jacques le goff: die intellektuellen im mittelalter. 2. auflage, stuttgart: klett-cotta 1987. 216...

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Berichte mi- Wissenschaftsgeschichte 11 (1988): Rezensionen 127 Rezensionen Jacques Le Goff: Die Intellektuellen im Mittelalter. 2. Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta 1987. 216 Seiten, 17 Abbildungen, DM 30,-. Um es vorweg zu sagen, das Buch wendet sich - nach Auaage des Verfassers - nicht an den Spezialisten, obwohl es ,,auf langwierigen wissenschaftlichen For- schungsarbeiten beruht" (S. 179). Und das stimrnt! Le Goff gehort namlich zu jenen franzosischen Ver- tretern gegenwartiger Geschichtswissenschaft, die - unter dem Begriff ,,Nouvelle Histoire" subsu- miert - Geschichte als, vergroberndl ausgedriickt, anekdotenhafte Darstellung von Geschichten verste- hen und dies auch mit entsprechend pointierten Mit- teln in Sprache umsetzen. Dadurch entsteht bei der Lektiire zwar ein gewisser Reiz, wissenschaftliche Er- kenntnis hingegen wird dabei nur sehr bedingt er- zielt. Das Buch urnreifit in groben Ziigen die Zeit zwi- schen der ,,stadtischen Renaissance irn 12. Jahrhun- dert" (S. 15) und der Renaissance, die ausgehendes Mittelalter und beginnende Neuzeit verbindet. Mit der ,,stadtischen Renaissance" einher geht auch .die Geburt des Intellektuellen", dessen Gestalt der Ver- fasser an einzelnen Personen (wie dem ,,Hedigen Bernhard", Peter Abalard und anderen), an den Funk- tionen der Schulen und Universitaten (wie Chartres, Paris und anderer) und an Vertretern der unterschied- lichsten geistigen Stromungen und philosophischen Richtungen (wie etwa Goliardentum, Aristotelismus, Averroismus, Scholastik usw.) groRflachig kontu- riert. DaR der Verfasser dabei haufig die Quellen selbst sprechen IaBt, ist an sich begriinenswert. Doch scheint ihre Auswahl in erster Linie im Hinblick auf die Wirkung erfolgt zu sein; denn anders ist die oft- mals zettelkastenartige Aneinanderreihung plasti- scher Ausspriiche wohl nicht zu deuten, was naturge- maB Wert und Gewicht der jeweiligen Quelle in ganz entscheidendern MaRe mindert. So wird der rnittelal- terliche Intellektuelle, eine auch hier gezielt auf Wir- kung bedachte anachronistische Verwendung dieses Begriffs, als ,,ein Professioneller rnit seinern Material, den Alten, und seinen Techniken, deren wichtigste die Nachahmung der Alten ist" (S. 21) definiert. Pe- trus von Blois ruft aus: ,,Man kann nur von finsterer Unwissenheit zum Licht der Wissenschaft gelangen, wenn man die Werke der Alten rnit imrner starkerer Liebe wieder und wieder liest. Sollen die Hunde bel- len, die Schweine grunzen!" (S. 19), und Honorius von Autun postuliert schlieRlich den Leitsatz: ,,Das Exil des Menschen ist die Unwissenheit; seine Hei- mat ist die Wissenschaft" (S. 64). Der Schwerpunkt der Darstellung liegt irn franzosischen Sprachraum; entsprechend ist auch die insgesamt reichhaltige Aus- wahlhibliographie angelegt, in der die wichtigsten Werke besonders gekennzeichnet werden. Eine chro- nologische Ubersicht iiber den abgehandelten Zeit- raum und ein Register runden diesen Teil ab. Insge- sarnt 17 - die franzosische Ausgabe enthalt dagegen 83 - teilweise signifikante Bildquellen illustrieren die Darstellung. Ihre Reproduktionsqualitat ist aller- dings insgesamt augerst schlecht. Das Buch ist erstmals 1957 in Paris erschienen und dann wieder 1985 in Frankreich als Taschenbuch. Vielleicht ware der Verfasser besser beraten gewesen, seine im Nachwort (das in der franzosischen Ausgabe von 1985 als Vorwort firmiert) angesprochenen Ver- saumnisse, seine Erganzungen und teilweise auch neuen Ansatze aufzugreifen, und das Werk einer ent- sprechenden Uberarbeitung zu unterziehen. Doch scheint die erfolgreiche Partizipation am gegenwarti- gen ,,Mittelalterboorn" gewichtiger gewesen zu sein. DaB das Buch gekauft wird, zeigt die rasch erfolgte zweite Auflage, bei der es weder Autor noch Verlag fur notig erachteten, auch nur die oberflachlichsten Fehler (wie etwa auf S. 18,119,176,177,199) zu besei- tigen. Volker Zimmerrnann, Gottingen Ber.Wissenschaftsgesch. 11 (1988) 127

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Page 1: Jacques Le Goff: Die Intellektuellen im Mittelalter. 2. Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta 1987. 216 Seiten, 17 Abbildungen, DM 30,-

Berichte mi- Wissenschaftsgeschichte 11 (1988): Rezensionen 127

Rezensionen

Jacques Le Goff: Die Intellektuellen im Mittelalter. 2. Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta 1987. 216 Seiten, 17 Abbildungen, DM 30,-.

Um es vorweg zu sagen, das Buch wendet sich - nach Auaage des Verfassers - nicht an den Spezialisten, obwohl es ,,auf langwierigen wissenschaftlichen For- schungsarbeiten beruht" (S. 179). Und das stimrnt! Le Goff gehort namlich zu jenen franzosischen Ver- tretern gegenwartiger Geschichtswissenschaft, die - unter dem Begriff ,,Nouvelle Histoire" subsu- miert - Geschichte als, vergroberndl ausgedriickt, anekdotenhafte Darstellung von Geschichten verste- hen und dies auch mit entsprechend pointierten Mit- teln in Sprache umsetzen. Dadurch entsteht bei der Lektiire zwar ein gewisser Reiz, wissenschaftliche Er- kenntnis hingegen wird dabei nur sehr bedingt er- zielt.

Das Buch urnreifit in groben Ziigen die Zeit zwi- schen der ,,stadtischen Renaissance irn 12. Jahrhun- dert" (S. 15) und der Renaissance, die ausgehendes Mittelalter und beginnende Neuzeit verbindet. Mit der ,,stadtischen Renaissance" einher geht auch .die Geburt des Intellektuellen", dessen Gestalt der Ver- fasser an einzelnen Personen (wie dem ,,Hedigen Bernhard", Peter Abalard und anderen), an den Funk- tionen der Schulen und Universitaten (wie Chartres, Paris und anderer) und an Vertretern der unterschied- lichsten geistigen Stromungen und philosophischen Richtungen (wie etwa Goliardentum, Aristotelismus, Averroismus, Scholastik usw.) groRflachig kontu- riert. DaR der Verfasser dabei haufig die Quellen selbst sprechen IaBt, ist an sich begriinenswert. Doch scheint ihre Auswahl in erster Linie im Hinblick auf die Wirkung erfolgt zu sein; denn anders ist die oft- mals zettelkastenartige Aneinanderreihung plasti- scher Ausspriiche wohl nicht zu deuten, was naturge- maB Wert und Gewicht der jeweiligen Quelle in ganz entscheidendern MaRe mindert. So wird der rnittelal- terliche Intellektuelle, eine auch hier gezielt auf Wir- kung bedachte anachronistische Verwendung dieses

Begriffs, als ,,ein Professioneller rnit seinern Material, den Alten, und seinen Techniken, deren wichtigste die Nachahmung der Alten ist" (S. 21) definiert. Pe- trus von Blois ruft aus: ,,Man kann nur von finsterer Unwissenheit zum Licht der Wissenschaft gelangen, wenn man die Werke der Alten rnit imrner starkerer Liebe wieder und wieder liest. Sollen die Hunde bel- len, die Schweine grunzen!" (S. 19), und Honorius von Autun postuliert schlieRlich den Leitsatz: ,,Das Exil des Menschen ist die Unwissenheit; seine Hei- mat ist die Wissenschaft" (S. 64). Der Schwerpunkt der Darstellung liegt irn franzosischen Sprachraum; entsprechend ist auch die insgesamt reichhaltige Aus- wahlhibliographie angelegt, in der die wichtigsten Werke besonders gekennzeichnet werden. Eine chro- nologische Ubersicht iiber den abgehandelten Zeit- raum und ein Register runden diesen Teil ab. Insge- sarnt 17 - die franzosische Ausgabe enthalt dagegen 83 - teilweise signifikante Bildquellen illustrieren die Darstellung. Ihre Reproduktionsqualitat ist aller- dings insgesamt augerst schlecht.

Das Buch ist erstmals 1957 in Paris erschienen und dann wieder 1985 in Frankreich als Taschenbuch. Vielleicht ware der Verfasser besser beraten gewesen, seine im Nachwort (das in der franzosischen Ausgabe von 1985 als Vorwort firmiert) angesprochenen Ver- saumnisse, seine Erganzungen und teilweise auch neuen Ansatze aufzugreifen, und das Werk einer ent- sprechenden Uberarbeitung zu unterziehen. Doch scheint die erfolgreiche Partizipation am gegenwarti- gen ,,Mittelalterboorn" gewichtiger gewesen zu sein. DaB das Buch gekauft wird, zeigt die rasch erfolgte zweite Auflage, bei der es weder Autor noch Verlag fur notig erachteten, auch nur die oberflachlichsten Fehler (wie etwa auf S. 18,119,176,177,199) zu besei- tigen.

Volker Zimmerrnann, Gottingen

Ber.Wissenschaftsgesch. 11 (1988) 127