kant und die berliner aufklärung (akten des ix. internationalen kant-kongresses. bd. i:...

8
Kann man Kants transzendentale Logik ,besondere Logik' nennen? María Jesús Vázquez Lobeiras, Santiago de Compostela 1. Zur Fragestellung und Methode Die Auffassung der transzendentalen Logik' als einer .besonderen Logik' und zwar als der spezifischen Logik der Metaphysik ist so alt wie die Kritik der reinen Vernunft selbst. Sie wurde in den Handbüchern der ersten Kantianer in Umlauf gesetzt 1 und ist bis heute die geläufigste Antwort auf die ebenso alte Frage nach dem Verhältnis von formaler und transzendentaler Logik geblie- ben. 2 Mit besonderem Nachdruck kam in den siebzigen Jahren der italienische Forscher Giorgio Tonelli auf diese Auffassung zurück, 3 um jener anderen entgegenzuwirken, die sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts durchsetzte und besonders in der angelsächsischen Welt weite Verbreitung fand, nach der die Kritik der reinen Vernunft als die erkenntnistheoretische Begründung der newtonischen Naturwissenschaft zu verstehen sei. Für Tonelli gilt im Gegen- teil: „What Kant intended to found in the Critique was metaphysics and metaphysics only." 4 1 Vgl. Ludwig Heinrich Jakob, Grundriß der allgemeinen Logik und kritische Anfangsgründe der allgemeinen Metaphysik, Halle ·Ί800 (Ί788), Nachdruck: Brüssel 1981 (Aetas Kantiana, Bd. 130), § 599, S. 230-231; s. a. George Samuel Albert Mellin, Enzyklopädisches Wörter- buch der kritischen Philosophie oder Versuch einer fasslichen und vollständigen Erklärung der in Kants kritischen und dogmatischen Schriften enthaltenen Begriffe und Sätze, 6 Bde., Züllichau u. Leipzig bzw. Jena 1 1797-1804, Nachdruck: Aalen 1970-1971, vgl. Bd. 4, S. 19; Matternus Reuss, Vorlesungen über die theoretische und praktische Philosophie, Erster Theil, Würzburg 1 1797, Nachdruck: Brüssel ( Aetas Kantiana, Bd. 213), S. 108. Auch Ernst Platner (1744-1818) in der umgearbeiteten Ausgabe seiner Philosophischen Aphorismen nebst eini- gen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, Erster Theil, Leipzig 2 1793, (Ί784) Nach- druck: Brüssel 1970 (Aetas Kantiana, Bd. 203), § 22, S. 27 u. § 24, S. 29, kennzeichnet die transzendentale Logik neben der formalen als eine .besondere' und als eine .höhere Logik'. 2 Vgl. Magdalena Aebi, Kants Begründung der „Deutschen Philosophie". Kants transzenden- tale Logik. Kritik ihrer Begründung, Basel 1947, S. 108; Giorgio Tonelli, „Kant's Critique of Pure Reason Within the Tradition of Modern Logic", in: Akten des 4. Internationalen Kant- Kongresses, Mainz, 6.-10. April 1974, Bd. 3: Vorträge, hrsg. v. Gerhard Funke, Berlin - New York 1975, S. 188; ders., Kant's Critique of Pure Reason Within the Tradition of Modern Logic. A Commentary on its History, hrsg. v. David H. Chandler, Hildesheim - Zürich - New York 1994 (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, Bd. 37), S. 80ff. Till- mann Pinde^ „Kants Begriff der Logik", in: Archiv für Geschichte der Philosophie, 61 (1979), S. 319; Michael Wolff, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Mit einem Essay über Freges ,Begriffsschrift', Frankfurt am Main 1995, S. 210. 3 Sowohl im oben genannten Aufsatz wie im dem Buch mit demselben Titel, vgl. Kant's Critique of Pure Reason, a. a. O. S. 4. 4 Ebd. S. 2. Brought to you by | National Dong Hwa University Authenticated | 134.208.103.160 Download Date | 3/27/14 9:21 AM

Upload: ralph

Post on 23-Dec-2016

214 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Kant und die Berliner Aufklärung (Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. I: Hauptvorträge. Bd. II: Sektionen I-V. Bd. III: Sektionen VI-X: Bd. IV: Sektionen XI-XIV. Bd

Kann man Kants transzendentale Logik ,besondere Logik' nennen?

M a r í a Jesús V á z q u e z Lobeiras , Sant iago de C o m p o s t e l a

1. Zur Fragestellung und Methode

Die Auffassung der t r a n s z e n d e n t a l e n L o g i k ' als einer .besonderen L o g i k ' und z w a r als der spezifischen L o g i k der M e t a p h y s i k ist so alt wie die Kritik der reinen Vernunft selbst. Sie w u r d e in den H a n d b ü c h e r n der ersten K a n t i a n e r in U m l a u f gesetzt 1 und ist bis heute die geläufigste A n t w o r t a u f die ebenso alte F r a g e n a c h d e m Verhältnis v o n formaler und t ranszendentaler L o g i k geblie-ben. 2 M i t b e s o n d e r e m N a c h d r u c k k a m in den siebzigen J a h r e n der italienische F o r s c h e r Giorgio Tonelli auf diese Auffassung zurück , 3 u m jener anderen entgegenzuwirken, die sich zu A n f a n g des 2 0 . J a h r h u n d e r t s durchsetzte und besonders in der angelsächsischen Welt weite Verbreitung fand, n a c h der die Kritik der reinen Vernunft als die erkenntnistheoretische Begründung der newtonischen N a t u r w i s s e n s c h a f t zu verstehen sei. F ü r Tonelli gilt im Gegen-teil: „ W h a t K a n t intended t o found in the Crit ique w a s metaphysics a n d metaphysics o n l y . " 4

1 Vgl. Ludwig Heinrich Jakob, Grundriß der allgemeinen Logik und kritische Anfangsgründe der allgemeinen Metaphysik, Halle ·Ί800 (Ί788) , Nachdruck: Brüssel 1981 (Aetas Kantiana, Bd. 130), § 599, S. 230-231; s. a. George Samuel Albert Mellin, Enzyklopädisches Wörter-buch der kritischen Philosophie oder Versuch einer fasslichen und vollständigen Erklärung der in Kants kritischen und dogmatischen Schriften enthaltenen Begriffe und Sätze, 6 Bde., Züllichau u. Leipzig bzw. Jena 11797-1804, Nachdruck: Aalen 1970-1971, vgl. Bd. 4, S. 19; Matternus Reuss, Vorlesungen über die theoretische und praktische Philosophie, Erster Theil, Würzburg 11797, Nachdruck: Brüssel (Aetas Kantiana, Bd. 213), S. 108. Auch Ernst Platner (1744-1818) in der umgearbeiteten Ausgabe seiner Philosophischen Aphorismen nebst eini-gen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, Erster Theil, Leipzig 21793, ( Ί784) Nach-druck: Brüssel 1970 (Aetas Kantiana, Bd. 203), § 22, S. 27 u. § 24, S. 29, kennzeichnet die transzendentale Logik neben der formalen als eine .besondere' und als eine .höhere Logik'.

2 Vgl. Magdalena Aebi, Kants Begründung der „Deutschen Philosophie". Kants transzenden-tale Logik. Kritik ihrer Begründung, Basel 1947, S. 108; Giorgio Tonelli, „Kant's Critique of Pure Reason Within the Tradition of Modern Logic", in: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses, Mainz, 6.-10. April 1974, Bd. 3: Vorträge, hrsg. v. Gerhard Funke, Berlin - New York 1975, S. 188; ders., Kant's Critique of Pure Reason Within the Tradition of Modern Logic. A Commentary on its History, hrsg. v. David H. Chandler, Hildesheim - Zürich - New York 1994 (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, Bd. 37), S. 80ff. Till-mann Pinde^ „Kants Begriff der Logik", in: Archiv für Geschichte der Philosophie, 61 (1979), S. 319; Michael Wolff, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Mit einem Essay über Freges ,Begriffsschrift', Frankfurt am Main 1995, S. 210.

3 Sowohl im oben genannten Aufsatz wie im dem Buch mit demselben Titel, vgl. Kant's Critique of Pure Reason, a. a. O. S. 4.

4 Ebd. S. 2.

Brought to you by | National Dong Hwa UniversityAuthenticated | 134.208.103.160Download Date | 3/27/14 9:21 AM

Page 2: Kant und die Berliner Aufklärung (Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. I: Hauptvorträge. Bd. II: Sektionen I-V. Bd. III: Sektionen VI-X: Bd. IV: Sektionen XI-XIV. Bd

Kann man Kants transzendentale Logik ,besondere Logik' nennen? 107

Wenn man das ausgehende 20. Jahrhundert vom Standpunkt der Kant-forschung kennzeichnen möchte, wird man mit Recht sagen können, dass es vorwiegend um die Bedeutung des kantischen Nachlasses ging. Wilhelm Dilthey, Vorsitzender der Kantkomission um die Jahrhundertwende und Wegbereiter der Ausgabe Kants gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), gab dem Jahrhundert den Ton. Er hat die Bedeutung des Nachlasses mit Nachdruck hervorgehoben und lieferte auch die Planung für die Drucklegung der Schriften.5

Die Arbeit an der Akademie-Ausgabe, die an sich schon mit beachtlichen philologischen Schwierigkeiten verbunden war, sah sich ferner von den gravierendsten historischen Ereignissen des Jahrhunderts betroffen. Die Aka-demie· Ausgabe machte das Leiden der Deutschen und besonders der Berliner im 20. Jahrhundert mit.6 So unvollendet das 20. Jahrhundet im Rückblick erscheinen mag, hinterlässt es als Erbe ein neues Instrumentarium, das die bevorstehende Arbeit wesentlich erleichtern soll. Wir sind in den letzten Jahr-zehnten Zeuge des Sieges der EDV gewesen. Es ist dank der Informatik heute möglich - wenn nicht unumgänglich - , Kants handschriftlichen Nachlass und die Nachschriften seiner Vorlesungen für die Interpretation systematisch zur Hilfe zu ziehen.

Die Vorteile der Verwendung solcher Quellen sind deutlich: Man bekommt dadurch Einsicht in Kants philosophische Entwicklung, indem man sich schnell den ursprünglichen Zusammenhang der Termini vergegenwärtigen kann. Kuno Fischers alte Maxime, an die „Ursprünge und Keime"7 der kritischen Philo-sophie zu kommen, scheint sich inzwischen immer mehr als Devise der For-schung duchgesetzt zu haben. Man befindet sich, wenn man Vorlesungen und Reflexionen verwendet, in der Werkstatt des Denkers. Der alltägliche Kampf um die Formulierung neuer Probleme und Lösungen sowie die Bemühung um den systematischen Zusammenhang des Ganzen wird spürbar. So verführend diese Perspektive sein kann, man darf dabei nicht vergessen, dass die Akade-mie-Ausgabe in Fragen wie der Textzusammenstellung und der Datierung der Vorlesungen und Reflexionen nur ein unsicheres Fundament liefert.8 Wenn man die Reife der Ergebnisse als Maßstab verwendet, scheint die Kant-philologie als Hilfswissenschaft der Kantforschung im 20. Jahrhundert erst ihre Jugendjahre erlebt zu haben. Es bleibt in diesem Bereich für die kommen-den Generationen noch reichlich Arbeit.

5 Vgl. Werner Stark, Nachforschungen zu Briefen und Handschriften Immanuel Kants, Berlin 1993, S. 8ff.

6 Vgl. ebd., S. 189ff. 7 Vgl. Kuno Fischer, Clavis kantiana. Qua via Immanuel Kant philosophiae criticae elementa

invenerit, Jena 1858, S. 3. 8 Vgl. Norbert Hinske, „Die Kantausgabe der Preussischen Akademie der Wissenschaften und

ihre Probleme", in: Il Cannocchiale, Heft 3 (1990), S. 229-254 ; Prolegomena zu einer Ent-wicklung des kantischen Denkens. Erwiederung auf Lothar Kreimendahl, in: Von Christian Wolff bis Louis Lavelle. Geschichte der Philosophie und Metaphysik. Festschrift für Jean Ecole zum 75. Geburtstag, hrsg.v. Robert Theis u. Claude Weber; Hildesheim - Zürich - New York 1995, S. 102-121.

Brought to you by | National Dong Hwa UniversityAuthenticated | 134.208.103.160Download Date | 3/27/14 9:21 AM

Page 3: Kant und die Berliner Aufklärung (Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. I: Hauptvorträge. Bd. II: Sektionen I-V. Bd. III: Sektionen VI-X: Bd. IV: Sektionen XI-XIV. Bd

108 María Jesús Vázquez Lobeiras

Die Überlegungen um die hier gestellte Frage, ob die transzendentale Logik Kants als ,besondere Logik' bezeichnet werden kann, haben ihren Ausgans-punkt in der Kritik der reinen Vernunft. Die Texte, worauf eine solche Auf-fassung beruht, sind allerdings nicht so eindeutig, dass sie nicht erneut kritisch überprüft werden könnten. Um die Tragweite der Frage richtig einzuschätzen, braucht man nur folgende Tatsache in Erinnerung zu rufen: Kants Hauptwerk hat einen Umfang von etwa 856 Seiten, von denen fast 800 die Abhandlung der transzendentalen Logik ausmachen. Die Frage nach dem Charakter dieser Wissenschaft betrifft dementsprechend die Auffassung des Werkes als ganzes. Kants Nachlass wird hilfreich sein, um überhaupt den Sinn der Frage richtig erfassen zu können.

In der Einleitung zur transzendentalen Logik der Kritik der reinen Ver-nunft (A 50-64/B 74-88) liefert Kant eine Definition und Einteilung der Lo-gik, die den Anschein einer wohldurchdachten Systematik erweckt. Der Ver-dacht, dass das in Wirklichkeit nicht ganz so ist, entstand schon bei Adickes und Kemp Smith, die manche Unstimmigkeiten im Schema der Einteilungen der Logik festgestellt haben.9 Riccardo Pozzo, Patons ,Patch-Work Theory' folgend, hat sogar angenommen, dass die Seiten der Einleitung in die tran-szendentale Logik ursprünglich als Vorlesungsankündigung gedacht und ge-schrieben worden sind und nur nachträglich als Einleitung des Hauptteils der Kritik der reinen Vernunft dazwischengeschoben wurden.10

2. Allgemeine, besondere, transzendentale und formale Logik: Tradition und Interpretation

Will man die Auffassung der transzendentalen Logik als einer besonderen Logik für die Metaphysik anhand der genannten Seiten der Kritik der reinen Vernunft prüfen, stellt man schon als erstes fest, dass der Ausdruck,besondere Logik' dort nicht zu finden ist. Kant hat den Ausdruck in dieser Form gar nicht verwendet. Er spricht vielmehr von der „Logik des besondern Verstandes-gebrauchs" und unterscheidet sie von der „Logik des allgemeinen Verstandes-gebrauchs". Erstere sei die Propädeutik bzw. die Methodologie oder das Organon der einzelnen Wissenschaften, während letztere von den Regeln des Denkens überhaupt unter Abstraktion von den verschiedenen Gegenständen handele: „Die Logik kann nun wiederum in zwiefacher Absicht unternommen

' So vermisst Erich Adickes in der kantischen Einteilung einen Zwischenbegriff: die .gewöhn-liche Logik', die seiner Meinung nach den Gegenbegriff zur .transzendentalen Logik' ausma-chen würde. So würden die Bezeichnungen .besondere' und .allgemeine Logik' einer Unter-teilung des Begriffs der .gewöhnlichen Logik' entsprechen, vgl. Adickes' Schema in seiner Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1889, S. 100, Anm. 1. Norman Kemp Smith setzt sich mit dem Schema von Adickes auseinander und interpretiert die kantische Einteilung der Logik wiederum anders. Nach ihm gäbe es einen Oberbegriff .Logik', der in drei gleich-rangige Bezeichnungen unterteilt würde: .general', .special' und .transcendental', vgl. ders., A Commentary on Kants ,Critique of Pure Reason', London 21923 (Ί918) , Nachdruck: New York 1962, S. 169.

10 Vgl. Riccardo Pozzo, El giro kantiano, Madrid 1998, S. 22.

Brought to you by | National Dong Hwa UniversityAuthenticated | 134.208.103.160Download Date | 3/27/14 9:21 AM

Page 4: Kant und die Berliner Aufklärung (Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. I: Hauptvorträge. Bd. II: Sektionen I-V. Bd. III: Sektionen VI-X: Bd. IV: Sektionen XI-XIV. Bd

Kann man Kants transzendentale Logik .besondere Logik' nennen? 1 0 9

werden, entweder als Logik des allgemeinen, oder des besondern Verstandes-gebrauchs. Die erste enthält die schlechthin notwendigen Regeln des Denkens, ohne welche gar kein Gebrauch des Verstandes stattfindet, und geht also auf diesen, unangesehen der Verschiedenheit der Gegenstände, auf welche er gerichtet sein mag. Die Logik des besondern Verstandesgebrauchs enthält die Regeln, über eine gewisse Art von Gegenständen richtig zu denken" (KrV A 52/B 76). Mit der Bezeichnung der Logik als .allgemein' wird also zunächst ihre Abgrenzung von den Methodologien der einzelnen Wissenschaften kennt-lich gemacht.

Die neuere Kantforschung hat gar ohne Bedenken automatisch die Be-zeichnung allgemeine Logik' durch die Bezeichnung ,formale Logik' ersetzt und beide als Synonyme behandelt. Man hat somit die Merkmale der Logik, die diese Ausdrücke jeweils nennen, nicht mehr richtig auseinanderhalten können und dadurch Kants Denkmotive verschleiert.11

Der Ausdruck ,formale Logik' kommt meines Wissens nur an einer einzi-gen Stelle der Druckschriften vor: „Da gedachte bloß formale Logik von allem Inhalte der Erkenntnis (ob sie rein oder empirisch sei) abstrahiert..." (KrV A 131/Β 170). Ansonsten spricht Kant durchweg entweder von der ,Logik' oder von der .allgemeinen Logik'. Die Bezeichnung .formale Logik' für diese Wissenschaft setzt sich erst infolge der Auseinandersetzung mit Kants Idee der Logik in der nachhegelschen Zeit durch, und zwar als Abgrenzung von Hegels metaphysischer Logik. In einem Titelblatt erscheint die Bezeichnung .formale Logik' wohl zum ersten Mal in Ernst Reinholds Lehrbuch der philosophisch propädeutischen Psychologie und der formalen Logik (Jena 1835), und zwar als Folge einer bewussten Überlegung: „Ein Missverständnis in Bezug auf die Bedeutung der logischen Denkformen - nach ihrem wesentlichen Unterschie-de von den ideal = realen Formen unseres denkenden Erkennens - zeigt sich besonders in einigen neueren Versuchen, unter denen Hegels .Wissenschaft der Logik' bei weitem der merkwürdigste ist, die Logik mit der Metaphysik zu verschmelzen ... Dagegen ist es angemessen, diese Logik in dem so be-stimmten Umkreis ihres Inhaltes durch den Zusatz der .formalen' zu bezeich-nen, um sie hierdurch von der .transcendentalen Logik' zu unterscheiden, deren Idee zuerst durch Kant - auf eine mehr zum Forschen anregende als den

Siehe folgende Beispiele: Herbert J . Paton, Kants Metaphysic of Experience, A Commentary on the First Half of the Kritik der reinen Vernunft, 2 Bde., London - New York s 1 9 7 0 ( Ί 9 3 6 ) , S. 1 8 7 : „Kant believed, as did most philosophers before the nineteenth century, that Formal Logic (οζ as he called it, General Logic) was a science as certain as mathematics" ; Gerold Prauss, „Zum Wahrheitsproblem bei Kant" , in: Kant-Studien, 6 0 (1969 ) , S. 1 6 6 : „Dieser Einleitende Entwurf besteht im Wesentlichen darin, die transzendentale Logik von einer anderen Art von Logik abzugrenzen. Diese nennt Kant die .allgemeine' und ,reine' Logik und kennzeichnet sie mit allen wesentlichen merkmalen derjenigen Wissenschaft, die man unter dem Namen der formalen Logik kennt." Auch Hermann Krings, Artikel „Logik, transzenden-tale", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, hrsg. V. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Basel - Stuttgart 1 9 8 0 , S. 4 6 3 : „Durch die Idee einer neuen Wissenschaft der Logik ergibt sich für die traditionelle Logik, dass sie nunmehr als .allgemeine Logik' (formale Logik) von der neuen, der transzendentalen Logik zu unterscheiden ist."

Brought to you by | National Dong Hwa UniversityAuthenticated | 134.208.103.160Download Date | 3/27/14 9:21 AM

Page 5: Kant und die Berliner Aufklärung (Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. I: Hauptvorträge. Bd. II: Sektionen I-V. Bd. III: Sektionen VI-X: Bd. IV: Sektionen XI-XIV. Bd

110 María Jesús Vázquez Lobeiras

Forscher befriedigende Weise - in der Kritik der reinen Vernunft geltend gemacht und ausgeführt worden ist."12

Die allgemeine Logik zeichnet sich in der Tat durch ihren formalen Cha-rakter aus, d. h. dadurch, dass sie nur auf die formalen Regeln des Denkens unter Abstraktion von jedem Inhalt geht: „Die allgemeine Logik abstra-hieret ... von allem Inhalt der Erkenntnis, d. i. von aller Beziehung derselben auf das Objekt, und betrachtet nur die logische Form im Verhältnisse der Erkenntnisse aufeinander, d. i. die Form des Denkens überhaupt" (KrVA 55/ Β 79). Kant zog allerdings sowohl in der Kritik der reinen Vernunft als in den Logikvorlesungen die Bezeichnung dieser Wissenschaft als .allgemeine' vor. Man kann ferner als Beispiel die Handbücher der ersten Kantianer heranzie-hen, die dem Model treu folgen und im Titel den Ausdruck allgemeine Logik' verwenden. Z. b. Ludwig Heinrich Jakob, Grundriß der allgemeinen Logik und Kritische Anfangsgründe der allgemeinen Metaphysik (Halle 1788), Jo-hann Gottfried Carl Christian Kiesewetter, Grundriß einer allgemeinen Logik nach kantischen Grundsätzen, Berlin 1791, Iohann Christian Schaumann, Elemente der allgemeinen Logik nebst einem kurzen Abriß der Metaphysik (Gießen 1795). Für Elfriede Conrad liegt der Grund der Verwendung eines solchen Ausdrucks in den späteren Logikvorlesungen nicht in der Abgrenzung der allgemeinen von der besonderen Logik, sondern vielmehr in der Abgren-zung der allgemeinen von der transzendentalen Logik: „Es fällt jedoch auf, dass die Logik in den späteren Nachschriften mit dem Adjektiv ,allgemein' umschrieben ist, während dieser Zusatz in den früheren Logiken Blomberg und Philippi fehlt... Da Kant die Bezeichnung ,allgemein' auch an solchen Stellen verwendet, an denen er nicht die allgemeine von der besonderen Logik, die das Organon einer speziellen Wissenschaft ist, unterscheiden will, liegt die Vermutung nahe, dass die nähere Umschreibung mit,allgemein' eher auf die Unterscheidung von traditioneller und transzendentaler Logik aus der KrV zurückgeht."13

Conrads Auffassung findet in einigen Passagen der Einleitung zur tran-szendentalen Logik Unterstützung. Es handelt sich um jene Stellen, an denen Kant die ,Allgemeinheit' der Logik anhand eines Motivs erläutert, das in der Tat auf die Abgrenzung der allgemeinen von der transzendentalen Logik gerichtet ist. Die allgemeine Logik wird als eine solche Wissenschaft kenn-zeichnet, die „die Vorstellungen, sie mögen uranfänglich a priori in uns selbst, oder nur empirisch gegeben sein, bloss nach den Gesetzen betrachtet, nach welchen der Verstand sie im Verhältnis gegen einander braucht, wenn er denkt, und also nur von der Verstandesform handelt, die den Vorstellungen verschafft werden kann, woher sie auch sonst entsprungen sein mögen" (KrV A 56/B 80). Oder als Wissenschaft die „auf die empirischen so wohl, als reinen Vernunfterkenntnisse ohne Unterschied [bezogen wird]" (KrV A 57/

Ernst Reinhold, Lehrbuch der philosophisch propädeutischen Psychologie und der formalen Logik, Jena 2 1 8 3 9 p ^ i ) , S. 36. Conrad, Elfriede: Kants Logikvorlesungen als neuer Schlüssel zur Architektonik der Kritik der reinen Vernunft. Die Ausarbeitung der Gliederungsentwürfe in den Logikvorlesungen als Auseinandersetzung mit der Tradition, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 30.

Brought to you by | National Dong Hwa UniversityAuthenticated | 134.208.103.160Download Date | 3/27/14 9:21 AM

Page 6: Kant und die Berliner Aufklärung (Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. I: Hauptvorträge. Bd. II: Sektionen I-V. Bd. III: Sektionen VI-X: Bd. IV: Sektionen XI-XIV. Bd

Kann man Kants transzendentale Logik .besondere Logik* nennen? 111

Β 82). Die transzendentale Logik entspricht dagegen der „Idee von einer Wissenschaft des reinen Verstandes und Vernunfterkenntnisses, dadurch wir Gegenstände völlig a priori denken" (KrV A 5 7 / B 8 1 ) .

In den angeführten Passagen bezieht sich der allgemeine Charakter der formalen Logik auf die Tatsache, dass sie die Unterscheidung zwischen ^ei-nem' und ,empirischem Denken' nicht kennt und für beide Erkenntnisarten gilt. Die transzendentale Logik nimmt dagegen gerade in der Unterscheidung von empirischem und reinem Denken ihren Ausgangspunkt, denn sie beschäf-tigt sich ausschließlich mit dem „reinen Denken eines Gegenstandes" (KrV A 55/B 80). Die Auffassung des ,reinen Denkens eines Gegenstandes' als eines .besonderen Verstandesgebrauchs' und somit die Bestimmung der tran-szendentalen Logik als einer .besonderen Logik' liegt zwar auf der Hand. Kant hat diesen Schritt aber meines Wissens weder in der Kritik der reinen Vernunft noch in den Schriften des Logikcorpus getan.14 Nur noch wenige Stellen können dieser Auffassung eine Grundlage bieten. Der Ausdruck .be-sondere Logik' taucht beispielsweise in Bezug auf die transzendentale Logik in der Metaphysik Volckmann (1784-1785) auf: „In Ansehung des reinen Gebrauchs der Vernunft aber, wird eine besondre Logic nöthig seyn, welche die transcendentale Philosophie heißt; hier werden nicht Objecte, sondern vielmehr unsre Vernunft selbst erwogen, so wies auch in der allgemeinen Logic geschieht. Man könte die transcendentale Philosophie auch eine transcendentale Logic nennen" (AA XXVIII 36321.26). Die Auffassung der transzendentalen Logik als einer besonderen Logik' für die Metaphysik würde ferner durch Kants Behauptung in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft bestätigt, dieses Werk sei „ein Traktat von der Methode" (KrV Β XXIII).

Die Auffassung der transzendentalen Logik als einer Logik eines besonde-ren bzw. des reinen Verstandesgebrauchs, d. h. als besondere Logik für die Metaphysik scheint trotz allen Schwierigkeiten nicht unplausibel, hat aller-dings zur Folge, dass die Methodologie der Metaphysik mit anderen Metho-dologien in einer Reihe steht. Es stellt sich die Frage, ob die Methodologie des reinen Denkens mit anderen wissenschaftlichen Methodologien ohne weiteres

Den Ausdruck .besondere Logik' verwendet Kant im Logikcorpus, soweit ich sehe, gar nicht. In der Refl. 1579 taucht die Entgegensetzung allgemeine praktische Logik' und .besondere praktische Logik' auf; es handelt sich jedoch um eine Einteilung der .praktischen' und nicht der formalen Logik: „Die allgemeine praktische Logic ist die Logik des Vorwahrhaltens oder des Scheins: dialectic*; weil die anwendung keine regeln mehr verstattet, so erlaubt sie nur critic: sie ist sophistisch und sceptisch. * (edie besondere practische logik ist die methodenlehre oder organon.)" (AA XVI 2316_21). Es handelt sich hier um einen späteren Zusatz zu der langen Refl. 1579, die nach Adickes' Angabe (vgl. ebd. 1729) zwischen Gamma=1760-64 und Phi=l 776-78 zu datieren ist. Ansonsten ist bei Kant durchweg die Rede vom .besonderen Verstandesgebrauch', ζ. B. Refl. 1579: „(s4. nicht (8des) besonderen Gebrauchs (8organon) auf ein obiect, sondern des Verstandes überhaupt, propaedeutica philosophiae.)" (XVI 21I2_14); Refl. 1603: „Die Logik ist eine Wissenschaft (ga priori) von den [allgemeinen] reinen Gesetzen des Verstandes und (gder) Vernunft überhaupt, nicht des besonderen gebrauche. " (XVI 332.4, Rho=1773-75); Refl. 1612: „[die Logik ist eine Vernunftwissenschaft] Nicht des besonderen und bestirnten, sondern des allgemeinen Gebrauchs" (XVI 3613.14, Rho?=1773-75, Sig-ma?=1775-77).

Brought to you by | National Dong Hwa UniversityAuthenticated | 134.208.103.160Download Date | 3/27/14 9:21 AM

Page 7: Kant und die Berliner Aufklärung (Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. I: Hauptvorträge. Bd. II: Sektionen I-V. Bd. III: Sektionen VI-X: Bd. IV: Sektionen XI-XIV. Bd

112 María Jesús Vázquez Lobeiras

gleichzusetzen ist. Nach den obigen Ausführungen Kants richtet sich der besondere Verstandesgebrauch bzw. die spezifische Methodologie einer Wis-senschaft nach ,,eine[r] gewissen Art von Gegenständen" (KrV A 52/B 76). Die transzendentale Logik dagegen stellt in ihrem ersten Teil, der transzenden-talen Analytik, die Frage nach den „Prinzipien, ohne welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann" (KrV A 62/B 87). Die transzendentale Logik richtet sich nicht nach einem spezifischen Gegenstand, sondern nach dem Gegenstand überhaupt. Sie enthält somit ein Moment der Allgemein-heit', das ihre Definition als .besondere Logik' und ihre Einreihung unter die einzelnen wissenschaftlichen Methodologien erschwert.

Die Quellen geben hier wiederum für unterschiedliche Auffassungen Anlass, so zeigt beispielsweise eine kurze Passage aus der Refi. 1620, dass Kant den Unterschied von ,reinem Verstandesgebrauch' und anderen Arten des beson-deren Verstandesgebrauchs' vor Augen hatte: „Logic. Wissenschaft der allge-meinen Regeln des Gebrauchs des Verstandes überhaupt; also nicht des reinen Verstandes, auch nicht des Gebrauchs in besonderen Wissenschaften ... [auch] nicht des Gelehrten, noch des Gemeinen Gebrauchs, sondern alles Gebrauchs" (XVI 41 27-30, Psi=1780-89). Man findet dagegen zu Anfang der transzenden-talen Methodenlehre in der Kritik der reinen Vernunft eine Stelle, die die Auffassung des ,reinen Denkens' als eines besonderen Verstandesgebrauchs stark nahelegt: „... da die allgemeine Logik auf keine besondere Art der Verstandeserkenntnis (z. b. nicht auf die reine) . . ." (KrV A 708/B 736).

Aus der Charakterisierung der transzendentalen Logik als eine besondere Logik würde sich ferner folgende Schwierigkeit ergeben. Kant kennzeichnet die Methodologie oder besondere Logik einer Wissenschaft als ihr Organon. Die transzendentale Logik kann eine solche Bestimmung nicht folgen. Sie erlaubt keine Erweiterung der Metaphysik im Sinne eines Organons und erweist sich vielmehr als das Kathartikon dieser Wissenschaft, das ihr Unmög-lichkeit darlegt.

3. Entwicklungsgeschichte als clavis kantiana

Ein Blick auf Kants philosophische Entwicklung zeigt, dass der Anlass zur Unterscheidung der allgemeinen von der transzendentalen Logik tatsächlich in methodologischen Erwägungen im Hinblick auf den Gegenstand der Me-taphysik wurzelt. Nach dem Projekt von 1770 handelt die Metaphysik von den ersten Prinzipen des Gebrauchs des reinen Verstandes ( „Philosophia autem prima continens principia usus intellectus puri, est Metaphysica", De mundi, § 8, A 10). Im Unterschied zu allen anderen Wissenschaften, deren Objekt in der Erfahrung gegeben wird, erlangt die Metaphysik ihren Gegenstand in völliger Unabhängigkeit von der Erfahrung, und zwar durch den Gebrauch des reinen Verstandes, den Kant auch ,realen Gebrauch' („usus realis", De mundi, Sectio II, § 5, A 8) nennt.

Aus dem rein rationalen Charakter der Metaphysik ergibt sich die ur-sprüngliche Verwandschaft dieser Wissenschaft mit der Logik; beide, und nur

Brought to you by | National Dong Hwa UniversityAuthenticated | 134.208.103.160Download Date | 3/27/14 9:21 AM

Page 8: Kant und die Berliner Aufklärung (Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. I: Hauptvorträge. Bd. II: Sektionen I-V. Bd. III: Sektionen VI-X: Bd. IV: Sektionen XI-XIV. Bd

Kann man Kants transzendentale Logik .besondere Logik' nennen? 113

sie, sind reine Vernunftwissenschaften, worauf Kant in einigen Reflexionen flüchtig Bezug nimmt: Refi. 3946 (Kappal? Xi=1772???): „Alle reine Philo-sophie ist entweder logisch oder metaphysisch" (XVII 3593); Refi. 3949, (Kappal=1769): „Also ist keine Weltweisheit der reinen Vernunft als logic und metaphysica" (XVII361 ]6.17). Das Projekt einer rein rationalen Metaphy-sik erfüllt sich bei Kant schließlich im Bereich der praktischen und nicht der spekulativen Vernunft. Im Bereich der theoretischen Vernunft dagegen wird dieses Projekt durch die transzendentale Logik ersetzt, d. h. die Wissenschaft, welche „die Prinzipien des reinen Denkens" enthält (KrV A 22/B 36). Diese Wissenschaft wird ,Logik' genannt, nicht nur weil sie wertvolle methodolo-gische Überlegungen zur Gestaltung der Metaphysik enthält, d. h. nicht pri-mär durch die Dichotomie des allgemeinen und des besonderen Verstandes-gebrauchs inspiriert ist, sondern weil sie, so wie die allgemeine Logik, eine reine Vernunftwissenschaft ist. Der usus realis intellectus der Inauguraldisser-tation mit dem Postulat der Erfahrungsunabhängigkeit liefert die Grundlage für die Untersuchung des ,reinen Denkens eines Gegenstandes', was die Auf-gabe der transzendentalen Logik ausmacht.

Kants entschiedene Bestimmung der formalen Logik als einer allgemeinen Logik' legt die Auffassung der transzendentalen Logik als einer besonderen Logik' zwar nahe; beide Unterscheidungskriterien (allgemeine/besondere und allgemeine/transzendentale Logik) sind allerdings auf verschiedene Motive zurückzuführen. Die Idee der transzendentalen Logik hat ihren Keim nicht in der Einteilung der Logik, die die Methode aller Wissenschaften - auch der Metaphysik - liefert, sondern in dem Postulat, das die Metaphysik eine reine Vernunftwissenschaft ist.

Brought to you by | National Dong Hwa UniversityAuthenticated | 134.208.103.160Download Date | 3/27/14 9:21 AM