen der einst so wehr haf en Kreuz rit ter ge wor den, die vor vie len Ge ne ra ti o nen
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ins Hei li ge Land aus ge zo gen wa ren, um dort ge gen Fein de des christ li chen Glau bens zu kämp fen, Pil gern Schutz und Ge leit zu ge ben so wie Kran ken und Be dürf i gen in ei nem ei gens errich te ten Hos pi tal bei zu ste hen. im Lau fe der letz ten Jahr zehn te hat ten sie eine durch aus frucht tra gen de Wand lung durch laufen – und das nicht zu letzt dank ih res ein fuss rei chen Großmeis ters Her mann von Salza, der es ver stan den hat te, die Zeichen der Zeit zu er ken nen und mit ei nem Hau fen aus dem Hei li gen Land ver trie be ner Kreuz züg ler einen ei ge nen Staat an der ost see zu grün den. ei nen auf grund sei ner durch dach ten or ga ni sa ti on im mer rei cher wer den den Staat, der aus abenteu rern Kauf eu te wer den ließ, die es an klu gem Wirt schafssinn durch aus mit den Ve ne zi a nern oder Flo ren ti nern auf nehmen konn ten.
»na, ihr schwarzwei ßen or dens rit ter habt es bes ser ge troffen als die Temp ler. ihr muss tet nicht auf den Schei ter hau fen, als euer Kö nig und der Papst eure eh ren haf en Diens te nicht mehr be nö tig ten«, scherz te nun der klei ne Wirt, wäh rend er ih nen eine üp pi ge Plat te vol ler mee res früch te, fri schem Brot und in Knob lauch ein ge leg tem Ge mü se vor setz te. Sei ne Laune war nun off en bar bes tens, was an den Sil ber lin gen lag, die hell in sei ner Ta sche klan gen.
Kon rad zuck te mit den Schul tern. er hat te we nig Lust, mit dem plötz lich freund lich ge wor de nen Kerl zu re den, und griff statt des sen lie ber nach einer herr lich duf en den Lan gus te.
»es war eine Schan de, was den Temp lern wi der fah ren ist«, mel de te sich je doch Bru der cris pin de montb ard auf ge bracht zu Wort. er stamm te aus der Fa mi lie eines der neun Grün der des Temp ler or dens und ver trug es nicht, wenn man schlecht über die se vor we ni gen Jahr zehn ten zer stör te Ge mein schaf sprach. »Kei ne der bös wil li gen an schul di gun gen, die ih nen ent ge gen ge bracht wur den, ent sprach der Wahr heit.«
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Kon rad kann te cris pin gut und wuss te, dass es nur we ni ge The men gab, die es ver moch ten, den sonst so ru hi gen und beson ne nen mann zur Weiß glut zu brin gen, und die hin ter häl tige, grau sa me Zer schla gung des Temp ler or dens zähl te zu diesen The men. cris pin wäre auf grund sei ner Her kunf ge wiss eher den Temp lern als den Deutsch or densrit tern bei ge tre ten, wenn ers te re nicht in cri spins Ju gend von Kö nig Phi lipp dem Schö nen – aus rei ner Hab gier, wie es hieß – als Ket zer verbrannt oder ver trie ben und ihr or den auf ge löst wor den wäre.
Kam man auf die se schreck li chen er eig nis se zu spre chen, so konn te cris pin sehr un ge müt lich wer den. Des halb war es auch äu ßerst un klug von dem si zi li a ni schen Wirt, nun eine mehr als ein deu ti ge Be we gung mit sei nem un ter leib zu ma chen, die in ver ul ken der Form auf die an geb lich so do mi ti schen Ver ge hen der Temp ler hin wei sen soll te, de nen man nach ge sagt hat te, ihr Keusch heits ge lüb de nur in Hin sicht auf kör per li che nähe zu Weibs volk ein ge hal ten zu ha ben.
»unt er steh dich!«, fuhr cris pin ihn an. er war auf ge stan den und kurz da vor, sein Schwert zu zie hen. Ru hig griff Kon rad nach dem arm des Freun des und for der te ihn mit ei nem entschie de nen ni cken auf, sich wie der zu set zen.
»er zähl von den See leu ten aus Kaffa, Wirt«, mein te Kon rad nun, an den Gast ge ber ge wandt, um von den Temp lern ab zulen ken, in dem er ein Ge rücht an sprach, wel ches sie auf ih rem Ritt durch die Gas sen der Ha fen stadt mes si na im mer wie der auf ge schnappt hat ten.
»ah, du meinst die Genue ser!«, der Wirt schien nicht nachtra gend. Viel mehr be ach te te er den noch im mer vor Zorn gerö te ten cris pin gar nicht, son dern drück te sich zu dem jun gen Fried rich auf die Bank und schenk te sich selbst von sei nem den zah len den Gäs ten ge reich ten Wein ein.
Fried rich so wie die Lai en brü der Wal ter und Ber told blick
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ten sich bloß ver dutzt an. Sie hat ten bis lang nicht ein Wort ver stan den. an ders als Kon rad und cris pin wa ren sie des itali e ni schen nicht mäch tig und blie ben des halb auch ah nungslos, als der Wirt jetzt die tra gi sche Ge schich te er zähl te, wel che über die vor drei Ta gen von der Krim ein ge troff e nen See leu te aus Ge nua im um lauf war.
»Ge gen die wil den Ta ta ren ha ben sie ge kämpf, die Genueser. in Kaffa, das ist eine ih rer nie der las sun gen am Schwarzen meer. Die Ta ta ren be la ger ten die Stadt schon eine gan ze Zeit. al les sah da nach aus, als hät ten sie die Genue ser bald ausge hun gert, aber dann be gann der Tod un ter den Wil den um sich zu grei fen. ein fach da hin ge rafft ha ben soll es einen großen Teil von ih nen, wie die Flie gen sol len sie ge stor ben sein. eine schreck li che Seu che. ih ren ur sprung hat sie in asi en, so sagt man, wo eines Ta ges Blut und Schlan gen vom Him mel gereg net ka men, was einen un ge heu ren Ge stank und da mit die Pes ti lenz aus lös te. und die Ta ta ren hat ten die se Seu che nach Kaffa ge tra gen. Die Genue ser konn ten es von den Stadt mau ern aus be ob ach ten, wie die gott lo sen Wil den mir nichts, dir nichts rei hen wei se um fie len. Doch Bar ba ren wä ren kei ne Bar ba ren, wenn ih nen nicht bar ba ri sche ein fäl le in den Sinn kä men. Sogar in ih rer ei ge nen größ ten not. Wisst ihr, was die über le benden Ta ta ren ge macht ha ben? na, wisst ihr es, Deut sche Rit ter?«
»Sie ha ben die Lei chen ih rer ei ge nen Leu te über die mau ern ka ta pul tiert, um den Gen ues ern in Kaffa die Luf zu ver pes ten«, ant wor te te Kon rad mit ru hi ger Stim me, die sich deut lich von der des tem pe ra ment voll er zäh len den Si zi li a ners un ter schied.
»Ja, ihr habt es also schon ge hört, wer ter Rit ter freund. Wider wär tig sind sie, die Bar ba ren, aber wem sage ich das?« und mit ei nem ke cken Blick auf sein Ge gen über mach te der Wirt eine kur ze er zähl pau se, um he raus zu fin den, ob Kon rad die Spitze ver stan den hat te. er hat te ver stan den, doch es be küm
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mer te ihn nicht mehr. Hung rig griff er mit sei nen von oli venöl trie fen den Fin gern er neut auf die sich all mäh lich lee ren de Plat te und nahm sich eine Hand voll mu scheln, die er mit den Zäh nen knack te.
Ganz so, als sähe er sich durch die se Ges te in sei ner meinung über die in sei nen au gen eben falls bar ba ri sche Her kunf sei ner Gäs te be stä tigt, nick te der Wirt und fuhr mit sei nem Be richt fort: »Dann aber, nach we ni gen Ta gen, ver schwan den die Ta ta ren. ih rer wur den im mer we ni ger. Das Ster ben un ter ih nen woll te kein ende neh men. aber mit dem Ge stank ih rer als Ge schenk ge reich ten Lei chen ist der fau li ge Wind tat sächlich in Kaffa ein ge drun gen, so dass das Ster ben auch dort begann. Wer von den Gen ues ern es ver moch te, der be stieg ein Schiff und trat schleu nigst die Heim rei se an. auch un ter wegs auf dem meer muss te so manch einer von ih nen tot über Bord ge wor fen wer den. Die we ni gen, die nun vor drei Ta gen le bendig den Ha fen von mes si na er reich ten, las sen sich jetzt in den Freu den häu sern und Ta ver nen ge sund pfe gen. Sie sind dem un glück um Haa res brei te ent gan gen.«
»na, dann hat ja we nigs tens ih nen der Him mel bei ge standen«, mein te Kon rad kau end, wäh rend sein Freund cris pin ent setzt den Kopf schüt tel te. cris pin hat te als einer der we nigen un ter den or dens rit tern noch er fah run gen im Spi tal dienst ge sam melt, und bei den Wor ten des Wir tes stell ten sich ihm die na cken haa re auf.
»Denkst du wirk lich, das Übel sei mit den letz ten To ten im meer ver sun ken?«, frag te er den Wirt. Sein Ton fall war nun nicht mehr wü tend wie zu vor, viel mehr klang er trau rig und war nend.
er muss te je doch nicht auf eine ant wort des Wir tes war ten, denn die se er scholl ur plötz lich und dröh nend von drau ßen, aus der en gen, lan gen Gas se. ein Kla gen aus mehr als fünf
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zig Keh len war zu ver neh men. eine im mer grö ßer wer den de men schen trau be zog durch die Stra ßen von mes si na. Sie war aus dem Ha fen vier tel her bei ge kom men, dem ort, an dem die Flücht lin ge aus Kaffa Her ber ge ge fun den hat ten. Schnell und un er war tet war dort et was ge sche hen, das die Ha fen be woh ner in die sen ver zwei fel ten auf ruhr ver setz te.
»Mor tal ega gran de, Mor tal ega gran de«, rie fen sie, im mer und im mer wie der.
es war ein bit ter li cher Ge sang, der sämt li chen an we senden durch mark und Bein ging. Die meis ten der si zi li a ni schen Gäs te des Wirts hau ses stan den so fort auf und ström ten hi naus, mit ih nen der Wirt. nur die Ge sandt schaf der or dens rit ter blieb starr an ih rem Tisch sit zen.
»Was ru fen sie da?«, frag te der jun ge Fried rich mit blei chem Ge sicht.
»Das gro ße Ster ben«, über setz te Kon rad die Kla ge wor te und schau te be sorgt zu dem mit ei nem male eben falls blass werden den cris pin hi nü ber. Der letz te Bis sen blieb ihm da bei im Hal se ste cken.
»mes si na stirbt. ich hat te es be fürch tet.«
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• I •im sel ben Jahr in ei nem klei nen Dorf
in West fa len
Der Herr gott hat te ihm die se Frau ge sandt.Der Über zeu gung war der Bau er ul rich Filz hut be reits am
Tage ih res plötz li chen er schei nens in sei ner be schei de nen Heim statt ge we sen. und die ser Über zeu gung war er auch noch ein Jahr spä ter, ob wohl die üb ri gen män ner und auch die Wei ber aus dem Dorf es an ders sa hen. und mit die ser ih rer mei nung hiel ten sie nicht hin term Berg, raun ten ul rich auf den schma len Feld we gen, so bald er ih nen mit sei nem Kar ren entge gen kam, er mah nun gen zu, warn ten ihn nach ei nem je den Kirch gang oder re de ten ein dring lich auf ihn ein, wenn er – was sel ten der Fall war – den Dorf rug auf such te.
eine un durch schau ba re sei sie, eine Frem de, eine Ver teu felte gar, viel zu schön für einen al tern den, ge beu tel ten mann wie ihn. ob er sich nie fra ge, wo her sie stam me? ob er sich nie frage, was sie aus ge rech net auf sei nen er bärm li chen Hof ge trie ben habe? ob er sich nie fra ge, was ihr ei gent li ches an sin nen sei? So oder ähn lich wa ren ihre Wor te.
Ja, die zwei te Frau des Bau ern Filz hut war wahr lich kein gewöhn li ches Weib, und sie gab sich auch nur we nig mühe, ihren zwei fel haf en Leu mund zu ver bes sern. Zwar be nahm sie sich sitt sam und war fei ßig, aber im Ge gen satz zu den an deren Frau en des Dor fes und sei ner um ge bung leg te sie kei nen Wert da rauf zu re den. Sie sprach mit kaum je man dem. Wäre sie stumm ge we sen, so hät te man ihre Ver schwie gen heit ver
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ste hen kön nen. Doch sie war nicht stumm, sie konn te spre chen und tat es auch, wenn es um das nö tigs te ging. Doch da rü ber hi naus sag te sie nichts. Kein Wort.
War ihr Ver hal ten den men schen im Dorf un heim lich, so er kann te ul rich in ih rer Zu rück hal tung einen Se gen. er lieb te sie, hielt sie für einen en gel, eine Him mels bo tin, die ihm niemand an ders als sei ne ver stor be ne elsa im auf rag der mut ter Got tes auf die erde ge schickt hat te, um für ihn, den Wit wer, und sei ne drei Kin der zu sor gen. und sie sorg te in der Tat gut für sie, war em sig, sau ber und sich kei ner ar beit zu scha de. Sie küm mer te sich rüh rend um die Kin der, um das Haus, den Garten, den Stall und das Vieh. Sie küm mer te sich auch um ul rich, ver wei ger te sich ihm nie mals, war im mer zu gü tig, lausch te seinem Kum mer, sei nen Sor gen und be te te mit ihm. nichts, aber auch rein gar nichts gab es an die sem Weib zu be an stan den. es sei denn, man war in te res siert an ih rer Ver gan gen heit und ih rer Her kunf, über wel che sie ent schie den den um hang des ihr ei ge nen Schwei gens hüll te.
Kei ne sie ben Tage hat te elsa un ter der erde ge ruht, da war marie plötz lich auf ge taucht. elsa hat te lan ge ge lit ten, nicht mehr ar bei ten kön nen, war rasch dün ner und dün ner ge wor den, bis schließ lich nur noch ein hohl äugi ges, mit fah ler Haut über zoge nes Ge rip pe in dem klei nen Bett des Bau ern häus chens ge legen hat te. Für alle war es eine er lö sung ge we sen, dass Gott sich schließ lich ih rer er barm te und sie zu sich nahm. Den noch war die Trau er groß und ul rich noch ganz blass und be nom men, als es eines abends lei se an sei ne Kate ge klopf hat te.
Spät war es ge we sen, star ker Re gen war ge fal len. ul rich hatte ge glaubt, der Pfar rer er bit te ein lass, um we gen der See lenmes sen an zu fra gen, von de nen sich der arme Bau er le dig lich eine ein zi ge wür de leis ten kön nen. Doch nicht der fett lei bi ge
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Pfar rer hat te vor der Tür im Re gen ge stan den, son dern eine durch näss te, zit tern de, blu ten de Frau. ein ge hüllt in einen grauen Woll man tel, hat te sie ul rich aus gro ßen au gen fe hent lich an ge blickt und war dann auf der Schwel le zu sam men ge brochen. er hat te sie auf ge ho ben und auf sein La ger ge bet tet, und nach dem sie am fol gen den mor gen er wacht war, blieb sie. Sie blieb bei ul rich und sei nen Kin dern. man zahl te dem Grundherrn den Stech gro schen, galt so mit als ver hei ra tet und leb te seit her in Zu frie den heit bei sam men.
Ja, ul rich fühl te sich zeit wei se so gar glück lich in die sem neuen Le ben.
nicht so ma rie.Doch da rü ber sprach sie nicht.
»Du kannst mich nicht ver las sen! ich wer de dich fin den!«Von die sen Wor ten er wach te sie in na he zu je der drit ten
nacht, wenn sie ne ben ih rem treu en ul rich in des sen en gem Bett kas ten ruh te. ein alb traum war es, wie der keh rend und zukunfs wei send, denn ma rie glaub te fest da ran, dass die se Drohung sich eines Ta ges er fül len wür de. Dann näm lich, wenn er, der ihr so deut lich in die sem Trau me er schien, leib haf ig vor ihr stün de.
er, der bei ihr ge we sen war, seit dem sie hat te den ken können. ihr Zieh va ter, ihr Be glei ter, ihr ei gent li cher Gat te. mit nur zwei Jah ren war sie von ih rer mut ter für ein Stück Speck, ein ei und einen schmut zi gen Ta ler an ihn ver kauf wor den. Damals in Köln, zu Fü ßen des un fer ti gen Do mes, war dies ge wesen, als die mut ter sich zu sätz lich rück lings in eine ni sche des Got tes hau ses zwäng te und er sei nen ent blöß ten un ter leib stoßwei se an ihr Hin ter teil drück te. Da nach hat te er das im Dreck sit zen de Kind ge griff en und es mit sich ge nom men. ma rie war bei ihm groß ge wor den, hat te von ihm ei ni ges ge lernt: Seil tanz,
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Sin gen, Hand le sen, Lü gen, Steh len und sich aus dem Stau be ma chen – auf all das ver stand sie sich be reits mit fünf Jah ren bes tens. in den ent fern tes ten Ge gen den ka men sie he rum, zu Fuß meist, mit un ter auf ei nem ge stoh le nen Wa gen. of wurden sie be spuckt, ver jagt, ver folgt, lit ten un ter Hun ger, Durst und Käl te, aber den noch blie ben sie am Le ben, ob wohl ma rie sich be reits als Kind häu fig ge wünscht hat te, ster ben zu dür fen.
Doch wirk lich schreck lich war es erst ge wor den, als ihre Brüs te zu wach sen be gan nen und die mo nat li chen Blu tun gen ein setz ten. an je nem Tage ver an stal te te er ein Freu den fest für sie bei de, er schmück te ma rie mit Blu men, kauf e ein gan zes ge bra te nes Huhn und ließ es sie al lein es sen. nicht ein mal mit sei nen ge lieb ten zah men Rat ten, die ihm sonst wich ti ger waren als je des mensch li che We sen, hat te sie tei len müs sen. in der nacht dann wur de sie erst mals zu sei ner Ge lieb ten. und blieb es drei zehn schreck li che Jah re lang.
Sie hör te in die sen Jah ren auf zu zäh len, wie of er mit ihr zu zwie lich ti gen Heb am men, al ten Zi geu ne rin nen und an de ren en gel ma che rin nen ging – je nach dem, wo sie sich ge ra de befan den, ob auf dem Lan de oder in der Stadt –, nein, sie zählte nicht mehr, ver dräng te die Schmer zen, die De mü ti gun gen, stumpf e ab und füg te sich.
Dann – sie hat te be reits ihr fünf und zwan zigs tes Jahr erreicht – wur de sie un in te res sant für ihn. Sie ge nüg te ihm nicht mehr, und er kauf e sich in ei nem klei nen Dorf bei einer armen Ta ge löh ner fa mi lie ein neu es mäd chen. Doch die ses Kind über leb te kei ne Wo che in sei ner Ge sell schaf, es war nicht so stark, so ro bust, so stumpf wie ma rie. es starb in ma ries armen, nach dem er es ge gen sechs eier eine gan ze nacht lang an eine im Wald le ben de Hor de von aus ge hun ger ten aschen brennern ver lie hen hat te.
mit dem Tod die ses un schul di gen mäd chens soll te sich auch
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für ma rie plötz lich al les än dern. in dem mo ment, als sie den leb lo sen, ge schän de ten Kör per zu Bo den glei ten ließ, übermann te es sie – das Le ben kehr te mit all sei ner Wut und Verzweif ung in ih ren eben falls ge schän de ten, aber noch nicht gänz lich to ten Leib zu rück. Ra send stürm te ma rie auf den in der Son ne Schlum mern den zu, riss das mes ser an sich, welches in sei nem Gür tel steck te, und stach blind auf ihn ein. Sie traf ihn über all, sie zer schnitt ihm die Haut im Ge sicht, zog die Klin ge durch sein rech tes auge, sie ramm te sie in sei ne Schulter, in sei nen Rü cken, stach ihn in arme und Bei ne. Sie schrie da bei. und als ihr das mes ser aus den blu ti gen Hän den glitt, schlug sie mit den Fäus ten auf ihn ein. erst als sie nicht mehr konn te, als sie völ lig au ßer atem war, als ihr fast schwin de lig und übel vor er schöp fung wur de, erst da ließ sie von ihm ab.
Doch er war nicht tot. er leb te, lach te so gar noch, lach te sie an.
ma rie mein te da mals zum ers ten male in ihm den leib haf igen Teu fel zu er ken nen. ohne den Blick von der un be re chenba ren Ge stalt ab zu wen den, griff sie er neut nach dem am Boden lie gen den mes ser. Sie war plötz lich ganz ru hig ge wor den, der Zorn war ver raucht, Trau er und mü dig keit hat ten sich ihrer be mäch tigt. Den noch muss te es sein. Sie wür de die se Sa che nun zu ei nem ende füh ren müs sen, sonst wür de er ihr sei nerseits ein ende be rei ten.
als sie aber zum fi na len Streich aus hol te, ein letz tes mal zuste chen woll te, da konn te sie nicht. es war ihr nicht mehr möglich, es wi der te sie an, ihn, den Wehr lo sen, den Ver letz ten, aber nach wie vor so mäch ti gen wie der be rüh ren zu müs sen. entsetzt ließ sie das mes ser fal len und tau mel te da von.
er aber rafft e sich auf, blick te ihr aus dem ver blie be nen auge in sei nem ent setz lich ent stell ten, blut ü ber ström ten Ge sicht nach und rief:
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»Du kannst mich nicht ver las sen! ich wer de dich fin den! Das ver spre che ich dir. Du ge hörst mir.«
ein gan zes Jahr war seit her ver gan gen. ma rie war da mals bis tief in die nacht hi nein um ihr Le ben ge lau fen, hat te zahl reiche mei len hin ter sich ge bracht, und auch am fol gen den Tage war sie un er müd lich wei ter ge has tet. erst am zwei ten abend gönn te sie sich Ruhe. Sie war mehr tot als le ben dig, als sie auf die nächst bes te Hüt te in ei nem frem den Dorf zu steu er te und mit letz ter Kraf an die Türe des Bau ern ul rich Filz hut schlug.
und ob gleich es ma rie von da an bes ser er ging als je zu vor in ih rem Le ben, blieb den noch die angst. Die Zeit strich ins Land. Ge nü gend Zeit für ihn, um zu ge ne sen, um sei ne be rüchtig te Rach sucht rei fen zu las sen, um nach for schun gen an zustel len. ma rie kann te ihn nur zu gut. Sie wuss te, wie zäh, wie un nach gie big er war. er wür de sei ne Dro hung wahr ma chen, er such te sie längst. und bald, da war sich ma rie si cher, wür de er sie fin den. Von da an wäre ihr ru hi ges und war mes Le ben in der Hüt te des Bau ern ul rich, um ringt von des sen leb haf en Kin dern, vor bei. Dann müss te sie wie der auf re chen, wie der ge hen, wei ter und wei ter durch die Frem de zie hen.
aber wenn ma rie ganz ehr lich zu sich war, dann war es genau das, was sie sich tief in ih rem in ne ren wünsch te. Sie woll te wei ter, sie woll te fort von die sem sess haf en Le ben, sie woll te wie der in die Fer ne. Denn so wie in ei nem je den men schen, der den Groß teil sei nes Le bens wan dernd, pil gernd oder umher strei fend ver bracht hat te, wohn te auch in ihr eine un rast, die in manch be hag li cher, in ni ger Stun de im Krei se der Fa mi lie Filz hut zu einer bren nen den Qual wer den konn te. ma rie verab scheu te die ses Ge fühl. Sie hät te al les ge ge ben, um es ab zu töten, doch das ge lang ihr nicht. im mer wie der famm te sie auf, die Rast lo sig keit, zog wie tau send na del sti che durch sämt li che
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Glie der ih res Kör pers und ließ ma rie un ver mit telt auf ste hen und aus der Hüt te ren nen, nur um bald wie der zu rück zu kehren. Sie brach te es nicht übers Herz, den Wit wer ul rich und des sen Kin der zu ver las sen. auf ihre Wei se lieb te sie die se kleine Welt, in der sie Schutz und Ge bor gen heit ge fun den hat te.
ein ver steck tes Dörf chen war es, ru hig und be schau lich. am Fuße einer trut zi gen Burg ge le gen, war es ein ge schlos sen von frucht ba ren Hü geln, und bei gu tem Wet ter konn te man in der Fer ne die Tür me des rei chen Klos ters ma rien müns ter in der Son ne glän zen se hen.
Lei der aber war die ses fried li che, be sinn li che Bild, wel ches ma rie sich so gern mach te, nichts wei ter als ein Trug bild, denn be reits seit Jah ren herrsch te al les an de re als gu tes Wet ter. Die Son ne schien kaum, und die Tür me des Klos ters wa ren selbst im Som mer meist von ei nem grau en Re gen schlei er ver han gen. Da rum konn te man auch die Hü gel mit ih ren Fel dern nicht mehr frucht bar nen nen, da das Korn ver faul te, falls es, nach dem bis in den mai hi nein rei chen den Frost, über haupt je gewach sen war. im letz ten Jahr hat te man von einer miss li chen Lage ge spro chen, in die sem Jahr, dem Jah re 1347, war be reits von einer dro hen den, un aus weich li chen Hun gers not die Rede.
auf die Hil fe des Grund herrn, das wuss ten die Bau ern, war nicht zu hoff en. Denn die Her ren ka men und gin gen. Wa ren es in ei nem Jahr zwei Rit ter brü der ge we sen, die über sie herrschten, so wur den die se im nächs ten durch die mi nis te ri a len einer ent fern ten adels fa mi lie er setzt, dann wie der sa hen sich die nahen Be ne dik ti ner zu stän dig für das ein ho len der ab ga ben, und da nach kam mit ei nem mal wie der ein Burg herr aus dem nichts zu rück. Die Le hen wur den hin und her ge ge ben, man be feh dete sich, ver trug sich wie der, Rech te und Pfich ten wur den verscha chert, ver lie hen, ver schenkt, und mit ih nen die dar an hän
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gen den Bau ern. Die sen war es recht ge we sen, so lan ge sie von Brand schat zun gen und Plün de run gen durch Feh den ver schont blie ben und es ih nen ge lang, mit den neu en Her ren auch bes sere Be din gun gen aus zu han deln. So wa ren im Lau fe der Zeit die Fron diens te ent fal len und die schwan ken den na tu ral ab ga ben in einen fes ten Pacht zins um ge wan delt wor den, den die Bauern in Form von Geld zu ent rich ten hat ten. Das wa ren gol de ne Zei ten ge we sen. Doch die se hat ten sich bald wie der ge wan delt.
Schuld da ran tru gen ei ner seits die wie der holt auf re ten den, wet ter be ding ten miss ern ten der letz ten zwan zig Jah re, und die Schuld da ran trug auch – so hat te es der Dorf pfar rer mah nend von der Kan zel ge pre digt –, dass, trotz wach sen der ar mut, die Leu te kei ne Hem mun gen kann ten, sich schier gren zen los zu ver meh ren. und da mit hat te er recht: Die Zahl der men schen in Dör fern und Städ ten wuchs rasch, wäh rend an de rer seits das es sen im mer knap per wur de. Da des halb auch den ed len langsam die not ins Haus stand, ver fie len sie bald da rauf, al tes, längst Ver gan ge nes wie der ein zu füh ren: Der Fron dienst kam zu rück, und auch na tu ral ab ga ben wur den wie der er ho ben, ohne dass je doch der Pacht zins ge kürzt oder gar ab ge schafft wur de. es wa ren har te Zei ten, und vie le be fürch te ten, da rin nur die Vor bo ten eines noch schlim me ren Übels zu er ken nen, eines Übels, wel ches bald kom men und den Tag des Jüngs ten Ge richts ein läu ten wür de.
ma rie be küm mer ten die se düs te ren Pro phe zei un gen nicht, wel che die Dorf e woh ner in sel tsamen Wol ken for ma ti o nen, am Flug der Ra ben oder an der Far be des Re gens zu er ken nen glaub ten. Sie hat te dem Schre cken be reits ins auge ge se hen. und nichts war so schreck lich wie das Le ben mit dem mann, den sie zwar nahe wähn te, von dem sie aber nicht wuss te, dass er tat säch lich nur we ni ge mei len ent fernt in ei nem Wal de zusam men mit einer Hand voll mön chen leb te.
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• II •
Seit nun mehr ei nem Jahr war die ser mys ti sche, hei li ge, ja fa bel haf e ort Vi tus Fips eine Hei mat ge wor den. nie je doch hat te er ein auge für die wun der ba re ei gen tüm lich keit sei ner Wohn statt be ses sen, de ren an blick für einen je den an de ren, der zum ers ten mal in die se Ge gend kam, so un glaub lich beein dru ckend war: Voll kom men un er war tet rag ten plötz lich, so bald man nach ei nem marsch durch einen ur wüch si gen Wald eine gro ße Lich tung be trat, fünf enor me Fel sen vor dem über rasch ten Pil ger auf – ex tern stei ne ge nannt. in den fer nen al pen hät te die se For ma ti on nur we nig auf se hen er regt, hier aber, in mit ten des zwar hü ge li gen, aber den noch sanf en, begrün ten Teu to bur ger Wal des, stell ten die schroff en Ge steinsblö cke eine stau nens wer te Son der bar keit dar. man konn te sich nicht er klä ren, wie die se nicht von men schen hand ge schaff e ne Fel sen burg einst an die sen ort ge kom men war – eine Ge gend, die sonst kei ner lei der ar ti ge na tur er schei nun gen auf wies.
Be reits in heid ni schen Zei ten hat ten sich die men schen darü ber die Köp fe zer bro chen und die merk wür di gen Fel sen zu ih rer Kult stät te ge macht, und auch jetzt, nach ein zug des chris ten tums, blie ben sie ein hei li ger ort. ein ort, der ge rade in den letz ten Jahr zehn ten un men gen von Pil gern an zog, denn ge schick te Got tes leu te hat ten die se fremd ar ti ge Ku lisse ge konnt in einen Wall fahrts ort ver wan delt, wo man bußfer ti gen men schen die mög lich keit bot, einen be ein dru cken
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den nach bau des Jeru sal emer Höh len gra bes zu be su chen. Die Kreuz zü ge wa ren lan ge vo rü ber, und mit der Rück kehr der letz ten Rit ter aus dem Hei li gen Land so wie der end gül ti gen ero be rung Je ru sa lems durch die mo ham me da ner war es frommen Pil gern und auch dazu ver ur teil ten Sün dern nur un ter größ ten Ge fah ren mög lich, den ori gi nal schau platz der Kreuzi gung und Grab le gung chris ti auf zu su chen. aber die zu diesem Zwe cke kunst voll be ar bei te ten ex tern stei ne bo ten einen will kom me nen – und zu dem we ni ger auf wen dig zu er rei chenden – er satz: Sie ver füg ten über eine in einer Höh le lie gen de Wall fahrts ka pel le, einer ih rer Gip fel war zum Hü gel Golg atha um ge stal tet wor den, ein ge schick ter Stein metz hat te so gar das Grab Jesu in einen Fel sen ge hau en, und ein noch fä hi ge rer Kolle ge hat te ein gro ßes, ein drucks vol les Bild ge mei ßelt, wel ches auf äu ßerst le ben di ge Wei se die ab nah me chris ti vom Kreu ze dar stell te. Da rü ber hi naus – und das war nicht un we sent lich – wa ren an die sem ort auch die ge wünsch ten ab lass brie fe zu erhal ten, aus ge stellt von den hier in na hen Holz hüt ten woh nenden mön chen, un ter de nen Vi tus Fips nun seit Län ge rem leb te.
man konn te sich also an die sen Pil ger stei nen ge gen eine kleine oder gern auch grö ße re Spen de von al ler lei Sün den be freien und so mit sei ne Zeit im Fe ge feu er be trächt lich ver kür zen. Da rum wun der te es nicht, dass das Kom men und Ge hen von Wall fah rern aus al ler Her ren Län der ein gro ßes war. Die aufga be von Vi tus Fips war die, sich um das Wohl der häu fig erschöpf en men schen zu küm mern, da vie le von ih nen am ende ih rer Kräf e wa ren, so bald sie das Ziel ih rer Rei se er reicht hatten. Das lag nicht al lein an dem wei ten marsch. nein, um die selbst oder vom Beicht va ter auf er leg te Pil ger schaf noch zu er schwe ren, gin gen ei ni ge in mit schwe ren Stei nen be han genen Ket ten, an de re mit nä geln in den Schu hen, wie der an dere ver zich te ten wäh rend der Rei se voll kom men auf nah rung.
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es gab so gar sol che, die ih ren Weg auf al len vie ren krab belnd be strit ten. und die Wege wa ren mit un ter sehr lang. nicht nur aus dem Reich reis ten die Pil ger an, es gab auch sol che, die aus Flan dern, Ti rol oder Po len hier herka men.
um einen die ser weit ge reis ten Pil ger, der mit ge gei ßel tem, eit rig ver schorf em Rü cken vom alt va ter ge bir ge in mäh ren, wel ches zum Kö nig reich Böh men zähl te, bis zu den ex ternstei nen ge wan dert war, küm mer te sich Vi tus Fips seit ei ni gen Ta gen be son ders aus gie big.
er tat dies nicht aus nächs ten lie be.Das war eine ihm völ lig frem de Ge müts re gung. nein, Fips
hat te einen an de ren, einen bes se ren Grund.Der Pil ger, ein etwa vier zig jäh ri ger, kräf i ger Holz fäl ler,
lag im Ster ben. Die durch eine mit nä geln ver se he ne, neunschwänz ige Peit sche selbst zu ge füg ten Wun den an sei nem Rücken hat ten sich zum Teil so stark ent zün det, dass be reits ein Brand ent stan den war und sich so gar ma den in ei ni gen der off e nen Stel len ein ge nis tet hat ten. Sein Fie ber war hoch, er sprach wirr, ver krampf e Hän de und Füße zu Klau en, doch der Tod woll te noch nicht kom men. und das war gut so, denn Vi tus Fips muss te noch ei ni ges in er fah rung brin gen, be vor sein Gast aus mäh ren da hin schied.
also pfeg te und heg te er den sie chen mann, so gut es ging, und die an der Pil ger stät te le ben den Geist li chen wa ren mit die ser sorg fäl ti gen, hin ge bungs vol len ar beit ih res Schütz lings sehr zu frie den.
Denn das, was die mön che einst ihm ge tan hat ten, das sollte er nun an de ren tun. So lau te ten die er war tun gen, wel che die Got tes män ner in Vi tus Fips setz ten, den sie vor ei nem Jahr blut ü ber strömt und halb tot im Wald auf ge fun den hat ten. Sie hat ten den an schei nend von Räu bern übel zu ge rich te ten mann mü he voll ge sund ge pfegt und ihm da nach ge stat tet, bei ih nen
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zu blei ben, um in ewi ger Dank bar keit ge schwäch ten Pil gern nun sei ner seits sei ne pfe gen de Hil fe an zu bie ten.
Fips tat, was man von ihm er war te te, ob wohl es ihn an wider te. Doch das ließ er sich nicht an mer ken, viel mehr war tete er ge dul dig auf einen güns ti gen mo ment. Bis da hin wollte er hier bei den mön chen noch wei te re Kraf schöp fen, um schließ lich be reit für die Fort set zung sei nes wah ren Le bens zu sein. und mit die sem mäh ri schen Holz fäl ler war nun ein solcher mo ment ge kom men. Das Wa schen von eit ri gen Wun den, das Rei ni gen ver kot eter Lei ber, das Fli cken stin ken der Lum pen hat te sich tat säch lich ge lohnt. Vi tus Fips war sehr zu frie den.
»ich woll te ihn nicht tö ten!«, stöhn te der mann aus mäh ren kraf los.
Fips ver dreh te die au gen. Die sen Satz hör te er nun schon zum hun derts ten, nein, zum tau sends ten male, da bei war es et was ganz an de res, was er aus dem Pil ger, Wen zes laus mit namen, he raus brin gen woll te.
»es war die Wut. Die Wut …«, stöhn te der Fie bern de wei ter, wäh rend Fips ver such te, ihm einen hei ßen Kräut er trank einzu fö ßen. Sie wa ren al lein in einer der be schei de nen, aus unbe ar bei te ten Äs ten ge fer tig ten Hüt ten der mön che, fern ab von den üb ri gen, an den Fel sen be ten den und ru hen den men schen.
»Ja, es war die Wut«, be stä tig te Fips ge lang weilt die Wor te des Kran ken. »ich weiß, dass du dei nen nach barn nicht tö ten woll test. Doch es ist ge sche hen, und nun hast du dei ne Buße ge tan. mehr noch, dein ei ge nes Le ben wirst du ge ben für diese Tat. Das ist mehr, als Gott von dir ver langt hat. Glau be mir, Wen zes laus, dein letz ter Weg wird dich in den Him mel führen. Das ist ge wiss.«
Der Holz fäl ler lä chel te und griff mit sei nen sich im mer wieder ver kramp fen den Fin gern nach der ver krüp pel ten Hand sei nes Hei lers.
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»Du bist ein gu ter mensch, Bru der Vi tus. ich bin froh, dich hier an ge troff en zu ha ben. mein Ge heim nis ist gut bei dir aufge ho ben.«
Fips nick te. ein un ge dul di ger, gie ri ger Zug husch te über sein ent stell tes Ge sicht, doch er fing sich schnell und setz te statt dessen eine sanf e, mit füh len de mie ne auf.
»ich ver spre che dir, Wen zes laus, die Kun de von dei nem Tod und von dei nem ge hei men Fund an dein Weib und dei ne Kinder wei ter zu ge ben. Doch du soll test mir noch ei ni ges da rü ber be rich ten, denn ich fürch te, dass ein tö rich tes Weib und unmün di ge Bäl ger mit einer Kar te al lein nur we nig an zu fan gen wis sen.«
Fips griff un will kür lich an sei ne graue Lai en bru der kut te, unter wel cher er im Hüf be reich er leich tert das ein ge roll te Stück Per ga ment spür te, das er sich mit ei nem Strick an den Leib gebun den hat te. es han del te sich da bei um die Kar te, die Wen zeslaus in der letz ten nacht un ter gro ßen mü hen und un ter ständi gem an trei ben sei nes Pfe gers ge zeich net hat te. eine Kar te, die im wahr sten Sin ne des Wor tes Gold wert war.
»Ja, du hast recht.« Der Holz fäl ler blick te Fips mit blut un terlau fen en au gen an, sei ne Lip pen wa ren tro cken und ge ris sen, sie zit ter ten stark. Fips starr te er war tungs voll auf die sen mund, aus dem er nun neue, wich ti ge in for ma ti o nen er war te te.
Doch es kam nichts. nur ein er neu tes, qual vol les Stöh nen.eine ent setz li che Wut brei te te sich in Fips aus. am liebs
ten hät te er die sem stin ken den, tum ben Kerl den Schwamm, den er nun in Hän den hielt, aufs Ge sicht ge drückt, da mit er end lich er stick te und sei nem lang wei li gen Lei den ein ende gesetzt war. Doch statt des sen be herrsch te sich Fips und wrang den Schwamm über den Lip pen des Kran ken aus, be netz te die se so mit mit Was ser und hofft e, dass Wen zes laus nun zum Wei ter spre chen in der Lage war.
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Ja, er war es.»Der ein gang der Höh le liegt in einer tie fen, en gen Schlucht,
Dachs schlucht ge nannt«, füs ter te er lei se und lang sam. »So tief und eng ist sie, dass bis lang nie mand dort hin ein ge stie gen ist. au ßer dem, so heißt es, sei der ort ver wun schen. Kei ne menschen see le wagt sich frei wil lig dort hin. Beim Holz fäl len ver irr te ich mich und stürz te tief hi nein, über leb te glück lich und fand dort un ten die Höh le. Sie ist vol ler Gold erz. Rie si ge Klum pen.«
»Wem ge hört das Land?« Wie der be netz te Fips die Lip pen des Pil gers.
»Dem Bi schof. Doch er weiß nichts von sei nem Glück. Das Berg re gal ob liegt je doch nicht dem Grund herrn, son dern dem Kö nig von Böh men.«
»Das heißt, dass al les Gold, was man dort fin det, dem König Karl zu kommt.« Fips kratz te sich nach denk lich am Kinn.
»nicht, wenn er nichts da von weiß«, ächz te Wen zes laus und ver dreh te be sorg nis er re gend die au gen. Fips be gann den Pilger zu schüt teln, wo bei er ihn im mer wie der mit dem wun den Rü cken ge gen den Stroh sack stieß, auf dem er lag. Der schreckli che Schmerz ließ ihn wie der er wa chen.
»Du sagst, die Schlucht sei so ab ge le gen, dass nie mand sie fin den kann? und selbst wenn man an ih rem Ran de steht, kann man die Höh le von oben nicht er ken nen?«
»So ist es.«»Kei ner ahnt, dass dort Gold zu fin den ist?«»ei ni ge mei len nord öst lich gra ben sie wie die Ver rück ten.
aber dort, an der Stel le, die ich ge fun den habe, dort sucht man nicht.«
»Die Leu te des Grund herrn ge lan gen dort nie mals hin?«»es gibt kei nen Weg. nicht ein mal einen Pfad.«»Dei ne Frau und dei ne Kin der könn ten das Gold also heim
lich he raus ho len? nie mand wür de es be mer ken?«
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Wen zes laus nick te und schloss sei ne ge rö te ten au gen vor erschöp fung, doch Fips bohr te wei ter.
»Wer den sie das denn kön nen? Soll te man ih nen nicht hel fen?«
»Sie kön nen nie man den aus der Ge gend an heu ern. Das ist zu ge fähr lich«, stam mel te Wen zes laus nur noch un ver ständ lich.
»man be nö tigt also orts frem de Berg leu te, die mit kei nem aus den um lie gen den Dör fern zu tun ha ben und im Zwei felsfall den mund hal ten. Das soll te ge lin gen.« Fips sag te dies mehr zu sich als zu dem Kran ken, des sen Kopf nun zur Sei te kipp te. er schien be wusst los ge wor den zu sein.
»Ja, das ist gut«, mur mel te Fips nun äu ßerst zu frie den grinsend. »Vie len Dank, Wen zes laus. mehr muss ich nicht wis sen.«
Wie der griff Fips zum Schwamm.Doch die ses mal nicht, um dem Pil ger die tro cke nen Lip
pen zu be feuch ten. nein, er voll en de te jetzt, was er sich oh nehin vor ge nom men hat te, so bald es ihm end lich ge lun gen war, al les not wen di ge in er fah rung zu brin gen. Fips muss te nicht be son ders fest zu drü cken.
»Ruhe in Frie den, mein gold brin gen der Freund«, lach te er, nach dem Wen zes laus’ letz te, schwa che Zu ckun gen auf ge hört hat ten.
Fips war sehr glück lich, als er mit einer sei ner zah men Ratten auf der Schul ter hi naus ins Freie trat und die von ei nem Re gen schlei er ver han ge nen ex tern stei ne be trach te te. end lich hat te er wie der ein Ziel. er wür de le ben, reich sein und neu begin nen – mit ma rie an sei ner Sei te. Seit nun mehr ei nem Jahr träum te er da von. er hat te ge lernt, sie zu ver mis sen, hat te erfah ren müs sen, wie sehr er sich doch nach ih rer an we sen heit sehn te. er wuss te, wo sie war, hat te es längst he raus ge fun den und sie mit un ter be ob ach tet. Sie ge hör te zu ihm, sie wür de mit ihm ge hen müs sen, und spä tes tens dann, wenn er im alt va ter
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ge bir ge aus ihr ein Gold ma rie chen ge macht hät te, wür de sie auch frei wil lig bei ihm blei ben.
Doch al les zu sei ner Zeit.erst ein mal muss ten sämt li che wei te ren Fä den zu ei nem aus
ge feil ten Plan ver knüpf wer den, bei des sen aus füh rung Fips le dig lich der Pup pen spie ler im Hin ter grund zu blei ben trachte te. Denn die Drecks ar beit soll ten an de re für ihn er le di gen.
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• III •
Nimm nicht so vie le Gar ben für ein Bün del, ma rie.«ma rie ließ sich von dem jun gen Jo hann gern das Bün del mit
dem ge schnit te nen Rog gen aus der Hand neh men. er zeig te ihr, wie sie es ge schickt bin den konn te, da mit der mei er in der Her ren scheu er den ein druck ge wann, sie hät ten weit aus mehr von dem kläg li chen Ge trei de feld des Grund herrn ge ern tet. es war der zwei te Tag des Fron diens tes, den die Leu te aus dem Dorf auf den Gü tern ih res Be schüt zers und Pacht ge bers leis ten muss ten. und es wür de vo raus sicht lich der letz te sein, denn die ar beit war schnel ler ge tan als be fürch tet.
»es ist oh ne hin al les ver dor ben«, wand te sich nun ul rich, der eben falls auf dem Feld ar bei te te, an Jo hann. »Wenn du mich fragst, das Zeug kann man nur noch zer stamp fen und den Schwei nen zum Fraß vor wer fen. Sieh es dir an«, und dabei brach er eine Ähre und hielt sie dem jun gen Bur schen un ter die nase. »Fau lig ist es. und stin ken tut’s auch. Wie will man da von ein gu tes Korn er hal ten?«
»Bes ser als nichts, ul rich«, er wi der te Jo hann gut ge launt und reich te ma rie das fer ti ge Bün del zu rück. er war, mit aus nah me ih res Gat ten ul rich, der ein zi ge auf die sem Feld, der freundlich zu ihr war. alle an de ren Diens te leis ten den Leu te aus dem Dorf be ach te ten sie ent we der gar nicht oder war fen ihr schie fe Bli cke zu. So auch jetzt, wo ma rie sich ab sicht lich dumm anzu stel len schien, um sich von dem schö nen Jüng ling hel fen zu
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las sen, wäh rend ihr Ge mahl arg los da ne ben stand. Be son ders die Frau en schüt tel ten da rü ber ver ächt lich die Köp fe.
auch als sie am mit tag am Ran de des Fel des in mit ten eines ei chen hains sa ßen, um auf dem feuch ten, moo si gen un tergrund, ge schützt vor dem trü ben nie sel re gen, ein be schei de nes mahl ein zu neh men, wur de der frem den Frau des ul rich absicht lich kei ne Be ach tung ge schenkt. alle an de ren je doch hatten ih ren Spaß: ulk ten, er zähl ten sich we nig from me Ge schichten, ahm ten den stot tern den Küs ter nach und führ ten lus ti ge Tän ze auf. ma rie lausch te nur stumm, wäh rend sie aus Grashal men eine Ket te focht, um nicht in die Ge sich ter blicken zu müs sen.
»Da kommt der mei er«, rief schließ lich Jo hann, als er ge ra de auf ge stan den war, um den an de ren vor zu füh ren, wie er kürzlich zwei al tern de Jung fern in Ver le gen heit ge bracht hat te. »na, dem werd ich eine Ge schich te er zäh len, dem Dumm hans. Habt ihr noch Lust zu ar bei ten, Freun de?«
ein ein deu tig ver nei nen des Ge mur mel der um sit zen den gab Jo hann den an stoß, sein küh nes Vor ha ben in die Tat um zu setzen. Wie, das wuss te er noch nicht, aber bis der ein fäl ti ge mei er bei ih nen war, wür de ihm ge wiss et was in den Sinn kom men. Keck wand te er sich noch ein mal kurz nach ma rie um und kniff da bei ein auge zu.
Sie blick te auf und lä chel te zu rück. Jo hann war ein freundli cher Kerl. er moch te viel leicht zwan zig Jah re zäh len, war der Dritt ge bo re ne eines or dent li chen Bau ern und wahr lich das ansehn lichs te manns bild im Dorf. und das wuss te Jo hann. Rank und schlank, mit dich tem blon dem Schopf und den au gen eines klei nen Jun gen, ver zück te er je des mäd chen weit und breit. Das nutz te er durch aus aus, das ge noss er, aber das war ihm nicht ge nug. Jo hann streb te nach mehr, und eines Ta ges, da war er sich si cher, wür de er sei ne Sie ben sa chen pa cken und
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von dan nen zie hen. al lein, es fehl te bis her an der Ge le gen heit. und viel leicht fehl te es ihm auch an mut. Denn – das hat te marie längst be merkt und des halb moch te sie den Jun gen auch beson ders gern –, denn im Grun de sei nes Her zens war Jo hann scheu wie ein Reh und fromm wie ein Lamm. Jetzt je doch setzte er wie der sei ne spitz bü bi sche mie ne auf und er war te te mit un schul di gem Blick den sich nä hern den mei er.
Die ser kläg li che mensch, mit sei nen gro ßen, run den au gen, in de nen das Wei ße ganz zu feh len schien, sei nem wie ge rupf aus se hen den Haar und sei nem krum men Rü cken, hät te einem wahr lich leid tun kön nen, denn schwer las te te off en bar die Bür de des Ver wal ters auf sei nen kno chi gen Schul tern. er war nicht wirk lich dumm, durch aus nicht. in sei nen stil len Stunden reim te er sich so gar Ge dich te der nie de ren min ne zu sammen, in de nen es zünf ig zu ging, die er aber nie mals je mandem vor zu tra gen wag te. nein, dumm war er nicht, viel mehr konn te man ihn eher leicht gläu big nen nen, und das wuss te der schlaue Jo hann ein mal wie der aus zu nut zen. Wie ge ru fen kam ihm da eine Krä he, die sich un mit tel bar ne ben den meier auf einen Baum stumpf setz te und laut so wie an hal tend zu kräch zen be gann.
»Was habt ihr da für einen Vo gel, lie be Leut’?«, frag te der mei er, sich er staunt nach dem schwar zen Tier um bli ckend, das nicht auf ö ren woll te, sei nen un schö nen Ge sang von sich zu ge ben.
»un ser Zeit vo gel ist das, mein gu ter Herr mei er. Kennst du den etwa nicht?«, frag te Jo hann.
»euer Zeit vo gel?«»Ja, er ist von Gott ge sandt. Wenn er er scheint, dann heißt
das, der Fron dienst ist vo rü ber, und wir Bau ers leut dür fen nach Hau se ge hen.«
»ach?« Der mei er blick te er staunt in die Run de, doch da alle
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wie selbst ver ständ lich nick ten, wag te er die se aus sa ge nicht in Zwei fel zu zie hen.
»Ja, der kam schon zu den Zei ten un se rer Vor vä ter, als es noch die Fron ar beit gab. Lan ge Jah re war er fort, doch nun, da wir wie der für die Her ren schaff en müs sen, ist er er neut auf getaucht. Bös kann er wer den, wenn man ihm nicht Fol ge leis tet.«
»ach«, wie der hol te der mei er nur.»mei ne Groß mut ter wuss te zu be rich ten, dass er gar ei nem
mei er, der ihn nicht hat te be ach ten wol len und die Bau ern zur wei te ren ar beit an trieb, bei de Äuge lein aus ge hackt habe.« mit die sen Wor ten nä her te sich Jo hann dem mei er und mach te mit bei den Zei ge fin gern eine leich te Hack be we gung.
»Jetzt über treibt er es«, füs ter te ul rich ma rie ins ohr, die ge bannt der Sze ne folg te.
»ob das gut geht?«, be stä tig te sie die Be den ken ih res Gemahls. Doch es ging gut. Der mei er ließ die Bau ern zie hen, die Krähe fog fort, die Gar ben la gen noch einen wei te ren Tag so wie eine wei te re nacht im nie sel re gen. und das Übel, welches sich oh ne hin schon in ih nen ein ge nis tet hat te und bezüg lich des sen die men schen ah nungs los wa ren, konn te wei ter präch tig ge dei hen.
»es wird schwer, un ser al ler mäu ler in die sem Win ter zu stopfen«, sag te ul rich lei se, sei ne stump fe, alte Sen se tra gend. ma rie und er pas sier ten so e ben ein schma les Wald stück, durch welches ein Weg von den Fel dern des Grund herrn zu rück zu ih rer be schei de nen Kate führ te. »Die von der Burg wer den ih ren ritter li chen Pfich ten nach kom men müs sen und für uns Bau ern ihre Spei cher öff nen. ma chen sie es nicht, dann wird es Hunger to te ge ben. Lutz Rot schopf – du weißt, der mit den neun Kin dern –, er hat von sei nem Rü ben acker nicht einen Schubkar ren voll ge ern tet, und die we ni gen Rü ben, die er aus dem
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Bo den ge holt hat, wa ren klein, schrum pe lig und be reits völ lig zer fres sen. Bei uns wird es nicht an ders sein, ich fürch te mich schon da vor. Zu mal un ser acker die meis te Zeit im Schat ten liegt. Gin ge es in die sem ver reg ne ten Jahr da rum, moos einzu fah ren, ich wäre ein rei cher mann.«
Bei die sen Wor ten leg te ul rich sein oh ne hin schon run ze liges Ge sicht in noch tie fe re Sor gen fal ten. ma rie blick te ihn von der Sei te mit lei dig an. Sie hat te ihn wirk lich gern, die sen Bauern Filz hut. er war ein gu ter mensch, der bes te, der ihr je im Le ben be geg net war. und sie wünsch te sich nichts sehn li cher, als dass sei ne Be fürch tun gen un be grün det wa ren. Denn das schlech te Ge wis sen plag te sie, wenn sie da ran dach te, sich in dem be vor ste hen den ent beh rungs rei chen Win ter ein wei te res mal bei einer ar men Fa mi lie durch zu schla gen und mit den ohne hin ma ge ren Kin dern das we ni ge Brot zu tei len, um dann wo mög lich be reits im Früh jahr Le be wohl zu sa gen.
Doch mit ei nem mal ver schwan den die se trü ben Ge dan ken, und ma rie muss te lä cheln.
»Va ter, Stief mut ter, da seid ihr end lich!« ein fröh li ches mäd chen kam ih nen la chend mit blo ßen Fü ßen durch den Schlamm ent ge gen ge rannt und stürz te sich so gleich in ma ries arme. »ein mönch ist un ten im Wald grund im sump fi gen Wei her ste cken ge blie ben. Wir ha ben ihm ge mein sam mit ei nem lan gen Stock her aus ge hol fen. und sieh an, was er uns zum Dan k ge schenkt hat!«
aus ih rer Rock ta sche zog die Zehn jäh ri ge drei blank po lier te, mäch tig gro ße, rote Äp fel, die in ih rer Üp pig keit und Schönheit im schier gro tes ken Wi der spruch zu den grau en, ma ge ren men schen und dem mo dern den, mick ri gen Korn am We gesrand stan den.
»Wir woll ten mit der Über ra schung auf euch war ten und sie mit euch tei len, wenn ihr nach Hau se kommt«, sag te das Kind,
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Gret chen mit na men, freu de strah lend und wand te sich da bei nach ei nem wei te ren Kind, ei nem klei nen Jun gen von sechs Jah ren, um, der nun eben falls auf dün nen, aber äu ßerst finken Bei nen an ge rannt kam und sein schmut zi ges Ge sicht chen la chend in ma ries Schür ze ver barg.
»Was hast du aus ge fres sen, Toni?«, frag te ma rie, ging in die Ho cke und blick te den klei nen Schelm nur schein bar streng an.
»Toni war es, der den mönch so sehr er schreckt hat, dass er in den Sumpf ge fal len ist. mit sei ner Stein schleu der hat er auf ihn ge schos sen«, ver petz te nun Grete ih ren klei nen Bru der.
»So et was macht man doch nicht mit ei nem Got tes mann, du klei ner Raub rit ter«, schimpf e ma rie, konn te sich aber das La chen nicht ver knei fen.
»macht nur«, wink te ul rich ab und strich sei nem Jüngsten mit sei ner pran ken ar ti gen, ab ge ar bei te ten Hand über den Wu schel kopf. »Wer in solch schlech ten ern te zei ten wie die sen über der art präch ti ges obst ver fügt, der darf gern ein mal et was da von her ge ben.«
»Lauf Kin der, bringt eu rem gro ßen Bru der den drit ten apfel. ihr braucht so hart ver dien ten Lohn nicht mit uns zu teilen. Lasst es euch schme cken«, rief ma rie und sah den bei den Klei nen hin ter her, wie sie fröh lich zu rück zu der nied ri gen, moos be deck ten Hüt te rann ten.
in man chen mo men ten be nei de te ma rie die se Kin der. Bitter arm wa ren sie, ihre mut ter hat ten sie ver lo ren, lit ten of Hun ger, aber den noch blie ben sie so un be schwert, so fröhlich, was al lein an der Lie be lag, die ih nen zeit ih res Le bens zu teil ge wor den war und die sie so frei gie big an sie, die Fremde, wei ter ga ben. Stolz müss te sie sein auf die ses un be zahl ba re Ge schenk. Doch ma rie war viel mehr pein lich be rührt von der un ver dien ten Zu nei gung, wel che ihr von die sen klei nen menschen ent ge gen ge bracht wur de. manch mal wünsch te sie sich
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gar, ihre Stief in der wür den sie ver ab scheu en und ul rich wäre ein gars ti ger, bru ta ler Trun ken bold – denn das hät te ihr den ab schied er leich tert.
und so zo gen die mo na te ins Land.Der Win ter nah te, und mit ihm die Furcht vor dem Hun ger.
ma ries schlech tes Ge wis sen blieb, und mit ihm die alb träume. im mer wie der sah sie des nachts das Ge sicht ih res Peini gers vor au gen, und je des mal sprach er die glei che auff orde rung, ja Dro hung an sie aus: »ich fin de dich. Wir ge hö ren zu sam men.«
es war ein deut li ches Zei chen. ma rie wür de nicht mehr lange blei ben kön nen, denn auch tags ü ber be schlich sie mit un ter das un trüg li che Ge fühl, dass er sie nicht nur in ih ren Träu men auf such te. manch mal, wenn sie al lein oder auch in Be glei tung von Gret chen in den Wald ging, um Brenn holz zu sam meln, da mein te sie ihn mit un ter hin ter ei nem um ge stürz ten Baum lauern zu se hen. Ja, sie glaub te deut lich sei ne ent stell te, ver narb te Frat ze er ken nen zu kön nen. in sol chen mo men ten kam es vor, dass sie das müh sam zu sam men ge such te Rei sig fal len ließ, das ver dutz te Kind an die Hand nahm und has tig da von eil te. ulrich er zähl te sie nichts von ih rer Furcht, und der klei nen Grete er klär te sie ihr selt sa mes Ver hal ten mit der Lüge, einen Wolf ge sich tet zu ha ben.
Doch wäh rend ma ries angst vor ih rem Ver fol ger eher ei nem pa ni schen Wahn glich und sie sich selbst of den Vor wurf der blo ßen ein bil dung ma chen muss te, so er wies sich eine an dere Be fürch tung bald als schreck li che Wahr heit: Der Hun ger stand be droh lich vor den Tü ren der Hüt ten und Höfe. noch vor Weih nach ten wa ren sämt li che oh ne hin ma ge ren Korn speicher leer, und auch das eben falls hun gern de, dür re Vieh erweck te nicht den ein druck, sämt li che Be woh ner des Dor fes
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über den Win ter brin gen zu kön nen. Baum rin de, ei cheln, Frösche, Spat zen und Kat zen wür den als nah rung die nen müssen – so ekel er re gend dies auch klang, wäre es den noch nicht das ers te mal ge we sen. man mach te sich also da rauf ge fasst, dass es in den kom men den kal ten mo na ten viel Leid und auch Tote ge ben wür de.
Doch dann ge schah ein Wun der, denn eines Sonn tags verkün de te der Pfar rer in der win zi gen, höl zer nen Kir che, dass der Grund herr sei nen Hin ters as sen von sei nem Korn ab geben wer de. eine groß zü gi ge Gabe sei dies, denn auch der Ritter selbst habe nun das drit te Jahr in Fol ge gro ße ern te ver lus te ein ge fah ren und so mit kei ner lei Über schüs se er wirt schaf et.
mit Freu den wur de der Wa gen er war tet, wel cher gleich einen Tag spä ter eine La dung Rog gen brach te, von dem sich je der pro mann und Frau einen Vier tel, pro Kind einen ach tel Scheff el neh men durf e.
»Drei Hän de voll Rog gen sol len uns also über den Win ter bringen. Da müs sen wir dann wohl auf al mo sen des Klos ters hoffen, sonst wer den wir ein ge hen wie die Flie gen«, mur mel te ulrich mür risch, wäh rend sich sein äl tes ter Sohn da ranmach te, das Säck lein, wel ches tat säch lich mick rig vor ih nen auf dem Tisch lag, auf zu knüp fen.
»Selt sam riecht das«, mein te der Zwölf äh ri ge nur und hielt nun auch sei ner Schwes ter Grete den Sack un ter die nase.
»Das hat schon ge stun ken, als wir es ge ern tet ha ben«, er inner te sich ul rich kopf schüt telnd.
»Lasst, Kin der, es ist noch feucht, wir wer den es auf dem Speicher trock nen und dann zur müh le brin gen«, ver such te ma rie sie alle zu be ru hi gen, nahm den Sack vom Tisch und trug ihn die stei le Lei ter, wel che sich un mit tel bar ne ben der in die Wand ein ge las se nen Schlaf statt be fand, hi nauf auf den Heu bo den.
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Der Raum un ter dem Stroh dach der Hüt te war klein, aber den noch so gut wie leer. in einer ecke la ger ten we ni ge Rü ben, und auf ei nem klapp ri gen Holz re gal faul ten, ob gleich erst im Herbst ge pfückt, win zi ge Äp fel vor sich hin. Das war al les, denn die Vor rä te an ei ge nem Korn wa ren nie der Rede wert ge we sen und längst ver braucht. Stumm schüt te te ma rie die Rog gen körner auf dem Bo den aus. Sie wa ren viel zu zei tig ge ern tet und ge dro schen wor den, teil wei se hin gen sie noch an den Äh ren, wel che sich nun auf den höl zer nen Die len ver teil ten. Den noch gab es kei nen Grund zur Kla ge: Ge trock net, ge mah len und ge streckt, wür de die se Gabe aus rei chen, um reich lich Brei zu ko chen und wo mög lich auch einen Laib Brot zu ba cken. Vielleicht gab es ja Hoff nung, viel leicht folg ten tat säch lich noch mehr Spen den, und sie wür den al le samt wohl be hal ten über den Win ter kom men.
ein we nig Zu ver sicht keim te in ihr auf, als sie lang sam zu der klei nen Dach lu ke ging und hi naus in die Dun kel heit blick te, wo sich der vol le, hel le mond sei nen Weg hin ter di cken Wol ken her vor zu bah nen ver such te. Zu ver sicht nicht nur der Spen den des Grund herrn we gen, son dern auch des halb, weil sie wusste, dass ihr Ver fol ger des Win ters ge wiss nicht um her strei fen wür de, um sie aus fin dig zu ma chen.
Fips hass te Schnee und Käl te. als sie noch bei ihm war, hatte er mit ma rie in ei nem je den Jahr zwi schen De zem ber und märz die schüt zen den mau ern einer Stadt auf ge sucht, wo sie sich mit Die be rei en, Kupp ler eien und Be trü ge rei en ei ni ger maßen über Was ser ge hal ten hat ten.
»in den nächs ten mo na ten ist Ruhe«, füs ter te sie lei se, noch im mer den Blick auf den mond ge rich tet, des sen Licht nun da bei war, den Kampf ge gen die Wol ken auf zu ge ben.
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• IV •
Der Pfar rer er fuhr bald von den mön chen aus dem na hen Klos ter, dass man das, was seit dem Weih nachts fest im Dorf sein un we sen trieb, als »ig nis sacer«, hei li ges Feu er, be zeichne te. und er hat te auch ge sagt be kom men, wen man ge gen die ses Übel an ru fen muss te, näm lich den hei li gen an to ni us. einst in der Wüs te vom Teu fel in Ver su chung ge führt, hat te an tonius den Höl len fürs ten schließ lich be zwun gen und galt nun als Schutz pat ron ge gen das bren nen de Lei den, wel ches in die sem oh ne hin ent beh rungs rei chen Win ter zu sätz lich so zahl rei che men schen quäl te und ei ni ge gar zu Tode brach te.
mehr als ein Dut zend Dorf e woh ner war be reits be fal len. Begon nen hat te es mit ei nem Kit zeln in Hän den und Fü ßen, dann hat te die Haut sich ge rö tet, brann te, juck te, Bla sen bil de ten sich am gan zen Kör per, wie Feu er zog es über den Leib, trieb die Befal le nen schier in den Wahn sinn und färb te bei ei ni gen Fin ger, oh ren und na sen schwarz, bis die se schließ lich ab fie len. niemand wuss te zu sa gen, wo her die ent setz li che Heim su chung kam. es muss te eine Stra fe sein, eine Stra fe Got tes, ein wei te res Vor zei chen des na hen den gro ßen en des, oder aber die Ra che des hei li gen an to ni us, der sich bis dato nicht ge nü gend ver ehrt ge fühlt hat te. Zur Si cher heit be te te man nun täg lich zu ihm, mor gens, mit tags und abends fan den an dach ten in der Kir che statt, man mach te Pro zes si o nen zu den Häu sern der Kran ken und be spren kel te sie mit Weih was ser.
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Rat sa mer wäre es ge we sen, die Rog gen fel der mit Weih wasser zu be spren keln, denn sie bil de ten den ei gent li chen Quell des Übels. auf ih nen war er in dem kalt nas sen Som mer gekeimt – der un sicht ba re un heilb rin ger. Selbst im ge trock neten, ge dro sche nen und ge mah le nen Zu stand be hielt das von ihm be fal le ne Korn sei ne töd li che Wir kung bei. Doch da rü ber herrsch te un ter den men schen un wis sen heit. Sie ver däch tig ten nicht das ver un rei nig te mehl, sie such ten die Schuld viel mehr bei sich selbst, in ih rem un glau ben, ih ren Sün den und ih ren heim li chen Schand ta ten.
So be trach te ten sie es als not wen di ges op fer, als ver dien te Buß leis tung, dass ei ni ge von ih nen eines ent setz li chen To des star ben, kurz be vor der Lenz nach ei nem har ten, bit ter kal ten Win ter ein zug hielt. neun wa ren es, zu meist aus den är meren der oh ne hin we nig be tuch ten Bau ern häu ser des Dor fes. alte wa ren da run ter, aber auch Kin der, un ter an de rem alle drei Spröss lin ge des be dau erns wer ten ul rich Filz hut, dem un längst erst sein treu es Weib elsa ge nom men wor den war.
ul rich selbst hat te das an to ni us feu er über lebt. Zwei Fin ger der rech ten Hand büß te er ein, war aber als bald am Leib wie der ge ne sen. nicht so an der See le, die der art ver letzt war, dass er in sei nen bit ters ten Stun den an Gott zu zwei feln be gann. Ja, man hat te ihn so gar des nachts auf dem Kirch hof ge se hen, wo er lau te, un fä ti ge Flü che in Rich tung Him mel aus ge sto ßen ha ben sollte. Sein neu es Weib habe ihn da rauf in be ru higt und nach Hau se ge führt. Sie selbst – so hieß es – war die ein zi ge im Hau se, die vom Feu er voll kom men ver schont ge blie ben war. Wa rum dies so war, da rü ber wur de man bald müde, sich das maul zu zer rei ßen, denn der Früh ling stand ins Haus, der neu be ginn, der Wan del. es gab viel zu tun, und auch wenn Hun ger, Seu chen und an haltend düs te re Zu kunfs aus sich ten die letz ten Jah re ge prägt hat ten, so war die Hoff nung auf Gna de den noch nicht gänz lich ver lo ren.
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Das Le ben muss te wei ter ge hen.So lan ge zu min dest, bis es Gott ge fiel, tat säch lich den al ler
letz ten Tag auf er den ein zu läu ten.
»Ihr glaubt es nicht, Ihr glaubt es nicht. Lie be Leut, lie be Leut, die Bot schaft, die ich brin ge heut, ist so froh, so gut, so wun der barda jauchzt das Schwein am Spie ße gar.«
ma rie trau te ih ren oh ren kaum. es war der ers te son ni ge Frühjahr stag nach der so töd li chen, kal ten Jah res zeit, und sie war ge ra de da bei, nach den so e ben ge bo re nen Ka nin chen zu schauen, als sie die se selt sa men lau ten, fri vo len Klän ge ver nahm. Zu nächst war es nur ein me lo di sches Pfei fen ge we sen, dann hat te die durch drin gen de Stim me zu sin gen be gon nen. nicht ein mal die Kirch turm glo cken des na hen Klos ters hat ten sie zu über tö nen ver mocht.
Wie durch einen Pau ken schlag wur den die Be woh ner des klei nen, trau ri gen or tes da ran er in nert, dass das Le ben off ensicht lich auch lus ti ge Sei ten be reit hielt.
»meis ter Lenz ist da!«, rie fen ei ni ge Bu ben und mäd chen und rann ten über den holp ri gen Weg an dem stil len, kin der losen Haus des Bau ern Filz hut vo rü ber in Rich tung des sin genden man nes, der ge wiss auf dem Dorf platz un ter der Lin de zu fin den war.
»ein Frem der ist in den ort ge kom men«, be rich te te ma rie ih rem mann auf ge regt, nach dem sie in die Kate zu rück ge gangen war.
aber ul rich küm mer te sich nicht um ma ries Wor te. er kümmer te sich um gar nichts mehr. al les Le ben, alle Freu de hatten ihn ver las sen. mit dem Tod sei ner Kin der war auch sein
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ei ge nes Da sein le dig lich zu ei nem müh se li gen Fort be ste hen ge wor den. Selbst die Für sor ge sei ner jun gen Frau konn te ihn nicht auf mun tern, so dass er die meis te Zeit des Ta ges da mit ver brach te, dumpf auf einer Bank in der dun kels ten ecke des klei nen Häus chens zu ho cken.
»Komm, gu ter ul rich, wir wol len nach schau en ge hen, wer der frem de mensch ist«, for der te ma rie ihn nun auf, ihr hi naus an die fri sche Luf zu fol gen.
es war ein herr li cher Tag und das er schei nen des mu si kanten im Dorf ein will kom me ner an lass, ul rich Filz hut sei ne tie fe Trau er für einen mo ment ver ges sen zu las sen. in des sen Ge sicht zeig te sich wahr lich mehr vom Tode als vom Le ben. Wenn er wei ter hin in solch tie fer Trau er ver sank, wür de ma rie ihn bald ne ben sei ner ers ten Frau und sei nen drei Kin dern auf dem Kirch hof zu Gra be tra gen müs sen. Dann wäre sie al lein, ihr Ge wis sen wäre be freit, und sie könn te ge hen, ohne je manden ver las sen zu müs sen. Doch das woll te sie nicht. Sie mochte die sen kau zi gen, al tern den mann, und noch lie ber hat te sie des sen Kin der ge habt, um wel che sie in je der nacht wein te. es war ihre Pficht, da für zu sor gen, dass es ul rich wie der bes ser ging, dass er ins ir di sche Le ben zu rück fand, und da rum zog sie ihn nun an der ver krüp pel ten, noch im mer ver bun de nen Hand von sei ner Bank. Wil len los folg te er ihr und trot te te langsam mit ge senk tem Kopf ne ben sei ner Frau her zum Dorf platz.
Hier war be reits eine gan ze Rei he von Leu ten ver sam melt. Bis auf den Pfar rer und den mei er hat ten sich sämt li che Dorfbe woh ner, die den har ten Win ter über stan den hat ten, ein gefun den, um den Frem den kri tisch in au gen schein zu neh men. Blass wa ren sie al le samt, und selbst die we ni gen, die noch im letz ten Jahr einen statt li chen Bauch vor sich her ge tra gen hatten, wirk ten nach den ent beh rungs rei chen mo na ten ein ge fallen und krank. Wie eine Schar le ben di ger To ter um ring ten
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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
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Westfalen im 14. Jahrhundert: Eine Reisegruppe verbirgt eine junge Frau vor ihrem Verfolger.Doch auch der Schwarze Tod ist ihnen dicht auf den Fersen. Westfalen im 14. Jahrhundert: Um ihrem grausamen Ziehvater zu entfliehen, schließt sich diejunge Marie der bunten Pilgergruppe eines Spielmanns an. Auf dem gefahrenvollen Weg zumweit entfernten Altvatergebirge gesellen sich immer neue Weggefährten zu den Reisenden, soauch der edle, geheimnisvolle Kreuzritter Konrad, in den sich Marie unsterblich verliebt. Doch alsdie Menschen um sie herum an einer furchtbaren Plage erkranken, wird Konrad bezichtigt, diePest in sich zu tragen. Ein verzweifelter Wettlauf gegen den Schwarzen Tod beginnt. Und auchMaries Ziehvater ist ihr dicht auf den Fersen ...