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Ausgabe Herbst/Winter 2015 Brückenschäden Deutschlands Substanz bröckelt Fernstraßenbrücke Namibias Weg zum Logistikhub Kommandobrücke Kreuzfahrtriesen aus Papenburg Brückenfinanzierung Geld für die Krebsforschung Brücken Thema

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AusgabeHerbst/Winter 2015

BrückenschädenDeutschlands

Substanz bröckelt

FernstraßenbrückeNamibias Weg

zum Logistikhub

KommandobrückeKreuzfahrtriesen

aus Papenburg

BrückenfinanzierungGeld für die

Krebsforschung

BrückenThema

Baumeister gesucht

Wir Deutschen sind gut darin, auch schwierige Situationen zu meistern. Das haben wir nach dem Zweiten Weltkrieg bewiesen, als viele Städte in Trümmern lagen und dieses Land trotzdem Millionen Vertriebene aufnahm. Und ein zweites Mal, als wir aus Ost und West wieder ein vereintes Deutschland schufen. Jetzt sind unsere Fähigkeiten, Brücken zwischen Menschen zu bauen, erneut gefragt. Tausende, die aus ihrer Heimat geflohen sind, müssen in unsere Gesellschaft integriert werden. Die KfW Stiftung fördert innovative Konzepte, die dabei helfen (Seite 51). Doch es geht zunächst auch darum, die Asylsuchenden menschenwür-dig unterzubringen. Als nationale Förderbank stellen wir den Kommunen eine Milliarde Euro für die Finanzierung von Flücht-lingsunterkünften zur Verfügung.

Auch außerhalb Deutschlands fördern wir Projekte der Flücht-lingshilfe – derzeit etwa in Krisengebieten wie der Ukraine oder in Ländern wie Syriens Nachbarland Jordanien, die viele Flüchtlinge aufnehmen. Unser Hauptziel muss es jedoch sein, Konflikte, die Menschen aus ihrer Heimat vertreiben, gar nicht erst entstehen zu lassen. Wenn wir die Lebensbedingungen vor Ort verbessern, bekämpfen wir ökonomische und politische Fluchtursachen. Das ist die zentrale Aufgabe von Entwicklungs-zusammenarbeit, wie wir sie verfolgen.

Brücken – und hier sind Brücken aus Beton gemeint – können auch ihren Teil zu dieser Entwicklungsarbeit beitragen, wie diese Ausgabe des CHANCEN-Magazins zeigt: Eine Brücke im Grenzgebiet von Namibia und Sambia spielt eine tragende Rolle beim Aufschwung der Region (Seite 36). In Deutschland wiederum drohen marode Brücken zum Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung zu werden (Seite 8).

Es gibt viel zu tun. Zeit, Verantwortung zu übernehmen.

DR. ULRICH SCHRÖDER Vorstandsvorsitzender der KfW Bankengruppe

Mehr zur Flüchtlingshilfe der KfW: www.kfw.de/fluechtlingshilfe

BRÜCKEN

Ludwigshafens Oberbürgermeis- terin Dr. Eva Lohse, seit Juni auch Präsidentin des Deutschen Städtetages, kämpft in ihrer Kommune mit den Bausünden der 1970er Jahre: Die Hochstraße Nord, die entstand, als Deutsch-land von autogerechten Städten träumte, ist marode. Ab 2018 soll der Verkehr wieder auf den Boden geholt werden. Fürs Shoo-ting nahm Eva Lohse Fotograf Frank Blümler mit zur Hochstraße. Wie unsanierte Straßen und Brü-cken die Wirtschaft ausbremsen, lesen Sie ab Seite 8

16Brücken statt

Grenzen Historiker Winkler (l.)

und Volkswirt Zeuner diskutieren

Europas Zukunft

8Marode gespartSo ernst steht es um Deutschlands

Infrastruktur

26Großer Maßstab Meyer Werft baut

schwimmende Erlebnishotels

42Wenn es drauf

ankommtForbion-Manager Reithinger ebnet

jungen Firmen den Weg in den Markt

4 | CHANCEN

22Himmelhoch Die Skybridge in Kuala Lumpur und andere Spezialbrücken

48Erfolg säenKenia ist wichtiger Standort für Garten-bauer Selecta

45Gegen KrebsRisikokapital ermöglicht Forschung an Arzneimitteln

Inhalt

6 Portfolio

REDEN 8 Am Limit

Infrastruktur ächzt unter dem Verkehrsaufkommen

15 DrahtseilaktJörg Thadeusz spricht über seine Angst vor Brücken

16 Wie weiter in Europa?KfW -Chefökonom Jörg Zeuner im Gespräch mit Historiker Heinrich August Winkler

22 Über BrückenBelastbare F akten zu besonderen Bauwerken

24 Mehr als ein Graben zu überwinden W arum die Energiewende nicht nur eine Brücken-technologie braucht

HANDELN 26 Deutsche Werftarbeit

Wo Hotels mit Kommandobrücken entstehen

34 Brücken sind Trumpf Gute Karten für Infrastrukturprojekte w eltweit

36 Ökonomisch tragfähigWie eine Brücke Namibias Aufschwung begünstigt

42 „ Deutschland muss sich nicht verstecken“ Brückenfinanzierer unterstützt junge Hightech-F irmen

45 Risikokapital für die KrebsforschungBiotech-Start-up entwickelt neue Arznei

48 Wachstumstreiber KeniaStuttgarter Gartenbaubetrieb pflanzt in Afrika an

51 Verbindendes ElementProjekte, die Städte und Menschen zusammenführen

52 Die Luftbrückenbauer Zwei Experten für Flugzeugfinanzierung berichten

54 Studium der Leidenschaft Nora Gomringer hat ihren eigenen Weg gewählt

55 Impressum/Die Links auf der rechten Seite

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Returnon Invest 30.000

Autofahrer

pro Tag können dank neuer Triebzüge für den Rhein-Ruhr-Express in einigen Jahren von der Straße auf die Schiene umsteigen. Das führt zu einer deutlichen

Reduktion des Schadstoffausstoßes im Ballungsraum Rhein-Ruhr. Die KfW IPEX-Bank beteiligt sich mit einem Kredit in Höhe von 283 Millionen Euro

an der Finanzierung von 82 neuen Doppelstocktriebzügen, die zwischen 2018 und 2020 sukzessive ausgeliefert werden sollen. So unterstützt die Bank

ein Kernstück des nordrhein-westfälischen Netzausbaus. Auftraggeber sind alle am Rhein-Ruhr-Express beteiligten Zweckverbände des Landes.

Immer mehr Chefinnen im Mittelstand

Jedes fünfte mittelständische Unternehmen hat eine Chefin. Damit sind weibliche Führungs-kräfte im deutschen Mittelstand

inzwischen keine Ausnahme-erscheinung mehr, aber noch immer unterrepräsentiert. Dies ergab eine Auswertung von KfW Research auf Basis des KfW-Mittelstandspanels. Zurzeit steht bei etwa 700.000 klei- nen und mittleren Unternehmen eine Frau an der Spitze. „Das Gesicht des Mittelstands wird weiblicher, doch es gibt noch einiges aufzuholen“, sagt Dr. Jörg Zeuner, Chefvolkswirt der KfW. Weil jedoch immer mehr Frauen grün-den, werde der Anteil der Chefinnen im Mittelstand weiter steigen. Aktuell entfallen 60 Prozent der Firmen in weib licher Hand auf den Dienst leis-tungs sektor, einen Bereich mit eher geringen Umsätzen und wenigen Mitarbeitern. Unternehmen aus Bau, Handel und Verarbeitendem Gewerbe sind seltener frauengeführt.

Mehr zur Studie in Fokus Volkswirtschaft, Nr. 101: www.kfw.de/fokus

SOLIDE BASIS Schuhmacherin Stefanie Degle hat mithilfe der KfW gegründet

Milliarden-Garantie für Gründerkredite

6 | CHANCEN

Erster Beitrag zum Juncker-PlanDeutschland leistet einen ersten Beitrag zum Europäischen Fonds für strate-gische Investitionen (EFSI), besser bekannt als Juncker-Plan. Gründer können vom 1. Dezember an über ihre Hausbank bei der KfW ein Darlehen in Höhe von maximal 100.000 Euro beantragen – und das bis zu fünf Jahre nach Geschäfts-aufnahme. Das Besondere am Programm ,ERP Gründerkredit – StartGeld‘: Die KfW und der Europäische Investitionsfonds (EIF) nehmen dem jeweiligen Finanzierungspartner zu gleichen Teilen insgesamt 80 Prozent des Ausfall- risikos ab. „Gründer haben oft Probleme, eine Fremdfinanzierung zu erhalten, weil diese für Banken kleinteilig und risikoreich ist. Mit der Haftungsfreistel-lung erleichtern wir die Kreditvergabe an Gründer“, sagt KfW-Vorstandsmitglied Dr. Ingrid Hengster. Die Garantie deckt Zusagen über eine Milliarde Euro ab. Damit können in den kommenden Jahren schätzungsweise 20.000 Existenz- gründer unterstützt werden.

PORT FOLIO

„Als einer der weltweit größten Finanzierer von Klimaprojekten

in Entwicklungs- ländern hoffen

wir auf ein starkes Signal

aus Paris.“

Dr. Jochen Harnisch,

Leiter des Kompetenzcenters

Umwelt und Klima der KfW.

Harnisch koordiniert die Aktivi-

täten der Förderbank bei der

UN-Klimakonferenz im Dezember

Aufklärung per Smartphone

Der Geschäftsbereich KfW Entwicklungsbank hat die Nichtregierungsorganisation ‚LoveLife‘ im Auftrag des

Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung da bei unterstützt, in Südafrika die weltweit erste digitale Plattform zur HIV-Präven-tion einzuführen. Diese bündelt Videos und Artikel, aber auch Wissenstests und Umfragen rund um die Themen Sexua-lität und Gesundheit. Das interaktive An- gebot ist seit Juli online und soll bis zu

eine Million junge Menschen zwischen zehn und 24 Jahren erreichen. Ein Punktesystem liefert Anreize, sich ver-stärkt mit den Gefahren einer Infektion auseinanderzusetzen, sich beispiels- weise einem HIV-Test zu unterziehen, und somit verantwortungsbewusst zu handeln. Der Bedarf für Prävention ist groß: In Südafrika infizieren sich pro Jahr 470.000 Menschen mit HIV. Die KfW bezuschusst die Implementie-rungskosten der neuen Plattform mit zwei Millionen Euro.

Neuaufbau in Nepal

Als Ende April in Nepal die Erde bebte, verloren Hunderttausende Menschen ihr Zuhause. Viele leben bis heute in Zeltkolonien, bisweilen mitten auf der Straße. Die Nepal Water & Energy

Development Company (NWEDC) leistet in der stark be- troffenen Region Rasuwa Wiederaufbauhilfe. Gemeinsam mit der nepalesischen Regierung und drei Dorfentwick- lungskomitees errichtet das Unternehmen in neun Dörfern temporäre Unterkünfte für die rund 7.000 Bewohner. Auch Schulen werden wieder aufgebaut. Außerdem stellt die NWEDC sauberes Trinkwasser, sanitäre Anlagen sowie Solarlampen zur Verfügung und sichert die medizinische Grundversorgung. Die KfW-Tochter DEG – Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbH kofinan- ziert das Programm im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

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REDEN

8 | CHANCEN Brücken8 | CHANCEN Brücken

15 Angst vorm Abgrund

Brücken findet er zu dominant. Kolumnist Jörg Thadeusz erzählt von seiner Phobie

16 Europas Grenzen

Brechen die Brücken zwischen den EU-Staaten? Ein Historiker und ein Volkswirt geben Antworten

Am LimitDer Güterverkehr auf Straße und Schiene wächst, doch der Staat investiert zu wenig in die Infrastruktur. Darunter leiden auch Unternehmen. Besonders deutlich wird das Problem bei Brücken, den Flaschenhälsen im Verkehrsfluss.

Text: Christoph Albrecht-Heider

22 Schwungvolle Zahlen

Sie rollen sich zusammen, schwingen zur Seite oder kratzen an Wolken: Brücken mit Extras

24 Gräben überwinden

Für die Energiewende brauchen wir nicht nur eine, sondern viele Brückentechnologien

HÖCHSTE DRINGLICHKEIT

Viele Autobahntrassen sind 50 Jahre und älter. Heute sind eine ganze Reihe von ihnen

baufällig, darunter die Talbrücke Rinsdorf der A 45 zwischen Frankfurt und Dortmund

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REDEN

Vor wenigen Wochen wurde in Hamburg die ‚MSC Zoe‘ getauft. Sie ist das größte Containerschiff der Welt und

fasst 19.224 Stahlboxen der Standard-größe. Aneinandergereiht würden sie eine Schlange von Hamburg bis Bremen bilden. 500-mal so lang wäre eine Kette aller im Laufe des vergangenen Jahres im Hamburger Hafen umgeschlagenen Container. Nur damit man mal eine Vorstellung davon bekommt, was auf deutschen Straßen und Schienen los ist. Denn nicht von Seewegen handelt diese Geschichte, sondern von Landwegen. Seehafenhinterlandverkehr, mit diesem Wortmonster fassen Verkehrs- forscher Fahrten von und zu großen Häfen zusammen. Über Autobahnen und auf Gleisen in Deutschland rollt ein beträchtlicher Teil der Produkte, die über die drei größten europäischen Häfen – Rotterdam, Antwerpen und Hamburg – verteilt werden. Seit dem Anschluss der Volkswirt-schaften Osteuropas an die Warenströ-me des Westens ist Deutschland noch mehr zum Transitland geworden, ist der Güterverkehr auf hiesigen Straßen erheblich gewachsen. Mit einer weite-ren Steigerung von rund 30 Prozent bis 2030 rechnet das Bundesverkehrs-ministerium. Wenn man jetzt noch in Betracht zieht, dass ein durchschnitt-lich großer Lastwagen eine Fahrbahn 60.000-mal stärker belastet als ein Pkw, und bedenkt, dass die meisten Auto-bahntrassen hierzulande in den 1960er, 1970er Jahren gebaut wurden, versteht man, warum sich so viele Verkehrs- fachleute Sorgen um den Zustand des Straßennetzes machen.

AUF SCHÄDEN ABGEKLOPFT

Heiko Würden vom Landesbetrieb Straßenbau Nordrhein-Westfalen (Straßen.NRW) inspiziert die Talbrücke Rinsdorf von unten

10 | CHANCEN Brücken

Ein durchschnittlich großer Lkw belastet eine Fahrbahn 60.000-mal stärker als ein Pkw.

Für den Autofahrer auf dem Weg zur Arbeit oder in den Urlaub mögen marode Pisten nur ein Ärgernis sein, einen Betrieb können sie Geld kosten. Das Institut der Deutschen Wirtschaft Köln (IW) hat Unternehmen zur Rele-vanz der Infrastruktur als Standortfak-tor befragt. Die Ergebnisse fasst der IW-Verkehrsexperte Thomas Puls so zusammen: „Die Straßenverkehrsinfra-

struktur ist dabei, ein Hemmschuh für die weitere wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland zu werden.“ An Brücken wird das Problem sinn- fällig, denn Brücken sind Flaschenhälse im Verkehrsfluss. Die Autobahnbrücke über den Rhein zwischen Leverkusen und Köln hat ein erstes Schlaglicht auf die fatale Lage geworfen. Seit 2012 dür-fen schwere Lastwagen sie nicht mehr benutzen. Ortsansässigen Betrieben entstehen durch Lieferverzögerungen und längere Transportwege nach einer Umfrage der Industrie- und Handels-kammer (IHK) Köln Schäden von durch-schnittlich 1.700 Euro pro Tag und Firma. Auch die Schiersteiner Auto-bahnbrücke zwischen Wiesbaden und Mainz konnten zwischen April und November dieses Jahres nur noch Pkw und Leichttransporter passieren. Die

IHK Wiesbaden schätzt den dadurch entstandenen Schaden für die Region auf 1,4 Millionen Euro täglich.30

Prozent

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So stark wird der Güterverkehr bis 2030 wachsen, schätzt das

Bundesverkehrsministerium

Die steigende Belastung zermürbt nicht nur die 39.000 Brücken der Bun-desfernstraßen. Eine Eisenbahnbrücke hält etwa ein Jahrhundert. Jede Dritte der 25.000 Bahnbrücken in Deutschland aber hat ihren 100. Geburtstag bereits hinter sich. Dabei „brauchen wir die Schiene, um unsere Transportprobleme zu lösen“, sagt Puls, „und beim Güter-verkehr fährt die Bahn auf wichtigen Strecken bei 100 Prozent Kapazität“. Die Lage in den Kommunen ist nicht besser. Ganz im Gegenteil. Das Urteil des Deutschen Instituts für Urbanistik klingt besorgniserregend: Die Hälfte aller 67.000 Brücken in Städten und Gemeinden ist einem

„schlechten Zustand“.

IN KRITISCHEM ZUSTAND

Bei der Rader Hochbrücke wurden 2013 massive Schäden an den

Pfeilerköpfen entdeckt. Die Brücke der A7 über den Nord-Ostsee-Kanal wurde

saniert. Ein Neubau ist geplant

An Expertise mangelt es nicht. Bun- desregierungen haben immer wieder Diagnosen zum Zustand des Trans- portwesens eingeholt. Die Pällmann- Kommission sprach von einer „Instand-haltungskrise“. Das war im Jahr 2000. Die Daehre-Kommission warnte 2012 vor einem „fortschreitenden Substanz-verzehr der Verkehrsinfrastruktur“. Die Bodewig-Kommission nannte 2013 die diesbezügliche Lage in den Kommunen „besonders dramatisch“. Die Fratzscher-Kommission bemängelte im April dieses Jahres die „öffentliche Investi tions schwäche“ und empfahl deutlich höhere Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur. Das deutsche Straßen- und Schienen-netz, fraglos eines der bestausgebauten Europas, ist in die Jahre gekommen. Die Etats für die Sanierung liegen aller-dings schon seit langem unter dem Bedarf. „Der Bund investiert im Prinzip bislang 25 Prozent zu wenig“, sagt Puls,

„die Kommunen liegen um 50 Prozent und mehr unter Soll.“ Der KfW-Volks-wirt Stephan Brand beschreibt die Prio-ritätensetzung staatlichen Handelns so:

„Ausgaben, auf die es Rechtsansprüche gibt, wie Sozialleistungen etwa, können nicht beliebig gekürzt werden. Bei der Verkehrsinfrastruktur aber kann man erst einmal am Unterhalt sparen, ohne dass es sofort auffällt.“ Wenn sich jedoch die Fahrbahn bereits zu senken oder die Stahlstrebe an der Brücke zu rosten beginnt, ist die Chance auf eine vergleichsweise preis-werte Reparatur dahin. Dann folgen die berüchtigten Langsamfahrstellen, wird gesperrt und umgeleitet, und womög-lich gar ein Neubau unumgänglich. 6,7 Milliarden Euro mehr pro Jahr müssten nach der Kalkulation der Daehre-Kommission ausgegeben wer-den, um das Straßen- und Schienen- netz auch nur zu erhalten. Würde man die Staatsaufgabe ,Verkehrsinfrastruk-tur‘ isoliert betrachten, wäre genug Geld da. 46 Milliarden Euro im Jahr nimmt der Bund über die Lkw-Maut, die Mineralöl- und die Kfz-Steuer ein.

FORDERT FINANZHILFEN Bund und Länder müssen ihren

Beitrag dazu leisten, dass Kommunen ausreichend in die Verkehrs-

infrastruktur investieren können, sagt Städtetagspräsidentin

Dr. Eva Lohse

Straßen tragen die Hauptlast

Anteil am Transportaufkommen im Güterverkehr 2014

REDEN

12 | CHANCEN Brücken

17,6 %Bahn

9,2 %Binnenschiff

73,1 %Lkw

Quelle: destatis.de

Doch „der Versuch, die Infrastruktur aus dem Verteilungswettbewerb raus-zunehmen, wird nie klappen“, sagt Brand. Denn es gebe noch viele andere Aufgaben des Staates, für die das Geld ebenfalls benötigt werde, darunter zunehmend konsumtive Zwecke. Die Ludwigshafener Oberbürgermeisterin Dr. Eva Lohse, seit diesem Jahr auch Präsidentin des Deutschen Städte- tages, weist darauf hin, dass „sich die kommunalen Haushalte in den vergan-genen Jahrzehnten von ,Investitions-haushalten‘ zu ,Sozialhaushalten‘ entwickelt haben“. Alle Städte müssten nach Lohses Ansicht in der Lage sein, ausreichend in den Verkehrsbereich investieren zu können. Dafür trügen auch Bund und Länder Verantwortung. Deren Finanz- hilfen zur Verbesserung des kommuna-len Verkehrs befänden sich auf dem Niveau der 1990er Jahre, und das ohne Inflationsausgleich, sagt die Städtetags-präsidentin und nennt ein Beispiel für den gewaltigen Investitionsbedarf: Bis 2030 müssten 15 Prozent der kom-munalen Straßenbrücken „entweder saniert oder komplett neu gebaut wer-den“. 17 Milliarden Euro würde das kosten. Zum Vergleich: Der Bund gibt für das Sonderprogramm Brücken- sanierung für Bundes fern straßen in den kommenden vier Jahren 1,5 Mil li-arden Euro aus. Das auch aus KfW-Sicht zu unter- stützende Prinzip ‚Erhalt vor Neubau‘ durchkreuzen Bund und Länder jedoch ein ums andere Mal. Noch immer flie-ßen viele Mittel in neue Fernstraßen und die gehen ins Geld. Ein Auto bahn-kilometer kostet zwischen knapp zehn Millionen Euro (vierspurig im flachen Land) und 150 Millionen Euro (Stadtautobahn Berlin). Aber Brand sieht eine Wende zum Besseren. Das Thema sei noch nie so intensiv diskutiert worden wie heute.

„Die Bereitschaft in der Politik wird größer, die notwendigen Investitionen vorzunehmen“, sagt der KfW-Volkswirt. Nicht zuletzt die schlagzeilenträchtigen

TEILWEISE GESPERRT

Während der Sanierung war die Rader Hochbrücke in Schleswig-Holstein für

Fahrzeuge über 7,5 Tonnen gesperrt und auf zwei Fahrstreifen beschränkt

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NÄHER BELEUCHTET

Hans-Dieter Jungmann von Straßen.NRW untersucht die Rheinbrücke Leverkusen. Bis 2020 soll ein Neubau die stark überlastete Brücke der A1 ersetzen

Brückenschäden scheinen ein Umden-ken bewirkt zu haben. Neben Erhalt und Neubau gibt es noch eine dritte Option, in Verkehrsinfrastruktur zu in- vestieren: die Verkleinerung. Laut KfW- Kommunalpanel 2014, einer jährlichen Befragung der Städte, Gemeinden und Landkreise, beschäftigen sich zwar nur wenige Kommunen damit, aber „das Thema Rückbau kommt“, sagt Brand.

STRASSENKONTROLLE

Werner Imholt (l.) und Thorsten Ziolek von Straßen.NRW in voller Montur auf der Talbrücke Rinsdorf

14 | CHANCEN Brücken

In Ludwigshafen ist es schon da. Eine Brücke über die Stadt wird beseitigt. Die zwei Kilometer lange, vierspurige Hochstraße Nord ist ein Teilstück der B 44 vor der Rheinbrücke nach Mann-heim und eine Hinterlassenschaft der 1970er Jahre, als viele Kommunalpoliti-ker in der Bundesrepublik von einer autogerechten Stadt schwärmten. Die aber hat als Leitbild der Verkehrspolitik ausgedient. Die Hochstraße Nord hält

den Belastungen nicht mehr lange stand. Statt nun aber die Bundesstraße auf Stelzen abzureißen und durch eine neue Hochstraße zu ersetzen, hat man sich in Ludwigshafen entschlossen, den Verkehr auf den Boden zu holen. Die ebenerdige Lösung hatte sich in einem umfangreichen Prozess der Bürgerbetei-ligung durchgesetzt. „Auf den sind wir stolz“, sagt Oberbürgermeisterin Lohse und berichtet von Anfragen vieler Kom-munen zu dem Verfahren, für das Lud-wigshafen den Partizipationspreis 2014 bekommen hat. Wenn die Finanzierung aus Mitteln des Bundes, des Landes Rheinland-Pfalz und der Stadt – die kalkulierten Kosten liegen momentan bei 290 Millionen Euro – geklärt ist, wird 2018 das laut Lohse „größte inner-städtische Brückenprojekt Europas“ in Angriff genommen.

Zahl der Brücken in Deutschland

Schienennetz:

25.000Bundesautobahnen und Bundesstraßen:

39.000Kommunale

Verkehrswege:

67.000

THADEUSZ

Drahtseilakt

Sie will kämpfen, die Brücke. Sie oder ich. Auch deswegen müsste es eigentlich der Brü-cke heißen. Alles an Brücken

ist männlich. In dem Sinne, wie die Bars in Vertreterhotels am späten Abend vor allem männlich sind. Brücken sind zu laut. Wer als Brücke etwas gelten will, der darf nicht unauffällig von hier nach dort führen. Nur wer als Brücke breit und groß ist, der kommt in den Bildband. Was dem Pumper aus dem Fitnessstudio die mangogroßen Bizepse, das sind der Angeberbrücke die knallhart gespann-ten Stahlstreben. Wenn Sie die Eitelkeit von Brücken nicht erkennen können, dann versetzen Sie sich doch mal in die Lage eines Tun-nels. Während die Brücke Wasser nur benutzt, um im Zusammenspiel damit gut auszusehen, fließt das Wasser über den Tunnel einfach hinweg. Die Mühen, unter denen er einst gesprengt wurde, interessieren niemanden mehr. Denn welcher Tunnel ist schon fotogen? Der Brooklyn Tunnel unterquert den East River nur anderthalb Kilometer von der Brooklyn Bridge entfernt. Trotzdem kenne ich kein Reisebüro, das in seinem Schaufenster für New-York-Reisen mit diesem baulichen Meisterwerk wirbt. Mich jedenfalls beeindrucken Ange-berbrücken ungemein. Ich versuche, ruhig zu atmen, wenn ich mich einer sehr hohen Brücke nähere. Rede ent-spannend auf mich ein. „Nimm unbe-dingt die mittlere Spur. Dann siehst du nicht, wie tief es rechts und links runtergeht.“ Oder rate mir selbst: „Du schließt einfach die Augen, bis du auf der anderen Seite bist.“ Die Schwäche dieses Mantras ist offensichtlich.

JÖRG THADEUSZ

ist Journalist und Moderator. Im rbb ist er regelmäßig mit ‚Thadeusz‘ und ‚Thadeusz

und die Beobachter‘ auf Sendung

Der Pilot im Flugzeug sagt immerhin an, wie hoch es hinaus gehen wird. Für den Fall der Fälle gibt es Sauerstoffmaske und Sicherheitsgurt. Auf der Golden Gate Bridge gibt es nichts derglei-chen. Keine Nischen, in denen der Überquerer die 70 Meter Höhe vergessen könnte. Als sich meine Reisebegleiterin mit dem Fahrrad auf den Weg machte, um das moder-ne Weltwunder zu befahren, blieb ich zurück. Selbstverständlich mache ich mir in stillen Momenten die Brückenangst zum Vor-wurf. Wäre ich früher geboren, hätte ich gegen Säbelzahn-tiger kämpfen müssen. Wie wäre wohl die Reaktion der anderen Wikinger ausgefal-

len, wenn ich auf dem Ruderboot nach dem Sicherheitsgurt gefragt hätte? Aber macht es mich nicht gerade zu einem modernen, fühlenden Mann, wenn ich zugebe, dass die alliierte Landung in der Normandie 1944 eher nichts für mich gewesen wäre? Vor allem nicht die Pon-tonbrücken, über die die Soldaten von den Schiffen an den Strand balancieren mussten. Im Souvenirshop der Golden Gate Bridge kaufte ich übrigens noch eine Schneekugel, die das gigantische Bau-werk zeigt. Für meinen Schreibtisch. Damit war klar: Der Brücke hatte mich besiegt.

Sie wollen unserem Kolumnisten die Angst vor Brücken nehmen? Dann schreiben Sie ihm unter: [email protected]

Jörg Thadeusz liest seine Kolumnenbeiträge auch vor. Die Audiodateien finden Sie unter: www.kfw.de/chancen

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WORT WECHSEL

Wie weiter in Europa?

Gefährliche Risse in der Währungsunion, Menschen auf der Flucht, westliche Werte in Gefahr: ein Gespräch darüber, wie die EU diesen immensen Belastungsproben standhalten und die Brücken zwischen ihren Mitgliedstaaten wieder festigen kann.

Interview: Bernd SalzmannFotos: Frank Blümler

DR. JÖRG ZEUNER

ist der Chefvolkswirt der KfW Banken- gruppe. Bevor Zeuner von der Liechten-steiner VP Bank zu Europas größter nationaler Förderbank stieß, war er fast zehn Jahre für den Inter natio nalen Währungs-fonds (IWF) in vielen Stabilisierungs- und Reformprogrammen weltweit tätig. Der Ökonom lehrt Angewandte Makro- ökonomik an der Ruhr-Universität Bochum und International Finance an der Universität St. Gallen.

16 | CHANCEN Brücken

Richard von Weizsäcker forderte vor 25 Jahren, dass alle Grenzen Deutschlands Brücken zu den Nachbarn werden sollen. Heute wirkt manche Brücke brüchig.WINKLER Mein Eindruck ist, dass gerade besonders prekäre Beziehungen seit 1989 aufgehört haben, prekär zu sein. Das deutsch-polnische Verhältnis etwa war nie so gut wie heute. Auch mit unseren anderen unmittelbaren Nachbarn haben wir, verglichen mit der Zwischenkriegszeit, ein Stadium der engsten Kooperation erreicht.ZEUNER Aber die Brücken sind noch nicht lang und breit genug. Erschreckt

PROFESSOR DR . HEINRICH AUGUST WINKLER

ist einer der renommiertesten deutschen Historiker. Winkler, der an der

Humboldt-Universität zu Berlin lehrt, forscht zur ‚Geschichte des Westens‘. Unter diesem Titel hat er eine vierbändige Buchreihe ver-

öffentlicht, die zum Standardwerk geworden ist. Der Historiker mischt sich mit Verve in

politische Debatten ein. Zum 70. Jahres- tag des Kriegsendes am 8. Mai 2015

hielt Winkler die Gedenk rede im Deutschen Bundestag.

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mich das? Nein. Europa ist und bleibt unser Auftrag für eine sehr lange Zeit und aus sehr guten Gründen, die weit über das Ökonomische hi n- ausgehen. Aber das heißt nicht, dass die Architektur der Währungs- union eine Nebensache ist. Im Gegen-teil. Das 20. Jahrhundert lehrt uns, dass Europa auch wirtschaftlich erfolgreich und gesellschaftlich offen sein muss, um zu überleben. Des- halb muss sich die Währungsunion weiterentwickeln.

„Das Flüchtlingsproblem führt zur bisher schwersten

Krise der EU überhaupt.“Professor Dr. Heinrich August Winkler

In der Staatsschuldenkrise schlagen Deutschland und Frankreich häufig unterschiedliche Rezepte vor.WINKLER Im deutsch-französischen Verhältnis wäre in Fragen der Wäh-rungsunion mehr Konsens dringend erforderlich. Zwischen Paris und Berlin herrscht beim Thema Wirtschafts- wachstum versus Haushaltskonsoli- dierung keine Übereinstimmung.

ZEUNER Hier müssen wir Ökonomen für viel mehr Aufklärung sorgen, anstatt Nebelkerzen zu werfen. Wir haben doch alle Vertrauen in die Marktwirtschaft und den Wettbewerb. Wir sind uns alle einig, dass lang- fristiges Wachstum aus Ideen und der Bereitschaft entsteht, etwas Neues auszuprobieren – also aus Bildung, Forschung und Innovation. Und es ist Konsens, dass gute Investitionen die Wirtschaftskraft erhöhen und es deshalb gerechtfertigt ist, dafür Kredite aufzunehmen. Die Gemein- samkeiten sind also größer, als man gemeinhin glaubt.

Was bedeuten die Divergenzen für die Zukunft Europas, wenn Herr Zeuner nicht recht hat?WINKLER Integrationsfortschritte in Europa wird es nur geben, wenn zwischen Frankreich und Deutschland ein Grundeinverständnis herrscht.

Auch unser Verhältnis zu Ländern Südeuropas, besonders zu Griechen-land, ist aktuell nicht das beste.WINKLER Von deutscher Seite hätte frühzeitig dem Eindruck entgegenge-wirkt werden müssen, es ginge aus-schließlich ums Sparen. Richtig ist aber auch, dass Haushaltskonsolidierung eine Bedingung für die Weiterent- wicklung der Währungsunion ist und Versäumnisse anderer Staaten in puncto Strukturreformen allzu gerne bei Deutschland abgeladen werden. Da ist viel kompensatorische Rhetorik im Spiel.ZEUNER Das stimmt. Die Konvergenz hat bemerkenswerterweise vor dem Eintritt in die Währungsunion besser funktioniert als danach. Das Ziel, die gemeinsame Währung, war nur so zu erreichen. Was ist jetzt unser gemein- sames Ziel?WINKLER Der Euro hat entgegen den Erwartungen seiner Architekten die Völker Europas bisher eher auseinan-derdividiert, weil einige Länder die Kriterien der Währungsunion als Zumu-tung empfinden und sagen, sie stünden zu sehr im Widerspruch zu nationalen Traditionen von Haushaltsführung. Manches war leichter, solange es die Möglichkeit der Auf- und Abwertung der eigenen Währung gab. Da artikulier-te sich das Gefühl der Überforderung weniger stark.

Wollen Sie, dass der Euro wieder abgeschafft wird?WINKLER Nein. Wir dürfen nicht ver-gessen, dass mehrfache Abwertungen des Franc und entsprechende Aufwer-tungen der D-Mark den französischen Präsidenten François Mitterrand veran-lasst haben, auf die Einführung einer europäischen Währung zu drängen. Denn die Abwertungen waren auch immer schlecht für das nationale Image.ZEUNER Sehr richtig! Denn Abwertun-gen – und das ist auch wichtig in der Debatte über einen Grexit – bringen am Ende eben nicht automatisch Wachs-tum. Das ist nicht die Erfahrung der Franzosen und Italiener aus den D-Mark-Tagen. Die Abwertungen haben geldpolitische Fehler unter den Teppich gekehrt und die Kaufkraft des heimi-schen Geldes verringert. Gerade Lohn-

18 | CHANCEN Brücken

empfänger und Sparer konnten sich dann schlagartig weniger importierte Güter leisten. Diese Umverteilung war erheblich und außerdem zutiefst undemokratisch. Deshalb wollen auch heute noch die meisten den Euro. Das sollten die Kritiker der Reform- programme nicht vergessen.

Worin bestand der Gründungsfehler des Euro?WINKLER In der Preisgabe des Junktims, Währungsunion und politi-sche Union simultan zu verwirklichen. Der Vertrag von Maastricht von 1992 schuf eben nur für die Währungsunion ein klares Profil, blieb aber in Sachen politische Union vage. Im Laufe der 90er Jahre hat dann Helmut Kohl in der Währungsunion immer mehr das Erreichbare gesehen, während er in Sachen politische Union selbst skepti-scher wurde. Das hat sich nach der Weltschulden- und Finanzkrise ab 2008 zur großen Hypothek des Euro entwickelt. An dieser Hinterlassenschaft aus der Gründungsphase arbeiten wir uns heute ab.

Was ist zu tun?ZEUNER Ich würde mir wünschen, dass sich die Nationalstaaten in Rich-tung Fiskalunion und einer eng abge-stimmten Arbeitsmarktpolitik bewegen. Darüber sollten wir jetzt reden. Wir kämen so weiter als mit der ständigen Verfeinerung eines Regelwerks wie des Maastrichter Vertrags. Ich glaube nicht, dass wir Wirtschafts- und Fiskalpolitik lange auf Autopilot schalten können. Wir werden immer wieder schwierige finanz- und wirtschaftspolitische Ent-scheidungen treffen müssen. Um eine Idee davon zu bekommen, was dabei richtig ist, wer sich wie bewegen soll, müssen wir die Funktionsweisen der europäischen Volkswirtschaften noch viel besser verstehen. Das hat die EU-Kommission, das hat aber auch meine eigene Disziplin, die Volkswirt-schaft, bislang versäumt.

Was meinen Sie damit?ZEUNER Wir müssen mehr darüber wissen, wie flexibel die einzelnen Volkswirtschaften sind. Wahrscheinlich reagiert Italien anders auf den Ein-bruch des Ölpreises als Deutschland.

Wahrscheinlich kann die französische Wirtschaft mit vielen exportierenden Großunternehmen einen Personalabbau im öffentlichen Dienst viel besser ver-kraften als die griechische, die aus ganz vielen Einmannbetrieben besteht. Nur so kann man doch fair beurteilen, wo sich ein europäischer Partner wie bewe-gen muss und wo welche Form von Solidarität gefragt ist.

Herr Winkler, sind wir in Griechen-land über den Berg? WINKLER Ich hoffe, dass das dritte Hilfspaket zu den Strukturreformen führt, die im ureigenen Interesse Griechenlands liegen. Aber ich habe da so meine Zweifel. Sollte das gewünschte Ergebnis ausbleiben, wird in den wirtschaftlich stabileren Ländern die Bereitschaft zu weiterer Hilfe sinken. Es wäre außerordentlich gefährlich, wenn in den Ländern, die

sich an die Regeln der Währungsunion halten, die Frustration wüchse. Dies würde euroskeptische und antieuropä-ische Kräfte stärken. Dieser politische Aspekt muss allen Akteuren in Berlin, Paris, Rom und Brüssel präsent sein, von denen in Athen ganz zu schweigen. Auch eine linke Regierung wie die von Syriza hat an einem exzessiven griechischen Nationalismus festgehal-ten. Wir sind also noch nicht aus dem Schneider.

„Wir können Wirtschafts- und Fiskalpolitik nicht lange auf Autopilot schalten.“Dr. Jörg Zeuner

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ZEUNER Da bin ich voll und ganz Ihrer Meinung: Wenn das Paket keinen Erfolg zeigt, wird das für die Währungs-union sehr schwierig. Ich bin aber heilfroh, dass der Grexit letztendlich keine Option war. Er wäre für Grie- chenland eine absolute Katastrophe geworden. Auch für die Zukunft gilt: Eine Exit-Option in die europäische Architektur einzubauen, bringt sofort zwei Probleme für alle Mitglieder.

Sie verteuert die Kreditaufnahme, weil eine Prämie für den möglichen Ausstieg gezahlt werden muss, und sie setzt die Länder wieder vermehrt Instabilität und Spekulation an den Finanzmärkten aus.

Wenn wir heute über Europa reden, dann sprechen wir meist über Schulden. Die Verletzung westlicher Werte in einigen Mitgliedsländern scheint eine untergeordnete Rolle zu spielen ...WINKLER . . . und das ist skandalös! Die Kampfansagen an die liberale De- mokratie aus dem Munde des ungari- schen Ministerpräsidenten Viktor Orbán blieben bislang unbeantwortet. Oder nehmen Sie die Demontage rechtsstaat- licher Prinzipien durch den der Korrup- tion verdächtigen rumänischen Minis-terpräsidenten Victor Ponta. Wer sich nicht zu den Menschenrechten, den Ideen der Gewaltenteilung, der Herr-schaft des Rechts, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie bekennt, bricht europäisches Recht.

Ungarns Antwort auf die zahl- reichen Flüchtlinge, die in diesem Jahr in die Europäische Union drängen, ist ein Zaun an der Grenze zu Serbien.WINKLER Das Flüchtlingsproblem führt zur bisher schwersten Krise der Europäischen Union überhaupt. Denn hier geht es um das moralische Selbst-verständnis der Gemeinschaft. Wer, wie einige Staaten, meint, ihn ginge die Flüchtlingstragödie nichts an, gibt den Anspruch auf, eine Wertegemeinschaft zu sein. Einige wenige Staaten tragen die Hauptlast, während andere sich einen schlanken Fuß machen. Das kann so nicht bleiben.

Welche Konsequenzen könnte das haben?WINKLER Daran kann das europäische Projekt scheitern. Hier geht es wirk- lich um Sein oder Nichtsein im Sinne der Wertegemeinschaft EU. Da haben wir nicht nur immensen Handlungs- bedarf, sondern auch immensen Nach-denkbedarf. Und dazu gehört auch, dass wir nachdenken über eine gemein-same europäische Migrations- und Asylpolitik. Da stehen uns sehr ernste Debatten ins Haus.

ZEUNER Die Bewegungsfreiheit inner-halb der EU ist bereits gefährdet und damit ein Kernziel der europäischen Integration. Ich gebe auch zu bedenken, dass gerade Deutschland mit seiner alternden Bevölkerung von geordneter Zuwanderung außerordentlich profitie-ren kann. Gleichzeitig dürfen wir den Blick in die Herkunftsländer nicht scheuen und müssen uns fragen, was vielleicht dort zu tun ist. Und die EU muss ein besseres Beispiel geben: Zu viele Mitgliedstaaten liegen noch immer weit zurück, was Transparenz-, Korruptions- und Doing-Business- Indikatoren betrifft.

Was wäre denn zu tun?WINKLER Den Herkunftsländern der Flüchtlinge muss geholfen werden, damit die Abwanderung vor Ort einge-dämmt werden kann. Einige der Länder sind durchaus in der Lage, ihren Bür-gern eine Perspektive zu geben, sodass sie nicht emigrieren. Dann müssen wir zwischen Zuwanderung und Asyl unterscheiden. Einen Anspruch auf politisches Asyl haben nur Menschen, die wirklich politisch verfolgt werden. Asylrecht kann nicht für jede Form von gesellschaftlicher Diskriminierung gelten. Das würde jeden Mitgliedstaat der Europäischen Union und die EU im Ganzen überfordern.ZEUNER Wir sind ein Ziel von Zuwan-derung und das sollte uns keine Angst machen. Eine ganze Reihe von Staaten ist in der Geschichte durch Zuwande-rung kulturell, wirtschaftlich und poli-tisch reicher geworden. Wir werden bald auch viele der Menschen, die zu uns kommen, brauchen. Die Zuwanderung, die wir jetzt erleben, bleibt dennoch eine große Herausforderung, aber sie ist eben auch eine Chance.

Kommentare an:[email protected]

20 | CHANCEN Brücken

KRISENGESPRÄCH KfW-Chefvolkswirt Jörg

Zeuner, Historiker Heinrich August Winkler und Chefredak-

teur Bernd Salzmann (v. l.) im Historischen Foyer der

KfW-Niederlassung Berlin

LEKTÜRETIPPS

Heinrich August Winkler

Zerreißproben

Leidenschaftliche Essays für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechte

C. H. Beck, 2015

Heinrich August Winkler

Geschichte des Westens

Lebenswerk, das von der Antike bis zu den aktuellen Konflikten reicht

C. H. Beck, 2011–2015

21

Loukas Tsoukalis

Der traurige Zustand der Union

Kurzes, prägnantes Plädoyer für einen neuen Konsens in Europa

Bertelsmann Stiftung, 2014

Wolfgang Streeck

Gekaufte Zeit

Kritische Analyse des Verhältnisses zwischen Demokratie und Kapitalismus

Suhrkamp, 2012

Anthony Giddens

Turbulent and Mighty Continent

Der politische Vordenker und seine Vision eines zukünftigen Europas

Polity Press, 2014

Richard Baldwin, Francesco Giavazzi (Hg.)

The Eurozone Crisis

Aspekte der Eurokrise pointiert erklärt

CEPR Press, 2015 (Kostenloser Download: bit.ly/1OObP6m)

REDENREDEN

22 | CHANCEN Brücken

ÜBER BRÜCKENSie überwinden nicht nur Hindernisse: Manche Brücken sind Filmkulisse, Solarpark oder bekannter Treffpunkt für Verliebte. Andere rollen sich ein, schwingen zur Seite oder ermöglichen einen gehörigen Adrenalinkick.

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ZAHLENWER K

WISSENSTRANSFER

Mehr als ein Graben zu

überwinden

24 | CHANCEN Brücken

Warum die Energiewende viele Brückentechnologien braucht, erklärt Andreas Kuhlmann, Vorsitzender der Geschäftsführung der Deutschen Energie-Agentur.

Bisher gilt in der Energiewende: Eine Brückentechnologie ist, was den erneuerbaren Ener-gien den Weg ebnet. Doch die

Energiewende ist komplexer geworden. Nachdem der Ausbau der Erneuerbaren bereits gut fortgeschritten ist, müssen jetzt auch andere Aspekte mehr Ge-wicht bekommen, vor allem Energie effi -zienz, intelligente Energiesysteme und Innovationen. Der Begriff der Brücken-technologie erscheint dadurch in einem anderen Licht. Nehmen wir zum Beispiel Gas. Gas gilt als Brückentechnologie Nummer eins für die Energiewende. Es ist die fossile Technologie, die am ehesten mit den erneuerbaren Energien und dem Klimaschutz kompatibel ist: effi-zient, emissionsarm, flexibel. Solange die Erneuerbaren die Energieversor-gung nicht zu jedem Zeitpunkt allein sichern können, sollen Gaskraftwerke einspringen. Eine Technologie mit Ver-fallsdatum also, nützlich und notwen-dig, aber nicht von Dauer. Die Zukunft gehört den erneuerbaren Energien, Gas

ist ‚nur‘ die Brückentechnologie. Die Einschätzung, was Brückentechnologie ist und was nicht, kann sich ändern. In den 1950er und 1960er Jahren galt Atomkraft für viele als Zukunftstech-nologie, die alle Energieprobleme lösen würde: unbegrenzt, günstig, sauber.

Nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 wurde die Atomkraft von ihren Befürwortern noch als Brückentechno-logie verteidigt. Seit Fukushima 2011 ist dies – zumindest in Deutschland – nicht mehr haltbar. Die einstige Zukunfts-technologie soll auch nicht mehr als Brücke in das Zeitalter der erneuerbaren Energien dienen.

Es wird im Laufe der Energiewende viele verschiedene Gräben und Schluchten geben, die wir überwinden müssen – manche dieser Hindernisse sehen wir jetzt schon vor uns, andere werden sich erst noch zeigen.

Die Energiewende ist ein komplexer, langfristiger Transformationsprozess. Wir mögen uns über die Ziele für das Jahr 2050 im Klaren sein – 80 Prozent weniger CO2-Emissionen, 80 Prozent Anteil erneuerbare Energien, 50 Prozent weniger Primärenergieverbrauch. Aber mit welchen Technologien wir dorthin gelangen, können wir heute nicht genau wissen. Es geht jedenfalls nicht darum, eine einzige große Brücke zu überqueren und dann stehen zu bleiben, wie dies bei der Brückentechnologie Gas vielleicht anklingt. Es wird im Laufe der Energie-wende viele verschiedene Gräben und Schluchten geben, die wir überwinden

müssen – manche dieser Hindernisse sehen wir jetzt schon vor uns, ande-re werden sich erst noch zeigen. Wir werden viele Technologien brauchen, die aufeinander aufbauen und sich zu einem großen Ganzen zusammenfügen. Brückentechnologien ebnen nicht nur den Weg in die Zukunft, sie sind ein Teil von ihr.

Deutsche Klimaschutz- und Energieziele bis 2050

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Brückentechnologien ebnen nicht nur den Weg in die Zukunft, sondern sie sind ein Teil von ihr.

Die Energiewelt besteht aus vielen Teilen. Wir müssen lernen, diese Teile miteinander zu verbinden und aufein-ander abzustimmen. Es geht um intel-ligente Netze und Systeme, um die Ver-knüpfung von Erzeugung, Speicherung und Verbrauch, von Strom, Wärme und

Verkehr. Digitalisierung wird hier eine große Rolle spielen. Innovative Unter-nehmen sind jetzt gefragt, die ihre Chan-cen erkennen und neue Geschäftsfelder erschließen. Und eine Politik, die auf die Trends reagiert und geeignete Rahmen-bedingungen schafft. Die Auseinander-setzung mit diesen Fragen wird nicht immer einfach sein; es wird, wie bisher, heftige Debatten geben. Aber wenn wir uns den Herausforderungen gemeinsam stellen, auf unsere Innovationskraft setzen und den Dialog suchen, werden wir auch wieder mehr Zuversicht und Begeisterung für das Generationenpro-jekt Energiewende entwickeln. Der Moment ist günstig, um neuen Schwung aufzunehmen. Auch inter-national ist viel in Bewegung. In der Klimapolitik scheinen wir den Punkt zu erreichen, wo es kein Zurück mehr gibt. Auf dem G7-Gipfel haben die gro-ßen Industrienationen bekräftigt, dass sie den Anstieg der Erderwärmung auf zwei Grad begrenzen wollen. Dafür soll die Weltwirtschaft im Laufe des Jahr-hunderts dekarbonisiert werden. Das

bedeutet langfristig die Abkehr von kohlenstoffhaltigen Energieträgern. Die Bundesregierung wiederum hat ihr Kli-maschutzziel erneut bekräftigt und mit weiteren Maßnahmen versehen. Das sind positive Signale für den Klimagipfel in Paris – und für die Energiewende in Deutschland. Es liegt an uns allen, dar-auf aufzubauen.

ANDREAS KUHLMANN

ist seit Juli Vorsitzender der Geschäftsfüh-rung der Deutschen Energie-Agentur (dena). Zuvor leitete er die Strategieabteilung des Bundesverbands der Energie- und Wasser-wirtschaft (BDEW).

HANDELN

26 | CHANCEN Brücken

36 Freie Fahrt zur Küste

Eine Brücke über den Sambesi trägt zum wirtschaftlichen Aufschwung Namibias bei

42 Risikobereiter Geldgeber

Forbion investiert in Start-ups und überbrückt die Zeit, bis sie sich etabliert haben

Deutsche Werftarbeit

48 Wachstum in Kenia

Die Stuttgarter Gartenbaufirma Selecta Klemm schlägt erfolgreich Brücken nach Afrika

2727

52 Globales Geschäft

Sie finanzieren Brücken über den Wolken: die Flugzeugspezialisten der KfW IPEX-Bank

In Papenburg entstehen schwimmende Hotels mit dem Fassungsvermögen von Kleinstädten. Später auf See hat der Kapitän das Sagen. Doch bis es so weit ist, führen andere Experten das Kommando auf der Brücke.

Text: Martin Sattler, Fotos: Michael Oehlmann

MASSANFERTIGUNG

In der Meyer Werft wird ein neuer Kreuzfahrtriese

fertiggestellt

LEITUNGSVERANTWORTUNG In luftiger Höhe verkabeln Spezialisten die technischen Geräte. Von der Kommandobrücke aus wirken die Autos auf dem Parkplatz wie Spielzeug

Noch sind es die sattgrünen Wiesen Niedersachsens, die sich an diesem verregnet- grauen Spätsommernach-

mittag vor den mannshohen Fenstern des Kreuzfahrtschiffes ausdehnen. Die Aussicht ist atemberaubend, hier auf der Kommandobrücke, knapp 40 Meter über dem Boden. Bald wird der Kapitän den Ozeanriesen in karibisches Fahr-wasser navigieren. Verantwortlich dafür, dass das Schiff demnächst pro-blemlos von der Meyer Werft in Papen-burg zu Trauminseln wie Barbados aufbrechen kann, ist Stephan Schmees. Wir treffen den Projektleiter der Werft, der gemeinsam mit seinem Team in den vergangenen Jahren bereits den Bau von vier Kreuzfahrtschiffen verant-wortet hat, zu einem Rundgang über die Großbaustelle. Mit seinen 20 Decks und rund 335 Metern Länge thront das Schiff hochhausgroß im Außendock. Man sagt, die Urlaubsstimmung setze bei einer Kreuzfahrt bereits mit den ersten Schritten über die Gangway ein. Noch funktioniert das nicht. Das

ohrenbetäubende Kreischen einer Flex zerschneidet jegliche Gedanken an ferne Länder und entspannte Stunden auf dem Sonnendeck. Überall montieren Handwerker mit Bauhelmen Zierleisten, verlegen Teppiche oder nehmen bereits fertige Bereiche ab. In bis zu drei Schich- ten arbeiten sie fieberhaft daran, dass alles rechtzeitig gästefertig wird. Und die Chancen dafür stehen gut – obwohl noch Kabel aus den Decken hängen und schwere Steinplatten auf ihre Verarbeitung warten: „Wir haben noch nie unpünktlich abgeliefert“, beruhigt Stephan Schmees. „Und wir haben nicht vor, daran etwas zu ändern.“ Es muss noch eine Menge passieren, bevor das Schiff in knapp drei Wochen die Werft verlassen und anschließend an die Reederei übergeben werden kann. Doch was von außen betrachtet wie eine einzige Großbaustelle aussieht, ist längst ein funktionierendes Kreuzfahrt-schiff – vollgepackt mit modernster Technik und Highend-Equipment. Wie zum Beleg richtet Ingenieur Sebastian Arians am Kommandostand gerade den zweiten Autopiloten ein.

Das Schiff in Zahlen

28 | CHANCEN Brücken

HANDELN

335 Meter Länge

76.800 kW Maschinenleistung

39.000 kW Antriebsleistung

22,5 kn Geschwindigkeit (42 km/h)

815 Theatersitzplätze

15 Restaurants

8 Bars/Lounges

Auf Autopilot scheint auch der Kreuz-fahrtmarkt zu sein. In den vergangenen Jahren hat ein regelrechter Boom einge-setzt. Einige Reedereien berichten, die Nachfrage übersteige mittlerweile das

Angebot. Es ließen sich deutlich mehr Tickets verkaufen, allein es fehlen die Kapazitäten. Deshalb ordern nicht nur amerikanische, sondern auch die gro-ßen deutschen Kreuzfahrtanbieter wie AIDA Cruises oder TUI Cruises neue Giganten. Die Schiffbaubranche hat gehörig Rückenwind. Nirgendwo kann man das zurzeit besser beobachten als in der Meyer Werft in Papenburg. Die Auftragsbücher sind gut gefüllt – und damit auch die Docks. „Ab 2020 haben wir wieder freie Kapazitäten“, sagt Schmees. Bis dahin würden Bestellun-gen abgearbeitet. Bestellungen wie das fast fertige Kreuzfahrtschiff. In wenigen Wochen wird der Riese über die Ems in Richtung Meer schippern. Dann, zur fristgerechten Auslieferung, werden sich die Baustellen im Inneren des Schiffes in einladende Wohlfühl-landschaften für Kreuzfahrtfans ver-wandelt haben. Diese Verwandlung kann man im Bauch des schwimmenden Kolosses bislang nur erahnen. Akkuschrauber rotieren, es riecht nach Farbe und frisch verarbeitetem Holz. Kabinen, Restau-rants, Wellnessbereiche, Shopping- area und das Theater bekommen den finalen Schliff. Mit dem Innenausbau hat die heiße Phase des Projekts begonnen. Komplett fertig und absolut unfertig liegen dicht beieinander. Hier fehlt noch der Treppenaufgang, dort

leuchten bereits die Logos der Designer- marken in der Shoppingmall. Man darf nicht vergessen: In der Entstehungs- geschichte eines Kreuzfahrtschiffes sind drei Wochen ein Wimpernschlag. Die Konstruktionsphase dauert rund anderthalb Jahre, die Planungsphase davor in etwa genauso lang.

Die großen VierIn Europa bauen vier Werften hochseegängige Kreuzfahrtschiffe: die Meyer Werft Papenburg (Deutschland) und Meyer Turku (Finnland), Fincantieri (Italien) und STX France (Frankreich).

Damit Großprojekte wie dieser Schiffbau verwirklicht werden können, braucht es das funktionierende Zusam-menspiel von Reederei, Werft und Finanzpartner. Der übliche Weg ist fol-gender: Die Reederei bestellt den Bau

eines Kreuzfahrtschiffes bei der Werft. Dabei stehen die vereinbarten Bauver-träge jedoch unter dem Vorbehalt, dass eine akzeptable Finanzierung für die bis zu 900 Millionen Euro teuren Schiffe zustande kommt. „Um unsere Kreuzfahrt-schiffe in der gewohnt hohen Qualität und der geforderten Zeit bauen zu kön-nen, brauchen wir verlässliche Banken-partner, die solche hohen Kreditbeträge in sehr kurzen Genehmigungszeiten bereitstellen können“, sagt Thomas Weigend, Mitglied der Geschäftsleitung und Leiter des Bereichs Forschung, Vertrieb und Produktentwicklung der Meyer Werft. „Die KfW IPEX-Bank ist eine solche Größe im Markt – wir haben in den vergangenen 20 Jahren schon sehr viele herausfordernde Projekte gemeinsam sehr erfolgreich realisiert.“

41,4 Meter Breite

20 Decks

8,30 Meter Tiefgang

2.174 Passagierkabinen

4.266 Passagiere maximal

1.651 Crewmitglieder

SICHERHEITSCHECK Ingenieur Sebastian Arians bringt den Autopiloten auf Kurs

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Von Frankfurt am Main aus unter-stützt die Spezialbank deutsche und euro- päische Werften beim internationalen Geschäft, aufgrund der hohen Volumina meistens im Zusammenschluss mit

anderen Banken. „Reedereien rund um den Globus entscheiden sich für uns, da wir die Möglichkeiten und das Know- how haben, auch die großen Aufträge zu übernehmen“, sagt Christian K. Murach, Mitglied der Geschäftsleitung der KfW IPEX-Bank. Wichtig dabei ist auch die Strukturierungsexpertise. Die Fachleute der KfW IPEX-Bank wissen genau, wie der Kredit aufgebaut sein muss, damit sich solche großen Deals für alle beteiligten Parteien rechnen.

„Wir setzen auf langjährige, vertrauens-volle Geschäftsbeziehungen zu unseren Kunden und Bankenpartnern. Alle Beteiligten wissen, dass auf uns Verlass ist – auch wenn der Wind mal rauer weht“, sagt Murach. Durch die Finanzierung der Kreuz-fahrtgiganten stützt die KfW IPEX-Bank auch den deutschen Export von Spitzen-technologien und sichert zahlreiche Arbeitsplätze: Rund 3.100 Beschäftigte arbeiten allein bei der Meyer Werft in Niedersachsen. Diese Zahl steigt sogar auf 20.000, zählt man die knapp 800 überwiegend mittelständischen Zulie-ferbetriebe hinzu, die ebenfalls am Bau beteiligt sind. Denn beim Bau von Kreuzfahrtschiffen erbringt die Werft nur rund 25 Prozent der Leistung – etwa 75 Prozent übernehmen Betriebe aus ganz Deutschland. So stammen zum Beispiel die Moto-ren aus Süddeutschland. Selbst ganze Küchen werden zugeliefert; Hauben, Wände und Decken kommen aus der Region, das Küchenequipment wird weltweit zugekauft. Die Nähe zu den relevanten Zulieferbetrieben sowie das umfassende Integrations-Know-how der Werften sind auch die zentralen Gründe, warum fast alle Kreuzfahrt-schiffe lediglich in den vier großen europäischen Werften gebaut werden. Die Erkundungstour an Bord geht weiter. Auf Deck 20 gelangen wir in den Außenbereich. Wasserrutsche und Pools des Aquaparks sind noch eingerüstet oder mit rotweißem Bau-stellenband abgesperrt. Auch der Hoch-seilgarten ist noch nicht bekletterbar. Also weiter ins Innere des Schiffes. Wir gehen vorbei an künftigen Restaurants, Lounges und Bars und betreten eine Kabine. Die Doppelkabine mit Balkon und geräumiger Dusche ist bereits bezugsfertig – und wahrscheinlich

schon für die Jungfernfahrt vermietet. Stammgäste der Reedereien sind sehr darauf erpicht, als erster Passagier in einem dieser Betten liegen zu kön-nen. Die voll ausgestatteten Kabinen, von denen es rund 2.000 an Bord gibt, werden als komplette Bauteile geliefert. Befinden sie sich an der richtigen Position, werden Strom und Wasser angeschlossen sowie der Teppich von der Wand auf den Boden gerollt – und fertig.

20 Prozentdes Baupreises zahlt die Reederei nach der Bestellung an die Werft. Die übrigen 80 Prozent erhält die Werft erst nach Ablieferung des Schiffes.

Ganz so einfach ist es beim Bord- Theater auf Deck 7 nicht. Rund 800 Besucher werden schon bald auf den dann nicht mehr mit Folie abge-deckten Stühlen Platz nehmen und allabendlich den Aufführungen der Musicaldarsteller folgen. Zurzeit bildet ein Baugerüst das Bühnenbild und eine Handvoll Handwerker spielt die Hauptrolle. Pro Jahr kauft die Meyer Werft drei perfekt ausgerüstete Theater – mehr als jede Stadt oder Kommune in Deutschland. Zum Entertainment an Bord gehören aber nicht nur moderne Theater, Casinos und Aquaparks. Die Passagiere erwartet auch in anderen Bereichen eine Hightech-Ausstattung. „Selbst- verständlich wollen die Urlauber auch unterwegs online sein, ihr Smart-phone oder Tablet nutzen. Der gesamte Bereich Connectivity gewinnt daher enorm an Bedeutung“, sagt Stephan Schmees. Diese und andere Entwick-lungen sorgen dafür, dass Kreuz- fahrtschiffe modernste Technik an Bord haben.

KAPITÄN DER BAUSTELLE

Projektleiter Stephan Schmees erklärt Redakteur Martin Sattler, wie ein Kreuzfahrtschiff ent- steht. Für Schmees und sein Team beginnt nun die entscheidende Phase – in wenigen Wochen soll das Schiff an die Reederei über- geben werden

30 | CHANCEN Brücken

Das gilt auch in puncto Energieeffi-zienz und Umweltschutz. Neue techni-sche Lösungen sorgen dafür, dass überall dort, wo durch Verbrennung Wärme entsteht, diese auch genutzt wird. Moderne Wärme rückgewin- nungs systeme kommen zum Beispiel in der Wäscherei zum Einsatz: „In den

ERSTKLASSIGES ENTERTAINMENT

Abkühlung im Aquapark (l.), Bistro-Besuch im kunstvoll beleuchteten Atrium (u. M.) oder Musicalaufführung im demnächst bespielbaren Theater (M. r.) – das sind nur einige der Unterhaltungs- angebote an Bord

Meyer Werft Papenburg

Leer

DOLLARD

unte

r-

ems

nordsee

dollart

Emden

etwa 40 km

WEG ZUM MEER

Mit GPS-Unterstützung erreicht das Kreuzfahrtschiff von Papenburg über die Unterems die Nordsee bei Emden

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vergangenen Jahren wurden viele Ab- läufe an Bord hinterfragt und geändert. Zum Beispiel wird heute gewaschen, wenn das Schiff fährt und genug Dampf da ist, nicht, wenn genug Wäsche da ist“, sagt Projektleiter Schmees. Auch in vielen anderen Bereichen habe ein Umdenken stattgefunden: Angefangen bei umweltfreundlichen Flüssig gas-antrieben (LNG) und Abgas reinigungs-anlagen über die Verwendung von LED oder umweltfreundlicheren Außen-anstrichen bis hin zur Verringerung des Treibstoffverbrauchs durch ein Luftkissen unter dem Schiff. Der Pro-jektleiter sieht darin eine großartige Entwicklung: „Es macht doch viel mehr Spaß, wenn man am Ende ein Produkt hat, bei dem die Effizienz stimmt und der grüne Gedanke mitfährt.“ Drei Wochen später bietet sich dem Besucher an Bord ein völlig anderes Bild: Die Bauarbeiter haben das Feld geräumt und Platz gemacht für Crew und Passagiere. Alle Zierleisten sind an ihrem Platz, die Schutzfolien von den Teppichen gezogen und die rotweißen Absperrbänder im Aquapark entfernt. Auch dieses Kreuzfahrtschiff ist ‚just in time‘ fertig geworden. Es ist der Tag des Abschieds – ein großer Tag für alle Beteiligten, Zehntausende Schau-lustige sind gekommen: Das Kreuz- fahrtschiff verlässt seinen Bauplatz in Papenburg über die Ems in Richtung Nordsee, der ersten Etappe auf dem Weg in die Karibik. GPS-Sender am Ufer der Ems helfen dem Schiff, zenti-metergenau zu navigieren. Mit an Bord rund 1.000 Personen inklusive Crew. Wie der Kapitän hat auch die Besatzung bereits einige Tage an Bord verbracht, um die Abläufe kennenzulernen und sich einzuleben. Für Projektleiter Stephan Schmees ist das Auslaufen des Schiffs ein emo tio-naler Moment: „Mir fällt schon ein riesiger Stein vom Herzen – ganz klar. Trotzdem ist das sehr seltsam. Schließ-lich gibt man das Schiff, sein Baby, nach anderthalb Jahren aus der Hand.“ Viel Zeit, darüber nachzudenken, bleibt ihm nicht. In den überdimensionalen Hallen der Werft wartet bereits das nächste Schiff darauf, den heute frei gewordenen Platz im Außendock einzu-nehmen. Wie gesagt: Der Kreuzfahrt-markt boomt.

32 | CHANCEN Brücken

HANDELN

SCHIFF AHOI!

Schaulustige verabschieden den Ozeanriesen beim Verlassen der Werft. Der Kapitän fährt rückwärts, um besser manövrieren zu können. Auf dem Oberdeck sind der Hochseilgarten und der Aquapark gut zu erkennen

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Brücken sind Trumpf

34 | CHANCEN Brücken

Sie überspannen Flüsse, verbinden Schnellstraßen oder bieten Schutz vor Hochwasser. Die KfW fördert weltweit Brückenbauten. Daten und Fakten ausgewählter Projekte.

HANDELN

1 Finanzierung im Auftrag der Bundesregierung

2 Umgerechnet von lokaler Währung zum Wechselkurs

vom 30. September 2015

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Ökonomisch tragfähigFür Namibia ist 2015 ein wichtiges Jahr: Seit genau 25 Jahren ist das Land unabhängig von Südafrika. Von zentraler Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung des freien und modernen Namibia ist eine Brücke über den Sambesi, die mit deutscher Hilfe gebaut wurde.

Texte: Leonore Esser, Fotos: Janine Krayer

36 | CHANCEN Brücken

Viele Lastwagen auf dem Trans-Caprivi-Korridor (auch Trans-Sambesi-Korridor genannt) haben tonnenweise Kupfer an Bord. Die Fernstraße ver-bindet die Minengebiete des Copperbelts in Sambia

und der Demokratischen Republik Kongo mit dem Tiefsee- hafen Walvis Bay in Namibia. Die Lkw-Fahrer benötigen Ausdauer, um ihren Job zu erledigen. Die Route zwischen der kongolesischen Großstadt Lubumbashi und der Atlantik-küste ist 2.690 Kilometer lang, annähernd die Hälfte führt über namibisches Terrain. Wer die komplette Strecke zurück-legt, sitzt zwischen vier und fünf Tage am Steuer. Woher sie auch kommen und wohin sie auch fahren: Den Sambesi, Afrikas viertlängsten Fluss, müssen die Trucker mit ihren schwer beladenen Lastwagen überqueren. Auf Höhe der namibischen Grenzstadt Katima Mulilo fahren sie über eine Brücke, es ist die einzige weit und breit. Sie entstand zwischen 2002 und 2004 mithilfe der KfW. Gebaut wurde sie als letztes Verbindungsstück des Trans-Caprivi-Korridors. Für Namibias Wirtschaft ist der dank der Brücke lücken-

lose Highway immens wichtig: In den kommenden Jahren will sich das Land mit seinem Hafen Walvis Bay und dem benachbarten Flughafen international als logistische Drehscheibe für Süd- und Zentralafrika positionieren. Denn die eigenen Bodenschätze, darunter Diamanten, Uran erz, Kupfer und Zink, garantieren keinen dauerhaften wirt- schaftlichen Aufschwung. „Namibia bereitet sich auf die Zeit nach den Minen vor“, sagt Uwe Stoll, Direktor des KfW-Büros in Windhuk.

„Namibia hat die Chance, zum Logistik-Hub zu werden

und sich als alternative Handelsroute zu etablieren.“

Johny Smith, CEO der Walvis Bay Corridor Group

QUERVERBINDUNG

Die Straße über die Katima-Mulilo- Brücke ist auf Hunderte Kilometer

die einzige über den Fluss Sambesi

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Der Bau der Brücke hat eine lange Vorgeschichte, die eng mit einem Mann verbunden ist: Klaus Dierks. Der Chef- Brückeningenieur in Namibias Department of Transport begann bereits 1982 mit der Planung einer Brücke über den Sambesi. Alle wichtigen Verkehrsverbindungen hätten zu diesem Zeitpunkt ausschließlich über Südafrika geführt, schreibt er auf einer Website, die auch nach seinem Tod 2005 weiter existiert und seine zahlreichen Projekte doku-mentiert (www.klausdierks.com). Bei der Befreiungsbewe- gung SWAPO fand Dierks Unterstützer. Da Sambia den

südafrikanischen Machthabern – die seit 1920 über ein Mandat des Völkerbundes für Namibia verfügten und das Land faktisch wie eine Kolonie behandelten – jedoch als Feindstaat galt, legten diese die ungenehmigte Brücken- planung als Hochverrat aus und entließen den Ingenieur 1986 fristlos aus seinem Beamtenverhältnis.

„Diese Brücke repräsentiert wie kein anderes Bauwerk Namibias Streben nach Unabhängigkeit und Freiheit.“

Klaus Dierks, Ingenieur

38 | CHANCEN Brücken38 | CHANCEN Brücken

Erst nach dem Unabhängigkeitstag Namibias am 21. März 1990 konnten die Pläne zum Bau der Brücke weiter reifen. Bei den ersten allgemeinen und freien Wahlen war Dierks SWAPO-Abgeordneter im Parlament geworden. Außerdem hatte ihn Präsident Sam Nujoma als Stellver- tretenden Minister für Öffentliche Arbeiten ins Kabinett berufen. Doch bevor der Ingenieur mit seinem Bauwerk die direkte Verbindung in die Mitte des afrikanischen Kontinents herstellen konnte, musste die Straße vollendet werden. Über die Finanzierung der noch fehlenden Straßen-teile verhandelte Dierks unter anderem mit Deutschland. Die Bundesregierung bewilligte die Mittel für die Fernstraße. 1998 einigte sich die namibische Regierung außerdem mit

dem deutschen Ministerium für wirtschaftliche Zusam- men arbeit und Entwicklung sowie der KfW auf einen Finanzierungsplan für die Katima-Mulilo-Brücke, die letztlich gemeinsam mit dem Nachbarland Sambia direkt hinter der Grenze auf sambischem Staatsgebiet errichtet wurde. Das erleichterte die Finanzierung. Die Eröffnung folgte 2004. „Diese Brücke repräsentiert wie kein anderes Bauwerk Namibias Streben nach Unabhängigkeit und Freiheit“, schreibt Klaus Dierks in seinem Onlinebericht. Mittlerweile überqueren täglich 200 Lastwagen die Grenze zwischen Namibia und Sambia. Aber nicht nur Fernfahrer trifft man auf der Strecke: Insgesamt wurden im vergangenen Jahr am Grenzübergang Wenela jeden Tag 1.500 Fahrzeuge gezählt. Mary Rooken-Smith betreibt nur fünf Kilometer von Katima Mulilo entfernt eine Lodge für Touristen. „Nach Öffnung der Brücke erlebten wir hier in der Region einen Zustrom von Besuchern“, sagt sie. Bevor es die Brücke gab, mussten Touristen den Sambesi in Kazungula per Fähre überqueren, was gut zweieinhalb Autostunden

flussabwärts liegt – die Zeit für die Fährfahrt nicht inbegrif-fen. Nun ist das Reisen in der Region deutlich einfacher.

„Damit solche Entwicklungen erfolgreich sein können, braucht es eine funktionierende Infrastruktur. Die Brücke spielt dabei eine entscheidende Rolle“, sagt Gitta Paetzold, Geschäfts- führerin des Namibischen Gastgewerbeverbands.

ÜBER DEN STROM

Die 877 Meter lange Brücke führt in einem großen Bogen über die

Felsen der Katima-Stromschnellen. Sie ist ein wichtiger Baustein des

Trans-Caprivi-Korridors

Volkswirtschaftlich von noch größerer Bedeutung ist der Bau allerdings für die Entwicklung des Hafens Walvis Bay am Atlantik. „Die Brücke hat viele Möglichkeiten eröffnet“, sagt Johny Smith von der Walvis Bay Corridor Group, die den Hafen und die umliegende Infrastruktur vermarktet. Wie zuvor bereits Sambia hat auch Botswana in Walvis Bay große Güterverkehrszentren gebaut. Die Areale fungieren als Exklaven auf namibischem Staatsgebiet. Vor Ort können

Logistikfirmen aus Sambia und Bots-wana nun eigene Einrichtungen

zur Zollabfertigung, zum Con tai-ner umschlag sowie zum Lagern ihrer Waren nutzen. Schon jetzt

3939

ist der Hafen Walvis Bay einer der effizientesten Afrikas. „Namibia hat die Chance, zum Logistik-Hub für private Unternehmen zu werden und sich als alternative Handels-route im südlichen und zentralen Afrika zu etablieren“, sagt Smith. Mit dem Ziel eines Logistik-Hubs geht Namibia einen weiteren Schritt in die wirtschaftliche Unabhängigkeit von seinem Nachbarn Südafrika, der in Durban den größten Containerhafen des Kontinents unterhält – und avanciert zur ernstzunehmenden Konkurrenz. Mit der sogenannten Vision 2030 hat sich die namibische Regierung zum Ziel gesetzt, bis in 15 Jahren den Entwicklungs-stand einer Industrienation erreicht zu haben. Im Zeitraum 2012 bis 2017 konzentriert sich die Nationale Planungs- kommission auf die Transportinfrastruktur. „Damit ist die Basis für Entscheidungen zugunsten großer Infrastrukturpro-jekte geschaffen“, sagt Uwe Stoll. Von besonderem Interesse ist dabei der Ausbau des Hafens Walvis Bay, der künftig die Ozeanriesen unter den Containerschiffen abfertigen und Umschlagszeiten von höchstens 24 Stunden anbieten soll.

Schienenverbindungen nach Angola, Botswana und Sambia stehen außerdem auf der Agenda. Auch die KfW verhandelt im Auftrag der Bundesregierung mit der Regierung Namibias über die Finanzierung künftiger Vorhaben – darunter eine Eisenbahnlinie, die den Trans-Caprivi-Korridor ergänzen soll.

„Ziel ist es, so viel Fracht wie möglich auf die Schiene zu bringen“, sagt Stoll. „Das ist wirtschaftlicher. Vor allem, weil die Lebensdauer der Straßen durch den Schwerlastverkehr erheblich verkürzt wird. Ihre Rehabilitierung und Erneuerung ist mit hohen Kosten verbunden.“ Rehabilitieren will man stattdessen eine Schienenstrecke zwischen dem Hafen Walvis Bay und dem zentralen Norden, die aus der Kolonialzeit stammt. Ein Vorhaben von hoher Bedeutung: Nach Windhuk verfügt der Norden über das größte Industrie- und Handels-zentrum. Zu einem späteren Zeitpunkt sei es gegebenenfalls sogar möglich, die Eisenbahnlinie in die Nachbarländer Angola und Sambia sowie den Kongo zu verlängern, so Stoll.

„Es ist erkennbar, dass in den nächsten Jahren viele Groß-projekte anlaufen werden.“

40 | CHANCEN Brücken40 | CHANCEN Brücken

BESSER ANGESCHLOSSEN

Mary Rooken-Smith betreibt gemeinsam mit ihrem Mann Keith eine Lodge in

Katima Mulilo. Seit es die Brücke gibt, kommen mehr Touristen in die Region

Unrühmliche GeschichteNamibia und Deutschland verbindet eine gemeinsame Geschichte. Wer über die Katima-Mulilo-Brücke recherchiert, stößt schnell darauf. Die Brücke führt über den Sambesi, der eine natürliche Grenze zwischen dem namibischen Caprivi-Streifen und Sambia bildet. Der Name ‚Caprivi‘ führt zurück in die Kolonialgeschichte Namibias, als das Land noch Deutsch- Südwestafrika hieß. Reichskanzler Georg Leo von Caprivi, Nachfolger Bismarcks, erwarb den Landstrich 1890 im Zuge eines Tauschgeschäfts: Er verzichtete dafür gegenüber Großbritannien auf Gebiets- ansprüche an der Ostküste Afrikas, darunter die Insel Sansibar. Von dem Landgewinn in Deutsch-Südwestafrika versprachen sich die Kolonialherren Zugang zum Sambesi. Doch die Hoffnungen wurden enttäuscht:

Die Region war zu weit abgelegen, als dass die Machthaber aus dem zentralnamibischen Windhuk dort hätten Einfluss ausüben kön-nen. Zwar lockten Gerüchte über mögliche Kohle-, Diamanten- und Kupfervorkommen 1909 eine Expedition in den Caprivi-Streifen und in Schuckmannsburg am Ufer des Sam-besi wurde die deutsche Flagge gehisst. Von Mineralien jedoch keine Spur. 1915 verlor die deutsche ‚Schutztruppe‘ nach teils erbitterten Kämpfen ihre Herr-schaft über die Kolonie an die Südafrikani-sche Union. Aber auch 100 Jahre nach der Kapitulation der deutschen Truppen klingen einige Gebiets- und Ortsnamen hierzulande noch vertraut. Doch das ändert sich zuse-hends: Seit 2013 heißt Schuckmannsburg wieder Luhonono und der ‚Caprivi-Zipfel‘ ist heute als Verwaltungsregion Sambesi

bekannt. Das Vermächtnis des Kaiserreichs in Deutsch-Südwestafrika hat dunkle Seiten. Berüchtigt ist der Befehl von Generalleutnant Lothar von Trotha gegen die aufständischen Herero vom 2. Oktober 1904: „Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen.“ Die Bilanz der kriegerischen Auseinander- setzungen, zunächst mit den Herero, später auch mit den Nama, ist erschütternd: Nach Schätzungen von Historikern kamen Zehntau-sende Herero und Tausende Nama in Kampf- handlungen, bei Flucht und Vertreibung, in Gefangenenlagern sowie bei Zwangsarbeit ums Leben. Die Bundesrepublik sucht Wege, sich der besonderen Verantwortung zu stellen. Im Juli dieses Jahres bezeichnete Bundestags-präsident Norbert Lammert die Kolonialver-brechen erstmals als einen Völkermord.

DER GROSSE FLUSS

Der Sambesi, in der Amtssprache Englisch Zambezi, ist mit 2.574 Kilo-metern Länge der viertgrößte Fluss Afrikas. Insgesamt nur neun Brücken verbinden seine Ufer

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„Deutschland muss sich nicht

verstecken“

MACHER

WÄHLERISCH

Holger Reithinger investiert aus- schließlich in Biotechnologie, Medizin-technik und Diagnostik. Er ist vom Fach, hat in Biochemie promoviert

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HANDELN

Der Biologe Holger Reithinger leitet die Risikokapitalgesellschaft Forbion in München. Sie investiert in junge Hightech-Firmen und überbrückt so die schwierige Phase, bis sich ein Start-up am Markt etabliert hat.

Interview: Alia Begisheva, Fotos: Dominik Buschardt

Herr Reithinger, hat Sie heute schon ein Start-up kontaktiert?Heute rief tatsächlich schon jemand an. Wir werden uns die Idee des Herrn noch genau anschauen. Die spontanen Anrufe sind aber selten, die Gründer schicken in der Regel eine Präsentation.

Wie wahrscheinlich ist es, dass er von Ihnen Kapital erhält?Wir bekommen etwa 600 Anfragen pro Jahr – machen aber nur zwei bis fünf Investments, ausschließlich in Medizin-technik, Biotechnologie und Diagnostik. Aus der Sicht des Gründers ist es also eine große Herausforderung, eine Finanzierung von uns zu erhalten.

Warum ist das so?Es gibt viele Gründer mit pfiffigen Ideen, aber nicht jede ist für Venture Capital, also Risikokapital, geeignet. Um die hohen Risiken abzufedern, können wir nur in Unternehmen investieren, deren technologischer Vorsprung sehr groß ist und deren Produkte in großen Märkten hohe Gewinne versprechen. Um solche Unternehmen zu finden, begeben wir uns auch selbst auf die Suche, gehen auf Konferenzen, in Universitäten und nutzen unsere Kontakte.

In den USA buhlen Fonds für Venture Capital in vielen Fernseh- shows um junge Unternehmen. In Deutschland gilt diese Finanzie-rungsform als Zockerei. Weshalb?Das heutige Venture Capital ist in Amerika erfunden worden, Technologie- unternehmen wie Intel, Google oder

Apple sind anfangs so finanziert worden. Während die Amerikaner also auf mehr als 50 Jahre Erfahrung mit Venture Capital zurückblicken, setzt der Deutsche nach wie vor auf die Fremdkapitalfinanzierung über Banken. Auch sind die Amerikaner risikofreu-diger – und auch risikobewusster. Die geplatzte Dotcom-Blase im Jahr 2000 konnte den amerikanischen Venture- Capital-Markt nicht nachhaltig erschüt-tern. Der deutsche Markt hat sich aber noch nicht vollständig von dem Schock erholt. Venture Capital führt hierzu- lande immer noch ein Schattendasein. Wir brauchen Geduld.

540Millionen Euro

Mit dieser Summe ist Forbion derzeit

weltweit an 30 innovativen Unternehmen

beteiligt.

MARKT IM FOKUS

KfW Research hat den Beteiligungs- markt in Deutschland untersucht.

Fokus Volkswirtschaft, Nr. 98: www.kfw.de/fokus

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Mit Geduld lässt sich aber keine hohe Rendite erzielen ...Deshalb müssen wir noch viele Ver- bindungen knüpfen, nicht nur zu den Unternehmen, sondern auch in die Hochschulen und in die Gesellschaft hinein. Wir brauchen dringend Privatkapital. Die deutschen Anleger investieren typischerweise in eine Immobilie, ein Containerschiff oder einen Windpark, aber kaum in junge Technologieunternehmen.

Wo ist der Bedarf im deutschen Start-up-Markt besonders groß?Das klassische Risikokapital richtet sich an Hightech-Gründungen. Wenn aber die Produktentwicklung abgeschlossen ist, brauchen die Unternehmen das große Geld, um ihr Produkt international zu vermark-ten. In Deutschland gibt es vor allem eine Lücke bei diesen Brückenfinan- zierungen. In anderen Ländern – zum Beispiel in Frankreich, Belgien oder den Niederlanden – funktioniert diese Wachstumsfinanzierung auch über die Börsen. In Deutschland haben wir keine ausgeprägte Börsenkultur.

Kann sich unter diesen Vorausset-zungen überhaupt eine interessante Venture-Capital-Szene entwickeln?Deutschland muss sich nicht ver- stecken: Wir sind ein Hightech-Land mit vielen Patentanmeldungen, der Staat steckt Geld in Forschung und in

die frühe Phase der Unternehmens- finanzierung, es gibt eine sehr aktive Start-up-Szene. Trotzdem: Der Techno- logietransfer von den Hochschulen in die Start-up-Szene ist in anderen Ländern wesentlich eingespielter. Auch könnte der Staat gezielt dazu beitra- gen, dass Privatpersonen – statt in die dritte Immobilie – in Unternehmen investieren, die zum Beispiel molekular-diagnostische Verfahren entwickeln. Steuerliche Rahmenbedingungen müs-sen verbessert werden, damit neue Fonds hier ansässig werden.

HOLGER REITHINGER

kam 2010 zu Forbion. Er leitet den deutschen Zweig der niederländischen

Gesellschaft in München

Die KfW investiert seit neuestem in Venture-Capital-Fonds. Was kann eine Förderbank in diesem Segment bewirken? Die KfW ist ein Investor, der Ruhe ausstrahlt. Und lange dabeibleibt. So kann sie wichtige Signale setzen und privates Kapital anlocken. Auch die französische Förderbank BPI investiert verstärkt in den französischen Venture- Capital-Markt, der sich momentan gut entwickelt.

Sie sind der erste Fonds, in den die KfW investiert. Womit haben Sie überzeugt?Wir sind sehr lange am Markt und unser Investment-Team besteht aus Ärzten, Biologen und Biochemikern, nur zwei Mitarbeiter haben einen Finanz-hintergrund, was uns von Banken und Private Equity stark unterscheidet.

Wie entsteht überhaupt ein Fonds?Mit einer Idee, die die Investoren überzeugen muss. In unserer kapital-

intensiven Branche braucht ein Fonds etwa 70 bis 100 Millionen Euro, um sinnvoll starten zu können. Dieses Geld fließt in etwa 13 bis 16 Unternehmen mit dem Ziel, das Risiko breit zu streuen. Wir fangen an zu investieren, bevor wir das gesamte Geld beisammen-haben – so können potenzielle Investo-ren beurteilen, wie spannend unsere Unternehmen sind und wer die anderen Anleger sind.

„Die KfW ist ein Investor,

der Ruhe ausstrahlt. Und lange

dabeibleibt.“Holger Reithinger

IMPULSGEBER KFW

Die KfW investiert aus dem Programm ‚ERP Venture Capital Fonds Investments‘

in den nächsten fünf Jahren bis zu 400 Millionen Euro in Venture-Capital- Fonds – und lockt damit im großen Stil

privates Kapital für Hightech-Start-ups an

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Wer kommt als Anleger infrage?Die Investoren müssen bereit sein, mindestens zwei Millionen zu investie-ren und unter Umständen zehn Jahre zu warten, bis sie das eingesetzte Kapital zurückerhalten. Läuft alles wie gewünscht, winkt eine sehr hohe Rendite. Obendrein haben sie das gute Gefühl, in die neuen Technologien investiert zu haben, die zum Beispiel einen Durchbruch in der Krebsforschung bringen. Aber wir sind ein Risiko kapital-geber: Investoren müssen also auch auf einen Totalverlust gefasst sein.

Welche Exit-Strategien verfolgen Sie bei Forbion?Im Idealfall bringen wir das Unterneh-men nach einigen Jahren an die Börse oder verkaufen es an einen größeren Konzern, wie kürzlich beim Verkauf von Dezima Pharma an das amerikanische Unternehmen Amgen geschehen. Unter Umständen ist das Unternehmen auch so profitabel, dass ein anderer Investor unsere Anteile herauskauft. Das passiert aber selten.

Wie sieht Ihr Portfolio derzeit aus?Wir haben derzeit etwa 30 Unternehmen im Portfolio, verteilt auf drei Haupt-fonds. Etwa zwei Drittel kommen aus Europa, ein Drittel aus den USA. Die geografische Diversifizierung ist ein wesentlicher Aspekt des Risikomanage-ments. In Deutschland sind wir an sechs Unternehmen beteiligt, unter anderem am Bonner Start-up Rigontec, das einen weltweit neuartigen Ansatz in der Immuntherapie gegen Krebs verfolgt (Porträt Seite 45, die Red.).

EXPERTEN FÜR IMMUNTHERAPIE

Vorstandsvorsitzender Christian Schetter und Forschungschefin Chris-tine Schuberth-Wagner

risikokapital für die Krebsforschung

Das Bonner Biotech-Unternehmen Rigontec hat mehr als 14 Millionen Euro Risikokapital eingesammelt. Diese Brückenfinanzierung hilft dem Start-up dabei, aus einem neuen Wirkstoff eine Arznei gegen Krebs zu entwickeln.

Text: Alia Begisheva, Fotos: Alex Kraus

Christian Schetter, Vorstandsvor-sitzender der Rigontec GmbH und promovierter Molekularbio-loge, streift einen weißen Kittel

über und startet mit uns den Rundgang durch die Räume im Life&Brain-Zen trum auf dem Campus des Bonner Uniklini-kums. Ein Empfangstresen, zwei Büro- räume, dann fängt schon der Steril-

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bereich an. In zwei Laboren mit großen Fenstern sitzen vier der acht Mitarbeiter von Rigontec vor Geräten und Reagenz- gläsern. Frisch promovierte Biomedi-ziner, Pharmakologen, Humanbiologen.

„Dieses Zentrum ist extra für wissen-schaftliche Ausgründungen geschaffen worden“, erklärt Schetter und in seiner Stimme ist Begeisterung zu spüren.

Rigontec betreibt Krebsforschung, und zwar mit Fokus auf der Krebsimmun- therapie. Im Gegensatz zur Chemo- oder Strahlentherapie wird hier mit speziel-len Wirkstoffen das Immunsystem des Patienten zum Kampf gegen die Krank-heit mobilisiert. Alle Immun- und Körperzellen werden aktiv – sogar die befallenen. Letztere sterben am Ende den natürlichen Zelltod. „Die Therapeu-tika wirken so, dass die Krebszellen sich selbst zum Ziel erklären“, sagt Schetter. Die Krebsimmuntherapie ist zwar bereits seit Jahrzehnten bekannt und kann seit etwa zehn Jahren auch Erfolge vorweisen. Doch erst vor zwei Jahren verkündete das führende US-Forschungs-magazin ‚Science‘ den ‚Break through of the Year‘ in dieser Sparte. Alle gro-ßen Pharmakonzerne wollen heute Immuntherapeutika in ihrem Portfolio. Kommt der Wirkstoff von Rigontec tatsächlich auf den Markt, haben alle, die in die Firma investiert haben, ihr Geld gut angelegt. Momentan sind es mehr als 14 Millio-nen Euro. Diese hat Rigontec in einer sogenannten Serie-A-Finanzierungsrunde

eingeworben, an der nur professionelle Venture-Capital-Geber beteiligt sind. Allein 4,8 Millionen Euro steuerte Forbion Capital Partners (Interview Seite 42) aus den Niederlanden zusammen mit einem weiteren Risikokapital investor aus Dänemark bei. Das Forbion-Engage-ment wird auch von der KfW unterstützt, die seit neuestem in Venture-Capital- Fonds investiert, um den Technologie-standort Deutschland zu stärken. „Unsere Investoren sind ein hohes Risiko eingegangen“, sagt der Vor-standsvorsitzende. Denn: Floppt das Medikament, verlieren sie ihr Geld. Hinzu kommt, dass sie – selbst bei Erfolg – unter Umständen jahrelang auf die Rendite warten müssen. Für deutsche Anleger, die sonst in Immo-bilien investieren, ist diese Anlageform in der Regel zu riskant: Deshalb sind die 14 Millionen Euro eine außerge-wöhnlich hohe Summe für ein Start-up in Deutschland. „Unsere Investoren treibt aber auch die Motivation, die Forschung voranzubringen, die viele Menschenleben retten kann.“ Mit Erfolgen und Niederlagen von Biotechnologie-Start-ups kennt sich Christian Schetter aus. Zuvor war er sechs Jahre lang CEO der Fresenius Biotech GmbH. Das neue Arzneimittel gegen Krebs, das das Unternehmen auf den Markt brachte, erhielt sogar einen Preis. Unter der Regie von Schetter wurde die Biotech-Sparte von Fresenius erfolgreich verkauft. Davor gehörte er dem Führungsteam von Coley Pharmaceutical an – benannt nach dem Pionier der Krebs immun-therapie William Coley. Die Firma gibt es heute nicht mehr: „Leider funktio-nierte unser Medikament in einer wichtigen Studie damals aus verschie-denen Gründen nicht.“ Die zehn Jahre Forschung waren aber nicht vergebens: Das Unternehmen wurde 2007 vom Pharmariesen Pfizer aufgekauft.

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GRUNDLAGEN DER WISSENSCHAFT

Farbstoffe machen Eiweiße und Erbsubstanzen sichtbar

Die Welt der Krebsimmuntherapie ist klein. So steckt hinter den Forschungs-ergebnissen von Coley Pharmaceutical unter anderem Gunther Hartmann, Professor am Institut für Klinische Che-mie und Klinische Pharmakologie am Universitätsklinikum Bonn. Er ist einer der Gründer von Rigontec. Der zweite Gründer ist Professor Veit Hornung vom

Bonner Institut für Molekulare Medizin. Gemeinsam untersuchten sie RIG-I, einen Rezeptor des Immunsystems. Sobald bestimmte Viren in unseren Kör-per eindringen, macht RIG-I unsere Abwehrkräfte angriffslustig. Die beiden Forscher fanden heraus, wie RIG-I die Viren identifiziert. „Der Rezeptor erkennt deren RNA, eine DNA-Kopie, die übli-cherweise genetische Informa tio nen in Proteine verwandelt“, so Schetter. RIG-I macht sich dabei die besonderen Merk-male der viralen RNA zunutze. Da der Rezeptor in allen Zell typen vorhanden ist – auch in Krebs zellen – wollten die Wissenschaftler ihre Entdeckung zur Bekämpfung von Krebs nutzen. So grün-deten sie im Januar 2014 Rigontec, be- nannt nach RIG-I. Professor Hartmann sitzt heute im Aufsichtsrat, Professor Hornung ist Rigontecs wissenschaft-licher Berater.

Millionen Euro

4,8

steuerte Forbion zusammen mit einem weiteren Risikokapital- investor aus

Dänemark bei. Die wissenschaftliche Leitung hat Christine Schuberth-Wagner über- nommen, eine energische Frau mit lachenden Augen, die früher auch am Bonner Institut für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie forschte.

„Rigontecs Wirkstoff imitiert die Virus-RNA. Anders als das Virus ist er aber nicht krankheitserregend“, erklärt sie.

„Wenn man diese RNA in die Tumore einbringt, wird RIG-I sie erkennen und die Tumorzellen in den Zelltod treiben. Parallel dazu wird das Immunsystem des Patienten wie durch eine Software

zum Kampf gegen die Tumorzellen programmiert.“ Rigontecs Wirkstoff ist sehr genau: Mit RIG-I wird ein einziger Rezeptor aktiviert. „Das minimiert die Nebenwirkungen der Therapie.“ Vor allem Haut-, Brust- und Prostatakrebs, aber auch weitere Tumorarten, die Metastasen bilden, könnten so behan-delt werden. Die Forscher gehen sogar davon aus, dass die neuen Therapeu- tika die Bildung eines Immungedächt-nisses fördern, sodass in Zukunft neue Tumore erst gar nicht entstehen. Die Aufgabe des Rigontec-Teams ist nun, die Wirkstoffe in marktfähige Therapeutika zu verwandeln. Deshalb soll der sogenannte führende Medika-mentenkandidat möglichst bald in der Klinik an ersten Patienten getestet werden. Im nächsten Jahr soll es los-gehen – wann genau, entscheidet das Bundes institut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn. Parallel läuft unter der Regie von Christine Schuberth- Wagner die Forschung weiter. Die klinischen Tests werden mindes-tens sechs bis zehn Jahre dauern. Christian Schetter schätzt, dass Rigon-tec weitere 40 bis 70 Millionen Euro benötigen wird. Darüber, ob das Unter-nehmen eines Tages an die Börse gebracht wird, will der Vorstandsvor- sitzende nicht spekulieren: „Das wäre ein großer Erfolg, aber uns geht es vor allem um die Technologie – und um die Patienten.“

LICHT INS DUNKEL

Mit einem Trans- illuminator können Forscher Moleküle entdecken. Bei der Arbeit mit diesem Gerät tragen sie eine orange Filterbrille

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1.

2. 3.

SCHAFFENSFELD 1. In Kenia gedeihen die Stecklinge in riesigen Gewächshäusern. 2. Ein Geraniensteckling. 3. Die Farm bietet attraktive Arbeitsplätze für Frauen – mit Gehältern über dem Mindestlohn und Sozialleistungen. 4. Busse bringen die Beschäftigten zur Farm

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W

keniaachstumstreiber

Am Rande von Stuttgart wachsen Stecklinge aus Kenia zu Jungpflanzen heran. Dass auch die schwäbische Gartenbaufirma Selecta Klemm gedeiht, liegt vor allem an ihrem Brückenschlag zum afrikanischen Kontinent.

Text: Sabrina Quente

Viele Unternehmen wachsen – der deutschen Wirtschaft geht es erfreulich gut. „Aber wenn wir wachsen, ist

das wörtlich zu begreifen“, sagt Per Klemm und ein breites Lächeln erhellt sein Gesicht. Als Geschäftsführer des Gartenbaubetriebs Selecta Klemm hat er täglich mit Pflanzen zu tun.

„Und je mehr davon wachsen sollen, desto mehr muss auch die Fläche

zunehmen, auf der wir produzieren.“ Wer den Stammsitz des Familien-unternehmens in Stuttgart besucht, muss deshalb der Innenstadt den Rücken kehren: Im Stadtteil Mühl- hausen, umgeben von Hügeln und inmitten von Feldern, auf denen Krähen emsig picken, ist genug Platz für die Gewächshäuser, Außen-flächen und Verwaltungsgebäude des Unternehmens.

Per Klemm führt das Unternehmen gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Nils Klemm und mit Ulrich Sander. Der Mittelständler produziert Beet- und Balkonpflanzen, Stauden, Gräser und Schnittblumen – aber längst nicht nur in Deutschland. 1.700 Mitarbeiter sind an sieben Standorten weltweit für die Unternehmensgruppe tätig. Im warmen Klima von Kenia, Uganda und Teneriffa ziehen sie Stecklinge, also unbewurzelte Jungpflanzen, die später in Stuttgart bewurzelt und anschlie-ßend an mehrere Tausend Gärtnereien und Großhandelskunden weltweit geliefert werden. Bedenken hinsicht- lich der Umwelt zerstreut Per Klemm:

„Untersuchungen zeigen, dass der CO2- Fußabdruck bei einer vergleichbaren lokalen Produktion, also unter deutschen Klimabedingungen, größer ausfallen würde. Die längeren Transportwege werden durch den deutlich geringeren Einsatz an Energie zur Produktion der Stecklinge überkompensiert.“ Bevor aus den Stecklingen pracht- volle Pflanzen wie Nelken oder Advents-sterne werden, müssen sie in Stuttgart durch die Qualitätskontrolle. In einem der 100 Meter langen Gewächshäuser sind die zarten Pflänzchen deshalb

auf nicht enden wollenden Tischen aufgereiht. 135.000 Stecklinge finden auf jedem dieser Tische Platz. Zu jeder Charge gehört ein gelbes Etikett, das darüber informiert, woher die Steck- linge kommen und wer sie geerntet hat. Eines der Etiketten zeigt, dass die Stecklinge, aus denen später Geranien werden sollen, einen weiten Weg hinter sich haben: Sie stammen aus Kenia, wo Selecta Klemm 1999 einen Produk-tionsstandort in der Nähe der Haupt-stadt Nairobi eröffnet hat. Bis zu 1.300 Mitarbeiter bewirtschaften Produktions-flächen, die im Laufe der vergangenen Jahre auf insgesamt 18,5 Hektar ange-wachsen sind.

5. Mitarbeiterin Zipporah Ndunge Suva hat Gesundheitskurse besucht und schult nun Kolleginnen. 6. Die Produktionsfläche in Kenia ist 18,5 Hektar groß. 7. Eine Solaranlage liefert Strom. 8. Ein Mitarbeiter prüft Jungpflanzen

Dass Selecta beim Ausbau der Pro-duktionsstätten in Afrika mit der KfW- Tochter DEG – Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbh zusammenarbeitet, sei glücklichen Umständen zu verdanken, erzählt Per Klemm. Er erinnert sich, dass er im Flugzeug mit einem kenianischen Kunden ins Gespräch kam, der von der DEG erzählte. Er empfahl Klemm, mit Eric Kaleja zu sprechen, dem Leiter des DEG-Außenbüros in Nairobi. Dazu ergab sich bald die Gelegenheit und so begann eine Zusammenarbeit, die die

Verbindung der deutschen Firma mit ihrem kenianischen Standort weiter stärken sollte.

Die Farm deckt einen Teil des Energiebedarfs durch Solarkraft.

Üblicherweise sind die Darlehen der DEG größer als bei Selecta, aber „in unserem Fall hat sie gern drei Millio- nen Euro bereitgestellt“, erzählt der Geschäftsführer. Selecta Klemm habe als deutsches Unternehmen, das schon in der afrikanischen Landwirtschaft aktiv war, optimal in den Fokus gepasst. Das Darlehen, das die DEG dem Gartenbauunternehmen 2014 gewährte, nutzte Selecta Klemm für die Erweiterung der Flächen, die Modernisierung von Gewächshäusern und Anlagen sowie für Maßnahmen, die die Arbeit für die Angestellten ver-einfachen und die Produktion nach-haltiger gestalten. Eine neue Maschine entfernt beispielsweise Restbestände von Pflanzenschutzmitteln aus dem

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Wasser, das dann wiederverwendet werden kann. Die DEG bietet Unternehmen mehr als nur die Finanzierung von Investitionen. Zusätzlich fördert sie flankierende Maßnahmen, um die entwicklungs politischen Effekte der Investitionen zu erhöhen, und berät die Unternehmen zu Themen wie Ressourcen- oder Energie effizienz. Bei Selecta hat die DEG beispielsweise eine Machbarkeitsstudie mitfinanziert. Diese sollte untersuchen, ob es mög- lich ist, die Energieversorgung der Farm durch Solarkraft zu unterstützen. Ein erstes Modul mit einer Leistung von 50 Kilowatt ist bereits installiert. Das lohne sich allein schon deshalb, weil sich der Stromtarif in Kenia nach dem Spitzenbedarf richtet. Die Anlage reduziert diesen Bedarf und senkt so die Grundkosten. „Wesentlich für uns ist auch, dass wir jetzt ein Monitoring darüber haben, wo wir wie viel Energie verbrauchen“, sagt Klemm. Ein Audit hat gezeigt, an welchen Stellen das Unternehmen noch mehr Energie sparen kann. Einige der Vorschläge sind bereits umgesetzt, etwa die Einführung einer LED-Not-beleuchtung. „Jeder kleine Beitrag zur

Energieeinsparung hilft“, so Klemm. Außerdem hat die DEG dabei unter-stützt, auf der Farm das ‚HER-Project‘ der National Organization of Peer Educators umzusetzen. Die Nichtregie-rungsorganisation bietet in Ostafrika Gesundheits- und Sozialprogramme für Schulen und Unternehmen an. Bei Selecta werden speziell Frauen beraten. Zipporah Ndunge Suva etwa hat gelernt, wie Krankheiten entstehen, wie man sie erkennt und richtig damit umgeht. Aber auch Familienplanung und Ernäh-rung standen auf dem Lehrplan. „Die Gesundheit unserer Familien hat sich verbessert. Und weil unsere Kinder glücklich sind, sind wir es auch“, sagt die junge Frau, die als Peer Educator das Wissen nun an Kolleginnen weitergibt.

9.

BLÜTENMEER 9. Am Stuttgarter Stammsitz werden aus den Stecklingen prachtvolle Pflanzen. 10. Geschäftsführer Per Klemm reist alle zwei Monate zur Zweigstelle nach Kenia

Neben dem von der DEG geförderten Projekt bietet Selecta Kenya für alle Mitarbeiter Schulungen zu Technik-, Sicherheits- und Gesundheitsthemen an. Denn viele Arbeiter, die auf der Farm anfangen, bringen zwar ein Grund- verständnis für Landwirtschaft mit, haben aber sonst nur wenig Vorbildung. Wichtige Kenntnisse für den Garten- bau erwerben neue Mitarbeiter direkt im Job. Da die Schulungen mündlich

erfolgen, profitieren davon auch jene Arbeiter, die nicht lesen und schreiben können. So öffnet das Unternehmen Kenianern mit und ohne Schulbildung die Tore zur Arbeitswelt.

Ein Bus-Shuttle bringt die Mitarbeiter sicher zur Arbeit.

Voraussetzung für die Arbeit auf der Farm ist ein Mindestalter von 18 Jahren. Je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit verdienen die Mitarbeiter im Schnitt 10.000 Kenia-Schilling – 25 Prozent mehr, als gesetzlich für Arbeiter in der Landwirtschaft vorgeschrieben ist. Hinzu kommt eine Reihe von Sozial- leistungen wie warme Mahlzeiten oder die Möglichkeit, sich in einer Kranken-station auf der Farm behandeln zu lassen. Ein Bus-Shuttle bringt die Mit- arbeiter außerdem sicher vom knapp sieben Kilometer entfernten Highway zur Farm. Sonst müssten sie den Weg zu Fuß zurücklegen oder Geld für ein

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Fahrrad- oder Motorradtaxi ausgeben. Politisch und sozial gebe es große Unter-schiede zu anderen Standorten, so Per Klemm, der alle acht Wochen vor Ort ist. Vor Wahlen seien die Menschen oft unsicher und angespannt. Zudem müsse er wegen der hohen Kriminalitätsrate im Land auch höhere Anforderungen an Sicherheits- und Kontrollsysteme stellen als anderswo. „Im Alltag haben wir aber gelernt, mit Instabilität umzugehen.“ Und auch mit den Gegensätzen, die das Land ausmachen. „Wenn man vom Flughafen zur Farm durch ärmliche Gegenden fährt, kommt man ins Grübeln“, erzählt der Unternehmer. Deshalb freut er sich, seinen Mitarbeitern in Kenia eine Perspektive bieten zu können. Das gebe ihm viel zurück, ebenso wie die Tat-sache, dass die Menschen in Kenia trotz der manchmal sehr schwierigen Lebens-umstände große Lebensfreude und Optimismus ausstrahlen und sich über sehr wenig sehr freuen können. Er weiß auch, was er seinen Mitarbeitern verdankt: „Die Möglichkeiten, die wir in Afrika haben, sind eine wesentliche Grundlage für das weitere Wachstum unseres Unternehmens.“

PROJEKTARBEIT

Alles wieder im Fluss

In der mosambikanischen Hafenstadt Beira führen heftige Regenfälle und Sturmfluten regelmäßig zu Überschwem-mungen. Das ist vor allem für die Menschen und die Betriebe

ein Problem, die sich in den Gebieten am Ufer des Rio Chiveve angesiedelt haben. In den 1970er Jahren stürzte die Brücke ein, die über den Fluss zum Hafen führte. Das Areal wurde immer weiter bebaut, mit der Folge, dass der Rio Chiveve nicht mehr zur Entwässerung beiträgt. Der Klimawandel macht extreme Wetterereignisse und damit verbun- dene Überschwemmungen noch wahr-scheinlicher. Deshalb unterstützt der Geschäftsbereich KfW Entwicklungs-bank im Auftrag der Bundes regierung mit 13 Millionen Euro die Renaturie-rung des Flussgebiets. Damit das Wasser bei Überschwemmungen ins Meer gelangt, wird ein Gezeiten-bauwerk errichtet. Für den inner-städtischen Verkehr wird eine neue Brücke gebaut.

Ankommen in DeutschlandBrücken bauen, damit sich Flüchtlinge in Deutschland leichter inte-grieren können: Das Stipendienprogramm ‚ANKOMMER. Perspektive Deutschland‘ fördert Start-ups und unternehmerische Initiativen, die die Berufsmöglichkeiten von Flüchtlingen etwa durch Bildungsangebote oder Ausbildungs- und Arbeitsplätze verbessern. Entwickelt haben das Programm die KfW Stiftung und die Innovationsagentur Social Impact. Schirmherr des Projekts ist Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Eine Jury wählt bis zu zwölf Stipendiaten aus. Unterstützt von einem interdisziplinären Expertenteam feilen sie in den Labs von Social Impact in mehreren deutschen Städten an ihren Konzepten und überführen sie in tragfähige unternehmerische Lösungen. „Die hohe Zahl der zu uns kommenden Flüchtlinge stellt Europa und Deutschland vor große wirt-schaftliche und soziale Herausforderungen. Es ist eine gesamtgesell-schaftliche Aufgabe, Flüchtlinge gesellschaftlich und ökonomisch besser zu integrieren“, betont Sigmar Gabriel. Weitere Informationen unter: www.ankommer.eu

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Wärmebrücke über die Oder

Frankfurt (Oder) und die polnische Stadt Słubice sind nicht mehr nur durch eine Brücke über den Grenzfluss Oder verbunden, sondern auch per Fernwärmetrasse. So können die Stadt-

werke Frankfurt (Oder) und die SEC Słubice die Wärme-versorgung der beiden Städte im Verbund optimieren. Die rund 700 Meter lange Trasse verläuft zu großen Teilen direkt durch die Stadtbrücke. Sie stärkt das Band zwischen den Schwesterkommunen: „Wir haben

während der Bauphase nicht nur eine technische Ver-bindung zu unseren polnischen Nachbarn geschaffen, sondern auch eine persönliche zu unseren Partnern bei der SEC“, sagt Jörg Thiem, Geschäftsführer der Stadtwerke Frankfurt (Oder). Die Kosten des Zusammenschlusses betrugen auf deutscher Seite 2,8 Millionen Euro. Die KfW hat das Projekt mit rund 2,5 Millionen Euro über das Programm ‚IKU – Energetische Stadtsanierung – Quartiersversorgung‘ gefördert.

BODENCREW

Boris Tiemann und Antonia Jaeckel auf der Besucherterrasse des Flughafens Frankfurt am Main

STARTHELFER

Die LuftbrückenbauerWorauf es im globalen Geschäft mit

Flugzeugfinanzierungen ankommt, erzählen zwei Luftfahrtspezialisten der KfW IPEX-Bank.

Text: Leif Ullmann

52 | CHANCEN Brücken

HANDELN

Die unterschiedlichen Zeitzonen sind für Vielflieger eine Herausforderung. Für Antonia Jaeckel sind sie von Vorteil. Jaeckel arbeitet als Prokuristin in der Flugzeugfinanzierung der KfW IPEX-Bank.

Zu ihren Zielregionen gehört neben Europa auch Asien. Also der Erdteil, wo die Menschen sechs oder sieben Stunden vor uns aufstehen und mit der Arbeit beginnen. Für Jaeckel passt das perfekt: Sie bringt ihre beiden Söhne morgens in Frank-furt zur Schule und in den Kindergarten. Danach arbeitet sie in Teilzeit für die KfW IPEX-Bank. Und wenn in Singapur und Seoul der Arbeitstag beendet ist, kann die Finanzexpertin den Nach mittag wieder mit ihren Kindern verbringen. Was die Söhne nicht unbedingt ahnen: Ihre Mutter hat den Vor mittag damit verbracht, einen Airbus A380 startklar zu machen. Wenn Antonia Jaeckel morgens an ihren Schreib-tisch kommt, tele foniert oder mailt sie zuerst mit ihren asiatischen Kunden. Zum Beispiel Asiana Airlines, für die die KfW IPEX-Bank bereits mehrere Flugzeuge finanziert hat – darunter auch den A380. Bei rund 428 Millionen Dollar liegt der Listenpreis für diesen zweistöckigen Mega-Airbus. Das ist für Airlines allein nicht zu stemmen; erfahrene Finan-zierungspartner sind nötig. „Eine Flugzeugfinanzierung hat sehr viele Dimen sionen. Die Flugzeuge, die wir in die Luft bringen, schlagen Brücken zwischen Ländern und Märkten, Menschen und Kontinenten. So ein Riese befördert täglich mehr als 500 Menschen und etliche Tonnen Fracht von einem Erdteil zum anderen“, sagt Jaeckel.

Nach mehr als zehn Jahren im Job kommt bei der Luftfahrt-expertin dennoch keine Routine auf. „Die Airline-Industrie bleibt immer in Bewegung und bringt ständig neue technische Entwicklungen hervor. In den kommenden Jahren werden Flugzeuge noch mal deutlich weniger Kerosin verbrauchen. Mit den Neo-Modellen bei Airbus oder der Boeing 737 MAX werden beispielsweise die Triebwerke deutlich effizienter“, erklärt Antonia Jaeckel. Das habe zu zahlreichen Bestellungen von Leasing- und Fluggesellschaften geführt. Entsprechend hoch sei der Finanzierungsbedarf.

Das gute Gefühl, Verbindungen zu schaffen, die ohne die Luftfahrt nicht möglich wären, reizt auch Boris Tiemann an seinem Job. Der Technologieexperte und Projektmanager ist seit 2008 im Bereich Luftfahrtfinanzierung tätig. Wie seine Kollegin hat Tiemann seine Karriere bei der KfW IPEX-Bank mit einem Traineeprogramm begonnen, bei dem er auch sein heutiges Arbeitsfeld kennenlernte. „Ich wurde dann im Anschluss gefragt, ob ich gern in der Flugzeugfinanzierung

arbeiten möchte. Ich habe nicht eine Minute gezögert.“ Kein Wunder: Sein Tätigkeitsfeld ist interessant. Die KfW IPEX-Bank zählt weltweit mehr als 100 Airlines und Leasingunterneh-men zu ihren Kunden. Tiemann ist für Europa und Afrika zuständig. „Wobei alle Kollegen bei uns neben ihren Kern-regionen immer wieder auch Projekte auf anderen Kontinen-ten begleiten.“ Auch wenn das Luftfahrtgeschäft global funktioniert, so ist der Bereich der Finanzierung doch sehr familiär. „Die meisten Airliner sind seit vielen Jahren im Geschäft. Man kennt und vertraut sich. Insbesondere die enge Zusammen arbeit mit unseren Kunden und Partner banken ist sehr wichtig für erfolgreiche Projekte“, sagt Tiemann. Ver-lässlichkeit ist vor allem am Ende einer Finanzierung unab-dingbar. Denn bei der Übernahme eines neuen Flugzeugs geht es bei der von langer Hand geplanten Finanzierung Schlag auf Schlag. Während in Seattle, Toulouse, Tianjin, Charleston oder Hamburg die zukünftigen Besitzer noch bei der tech- nischen Abnahme des Flugzeugs sind, warten die Finanz- abteilungen von Boeing oder Airbus bereits auf den Eingang des Geldes. Klappt alles, ist das Flugzeug wenige Stunden später in der Luft – und geht meist schon bald darauf in den regulären Liniendienst.

„Die meisten Airliner sind seit vielen Jahren im Geschäft. Man kennt und vertraut sich.“Boris Tiemann

„In den kommenden Jahren werden Flugzeuge

noch mal deutlich weniger Kerosin verbrauchen.“

Antonia Jaeckel

Über jedes seiner Projekte kann Boris Tiemann einiges erzäh-len. Besonders im Gedächtnis geblieben ist ihm die Finanzie-rung mehrerer A330-Langstreckenflieger für Fiji Airways. Der Inselstaat im Südpazifik ist wie kaum eine andere Region auf der Welt auf eine Luftbrücke zum Festland angewiesen.

„Als die letzten Auslieferungsdokumente in Toulouse unter-schrieben waren, schnappte sich der damalige CEO der Air-line eine Flugbegleiterin und die beiden gaben eine spontane Tanzeinlage zum Besten. Das war sichtbare Erleichterung nach einer Phase voller Konzentration“, erzählt Tiemann.

Die Verhandlung der Finanzierungsverträge beginnt für Jaeckel und Tiemann circa drei Monate vor der geplanten Auslieferung. „Die Bestellung hingegen findet meist mehrere Jahre vorher statt“, so Tiemann. Kunden sind fast alle wichtigen Airlines der Welt, wobei für die KfW IPEX-Bank immer auch ein europäischer Bezug da sein muss: „Airline, Komponenten wie Triebwerk oder die Fertigung müssen europäisch sein, damit wir in eine Finanzierung einsteigen“, erklärt Tiemann, der es übrigens jenseits seines abwechs-lungsreichen Jobs gern ein bisschen ruhiger angehen lässt:

„Den Sommer verbringe ich am liebsten im heimischen Rhein-Main-Gebiet. Im Winterurlaub darf es dann auch gern der Charterflug auf die kanarischen Inseln sein.“

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HANDELSBIL ANZ

54 | CHANCEN

Studium der

Wir fragen Prominente nach einer Tat, die ihr Leben verändert hat. Diesmal berichtet

Nora Gomringer, warum sie keine lesende Ärztin, sondern eine belesene Patientin

und Autorin geworden ist.

Im Ernst. Ich wünschte, ich könnte an dieser Stelle berichten vom zweijähri-

gen Leben mit indigenen Stäm-men entlang eines gewundenen Zuflus-ses des Amazonas. Natürlich hätte ich während dieser Zeit sowohl ihr außerge-wöhnliches Kommunikationsmuster wie auch ihre Sprache, ihre nomadische Kul-tur notiert und für die Nachwelt in einer glänzenden Promotionsschrift (meine zweite!) festgehalten. Diese sorgte auch dafür, dass ich als Friedensnobelpreis-trägerin gehandelt würde, da meine Herleitungen aus dem Leben dieser Stämme besonders pazifistische Muster aufgezeigt hätten, die für die auseinan-derfallende EU erstaunlich anwendbar schienen und vielleicht eine Handrei-chung für die nächste Dekade versprä-chen. Erstaunlich auch meine Funde im Bereich der Pharmakologie, schließ-lich wäre ich vor Ort mit mehreren füh-renden Firmen in Kontakt gekommen, aber vor allem die kleineren wären expe-rimentierfreudig genug, mich in mei-nen Explorationen zu unterstützen. So könnte ich erstaunliche Insekten finden, analysieren und hätte sogar die Ehre, sie nach mir zu benennen. Die Mosca Gom-ringa etwa wäre ein erstaunliches Flie-genexemplar. Ich kann es nicht anders

sagen. Sie sonder-

te ein Drüsense-kret ab, das wir in Zukunft

zur Spaltung und Re-Kombination von Eiweißen einsetzen könnten, um besonders hartnäckige Anfallsleiden und Schmerzschübe von betroffenen Patienten zu lindern, vielleicht sogar ganz zu eliminieren, und das außerdem in der Krebstherapie zum Einsatz käme. Der Gomringelwurm wäre ein Eiweißlie-ferant erster Güte und würde die Diät-industrie revolutionieren. Wer Teile von ihm verspeist, könnte tagelang das Hun-gergefühl unterdrücken. Verblüffender Nebeneffekt bei männlichen Probanden: gesteigerter Kopfhaarwuchs. So kann ich nur sagen: Ich wünschte. Doch bin ich in ein anderes Fach gegan-gen. Bin vor der Anmeldung zum Stu-dium der Naturwissenschaften in die Kurve mit Goethe, Schiller und William Cullen Bryant eingebogen. Sie haben mich angefeuert, mir bei meinem Gedan-kenmarathon Bananenstücke gereicht, mich mit Wasserschwämmen wieder auf die Straße geschickt. Der alte Heine mag mir sogar nachgerufen haben: „Wirst du diesen Rat erproben, Dann, mein Freund! genießest du. Einst das Himmelreich dort oben, Und du hast auf Erden Ruh.“ Mich einst gegen ein Medizinstudium ent-schieden zu haben – wie es in der Familie

meiner Mutter zumindest bei den Män-nern Tradition war – und stattdessen der Literatur ganz und gar vertraut zu haben, hat mich sehr bereichert, ja beschenkt. Ich sage nicht, dass ich nicht

eine lesende Ärztin geworden wäre, nun aber bin ich eine belesene

Patientin und Schreiberin. Ich kann mich beschäftigen, darf Gedanken pendeln

lassen, kann mich durch geschulten Lektüreblick wei-

terbilden. So rate ich zum Studium der Leidenschaft, auf dass Persönlichkeit ausgebildet werden kann, der Mensch eine Chance auf Selbsterkenntnis und Freude in seinem Leben erhält, einen Blick durch das Schlüsselloch, der ihm sein Wesen aufzeigt. Welche Tat hat also genau mein Leben verändert? Dass ich mich der Literatur im Studium und im Leben als Autorin, gar noch zu allem Überfluss als Lyrikerin – wie Robert Frost es seit einem Jahrhundert amerika-nischen Studenten auf der ganzen Welt ans Herz legt – der „road less travelled by“ anvertraut habe. Denn die machte auch in meinem Fall „all the difference“.

NORA GOMRINGERgewann mit ihrem Text ‚Recherche‘ 2015 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Er handelt von einer Autorin, die dem tödlichen Sturz eines 13-Jährigen aus einem Hochhaus nachgeht. Seit einem Jahrzehnt gestaltet Gomringer die Entwicklung zeitgenössischer Lyrik mit: Ihr vielfach ausgezeichnetes Werk reicht von einer Essaysammlung über Poetry-Slam-Beiträge bis zu Gedichtbänden. Die 35-Jährige leitet das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg.

Impressum

Herausgeber: KfW Bankengruppe Kommunikation Palmengartenstraße 5–9 60325 Frankfurt am Main

Verantwortlich: Bernd Salzmann (V.i.S.d.P.)

Redaktion: Alia Begisheva, Axel Breitbach, Susanne Brösamle, Alexander Kempf, Stefanie Kempf, Beatrice Lucke, Verena Mohrenweiser, Cordula Rinsche, Bernd Salzmann (Ltg.), Barbara Schrahe-Timera, Thomas Schuch (alle KfW Bankengruppe), Lisa Adrian, Christoph Albrecht-Heider, Nicolas Engel, Leonore Esser, Sabrina Quente, Alexandra Resch, Martin Sattler, Lu Sommer, Johanna Stroex, Ricarda Twellmann, Leif Ullmann, Ulrike Wronski (Ltg.) (alle fischerAppelt, relations GmbH) Autoren: Nora Gomringer, Andreas Kuhlmann, Jörg Thadeusz (Kolumnist) Kontakt: [email protected] Gestaltung: Meike Adler, Gina Biel, Gesa Heitmann, Jan Kruse, Martina Massong (alle LIGALUX GmbH) Fotos: Ankommer. Perspektive Deutschland / Jens Steingässer, S. 51 (oben); Jürgen Bauer, S. 54; Bertelsmann Stiftung/–, S. 21; Frank Blümler, Titel und Rückseite, S. 3 (unten), S. 4 (oben rechts), S. 12, S. 16 – 21, S. 34 (Mitte links), S. 35 (Mitte); Dominik Buschardt, S. 4 (unten rechts), S. 42, S. 44; CEPR, S. 21; CHROMORANGE / Norbert J. Sülzner, S. 4 (oben links); Corbis / Visuals Unlimited / Nigel Cattlin, S. 48 (unten links); Deutsche Energie-Agentur GmbH (dena)/–, S. 25; dpa / Bodo Marks, S. 11, S. 13 (oben); dpa-Zentralbild / Patrick Pleul, S. 51 (unten); Georg Fiebig, S. 35 (unten links); gauff.com / Gauff Consultants, S. 35 (unten Mitte); Gemeinde Kurigram / –, S. 35 (unten rechts); gettyimages / commerceandculturestock, S. 7 (oben); gettyimages / kampee patisena, S. 7 (unten); gettyimages / Vacclav, S. 55 (unten); Goldinq, S. 35 (oben Mitte); Hrvatske autoceste, Croatian Motorways Ltd., S. 34 (unten rechts); IMAGNO/Anonym, S. 55 (oben); istockphoto / kokoroyuki, S. 34 – 35; Joseph Jacoby S. 35 (oben rechts); KfW Bankengruppe / Jens Steingässer, S. 6 (unten); KfW-Bildarchiv / –, S. 3 (oben); Alex Kraus, S. 5 (unten), S. 45 – 47; Janine Krayer, S. 36 – 40; Rainer Kuhnle, S. 34 (unten links); laif / Franz Bischof, S. 8 – 10, S. 13 (unten), S. 14; Mersey Gateway Project, S. 34 (oben); Claus Morgenstern, S. 52; NWEDC / NWEDC, S. 7 (Mitte); Michael Oehlmann, S. 4 (unten links), S. 26 – 33; Ocvia / Y. Brossard, S. 35 (oben links); Polity / –, S. 21; Sabrina Quente, S. 50 (links); Christian Schönhofen, S. 34 (Mitte rechts); Selecta /– S. 50 (rechts); Selecta Kenya / –, S. 5 (Mitte), S. 48 – 49; Jenny Sieboldt, S. 15; Suhrkamp Verlag AG /–, S. 21; Verlag C. H. Beck /–, S. 21; VRR /–, S. 6 (oben) Illustrationen: Jindrich Nowotny, S. 15, S. 38, S. 54 Lithografie: Alphabeta GmbH Druck: Schirmer Medien GmbH & Co. KG

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gedruckt

Auflage: 27.500

Redaktionsschluss: 19. Oktober 2015

Erscheinungsweise: mindestens zweimal jährlich

Das CHANCEN-Magazin wurde 2014 und 2015 mehrfach ausgezeichnet:

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Baufortschritt in vier MinutenEin Brückenbau kann sich hinziehen. Bei der Bay Bridge zwischen San Francisco und Oakland dauerte es elf Jahre, den östlichen Teil der acht Kilometer langen Verbindung zu erneuern. Ein Video rafft knapp fünf Jahre Bauzeit in vier Minuten zusammen. https://goo.gl/509l11

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Neue Wege in der Kunst1905 gründeten vier Studenten der Technischen Hochschule in Dresden die expressionistische Künstlervereinigung ‚Brücke‘. Die kostenfreie App ‚Brücke Weg‘ bietet Karten und Zusatzinformationen für alle, die in der nahegelegenen Kulturlandschaft Moritzburg auf den Spuren der Künstler wandeln wollen. AppStore/GooglePlay > Brücke Weg

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