jugendliche lebenswelten || sinn, glück, erfolg

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Ist ein Leben nur sinnvoll, wenn es glücklich ist oder wenn man Erfolg hat – im Beruf, in der Liebe? Ist man immer glücklich, wenn man erfolgreich ist? Ist man erfolgreich, wenn man Glück hat? Oder erwächst aus einem Lebenssinn, den man glaubt, gefunden zu haben, automatisch Glück, gar Erfolg? Oder eher sog- ar Desinteresse an Erfolg und Glück? Große Wörter! Schwierige Zusammenhänge! Sinn Gerade weil man bis heute „an den in der Literatur vorfind- baren Sinnbegriffen […] rasch verzweifeln“ kann (Döbert 1978, S. 52f; vgl. Ebertz 2010/2011), gilt es, offenzulegen, was gemeint ist. Im Folgenden nenne ich „Sinn“ immer ein (kognitives) Gerichtetsein oder Bezogensein auf etwas oder jemanden. Bereits „in der indogermanischen Grundbedeu- tung steht ‚Sinn‘ für die Richtung, in der man sich räum- lich bewegt. Darauf verweist althochdeutsch ‚sinnan‘ = ‚sich einem Ziel zubewegen‘ und lateinisch ‚sentio‘ im Sin- ne der ‚gezielten Ausrichtung und Zuwendung von Wahr- 16 Sinn, Glück, Erfolg Michael N. Ebertz P. M. Thomas, M. Calmbach (Hrsg.), Jugendliche Lebenswelten, DOI 10.1007/978-3-8274-2971-1_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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Ist ein Leben nur sinnvoll, wenn es glücklich ist oder wenn man Erfolg hat – im Beruf, in der Liebe? Ist man immer glücklich, wenn man erfolgreich ist? Ist man erfolgreich, wenn man Glück hat? Oder erwächst aus einem Lebenssinn, den man glaubt, gefunden zu haben, automatisch Glück, gar Erfolg? Oder eher sog-ar Desinteresse an Erfolg und Glück? Große Wörter! Schwierige Zusammenhänge!

Sinn

Gerade weil man bis heute „an den in der Literatur vorfi nd-baren Sinnbegriff en […] rasch verzweifeln“ kann (Döbert 1978 , S. 52f; vgl. Ebertz 2010 / 2011 ), gilt es, off enzulegen, was gemeint ist. Im Folgenden nenne ich „Sinn“ immer ein (kognitives) Gerichtetsein oder Bezogensein auf etwas oder jemanden. Bereits „in der indogermanischen Grundbedeu-tung steht ‚Sinn‘ für die Richtung, in der man sich räum-lich bewegt. Darauf verweist althochdeutsch ‚sinnan‘ =‚sich einem Ziel zubewegen‘ und lateinisch ‚sentio‘ im Sin-ne der ‚gezielten Ausrichtung und Zuwendung von Wahr-

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Michael N. Ebertz

P. M. Thomas, M. Calmbach (Hrsg.), Jugendliche Lebenswelten, DOI 10.1007/978-3-8274-2971-1_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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nehmung und Interesse‘. In der Übertragung von räumli-cher Bewegung auf soziale Beziehungen steht ‚Sinn‘ für die Richtung, das ‚Sinnen und Trachten‘ der eigenen Absich-ten“ (Pankoke 1994 , S. 153). Wenn es also um die Frage geht, welchen subjektiven Sinn Jugendliche ihrem Leben – nicht ihren Einzelhandlungen - typischerweise unterlegen, dann wird die Leitfrage sein, welche Grundausrichtungen und Zielorientierungen da zu erkennen sind, ob sie ihr Le-ben in einen größeren Zusammenhang stellen und es auf ein (letztes) Ziel hin ausrichten und was ihnen dabei erstre-benswert erscheint.

Glück

Auch am Glücksbegriff kann man verzweifeln, wenn häu-fi g die Pluralisierung und „Sinn“-Entleerung des Glücks-begriff s beklagt wird, weil er nichts Objektivierbares mehr enthalte. Was soll man davon halten, wenn man liest: „Die Bundesbürger versuchen neuerdings lieber an Automaten ihr Glück und kehren den Anbietern von Lotterien den Rü-cken“ (iw-dienst Nr.48/2011, S. 8)? Gibt es Glück an Auto-maten, und das noch für alle Bundesbürger? Allerdings zeigt sich, dass die gesellschaftlich gängigen Bedeutungen von Glück nicht beliebig vagabundieren. „Glück“ kann einen außergewöhnlichen, tendenziell superlativistischen Augen-blickszustand, ein positives Spitzenerlebnis bezeichnen –ich nenne es das situative, außeralltägliche Glück (vgl. Ebertz 2003 ). Hier eröff net sich ein ganzes Glücksstufenpa-norama. Auf die Frage, in welchen Situationen man schon einmal Glück empfunden habe, kommt, nach vielen pri-

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vaten und intimen Glückssituationen – wie Verliebt-Sein, im Urlaub, Zusammensein mit Freunden, wenn mir etwas Schwieriges gelingt, Zusammensein mit dem Partner, nach einer bestandenen Prüfung, nach der Geburt eines Kindes, beim Sex –, auch die Erfahrung von Lob und Anerken-nung. Dagegen steht das alltägliche, gewöhnliche Glück, wie es auch demoskopisch erhoben wird (vgl. Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 2009, S. 772f ). Damit ist die tendenziell dauerhafte Erfüllung von Wünschen gemeint, vor allem, sofern es Wünsche nach Prestige und Geltung, nach Gesundheit, nach zwischenmenschlichen Beziehun-gen und nach materiellem Wohlstand betriff t, aber auch solche nach immateriellen Zuständen. Dieses Moment der zeitlichen Dauer, und möglicherweise nur dieses, teilt der alltagsweltliche Glücksbegriff durchaus mit der christlichen Heilsvorstellung, dass wahres Glück nur bei Gott, in der Ruhe Gottes, zu fi nden ist: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir, o Herr“ (Augustinus).

Für einige Menschen könnte dieses Glücksverständnis auch die Richtung ihres Lebens sein, also ihren Lebenssinn ausmachen. Oder spräche man dann besser von „Heil“ statt von „Glück“? Das Moment der zeitlichen Dauer korres-pondiert auch mit der sozialwissenschaftlichen Vorstellung eines komplexen innerweltlichen Zustands, in dem das In-dividuum ein dauerndes Gleichgewicht oder gar den Ein-klang zwischen den gesellschaftlichen Aufgaben und den Anforderungen, die man an seine soziale Existenz stellt, auf der einen Seite und seinen persönlichen Neigungen auf der anderen Seite gefunden hat. Dementsprechend ist das Pa-norama der Quellen des Glücks nicht unendlich, und die-se sind auch nicht gleich verteilt. Auf die demoskopische

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Frage „Was, glauben Sie, macht Menschen glücklich?“ sagt etwa die Hälfte der Befragten: viele Freunde, Erfolg im Be-ruf, ein schönes Haus. Etwa zwei Drittel sehen Quellen des Glücks darin, einen Beruf zu haben, in dem man aufgeht, der einem Freude macht, im Kinderhaben, in Menschen, die einen lieben, in einer Familie, in einer glücklichen Ehe oder Partnerschaft, also im privaten Leben. Als Glücksquel-le wird auch gesehen, eine Aufgabe im Leben, einen Le-benssinn zu haben, und natürlich ist die diesseitige Mutter aller Glücksquellen die Gesundheit.

Wenn man schaut, welche Quellen des Glücks in den Antworten etwas schwächer besetzt sind, dann sieht man, dass weniger als die Hälfte der Befragten als Glücksquel-len Glaube, religiöse Überzeugung, viel Geld haben, ein schönes Hobby haben und Gutes tun, anderen helfen, nennen. Erstaunlich ist somit, dass vier von fünf Befragten in Deutschland zumindest über einige kräftig sprudelnde Quellen des Glücks zu verfügen scheinen, denn die deut-liche Mehrheit der deutschen Bevölkerung sagt, dass sie bis jetzt in ihrem Leben viel Glück bzw. im Großen und Gan-zen Glück gehabt hat.

Wenn es im Folgenden um die Frage geht, welche Glückserfahrungen und Glückserwartungen Jugendliche haben, dann wird die Leitfrage sein, in welchen Kontexten sie eher alltägliche Erfahrungen machen und welche eher außeralltäglichen Erlebnisse sie haben und erstreben.

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Erfolg

Erfolge können off ensichtlich Basis von Glückserfahrungen sein, wenn zu lesen ist: „Private Anbieter von Glücksspielen haben off enbar gerade eine Glückssträhne: Automatenauf-steller kassierten 2010 nach Abzug der Gewinnausschüttun-gen 570 Millionen Euro mehr als noch zwei Jahre zuvor“ (iwd 37/2011, H.48,8). Gemeint ist off ensichtlich: Auto-matenaufsteller sind 2010 erfolgreicher als 2009 gewesen. Grundschulkinder, so zeigte eine vom ZDF in Auftrag ge-gebene Studie (Schumacher/Kayser 2007 ), „erleben Glück, wenn sie Erfolge einheimsen und Belohnungen bekommen wie zum Beispiel bei Klassenarbeiten oder beim Sport“. Er-folge müssen aber nicht – außeralltägliches oder alltägliches –Glück zum Ergebnis haben, auch nicht Lebenssinn. Erfolg zu haben bedeutet die Fähigkeit, selbst gesteckte Ziele zu erreichen; der Schwerpunkt liegt dabei häufi g auf Zielen, die mehr oder weniger durch rationale Entscheidungen rea-lisierbar sind, also eher Zielen im berufl ichen, wirtschaftli-chen, „materiellen“ Bereich. Die Leitfrage ist somit, welche Bedeutung selbst gesteckte und auf rationaler Basis erreich-bare Ziele für Jugendliche haben und in welchen Kontexten sie sich dabei Fähigkeiten zuschreiben.

Milieu-Sinn, Milieu-Glück, Milieu-Erfolg

Die insbesondere vom Sinus-Institut in Heidelberg betrie-bene Milieuforschung hat uns gelehrt, dass Sinn „Milieu-Sinn“, Glück „Milieu-Glück“ und Erfolg „Milieu-Erfolg“

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heißen muss, also Sinn, Glück und Erfolg keine milieuun-abhängigen Bedeutungen und Kontexte haben, sondern in den jeweiligen Lebenswelten unterschiedliche semantische Bedeutungshorizonte aufspannen. Das heißt, die Vorstel-lungen davon, was glücklich macht oder als sinnhaft erlebt wird, sind eng mit der persönlichen Werteorientierung ver-woben. Dies triff t nicht nur auf die Welten der Erwachse-nen zu, sondern ist schon bei Jugendlichen in erheblichem Maße ausdiff erenziert und wird in der Entwicklung durch verschiedene Sozialisationsinstanzen geprägt (vgl. Wipper-mann/Calmbach 2008 , Calmbach et al. 2012). Dies kön-nen zum Beispiel Lehrer sein, die (Lebens-)Ziele vorschla-gen, Freunde, die vormachen, wofür es sich zu leben lohnt, oder auch Eltern, die vorleben, wie man selbst später sein oder wie man gerade nicht sein möchte.

Auch bei Jugendlichen ist die jeweilige Vorstellung von Glück und Sinn essenzieller Teil der Selbstbeschreibung und Identität, selbst wenn sich dies sprachlich und sym-bolisch in anderen Ausdrucksformen niederschlägt als bei Erwachsenen. Wie junge Menschen in verschiedenen Le-benswelten ihrem Leben Sinn verleihen, sollen folgende Beispiele verdeutlichen:

Adaptiv-pragmatische Jugendliche beschreiben sich selbst als „normal“. Der Sinn des Lebens ist für sie keine abstrakte übergeordnete Idee, sondern setzt sich aus vielen Einzelbausteinen zusammen, die als eine Art Sammlung von Wünschenswertem gelesen werden kann. Die Einzel-komponenten sind klar umrissen (Freunde, Zusammen-halt, Familie) und kreisen um Liebe und Vertrauen. In dieser Lebenswelt geht es um Harmonie aus privatem – ehelichen und familialen – Glück, aber auch berufl ichen

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Abb. 16.1 „Das gibt meinem Leben Sinn“ – Adaptiv-pragmatische Jugendliche . © SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH

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Abb. 16.1 Fortsetzung

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Erfolg („etwas aus seinem Leben machen“), womit nicht unbedingt eine Karriere, sondern ein festes Auskommen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gemeint ist. Das Gefühl, in einer modernen Gesellschaft angekommen zu sein, ist Quelle alltäglichen Glücks – auch verbunden mit einer Distanzierung von Weltveränderungsansprü-chen oder Exzentrik. Man hält deshalb auch Abstand zu jugendlichen Szenen, subkulturellen Orten und Protestbe-wegungen. Eine kirchlich basierte Religiosität hat durch-aus eine gewisse Bedeutung, allerdings eher als Ort des ge-meinschaftlichen, durch Eltern wie Gleichaltrige gestützten Dazugehörens. Familienfeste, Kinder bekommen, ins eige-ne Haus einziehen sind typische Anlässe außeralltäglicher Glückserfahrungen.

Bei Jugendlichen der prekären Lebenswelt zeigt das aus-gewählte Bild auf den ersten Blick deutliche Ähnlichkei-ten zum ersten Beispiel auf: Auch hier stehen Partnerschaft und Familie im Vordergrund. Während die Lebensziele bei adaptiv-pragmatischen Jugendlichen jedoch als Auf-listung von Selbstverständlichkeiten präsentiert werden, ist der Ausdruck hier deutlich existenzieller. Der Wunsch, eine Familie zu haben, sie versorgen zu können, ist nicht Teil eines harmonischen Gesamtmodells, sondern lebens-wichtiger Anker, der ein wenig Stabilität in die ansonsten weitgehend als unbeständig und unsicher erlebten Lebens-umstände bringt. Für diese Jugendlichen ist schon jetzt das Leben zur Überlebensfrage geworden, und der Traum vom besonderen Leben bleibt angesichts zunehmender Verelen-dungstendenzen ein Traum, obwohl sie alles daransetzen, es einmal besser zu haben als ihre Eltern. Darin besteht ihr Lebenssinn . Sie wissen, wo sie auf der gesellschaftli-

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chen Stufenleiter rangieren, und haben ein entsprechendes „Underdog-Bewusstsein“. Im Durchhaltevermögen und im Knüpfen von Solidaritätsnetzwerken trotz massiver Ex-klusionserfahrungen liegt für sie auch eine wichtige Quelle des Erfolgs . Einen sicheren Job in Aussicht zu haben, wäre nicht nur Erfolg , sondern auch Glück für diese Jugendli-chen. Außeralltägliches Glück stellt sich freilich schon dann ein, wenn man sich einmal nicht im Stich gelassen und von anderen ernst genommen erlebt. Soziale Anerkennung in der Familie, im Beruf, seitens der Kollegen, der Mitschüler und Gleichaltrigen, aber auch der gesellschaftlichen Auto-ritäten könnten alltägliche Quellen des Glücks sein, aber diese fallen für diese Jugendlichen häufi g aus.

Die sozialökologisch orientierten Jugendlichen lehnen mit ihrer für dieses Milieu typischen Weltveränderungs-

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Abb. 16.2 „Das gibt meinem Leben Sinn“ – Prekäre Jugendliche . © SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH

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logik den affi rmativen Habitus der bürgerlich orientierten Jugendlichen ab. Sinn ist für sie nicht in faktisch Erreich-tem bzw. angestrebten Einzelzielen fassbar, vielmehr ist die Sinnsuche selbst der Sinn des Lebens. Basis dafür ist Off enheit und die Freiheit, den eigenen Ideen überhaupt nachgehen zu können. Sinnstiftend ist für sie, sich gemein-schaftlich zu engagieren, um einen Beitrag dafür zu leisten, dass nicht nur das eigene Leben, sondern dass Miteinander-leben insgesamt gelingt. Lokales Denken steht hier immer im Horizont des Globalen: Diese Jugendlichen sehen ihre persönlichen Wünsche und Ziele vor dem Hintergrund übergeordneter Herausforderungen und Missstände, die

Abb. 16.3 „Das gibt meinem Leben Sinn“ – Sozialökologische Ju-gendliche . © SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH

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es zu erkennen und zu verbessern gilt. Aus dieser Weltver-änderungslogik sind auch die Erfolgskriterien abgeleitet, nicht aus dem berufl ichen Erfolg und einem hohem Ein-kommen. Und das Glück? Außeralltägliches Glück liegt weniger im Lob der Autoritäten, sondern darin, dass man es verstanden hat, sie zu irritieren, ins Refl ektieren, wenn nicht ins Wanken zu bringen. Im Alltag ist eine wichtige Glücksquelle, sich als Teil eines (sozialen, politischen) Pro-jekts zu fühlen und dadurch – idealerweise weltweit – ver-netzt zu sein.

Auch in der Lebenswelt der expeditiven Jugendlichen ist der Weg das Ziel, und damit wesentliches Moment des Er-lebens von Sinn. Stärker als bei den sozialökologischen Ju-gendlichen spielt hier jedoch der Aspekt der Individualität eine herausragende Rolle. Sinn des Lebens ist das Auspro-bieren, das Überrascht-Werden oder auch das Enttäuscht-Werden, das einen wiederum zu neuen Wegen führt. Diese Jugendlichen zeigen viel Lust und Mut, sich immer neuen unstrukturierten Situationen auszusetzen. Flexibilität und Mobilität, die Bereitschaft, immer wieder Kurswechsel in den eigenen Lebensweg zu integrieren, sind für sie keine Bedrohung, sondern Chance. Für sie liegt eine wichtige Quelle von Erfolg gerade darin, soziale Abenteuer bestehen zu können. Am Lebensende will man das Wesentliche, das Eigentliche, intensiv erfahren und gestaltet haben, im Be-wusstsein, sich nicht mit Oberfl ächlichem und dem bloßen Schein begnügt und sich einem von Fassaden umstellten, bürokratisch vorgespurten Mainstream überlassen zu ha-ben. Das ist der Lebenssinn dieser Jugendlichen, nicht die Tradition, nicht die Familie, nicht die Karriere, auch nicht die Weltverbesserung: die kreative Welterkundung. Auf

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Abb. 16.4 „Das gibt meinem Leben Sinn“ – Expeditive Jugend-liche. © SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH

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Abb. 16.5 Zukunftsperspektiven in den jugendlichen Lebenswel-ten © SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH

traditionell

modern

postmodern

Normative Grundorientierung

Bild

un

g

nied

rigm

ittel

hoch

Sicherheit & Orientierung Haben & Zeigen Sein & Verändern Machen & Erleben Grenzen überwinden & Sampeln

IKonservativ-Bürgerliche

IISozialökologische

IIIExpeditive

IVAdaptiv-

Pragmatische

VMaterialistische

Hedonisten

VIExperimentalistische

Hedonisten

PrekäreVII

© SINUS

Quelle: SINUS Markt- und Sozialforschung 2011

II Nachdenklich-optimistisch• Suche nach sinnstiftendem und spaßbrin- gendem Beruf • Sorge, nicht die richtige Berufung zu finden• Leben in geordneten und sicheren Ver- hältnissen, abseits des Spießbürgerlichen • Zukunftswunsch: viele fremde Länder sehen und gesund bleiben

I Skeptisch• Suche nach Beständigkeit• Überfordert von der Wucht soziokultu- reller Veränderungsprozesse• So wenig wie möglich dem Zufall überlassen• Zukunftswunsch: anständiges Leben ohne Not in harmonischen familiären Verhältnissen

III Selbstbewusst-optimistisch• Wunsch nach kreativer Selbstverwirklichung – privat wie beruflich• Ausgeprägter Karrierewunsch• Eigene Originalität, Eigeninitiative und Unkonventionalität als Wettbewerbsvorteil• Zukunftswunsch: lieber früher als später auf eigenen Beinen stehen

IV Abgeklärt-optimistisch• Sicherheit vor Selbstverwirklichung• Vereinbarkeit von Familie und Beruf als große Herausforderung• Schmieden detaillierter Zukunftspläne• Zukunftswunsch: romantische Beziehung, schönes Zuhause und eigene Kinder

V „Zwangsoptimistisch“ bis sorgenvoll• Schnell „eigenes Geld verdienen“• Aufstiegsorientiert, aber Angst vor Arbeitslosigkeit• Zukunftswunsch: glücklich werden mit Beruf, Familie und schönem Zuhause

VI Unbekümmert-optimistisch• Zukunft noch in weiter Ferne• Abgeschreckt durch Ernsthaftigkeit und Leistungsorientierung der Erwachsenenwelt • Planen eher kurzfristig und episodisch• Zukunftswunsch: Freiheit, Unabhängigkeit, Spaß und kreative Entfaltungsmöglichkeiten

VII Sorgenvoll-pessimistisch• Fehlendes Orientierungswissen• Entfremdung von Leistungs- und Wissensgesellschaft• Sorge über Ausbildungsperspektive• Zukunftswunsch: Familiengründung, mit der Hoffnung, ihr Besseres bieten zu können als man selbst hat

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dem sinnlichen Weg dorthin, in der sinnlichen Suchbewe-gung, macht man kleine Entdeckungen, hat mehr oder we-niger exotische Grenzerlebnisse, macht kleine und große außeralltägliche Glückserfahrungen. Zu Jugendgruppen, Vereinen und Verbänden mit hierarchischer Über- und Unterordnung und bürokratischen Strukturen hält man Distanz, insofern auch zu Kirchengemeinden und zur Kir-che, zumal man dort auch eine „Spießerästhetik“ (Eiche rustikal/Ikea) vermutet, die dem eigenen Kreationssinn widerspricht.

Wie die Beispiele zeigen, ist die Suche nach Sinn, Glück und Erfolg in den verschiedenen Lebenswelten mit sehr unterschiedlichen Arten von „Reiseplanung“ verbunden: Manche möchten vorbereitet sein, andere möchten sich überraschen lassen. Die Art und Weise der jeweils gewähl-ten „Ausrichtung und Zuwendung von Wahrnehmung und Interesse“ spiegelt sich schließlich auch in den unterschied-lichen Zukunftskonzeptionen der Jugendlichen wider, und damit in der grundlegenden Einschätzung dessen, wie die persönlich angestrebten Lebensziele realisiert werden kön-nen.

Literatur

Döbert R (1978) Sinnstiftung ohne Sinnsystem? Die Verschiebung des Refl exionsniveaus im Übergang von der Früh- zur Spät-adoleszenz und einige Mechanismen, die vor möglichen Folgen schützen. In: Fischer W, Marhold W (Hrsg) Religionssoziologie als Wissenssoziologie. Kohlhammer, Stuttgart, S 52-72

Ebertz MN (2003) Das ganz gewöhnliche Glück. In: Das Bauge-rüst 55: 18-23

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Ebertz MN (2010) Der letzte Sinn – Heilsarbeit im eschatologi-schen Büro. In: Ebertz MN, Schützeichel R (Hrsg) Sinnstiftung als Beruf. VS, Wiesbaden, S 13-31

Ebertz MN, Lob-Hüdepohl A (2011) Sinn. In: Herrmann V, Ho-burg R, Evers R, Zitt R (Hrsg) Th eologie und Soziale Wirklich-keit. Grundbegriff e. Kohlhammer, Stuttgart, S 239-246

Köcher R (2009) Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 2003-2009. De Gruyter, Berlin/New York

NN (2011) Glücksspiele: Der Staat verschaff t sich Vorteile. iw-dienst 37-48: 8

Pankoke E (1994) Zwischen „Enthusiasmus“ und „Dilettantis-mus“. Gesellschaftlicher Wandel „freien“ Engagements. In: Vogt L, Zingerle A (Hrsg) Ehre. Archaische Momente in der Moder-ne. Suhrkamp, Frankfurt/Main, S 151-171

Schumacher G, Kayser S (2007) Wie erleben Kinder Glück? Ergeb-nisse einer tiefenpsychologischen Studie des ZDF. ZDF Medien-forschung ,Mainz. http://www.unternehmen.zdf.de/fi leadmin/fi les/Download_Dokumente/DD_Das_ZDF/Veranstaltungs-dokumente/Qualitative_Studie_Schumacher_Kayser.pdf (abge-rufen im Dezember 2011)

Wippermann C, Calmbach M (2008) Wie ticken Jugendliche? Si-nus-Milieustudie U27. Verlag Haus Altenberg, Düsseldorf

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Prof. Dr. Michael N. Ebertz

Ohne Erfolg kann man leben, ohne Glück auch, aber nicht ohne Sinn. Aus der Perspektive der Soziologie, die ohne den Sinnbegriff gar nicht auskommt, ist „Sinn“ nicht wegzuden-kender Bestandteil eines jeden „Handelns“ und „sozialen“ Handelns. Verhalten ist dagegen „sinnlos“. Die Soziologie hat Michael N. Ebertz schon in seiner Schulzeit fasziniert, obwohl sie nicht als eigenes Schulfach gelehrt wird. Sein soziologischer Weg führte ihn von Frankfurt, über Essen und Konstanz, nach Freiburg, wo er an der Katholischen Hochschule für Sozial- und Gesundheitswesen Professor ist. Er interessiert sich insbesondere für die Religion als Quelle der Sinnstiftung und hat deshalb auch noch in ka-tholischer Th eologie promoviert. Wie ist das Christentum

Fotografi e © Tarek Musleh

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in der Jesusbewegung entstanden, wie hat es sich entwickelt und was ist sein Schicksal in der modernen Gegenwarts-gesellschaft – das sind einige der Fragen, die den 58-Jähri-gen interessieren. Als Vater von drei Kindern interessiert er sich auch dafür, ob die Sinnstiftung der Jugendlichen noch eine christliche sein kann und sein wird. Ebertz gehört zum Wissenschaftlichen Beirat des Sinus-Instituts.

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