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Juhász Tamás
Calvin über die christliche Freiheit
Nach dem Zusammenbruch des 56-er ungarischen Freiheitskampfes
gab es massive Repressalien auch in Rumänien. Hunderte von
Sympathisanten der ungarischen Revolution wurden zu schweren
Gefängnisstrafen verurteilt. Ein damaliger zu lebenslänglicher Haft
Verurteilter erzählte mir über die Schikanen und die seelische Tortur des
kommunistischen Machtapparats. Die stundenlangen nächtlichen Verhöre, die
Bedrohung der Familienmitglieder und Freunde, die menschenunwürdige
Behandlung dauerte fast ein ganzes Jahr, bevor das gerichtliche Urteil
verkündet wurde. Dann wurde er aus dem Untersuchungshaft in eine
Strafanstalt geführt und endgültig eingekerkert. „Als man uns in unsere Zelle
führte – sagte er mit einem vielsagenden Lächeln – konnten wir aufatmen:
dann waren wir endlich frei!“
Dieses Bild kommt mir jedesmal in Erinnerung, wenn die uralte-
moderne Frage der menschlichen Freiheit gestellt wird.
1. Was ist Freiheit? Die europäische Freiheitsidee
Die Grundidee der Freiheit im europäischen Denken ist – seit
Aristoteles – die Entscheidungsfreiheit (lateinisch: liberum arbitrium,
griechisch: proairesis). Sie ist eine Spontaneität oder Möglichkeit die jedem
Menschen zusteht, wenn er zwei Konflikte seines Lebens zu überwinden
sucht. Der erste besteht zwischen den Mängeln/Nöten seiner physischen
Existenz und seinem Drang zur Erhaltung dieser Existenz. Der zweite
Konflikt besteht zwischen materieller Existenz und wahrem Leben (Existenz
und Essenz) des Menschen. Der Mensch entscheidet über die besten Mittel,
die zu seinem Zweck dienen und auch, wie er diese zweckmässig gebrauchen
kann.
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Im Kant'schen ethischen Idealismus ist diese Freiheit als Unfreiheit
entlarvt. Je nach Art der vorausgesetzten Ziele steht nämlich die sogenannte
„freie Entscheidung“ im Dienste entweder des Hedonismus oder des
Utilismus. Unsere natürliche Vernunft vermag überhaupt keine Konzeption
der Freiheit zu bilden, weil ja alles in der Welt nach den Gesetzen der Natur
geschieht. Echte Freiheit ist nur durch das moralische Gesetz möglich und
dieses Gesetz – und so auch die Freiheit – wohnt im Selbstbewusstsein. Wie
das (dem autonomen Ich innewohnende) moralische Gesetz („du sollst“)
allgemein ist, ist auch die Freiheit („du kannst“) nicht mehr kausal oder
teleologisch bedingt: die so gewonnene Freiheit ist unbedingt (absolut).2
Diese absolute Freiheit, die in einem – dem autonomen Ich
innewohnenden, und das heisst: – allgemeinen moralischen Gesetz seine
Begründung findet, ist eine Illusion, genauso wie die technische Freiheit eine
solche ist. Das ist lange vor der Aufklärung durch Luther (Von der Freiheit
eines Christenmenschen, De servo arbitrio) und Calvin (Institutio III,19)
gründlich bewiesen worden.
Es ist bekannt, dass ungarische Kant-Schüler in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts die Werke von Kant propagiert, seine Ideen rezipiert und
kritisch erwidert haben3. Später hat sich der Neukantianismus besonders in
Siebenbürgen (Großenyed und Klausenburg) aufgeblüht. Aber
merkwürdigerweise hat das Problem der moralischen Freihei weder den
Theologen Bartók György d. Ä., noch den Philosophen Böhm Károly, als die
zwei bekanntesten Neukantianer wenig angesprochen, obwohl beide im
allgemeinen Kant's Gedankengut übernommen haben, und beide versucht
haben dieses Gedankengut weiterzuentwickeln.
Dass diese liberalen Denker das Reizwort „Freiheit“ in der Kant'schen
Auslegung weniger interessant fanden, hat eine historische Erklärung. In der
Geschichte Transsylvaniens gewann „Freiheit“ eine spezifisch politische
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Bedeutung, die zur Bildung der konfessionellen Toleranz im 16. Jahrhundert
geführt hat. In dieser politischen Deutung der Freiheit sah man gleichzeitig
die Verifizierung der Lehre der Reformatoren über die christliche Freiheit.
2. Freiheit und Toleranz in Transsylvanien4
Wie die historischen Belege zeigen, erfolgte die ungarische Landnahme
in Transsylvanien im 10.–11. Jahrhundert unter der Árpád-Dynastie nicht
durch militärische Aktionen. Die ungarische Herrschaft erstreckte sich auf
dieses Land dadurch, dass die Könige Verträge und Bündnisse schlossen
entweder mit den aus der europäischen Völkerwanderung zurückgebliebenen
Volksscharen, oder mit denen, die sie zur Bevölkerung der unbewohnten
Gebiete ins Land holten. Dieses staatstragende Prinzip, wonach der eine Staat
verschiedene Volksgruppen vertragsgemäss an sich bindet, finden wir in dem
frühesten „Fürstenspiegel“ der ungarischen Geschichte. Danach hätte König
Stephan I. (1000–1038) seinen Nachfolger ermahnt: „Die Fremde bringen
andere Sprachen, verschiedene Bräuche und andere Waffen in dein Land. All
dieses ziert den königlichen Hof. Ein Königreich, wo nur eine Sprache und
eine Sitte herrschen, ist schwach und gebrechlich. Darum halte die Fremden
in Ehren, die sich in deinem Lande niederlassen, damit sie lieber bei dir
wohnen als anderswo“.
Nach diesem Prinzip lebte jede einzelne Volksgruppe in ihrem eigenen,
ihr vertragsgemäss gesicherten rechtlichen Rahmen. Diese rechtlich
festgelegten Rahmen nannte man entweder „libertates“, oder „privilegia“.
Diese Freiheitsrechte und eigene Rechte gewährten den verschiedenen
Menschengruppen einen staatsrechtlich garantierten eigenen Lebensraum,
aber zugleich auch ihre Eingliederung in das Ganze des Staates. Aus dem 14.
Jahrhundert sind Verträge erhalten geblieben, wonach Szekler, Sachsen,
Walachen (Rumänen) und Zigeuner solche libertates und privilegia besassen.
Die libertas Transylvana (oder privilegium medievale) war also das
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System von Rechten und Pflichten, wonach sich die verschiedenen kleinen
Völker des Landes – neben dem Ungarvolk – sich eingerichtet haben und ihr
kollektives Leben lebten. Dabei hatten sie meistens ganz verschiedene
Gesellschaftsstrukturen, je nach der unterschiedlichen Sprache, Kultur und
Religion. Dieser Pluralismus widerspiegelte sich auch auf politischer Ebene.
Die führende Schicht einer Volksgruppe konnte in die politische Vertretung
des ganzen Landes kommen, das heisst den Rang eines „Standes“ (natio)
erhalten. Die Stände bildeten den Rat um den Statthalter des Königs, bzw.
später, zur Zeit des Fürstentums, den Landtag.
Dieser gesellschaftliche und politische Pluralismus war also in
Transsylvanien in der Zeit, als die Reformation zwischen 1542–1568 zum
Durchbruch kam, eine längst geübte Realität.
Die Reformation aus dem Westen und die Türken aus dem Osten
kamen zur gleichen Zeit nach Ungarn. Das Osmanische Reich hat sich entlang
der Donau nach Norden bis Visegrád/Esztergom ausgedehnt. Die türkische
Donauprovinz teilte das Ungarische Königreich in ein Westungarn (mit
Habsburgischer Abhängigkeit) und in ein Ostungarn (mit türkischer
Abhängigkeit). 1540 wurde der ungarische König der sein halbes Königreich
verlor zum Fürsten von Transsylvanien gewählt. So entstand das Fürstentum
Transsylvanien, ein autonomes Land, das rechtlich bis 1848 (praktisch bis
1867) bestand.
Als die Reformation in Transsylvanien seit den 20-er Jahren allmählich
durchsetzte („Das Wort Gottes begann in den 20-er Jahren auch in
Transsylvanien zu donnern und zu blitzen“) immer öfter mussten sich die
transsylvanischen Landtage mit dem Problem der „religio“ beschäftigen. Und
da brachen die Erinnerungen auf die libertas Transylvana auf. In einem Land,
das gegen Türken und Habsburgen sich gleichzeitig zu wehren hatte, konnte
der Frieden und die Einheit nur in der Anerkennung des bestehenden und des
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entstehenden Pluralismus auf allen Ebenen gewahrt bleiben. Wo es eine
Selbstverständlichkeit war, dass tres nationes (Stände) in einem Land
aufgrund der alten „privilegia“ und „libertates“ indirekt regieren können, war
einfacher zu verstehen, dass auch das geistliche Regiment in zwei oder drei, ja
sogar in vier confessiones geübt werden kann. Das geteilte Ungarland befand
sich in der Zange zweier „heidnischen Mächte“ – so nannte später ein
führender (katholischer!) Politiker des Landes die zwei „Erzfeinde“, den
Habsburg-Hof und die Porta von Konstantinopel. Aber als in dieser Situation
die transsylvanischen Landtage für die konfessionelle Toleranz votierten, war
das nicht einfach kluge politische Entscheidung, sondern Geltenlassen der
Tradition der Freiheit.
Zuerst erlangte die lutherische Konfession die Freiheit, einige Jahre
später die helvetische Richtung und endlich 1568 auch die Unitarier
(Antitrinitarier). Die Väter unserer Kirchen und die weisen Politiker des
damaligen Transsylvaniens waren aber nicht so „kongenial“, dass sie eine
spätere europäische Entwicklung, den Toleranzgedanken des 18. Jahrhunderts
vorweggenommen hätten. Nein, es ging um etwas anderes. In Wahrheit war
die siebenbürgische Religionsfreiheit weniger als die Toleranz der
Aufklärung, aber gleichzeitig, in anderer Hinsicht war sie mehr als jene
spätere Toleranz.
Die transsylvanische Religionsfreiheit war weniger als die religiöse
Toleranz der Aufklärung. Die französische oder die preussische Aufklärung
entdeckte nämlich die Autonomie des menschlichen Geistes und die
individuelle Freiheit. In dieser seiner autonomen Freiheit hat der Mensch
selbst das Vermögen, in Sachen des Gewissens zu entscheiden, sich einen
religiösen Glauben zu bekleiden, oder – nicht zu bekleiden. Freiheit und
Religion sind Privatsache. Dieser Toleranzgedanke gab deshalb später freie
Bahn dem Skepsis des Agnostizismus. Nein, die christlichen Gemeinden und
Volksgemeinschaften Transsylvaniens dachten im 16. Jahrhundert nicht an
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solche individuelle Freiheit. Wohl kannten sie aber die althergebrachte
libertas, wonach es ihnen zustand, ihre Pfarrer und Prediger selber zu wählen.
Und diese kollektive Wahlfreiheit war es, was sie zunächst in den
Glaubenskämpfen verteidigen wollten und auch verteidigt haben. Und eben
das haben die Landtage des 16. Jahrhundert wiederholt ausgesagt. Nicht die
Konfession, oder die Glaubensrichtung hat man dort freigegeben, sondern den
Städten und Landteilen die libertas zuerkannt, in Sachen der Religion selber
zu entscheiden. „Die Prediger haben an allen Orten das Evangelium zu
verkünden, jeder nach seiner eigenen Überzeugung und die Gemeinde soll ihn
wählen oder nicht, aber der Gemeinde einen Prediger aufzuzwingen ist
niemandem erlaubt. Denn Glaube ist ja eine Gabe Gottes.“ (a prédikátorok
minden helyen hirdessék az evangéliumot, kiki az ö értelme szerint, és a
község, ha venni akarja, jó, ha nem, senki rá ne kényszerítse, az ö lelke azon
meg nem nyugodván, de tarthasson olyan prédikátort, akinek tanítása őneki
tetszik ... mert a hit Isten ajándéka. 5
Und diese transsylvanische Religionsfreiheit war zur gleichen Zeit
mehr als die religiöse Toleranz der Aufklärung. Toleranz ist ein ethisch
neutrales Verhalten, also eine nicht besonders christliche Tat. Denn christlich
ist nur das, was unterstützt und fördert. Die kollektive Religionsfreiheit in
Transsylvanien hat die Menschen mit ihrem Glauben nicht allein gelassen,
sondern sie in die schützende Gemeinschaft aufgenommen.
3. Calvin
Es ist wiederum dieser Gemeinschaftscharakter der libertas
Transylvana, der noch einen Plus gegenüber der Freiheitsidee der Aufklärung
bedeutet. Die der ganzen Gemeinde (politische Gemeinde und
Kirchengemeinde sind identisch!) zustehende Glaubensfreiheit hat unsere
Volksgemeinschaften davor bewahrt, auf ihre christliche Freiheit später
zugunsten eines überordneten Staates oder zugunsten einer herrschenden
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(„demokratischen“) Mehrheit zu verzichten.
Man hat nämlich im Zuge der (französischen) Aufklärung versucht,
Calvins Lehre von der christlichen Freiheit in diese Richtung zu missdeuten.
Er hätte nur auf die Freiheit in Christus konzentriert, und die politische
Verantwortung der Christen einseitig auf eine coram-Deo-Verantwortung
abgeschwächt. Die gesellschaftliche und staatliche Öffentlichkeit verlange
eine coram-publico-Verantwortung und diese Öffentlichkeit, die politische
Macht überhaupt, gehöre zu den Adiaphora.5
Nun ist tatsächlich bei Calvin (Inst III,19) „das dritte Stück der
chritlichen Freiheit“, die Freiheit in den Mitteldingen (Adiaphora). In diesen
äusserliche Dingen sind wir nicht gebunden, sondern „dürfen sie bald
brauchen, bald beiseite lassen“. Und weil die Staatsform oder Regierungsform
als „Menschensatzung“ ein adiaphoron ist, dürfe der Christ – meinen die
späten Calvin-Kritiker – einen Teil seiner öffentlichen Aufgaben der
politischen Öffentlichkeit (publicité), d.h. dem Staat überlassen. Damit drohte
aber die Gefahr, dass dem Kaiser mehr gegeben wird als das, was ihm gehört,
und zwar, dass der Staat auch das nimmt, was Gott gehört (s. Matth 22,15–
22). Und das stand Calvin in der Institutio III,19 ganz gewiss fern ! Er sagt ja
ausdrücklich, dass es wo um Gottes Gebot geht, gelte keine Rücksicht auf die
äusserlichen Dinge.
Dieser Gefahr konnten unsere Väter entgehen, indem sie an der libertas
Transylvana – und damit an der libertas Christiana! – festhielten. Und darin
war der Einfluss des Genfer Reformators von grosser Bedeutung. Ein
Kirchenhistoriker des 20. Jahrhunderts meinte (mit etwas konfessionellem
Stolz), an der entscheidenden Synode von Enyed, wo 1564 die helvetische
Glaubensrichtung Gleichberechtigung bekam, „sei Calvin dabei gewesen“.
2 . I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kants Werke Bd. IV, Cassirer, Berlin 1922, 315-318. Vgl. auch Kritik der reinen Vernunft, Bd.II, 472.
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3 . Eine Zusammenfassung über die erste Periode der ungarischen Kant-Literatur bietet Pukánszky, Béla: Kant első magyar követői és ellenfelei (Die ersten Ungarischen Kant-Schüler und Kant-Gegner), Protestáns Szemle 1924, 294-303. 4 . Der folgende geschichtliche Überblick beruht vor allem auf zwei Arbeiten: Ludwig Binder, Grundlagen und Formen der Toleranz in Siebenbürgen bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, Böhlau, Köln-Wien 1976; sowie Paul Philippi, Staatliche Einheit und gesellschaftliche Pluralität in der Religionsgesetzgebung des Fürstentums Siebenbürgen = Heidelberger Jahrbücher 1974, 50-65.
5 Text des Tordaer Landtagsbeschlusses (1568): Urunk Ő felsége, amint az ennek előtte való gyűlésekben országával együtt végezett a religió dolgáról, azonképpen a mostanin is ezt megerősíti, hogy ti. a prédikátorok minden helyen hirdessék az evangéliumot, kiki az ö értelme szerint, és a község, ha venni akarja, jó, ha nem, senki rá ne kényszerítse, az ö lelke azon meg nem nyugodván, de tarthasson olyan prédikátort, akinek tanítása őneki tetszik. Ezért pedig senki a superintendensek közül, se mások a prédikátorokat meg ne bánthassák, a religióért senki se szidalmaztassék, az előbbi konstituciók szerint. Nem engedtetik meg senkinek, hogy a tanításért bárkit is fogsággal vagy helyétől való megfosztással fenyegessen, mert a hit Isten ajándéka, az hallásból lesz, mely hallás Isten igéje által van. ENGLISCH: Our Royal Majesty, as he had decided at the previous debates within his country about matters of religion, confirms as well at the present Diet that every orator shall preach the gospel by his own (personal) conception, at any place if that community is willing to accept him, or if it isn't, no one should force him just because their soul is not satisfied with him; but a community can keep such a preacher whose teachings are delightful. And no one, neither superintendents nor others, may hurt a preacher by this or by the previous constitutions; no one may be blamed because of their religion. No one is allowed to threaten others with prison or divest anyone of their office because of their profession: because faith is God's gift born from hearing and this hearing is conceived by the word of God.
5 . Gottfried W. Locher, Die evangelische Stellung der Reformatoren zum öffentlichen Leben, Zürich 1947.