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Einheit 1, 8.3. Handouts: Homepage Germanistik -> Personen -> Fliedl -> Texte zu LVs 1. Beispiel: „A Certain Justice“ von P.D. James Phyllis Dorothy JAMES- wurde geadelt für ihre Kriminalromane. Sie schrieb sehr viele Krimis und gilt als eine der renommiertesten Krimiautorinnen Großbritanniens. Inhalt: Die Anwältin Venetia Aldridge wird ermordet. Sie ist Mitglied der Anwaltskammer. Sie war eine bekannte Anwältin und war gerade im Begriff, Präsidentin der Anwaltskammer zu werden. Sie wird ermordet und dazu kommt noch eine Leichenschändung: Ihr wird eine Perücke aufgesetzt, und darüber wird Blut gegossen, das von einem anderen Anwalt stammt. Englischer Titel : „A Certain Justice“- deutsche Übersetzung nicht adäquat- richtig wäre „Eine bestimmte Gerechtigkeit“. Vorspiel des Buches handelt von Venetias letztem Prozess…. Ein Vorspiel zum eigentlichen Fall ist typisch für Kriminalromane. Dann folgt die Ermordung und der Leichenfund. Viele kommen infrage als Mörder: - Venetias Konkurrent: Drysdale. Motiv: Angst, nicht Präsident der Anwaltskammer zu werden. - Harry Naughton. Motiv: Angst um Job - Sekretärin Valerie. Motiv: Rache für ihren Bruder - Anwaltskollege Simon: Motiv: Angst um Job, Ruf und Existenz - Raumpflegerin. Motiv: Rache einer Mutter - Anwaltskollege Desmond. Motiv: Rache eines Bruders -> Es gibt nur zwei Motive: Statusangst und Rache -> Diese Motive entsprechen den realen Mordmotiven (Habgier, Eifersucht) nicht. Krimi und Gerechtigkeit „A Certain Justice“. P.D. James

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Page 1: kriminalliteratur_1-Fliedl-SS11

Einheit 1, 8.3.

Handouts: Homepage Germanistik -> Personen -> Fliedl -> Texte zu LVs

1. Beispiel: „A Certain Justice“ von P.D. James

Phyllis Dorothy JAMES- wurde geadelt für ihre Kriminalromane. Sie schrieb sehr viele Krimis und gilt als eine der renommiertesten Krimiautorinnen Großbritanniens.

Inhalt: Die Anwältin Venetia Aldridge wird ermordet. Sie ist Mitglied der Anwaltskammer. Sie war eine bekannte Anwältin und war gerade im Begriff, Präsidentin der Anwaltskammer zu werden. Sie wird ermordet und dazu kommt noch eine Leichenschändung: Ihr wird eine Perücke aufgesetzt, und darüber wird Blut gegossen, das von einem anderen Anwalt stammt.

Englischer Titel: „A Certain Justice“- deutsche Übersetzung nicht adäquat- richtig wäre „Eine bestimmte Gerechtigkeit“.

Vorspiel des Buches handelt von Venetias letztem Prozess…. Ein Vorspiel zum eigentlichen Fall ist typisch für Kriminalromane. Dann folgt die Ermordung und der Leichenfund.

Viele kommen infrage als Mörder:- Venetias Konkurrent: Drysdale. Motiv: Angst, nicht Präsident der Anwaltskammer zu

werden.- Harry Naughton. Motiv: Angst um Job- Sekretärin Valerie. Motiv: Rache für ihren Bruder- Anwaltskollege Simon: Motiv: Angst um Job, Ruf und Existenz- Raumpflegerin. Motiv: Rache einer Mutter- Anwaltskollege Desmond. Motiv: Rache eines Bruders

-> Es gibt nur zwei Motive: Statusangst und Rache-> Diese Motive entsprechen den realen Mordmotiven (Habgier, Eifersucht) nicht.

Krimi und Gerechtigkeit„A Certain Justice“. P.D. James

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Zusammenhängendes Milieu = Anwaltskammer, wo alle infrage kommenden beruflich versammelt sind.

Wichtiges Merkmal des Detektivromans: Figuren sind in zusammenhängendem Setting/Milieu

Oft auch abgeschlossener Ort, z.B. eingeschneites Berhotel, Schiff, Insel… -> Verdächtige müssen zusammen bleiben

Heute wird das durch künstliche Milieus hergestellt

Milieu im Werk: Londoner Anwaltsmilieu, existiert wirklich. „Royal Courts of Justice“: Chambers, „Middle Temple“, „Inner Temple“, Court of ChanceryHandlungsort ist Anspielung auf DEN Englischen Justizroman des 19. Jh: „Bleak House“ von Charles Dickens. Bleak House: Erbschaftsfall, der sich über Jahrzehnte hinzieht. Fungiert als Exempel der Undurchschaubarkeit des Rechts. Wettermetapher veranschaulicht dieses Phänomen: Nebel überall, der alles undurchschaubar macht. Der Glaube an das Recht bzw. die Gerechtigkeit ist zerstört. Beide Romane haben also denselben Schauplatz. James wählt aber nicht auch den Nebel. Sie schildert keinen unheimlichen Ort. Das Strafrecht gilt als gerecht. Aber die Bezüge zu Dickens Roman bleiben spürbar. Auch bei Dickens gibt es einen Mord; der Täter wird gefasst.

James Roman befragt das Recht. Es wird infrage gestellt, wie gerecht die Justiz und das Recht sind.

Eigenheiten des britischen Strafrechts:• Man kann für dasselbe Verbrechen nicht zwei Mal angeklagt werden• Der Strafverteidiger befindet nicht über Recht oder Unrecht, sondern muss dem

Angeklagten immer helfen und muss schauen, dass er die besten Möglichkeiten hat

Venetia erfüllt ihre Aufgabe als Strafverteidigerin: Sie verteidigt den Angeklagten, dieser wird freigesprochen, obwohl er schuldig ist. -> Venetia kennt also die Schuld des Angeklagten und erreicht aber dessen Freispruch, d.h. sie erfüllt ihre Aufgabe als Anwältin. Dafür muss sie büßen- wird deshalb umgebracht. Daher ist ihr Mord auch in irgendeiner Weise gerecht -> Titel: „Eine gewisse Gerechtigkeit“

Ironie: Ihr Mörder wird nicht gefunden; er outet sich aber dann dennoch. Der Mörder wird nicht vom Recht, aber vom Leser gefunden. -> Poetische Gerechtigkeit: Der Leser erfährt, wer der Mörder war

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2. Begriffe und Strukturen

Die KRIMINALERZÄHLUNG teilt sich in zwei Untergattungen:

• Verbrechensgeschichten

- Das Verbrechen und seine Entstehungsgeschichte, die Gründe des Täters und die Durchführung des Verbrechens stehen im Mittelpunkt.

- Eher psychologisch

- Aufklärerisch: Die Psyche des Täters wird erklärt; oft empfindet der Leser Empathie mit ihm

• Detektivgeschichten

- Die Rekonstruktion und die Aufklärung eines Verbrechens durch den Detektiv stehen im Mittelpunkt.

- Erzählung beginnt mit Fall; erzählt von Spurensuche und Täterjagd = analytisch

- Eher konservativer: Überführung des Täters; Täter soll bestraft werden!

- Rekonstruktion der Vorgeschichte

Die Vorgeschichte führt zum Fall (Mord)- je nachdem, wo die Grenze gesetzt wird, ist es eine Verbrechens- oder Detektivgeschichte.

1) Vorgeschichte2) Fall3) Detektion und Lösung4) Gericht und Sühnung

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Überbegriff für beide Formen: Kriminalerzählung. Auch Mischformen möglich.

-> A Certain Justice: Detektivroman

Beide Formen haben ein Verbrechen gemeinsam (Entweder am Anfang oder am Ende); die Tat ist in den meisten Fällen ein Mord.Warum ein Mord als Verbrechen „nötig“ ist, erklärt S. Van Dine- siehe Handout

-> Es ist ein Kapitalverbrechen (d.h. ein schwerwiegendes Verbrechen, das früher mit dem Tod geahndet wurde) nötig. [„Golden Age“ in GB: 1920er/30er Jahre. Dazu zählt z.B. Agatha Christi -> Todesstrafe für den Täter bei einem Kapitalverbrechen.]

Charakteristika eines Kapitalverbrechens bzw. des Mordes als Verbrechen:

• Unwiderruflichkeit- ein Mord ist nicht mehr rückgängig zu machen

Nur der eigene Tod des Mörders könnte die Gerechtigkeit wieder herstellen

Das vergossene Blut hat oft symbolischen Charakter. Bei Venetia zeigt das Blut, dass sie selbst auch Schuld hat und diese sühnen muss -> theologischer Aspekt

„Der Kriminalroman gibt die Zuversicht zum göttlichen Logos, zur göttlichen Gerechtigkeit. Kriminalromane sind populär in Zeiten des sinkenden Glaubens, der sinkenden Ordnung […]“ (Willy Haas) -> Kriminalromane sind also quasi Religionsersatz; es gibt darin die Wiederherstellung einer göttlichen Gerechtigkeit

• Individualität

es wird nur einer/eine umgebracht; es geht nicht um Massenmord. Ein Mörder, ein Opfer -> nur das löst den identifikatorischen Prozess beim Leser aus!

Mördersuche beim Detektivroman: Frage- und Antwortspiel (Rätselstruktur)

• Täterrätsel („whodunit“)

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Limitierungsregeln:

- Verzögerungsregel (Mörder darf nicht sofort gefunden werden)

- Überraschungsregel (Mörder darf nicht der wahrscheinlichste Verdächtige sein)

- Relevanz- und Irrelevanzregel (Mörder darf nicht die wichtigste, aber auch nicht die unwichtigste Nebenfigur sein.)

• Motivrätsel

• Hergangsrätsel

Das Motiv der Statusangst war typisch für die Mittelschicht! Konsequenz: Alle Mitglieder dieser Gesellschaft sind potentiell verdächtig.

Motiv der Rache: Oft wird durch Justiz das Unrecht nicht gesühnt und muss daher anders gerächt werden- die Angehörigen haben das Bedürfnis, das Recht selbst in die Hand zu nehmen. Hat indirekt mit Abschaffung der Todesstrafe zu tun (Ein Mord muss durch Hinrichtung des Täters gesühnt werden= Talions-prinzip= Auge um Auge, Zahn um Zahn). In GB gab es 1964 die letzte Hinrichtung; bis 1973 war die Todesstrafe noch im Strafrecht verankert. Die Todesstrafe für außergewöhnliche Verbrechen wurde erst 1998 abgeschafft!

Motivbündel in diesem Roman hat mit Fragen der Täterbestrafung zu tun

Indizienspiel

• Aufdeckung des Mordes

• Elemente werden falsch zugeordnet; wahrer Zusammenhang wird zurückgehalten -> Falsche Kontextualisierung von Indizien

• In Aufdeckung wird dann richtig kontextualisiert

• Dem Leser gegenüber gibt es gewisse „Fairnessregeln“: Leser und Detektiv müssen gleiche Möglichkeiten haben, den Fall (logisch) zu lösen! (War eine Regel des Golden Age). Jedoch wird oft (von den Autoren) gegen diese Regel verstoßen.

• Handlungsaufbau sieht strukturell falsche Spuren (=red herrings) vor.

• Viele klassische Kriminalromane halten sich daran, die einzelnen Elemente, die dann zur Auflösung führen, vorzustellen (wenn auch im falschen Kontext)

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Aufdeckungsverfahren:

z.B. H. Poirot: „Lösungsvortrag“: Poirot versammelt alle Verdächtigen um sich und trägt seine Analyse und Lösung vor. Auch wenn es keinen Vortrag gibt, muss in der letzten Szene der Mörder entlarvt werden. Was dann weiter mit dem Mörder passiert, kann, aber muss nicht dargestellt werden.

Sühne: In „A Certain Justice“ nur durch den Leser -> poetische Gerechtigkeit

3. Kontexte

• Strafrechtlich:

Texte spiegeln Justizsystem ihrer Zeit. Anfangs antwortet Krimiliteratur unmittelbar auf neue Entwicklungen des Justizsystems (im 18.Jh)

Ernst Bloch -> siehe Handout:Indizienverfahren erst ab dem 18. Jh; erst ab da gibt es Kriminalromane. Davor: Täter war dann überführt, wenn er das Verbrechen zugegeben hat (egal ob freiwillig, durch Folter o.ä.)1532: Karl V: erstes dt. Reichstrafgesetzbuch „Halsgerichtsordnung“ -> Erpressung des Geständnisses

Die Kriminalgeschichte ist mit der Humanisierung des Strafrechts verbunden.1813: Im bayrischen Strafgesetzbuch kodifiziert.1871: Reichsstrafgesetzbuch

Foucault: Die Humanisierung des Strafrechts hatte zur Folge, dass nicht mehr der Herrscher willkürlich entscheiden konnte, wie jemand bestraft wurde. In der Aufklärung wurde das Strafgesetz kodifiziert, d.h. für alle verbindlich gemacht. Das führt aber dazu, dass Täter klassifiziert und zu Objekten der Wissenschaft werden.

In Krimis wird nach dem Humanitätsgrad einer Gesellschaft und nach den Machtfeldern, auf denen das Strafrecht sich aufbaut, gefragt

• Erkenntnistheoretisch

In Kriminalromanen wird eine beruhigende Sicherheit bezüglich des Täters erreicht. Der Täter, der festgenommen wird, ist sicher der richtige Täter! (In Wahrheit nicht so- Irrtümer möglich!)

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Identität kann festgestellt werden; es gibt die Identität einer Person. -> Daher gibt es auch Erkenntnis.

In Romanen: Taten lassen sich kausal zum Täter zurückverfolgen -> suggeriert ältere Weltanschauung

Krimi: Stabilisierende, orientierende Funktion. Errichtet Vorstellung, dass es eine vernünftige Welt gibt= „Vision einer intelligiblen Welt“ (H. Daibler)

Die Undurchschaubarkeit des Rechts wird in der damaligen Zeit in den Werken dargestellt:

1920: erster Wimsey- Roman (Sayers)1923: erster Poirot- Roman (Christie)1925: Der Proceß. (Kafka)

Das Golden Age des britischen Krimis begann mit der Justizordnung.

Detektivgeschichte antwortet auf Erfahrung der Desorientierung (Weltkrieg).

• Ästhetisch

Der Detektivroman galt lange als reine Unterhaltungsliteratur. Erst in den 70er Jahren änderte sich das. Es stellt sich jedoch immer noch Frage nach der Ästhetik dieser Romane. Es gibt für die Autoren nicht viel Spielraum, da es sehr strenge Regeln gibt.

„Am Anfang war der Mord“ -> Anspielung auf Johannes- Evangelium (Am Anfang war das Wort) -> Wort= Mord.

Die Detektivgeschichte = ein Sprachspiel; es geht dabei um ein Changieren von Indizien und Zeichen. Viele intertextuelle Momente in Detektivromanen beziehen sich auf Bibel, Shakespeare,…. Die Texte machen so auf ihre Artifizialität aufmerksam. -> Sprach- und Selbstreflexive Elemente

______________________________________________________________________________________„Die ungewöhnliche Popularität der Detektivromane erklärt sich weitgehend aus dem Wunsch, davon überzeugt zu sein, daß alle menschliche Erfahrung sich in der Art eines Exempels darstellt, das eine

voraussehbare, endliche komplette und einzig mögliche Lösung hat. Wir empfinden, daß das eine Konzeption vom Leben ist, die wir uns vom Dichter wünschen. Es ist klar, daß viele Leser den

Detektivroman schätzen als eine Ausflucht vor den Problemen des Lebens. Er erlöst sie tatsächlich von ihren Übeln, denn er suggeriert ihnen ganz sachte, daß Liebe und Haß, Armut und Arbeitslosigkeit,

Wirtschaft und Außenpolitik Schwierigkeiten sind, die man behandeln und beseitigen kann in der Art von ‚Death in the Library‘. Die schöne Endgültigkeit, mit der der Vorhang nach der Untersuchung fällt,

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verbirgt dem Leser, daß nur ein ‚Problem‘ gelöst wurde, das zwecks Lösung aufgebaut worden ist ... „ (D. Sayers, „The mind of the maker“, 1941)

Einheit 2, 15.3.

1. Eine Kriminalgeschichte

Beginn der deutschen Kriminalliteratur in der Form der Kriminalgeschichte (Vorgeschichte des Verbrechens; Umstände, unter denen ein Mensch zum Täter wird) anzusetzen mit Schillers „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“.

a) Ausgaben und Titel

Der Erstdruck erschien zunächst anonym in der Zeitschrift „Thalia“ (1786; gab er auch selbst heraus); die Erstausgabe erst 6 Jahre später in Sammlung „Kleine prosaische Schriften“. Diese zweite Fassung weicht vom Erstdruck ab. V.a. aber änderte er den Titel: Im Erstdruck: „Verbrecher aus Infamie“; Erstausgabe: „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“. Infamie: Bedeutungswandel; heute: niederträchtig, schäbig. Damals bedeutete es noch, von lat. Fama= Ruf, Ehre -> ehrlos; entweder sich selbst ehrlos machen, oder aber dass einem die Ehre abgesprochen wird. D.h. infam kann man auch sein, wenn man durch das Gerede der Leute um seine Ehre gebracht wurde; d.h. man wäre das Opfer! D.h., Titel war auch zugleich Programm: Jemand wird zum Verbrecher, weil man ihm die Ehre genommen hat.

b) Gattungsbezeichnungen:

Vor Schiller existierte nur die Kolportageliteratur- beschrieb wüste Mordtaten, Mörderjagd, Hinrichtung des Täters. Diente offiziell der Abschreckung; in Wahrheit bedienten beide (reale Hinrichtung und Erzählungen darüber) die morbide Schaulust des Publikums.

Hinrichtungen waren gut besucht; hatten sehr viele Zuschauer -> „Hetzmasse“ (die Masse, die zusammenkommt, um ein Opfer zu verfolgen und sterben zu sehen). In der Literatur formen sich die Leser zu so einer Masse

Schiller war der Herausgeber der Zeitschrift „Thalia“ – d.h. er rechnete damit, dass eine blutrünstige Erzählung viele Leser bringt. Der „Modestoff“ (=das Verbrechen) sollte als Lockvogel dienen, um viele Leser anzulocken -> materielle Interessen Schillers. Daher wählte er den Titel so, dass er damit viele Leser anlockte. Jedoch: der Inhalt ist dann ja was ganz anderes als die typische, grausame Geschichte eines Verbrechens.

Krimi und JustizDer Verbrecher aus verlorener Ehre. Friedrich

Schiller1786/92

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Kann der Text eine „Novelle“ genannt werden? Goethes „Unterhaltung deutscher Ausgewanderten“- erschien auch in Schillers Zeitschrift; griff auf Tradition des boccacio zurück (Novellen)

auch Struktur von Schillers Erzählung ist novellistisch. Novelle= Das Neue… In der Kriminalgeschichte gibt es das „Neue“, das Spannende, das „Unerhörte Ereignis“ natürlich immer.

Hinsichtlich des Inhalts gibt es Parallelen zur „moralischen Erzählung“: = Exempelgeschichte (der Aufklärung) die versucht, problematischen Einzelfall zu moralischer Lösung zu bringen. -> Moral geht auf lat. Mores zurück= Sitten. -> Moralische Erzählung= ursprünglich eine Erzählung über Bräuche; dann Einengung auf Sittlichkeit, d.h. Moralität. Aufklärerisches Konzept von Schillers Erzählung noch analog zu moralischer Erzählung! Schillers Werk genau in der Mitte der beiden Gattungen, mit leichtem Übergewicht zur Novelle.

Schillers Werk irgendwo zwischen• Novelle• Kriminalgeschichte• Moralischer Erzählung

c) Vorlage

Typisch für eine Novelle: realer Stoff; tatsächlich „unerhörtes Ereignis“; etwas Neues.Nimmt realen Stoff auf; Der Held der Erzählung ist ein Gastwirtsohn namens Christian Wolf; wird zum Verbrecher und Mörder.

Historische Vorlage: Gastwirtsohn Friedrich Schwan -> Diebstahl -> Gefängnis -> Entlassung; bekam keine Eheerlaubnis mehr -> Wurde dann für Geliebte und Kind zum Räuber -> Räuberbande; die „schwarze Christine“ begleitete ihn auf Raubzügen -> erschoss auch jemanden -> wurde gefangen und zum Tod verurteilt und 1760 hingerichtet.

Schiller kannte den Stoff von seinem Lehrer Jacob Friedrich Abel… Auch von ihm existiert ein schriftlicher Bericht über diesen Vorfall- nicht klar, ob dieser vor oder nach Schillers Geschichte entstanden ist. Veröffentlich in Abels Werk „Sammlung und Erklärung merkwürdiger Erscheinungen aus dem menschlichen Leben.“

Schiller änderte den Namen und tilgte Hinweise auf dessen Heimat; und er bearbeitete den Stoff frei.

d) Inhalt :

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„Die Natur hatte seinen Körper verabsäumt. Eine kleine unscheinbare Figur, krauses Haar von einer unangenehmen Schwärze, eine plattgedrückte Nase und eine geschwollene Oberlippe, welche noch überdies durch den Schlag eines Pferdes aus ihrer Richtung gewichen war, gab seinem Anblick eine Widrigkeit, welche alle Weiber vor ihm zurückscheuchte und dem Witz seiner Kameraden eine reichliche Nahrung darbot. “ -> er ist schon vom Äußerlichen her gehandicapt und hat also schon von Haus aus schlechtere Chancen; er muss sich eine Freundin erkaufen… das kann er sich eigentlich nicht leisten, daher sah er nur einen Ausweg: Wilddieb zu werden. Hat Konkurrenten: Robert, ein Jäger… spürt Christian Wolf auf; verpetzt ihn.

Zentrale Figurenopposition: Wilderer vs. Jäger (typisch für Kolportage-romane: Wilderer= böse; Jäger= gut).

Gewissenskampf: Rache und Gewissen ringen miteinander- Rache gewinnt …. Mord an Robert! Der eigene Akt des Mordes wird erzählerisch jedoch ausgespart

Siebenjähriger Krieg (1756) bricht aus

e.) Erzählstruktur

Verschiedene Erzählsituationen:

Novellistischer Aufbau: Exposition zu Wolfs Herkunft und KindheitHöhepunkt (Geldstrafe- Zuchthaus- Festung)Klimax (Mord) – Ausnahmezustand bei den RäubernRetardierendes Moment (Briefe) Finale (Verfolgung durch die Menge)Letzter Dialog mit Amtsrichter.

Zuerst auktorialer Erzähler, jedoch keine Distanz zu Figur -> Erzählzeit wechselt ins Präsens (= Tempuswechsel), um Unmittelbarkeit auszudrücken

Ab Festung erzählt Wolf selbst! -> Ich- Erzähler. Erkenntnisprotokoll- Wolf schildert Haft, Rückkehr in Dorf, Ausstoßung aus Gemeinde, Mord, Flucht, Anschluss an Räuberbande. Geht literarisch vor: Dialogisch geschildert wird Treffen mit Räuber im Wald.

Tausend grässliche Gestalten gingen an mir vorüber und schlugen wie schneidende Messer in meine Brust. Zwischen einem Leben voll rastloser Todesfurcht und einer gewaltsamen Entleibung war mir jetzt die schreckliche Wahl gelassen, und ich m u s s t e wählen. Ich hatte das Herz nicht, durch Selbstmord aus der Welt zu gehen, und entsetzte mich vor der Aussicht, darin zu bleiben. Geklemmt zwischen die gewissen Qualen des Lebens und die ungewissen Schrecken der Ewigkeit, gleich unfähig zu leben und zu

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sterben, brachte ich die sechste Stunde meiner Flucht dahin, eine Stunde, voll gepresst von Qualen, wovon noch kein lebendiger Mensch zu erzählen weiß.

-> Rhetorische Techniken (Wiederholungen, Antithesen,…) -> nicht realistisch, dass Gastwirtssohn so rhetorisch ausgefeilt sprichtDann wieder auktorialer Erzähler- mischt sich ein mit pädagogischer Absicht: Raffung von Wolfs Räuberzeit, da diese nicht so wichtig oder „interessant“ für den Leser

Dann: Wolfs Gnadengesuch; Briefe werden im Originalton präsentiert

Dann wieder Tempuswechsel: Historisches Präsens -> Anschaulichkeit, Unmittelbarkeit

Letzte Szene mit Amtsrichter: Dialogform; entspricht Dramenfinale.

Tempuswechsel, um unmittelbare szenische Darstellung zu erreichen Wurde deshalb kritisiert! Zweck, den Schiller damit verfolgt:

2. Wirkungsabsicht

Wird in erstem Teil der Novelle angekündigt… programmatischer Vorspann Zivilisationstheorie: Bürgerlicher Mensch hat Seelenenergie unter Kontrolle; im

Verbrechen weicht Kontrolle und man kann Triebe beobachten. In jedem Menschen ist die gleiche kriminelle Energie vorhanden; sie kommt jedoch nur unter bestimmten Bedingungen zum Ausbruch

Menschen gruppieren nach ihrer Biologie Wirkungsästhetische Überlegungen, was die Geschichtsschreibung betrifft:

Historische Darstellung nutzlos, wenn man sich nicht mit dem Helden identifizieren kann; daher muss man versuchen, eine Nähe herzustellen- auf zwei Weisen:

- Leser muss warm werden wie der Held (mit gefühlsmäßiger Beteiligung)

Für Theater gab es diese Argumentation schon lange: G. E. Lessing: Wirkungsabsicht der Tragödie wird entfaltet: Lessing plädiert für Einfühlung des Zuschauers in den Helden; beruft sich auf Aristoteles: Tragödie soll Mitleid/Mitgefühl und Furcht (= eleos und phobos) im Zuschauer anregen. Furcht= entspringt nur, wenn wir uns die Figur einfühlen können. Furcht, dass Unglück der Figur uns auch selbst treffen könnte -> Furcht= das auf uns selbst bezogene Mitleid!

Neu: Auch mit jemandem, der nie ein „Held“ werden könnte (weil er eben ein Verbrecher ist), Mitleid haben. Und auch neu, dass das bei Prosa eingesetzt wird

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Methode: Durch „hinreißenden Vortrag“ des Erzählers -> Warme Einfühlung des Lesers in Figur. Nur der Erzähler darf das beim Leser erwecken, nicht der Prosaist.

- Held muss kalt werden wie der Leser : Nicht nur die Tat, sondern auch die Vorgeschichte beobachten…. Kausalkette beobachten, die zur Tat führt. Nutzen: Stolzes Überlegenheitsgefühl des Lesers verwandelt sich in Duldung und Nachsicht

Bei Schiller: Er kündigt die kalte Methode an; aber es ist dann das Gegenteil! Nähe zwischen Leser und Wolf soll hergestellt werden; Leser soll zur Empathie bewegt werden. Dadurch, dass Wolf selbst zum Wort kommt, ist ein Einblick in seine Psyche gegeben – tatsächlich Kausalkette zu Verbrechen; nicht nur er ist Schuld daran

Sein Handicap erklärt seine Fehltritte. Wilderei wird streng bestraft -> nur dadurch kommen kriminelle Tendenzen bei ihm hervor!Weil ihm Wiederaufnahme in Gesellschaft verweigert wird -> Auswegslosigkeit

-> Leser wird in Verständnis von Wolfs Situation hineinmanövriert.

-> Strafe steht in keinem Verhältnis zu seiner Schuld- denn Wilddiebstahl wurde damals als Kavaliersdelikt angesehen: Die Bauern fühlten sich durch das Wild geschädigt und sympathisierten daher mit den Wilderern; außerdem verschafften diese oft der Bevölkerung Nahrung.Für die Bevölkerung galt Wilddiebstahl also nicht als schlimmes Verbrechen. Daher entspricht es nicht dem Talionsprinzip-> er wird strenger bestraft, als er es verdient hätte

Siehe Textausschnitt am Handout: Dieser wurde in neuer Ausgabe gestrichen; nur in Thalia- Ausgabe vorhanden – er denkt, er wurde so hart bestraft, dass er sich nun noch einige Schandtaten leisten kann -> kaufmännische Metaphorik: Zinsen, Kapital

Schiller: „Die Räuber“ (erschien davor)- durfte in Schillers Heimatstadt nicht aufgeführt werden und wurde daher in Mannheim aufgeführt -> er flüchtete dann auch dahin -> dafür wurde er mit Arrest bestraft -> flüchtete danach ganz nach Mannheim, wo seine eigentliche literarische Karriere erst begannRebellion eines Menschen, der auch Anführer einer Räuberbande wird und sich in Schuld verstrickt. Genus humile= niedere Stilebene … „dirty language“ -> nicht so wie in „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ -> Denn Wolf spricht ja schön-> eben weil der Leser ja auf seine Seite gezogen werden soll

Schiller widerlegt sein eigenes Programm (kalt) -> wurde vom Rhetoriker zum Dichter während des Erzählens -> Plädoyer für Mitleid, auch gegenüber Schuldig gewordenen

-> Schiller entlastet Wolf, indem er erklärt, was ihn in die Kriminalität treibt; aber Wolf ist für den Mord verantwortlich und muss die Schuld auch akzeptieren.

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3. Kriminalgeschichte und Strafrecht

Schillers Geschichte= Kommentar zu zeitgenössischem StrafrechtEntwicklung der Krimiliteratur korreliert mit Strafrechtsentwicklung -> siehe Tabelle am Handout

Einige Anmerkungen zu der Tabelle:

1776: Regierungszeit Maria Theresia1787: Davor war nicht allgemein festgelegt, welches Verbrechen mit welcher Strafe bestraft wurde! Unterlag Willkür des Herrschers

1777: Preisfragen: Werden von literarischen Gesellschaften gestellt; als Autor schickt man dann sein Essay ein; die besten werden prämiert. Damals fragte die Preisfrage nach einem Entwurf für ein faires Strafrecht- wie sollte es aussehen?

1782: Wieland: (nicht der Dichter!): „Geist der peinlichen Gesetze“… mit peinlichen Mitteln (Folter,…) gegen Verbrecher vorgehen. -> Er entwickelte ein Recht, das Schiller entspricht: Unterschied Affekt- geplant. Nicht die Tat, sondern Täter muss beurteilt werden -> Umstände, die den Täter dazu gebracht haben, sollten miteinbezogen werden. Und: Verhütung von Verbrechen

Schillers Text befindet sich auf dieser Strafrechtslage

F.G.de Pitaval -> Sein Werk „Merkwürdige Rechtsfälle“ (das unter dem Namen des Autors, „Pitaval“ bekannt war) galt bis ins 20. Jh als Stoffquelle für Kriminalgeschichten! Ist eine Verbrechenssammlung. 1792

Und Strafrechtswissenschaft – Feuerbach. In Frankreich wurde das Strafrecht kodifiziert, dann auch in Bayern -> einheitliches Strafgesetzbuch: Bestand auf genauer Definition der Gesetze… jeder Verbrecher sollte wissen, womit er bestraft wird. Feuerbach führte auch die öffentliche Gerichtsverhandlung ein. Dann entwickelt sich die Strafrechtstheorie parallel zur Humanisierung des Strafrechts; parallel dazu Kriminalgeschichten.

1871: Einheitliches Strafgesetzbuch für das ganze deutsche Reich

Karl Marx: Debatten über das Holzdiebstahlgesetz: Die armen Leute sammelten das Fallholz in den Wäldern der Obrigkeiten, um damit zu heizen. Wurde mit enorm hohen Strafen bestraft, da ja etwas gestohlen wird, was dem Gutsherren gehört. -> Unverhältnismäßigkeit Delikt- Strafe wird von Marx angeklagt; er bringt das mit den ökonomischen Bedürfnissen der Herrscher in Verbindung.

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Einfühlung in den Straftäter wird in der Literatur geprobt„Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ = Literarische Reaktion auf Rechtswirklichkeit seiner Zeit

-> Wirkungsgeschichte:War zunächst nicht so bekannt; in den 70ern (Nach Liberalisierung und Studentenbewegungen) sehr starkes Interesse daran.

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1. Die Unmenschlichkeit des Täters

• Kriminalgeschichte: Vorgeschichte des Täters bis zur Tat• Detektivgeschichte: beginnt mit Rätsel bis zur Tat. -> Premiere mit „Die Morde in

der Rue Morgue“ .

- Erstdruck in Graham’s Lady’s and Gentleman’s Magazine, 1841- Erstausgabe in Prose Romances, 1843.

Zu Edgar Allan PoeEr wurde 1809 in Boston geboren, verlor beide Elternteile vor seinem 3. Lebensjahr. Wuchs bei Pflegevater auf, besuchte eine Schule in London, ging dann zur Uni, die er jedoch aufgrund von Spielschulden abbrach. Arbeitete dann als Journalist und Herausgeber. Hatte erste Erfolge mit Erzählungen grausamen Inhalts.1835: Heirat mit 14jähriger Cousine. Er litt an Alkoholsucht.1844 starb seine Frau, 1849 starb er selbst.

1841 „Die Morde in der Rue Morgue“: Erste Detektiverzählung in der Literaturgeschichte: Der Ich- Erzähler, über den wir nur sehr wenig erfahren, berichtet von seiner Freundschaft mit Auguste Dupin. Eines Tages lesen die beiden Zeitung- sie stoßen auf einen Artikel über zwei Morde in Paris: Eine alte Dame und deren Tochter sind ermordet worden. Die Nachbarn wurden durch Schreie wach. In der Wohnung der beiden sind alle Türen zugesperrt; trotzdem findet man die Leichen. Die Polizei findet keine Anhaltspunkte. All das erfahren der Erzähler und Dupin aus Zeitungsartikeln.Dupin gibt dann eine Zeitungsannonce auf und deckt dann den Fall auf.

Krimi und PsychoanalyseDie Morde in der Rue Morgue. E. A. Poe

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a. Detektiv: C. Auguste Dupin

Erster Privatdetektiv der Weltliteratur. Er stammt aus berühmter Familie, ist aber verarmt. -> Einzelgänger, Exzentriker. Hat große Vorstellungskraft. Erzähler und er ziehen in seltsames Haus, richten es sehr düster ein. Dort machen sie den Tag zur künstlichen Nacht. Dupin ist ein Sonderling; steht in der Mitte von der unheimlichen Figur vom Anfang des Jhs und der Dandy- figur des Fin de Siécle.

Er löst Fall in Konkurrenz zur Polizei; der Polizei wird nichts mehr zugetraut. (Viele spätere (Literatur)-Detektive sind Laien oder in anderen Berufen tätig- z.B. Miss Marple. Verhältnis zur Polizei immer distanziert oder gespannt.) Auch wenige wirkliche Polizisten, z.B. Wolf Haas’ Brenner oder Donna Leons Commissario Brunetti.

Institutionen des Strafrechts professionalisieren sich -> hier entsteht Kriminalgeschichte.Verbrecher vergeht sich an Kollektiv (an Volk) (davor: an Feudalherren). Anonymisierung des Verfahrens (Polizeigewalt). Detektiv in Konkurrenz zur Polizei; Überlegenheit des Detektivs- muss eine Außenseiterposition einnehmen (ebenso wie der Verbrecher!) Sportliches Verhältnis zwischen Täter und Detektiv (Wettkampf zwischen zwei Einzelpersonen)

b. Methoden – Indizien

Fähigkeit des analytischen Denkens. Das Buch beginnt mit Plädoyer: Es wird ein Bündel von Merkmalen genannt, um die analytische Fähigkeit zu bestimmen:

• Intuition• Einfühlung• scharfe Beobachtungsgabe• Logik und Verstand• Kombinatorik und Fantasie

-> nicht nur kognitive Fähigkeiten, sondern auch imaginative und kreative Fähigkeiten.-> Deshalb so schwammig, damit man sie auch auf Autor anwenden kann)

Das verwandelt sich dann zu einer artistischen Fähigkeit

Gegenbegriff zur analytischen Fähigkeit: „common sense“- die Art und Weise, wie jeder denkt

Die Beispielgeschichte soll diese Analysefähigkeit zeigen: Dupin und Erzähler spazieren nachts eine Straße entlang; Dupin nennt den Schauspieler, an den der Erzähler gerade gedacht hatte. Anhand von Mimik und Gestik konnte Dupin die Gedankenkette seines Gesprächspartners nachvollziehen -> Rückverfolgung einer langen Gedankenkette (wird mit Assoziationsverfahren in Psychotherapie in Verbindung gebracht)

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Dupin ist Analytiker. Er sagt über die Wahrheit:

Die Wahrheit steckt nicht immer in einem Brunnen [Truth is not always in a well]. Was die wichtigeren Erkenntnisse angeht, so glaube ich tatsächlich, dass sie durchweg an der Oberfläche liegt. Die Tiefe liegt in den Tälern, wo wir die Wahrheit suchen, und nicht auf den Bergeshöhen, wo sie zu finden ist. […] Wenn man einen Stern mit dem Blick streift, ihn von der Seite betrachtet, indem man ihm die äußeren Teile der Netzhaut zuwendet (die für schwache Lichteindrücke empfänglicher sind als die inneren), dann sieht man den Stern deutlich […]. Durch ungebührliche Tiefgründigkeit verwirren und schwächen wir das Denken; und es ist möglich, selbst die Venus durch zu langes, zu konzentriertes und zu unmittelbares Fixieren vom Firmament verschwinden zu lassen.

Votum für „schwebende Aufmerksamkeit“ (aufmerksam bleiben für alles, was vielleicht nur marginal ist)

Ähnliches sagt dann auch Hoffmanstal

Die Wahrheit ist nicht versteckt sondern gut sichtbar. Man darf sie nur nicht fixieren -> Denken, das sich auf die Anschauung verlässt. -> Indizienparadigma: Aufmerksamkeit auf kleinste Zeichen. Aus kleinsten Spuren wird ein Sachverhalt lesbar.

Dupin… Analytiker und Dichter. Analyse des Dupin ist auch als Selbstreflexion auf Poesie zu verstehen. Er widmet sich dann den Indizien im Mordfall. Auffällig: Das forensische Manko

(Forensik= Lehre von der gerichtlichen Ermittlung. 1897: Daktyloskopie= Fingerabdrucksverfahren)

Spurensicherung hätte heute keine Schwierigkeiten mit Täterfindung- man könnte heute sofort herausfinden, dass es sich um einen Affen handelt. Damals war das noch nicht möglich!Historische Detektivgeschichte hat andere Voraussetzungen der Erkenntnismöglichkeit. Die intellektuelle und ethische Anforderung an den Detektiv variiert dementsprechend. Was Dupin am Tatort beobachtet, ist enttäuschend: Fenster nicht vernagelt, sondern Nagelkopf abgebrochen. Polizei hatte das nicht entdeckt- komisch, weil Mutter aus ebendiesem Fenster geworfen wurde. Fehler in dem Text: Es gibt keine Blutspuren!

Weiteres Indiz: Nachbarn, die Haus betraten, hörten zwei streitende Stimmen. Die eine wurde von allen als Stimme eines Franzosen erkannt. Die zweite Stimme halten die Nachbarn für einen Deutschen, Italiener, Franzosen,… jeder ist sicher, dass es nicht die Stimme eines Landsmannes war, und jeder vermutet eine Sprache, die ihm selbst unbekannt ist. -> Dupin schlussfolgert, dass die Stimmen dem Affen und dessen Besitzer gehören. Das unverständliche Signal, ein Tierlaut, wird für den Signifikanten einer anderen Sprache gehalten.

c. Täter

Die Gabe der Analyse ermöglicht, sich in die Psyche eines Beobachtenden hineinzuversetzen. Dupin erstellt ein Täterprofil: Behändigkeit, Wildheit, Schlächterei ohne Motiv, „alien

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from humanity“ -> wird wörtlich genommen: Es kann kein Mensch gewesen sein, also war es ein Tier.

Tier ist Täter, daher kann man keine Psychologie entwickeln, die bis zur Tat führt. Kein vernünftiges Motiv!

Am Anfang der Detektivgeschichte: Tierischer Täter, kein menschliches Verbrechen. Genre wird daher in allen Konstituenten unterlaufen – d.h. alle Merkmale der Detektivgeschichte findet man hier nicht, sondern alle Regeln werden gebrochen.

Schema: Mord- Analyse- Täter wird ermittelt- Täter wird bestraft. -> Nur Pseudomodell

Interesse des Lesers: Die Suche nach Gerechtigkeit?? -> siehe:

2. Die verborgenen Motive des Lesers

Analyse wird verglichen mit Spurensuche.

Ernst Bloch: Parallele zwischen Detektivgeschichte und Traum- und Neurosendeutung.

Freud: Parallele zwischen Untersuchungsrichter und Therapeut: Das verborgene in der Psyche aufdecken. Freud warnt vor der Verwechslung zwischen Neurotiker und Verbrecher!

Theodor Reik, Schüler Freuds, 1888- 1969.

Schilderte in kriminalistischen Metaphern das Verhältnis zwischen Patient und Analytiker, z.B. „Der Patient ist verdächtig.“ „Die Schuld des Patienten ist nachgewiesen“

Erläutert auch reale Kriminalfälle in „Der unbekannte Mörder“ (1932):

Der Schrecken über das Verbrechen, das Sühneverlangen, das dringende Bedürfnis, den Täter zu eruieren, das alles sind Zeugnisse der Abwehr jener eigenen verdrängten Regungen. In allen, im Richter, in den anderen gerichtlichen Funktionären, im Publikum, wirken dieselben unbewußten Tendenzen, die zum Mord drängten. Es ist, wie wenn diese durch einen Mordfall einer Versuchung ausgesetzt würden, durchzubrechen. Die reaktiv verstärkte Gegenregung wird sich in dem Drang, den Mörder zu finden und zu strafen, äußern.

-> Polizei und Justiz haben dem Täter gegenüber ein Strafbedürfnis, weil der Täter die eigenen aggressiven Wünsche ausgelebt hat. Der Leser selbst hat verdrängte Mordgelüste; aus der Abwehr hat er Interesse an Entlarvung des Täters.

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Marie Bonaparte, Schülerin Freuds, 1882- 1962

War französische Mäzenin der Psychoanalyse; war beteiligt an der ersten Pariser Psychoanalytik- Gesellschaft. Schrieb Buch „Edgar Poe. Eine psychoanalytische Studie“ – was Poe dazu bewegt, so was zu schreiben. (seine Psychopathographie). Motive: Poes frühkindliche Traumatisierungen (z.B. Bluthusten seiner Mutter -> Prägung auf Blutiges!)

a. Urszene

Mordgeschichte arbeitet dem in jedem von uns schlummernden Aggressionstrieb zu (wie Reik)Aber noch anderes Motiv: Das Unbewusste enthält eine Urszene, die sich in Kindheit abgespielt hat (Begriff „Urszene“ von Freud: Zeugenschaft des Kindes beim Geschlechtsverkehr der Eltern -> Trauma) Bonaparte nimmt Begriff auf und geht davon aus, dass Poe als Kind Zeuge davon gewesen sein muss

b. Symboldeutung

Die Sachverhalte in Text haben eine symbolische Bedeutung:

• Verschlossenes Zimmer= weiblicher Leib. • Körper der Tochter mit Kopf nach unten in Kamin; wird von Polizei rausgezogen=

Geburtskanal; Körper der Tochter wird durch diese herausgezogen. • Kamin= Vagina; Affe ist darin eingedrungen und hat darin ein Kind gezeugt

c. Detektivisches Interesse

Allgemeine Beliebtheit der Kriminalliteratur

Schon das Kleinkind entwickelt ein ausgeprägtes sexuelles Interesse. Dieses wird durch Erziehung unterdrückt. Infantile Sexualneugier bleibt aber- verdeckt- erhalten und steht auch hinter der Begeisterung für Kriminalliteratur.

Forschungsarbeit des Detektivs= Infantile Sexualneugier, die reproduziert wird.

Bonapartes Interpretation besteht also aus drei Teilen:

- Autor (Analyse seiner Psyche -> Mordmotiv)- Text (Bilder werden gedeutet)- Leser

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3. Die Wiederholung

Die Erzählung ist nicht nur die erste Detektivgeschichte in der Weltliteratur; an sie knüpft sich auch ein neues Phänomen an: Der Serienheld auf dem Gebiet des Kriminalistischen: Mehrere Romane werden durch einen Detektiv verknüpft. Dupin= Ahnherr dafür! -> Siehe Tabelle auf Handout(Serienromane gibt es nicht nur auf dem gebiet der Kriminalliteratur -> Im 19. Jh entdeckte man, dass Leute an den literarischen Helden hängen. Auch Phänomen des 19. Jhs: Fortsetzungsroman)

Dupin: Er kommt noch in zwei weiteren Werken vor: (Sequels zu „Die Morde in der Rue Morgue“)

- The Mystery of Marie Rogêt“- The Purloined Letter

Ad: The Purloined Letter:

Wurde vom Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901- 1981) zur Textgrundlage einer Vorlesung (“Das Seminar über E.A. Poes ‚Der entwendete Brief’ “)

Lacan: Freudianische Psychoanalyse; Linguistische Wende der Psychoanalyse.

Inhalt: Polizist besucht Dupin, weil er dessen Hilfe braucht: Ein Brief der Königin wurde entwendet. Es handelt sich dabei um einen Liebesbrief, der die Königin in eine schlimme Lage brächte, wenn der König davon erfahren würde. Ein Minister nimmt den Brief weg- die Königin sieht es, kann aber nichts sagen, da auch ihr Mann dabei ist. Der Minister erpresst dann die Königin. Seine Verstecke werden von Polizei durchsucht- alles vergebens, Brief ist weg. Dupin gibt dem Polizisten nach einem Monat den Brief: Er fühlte sich in den Minister hinein. Dieser dachte, dass jeder mit einem tollen Versteck rechnen würde- daher hatte er den Brief nur in einen offenen Briefbehälter gesteckt, wo natürlich niemand nachgesehen hatte, da jeder diesen Ort für viel zu offensichlich gehalten hätte! Dupin jedoch fand ihn und tauschte den Brief gegen einen anderen aus, ohne dass der Minister es merkte.

-> Wird als Bsp dafür erzählt, dass die Wahrheit sich an der Oberfläche versteckt, wo man sie nicht wahrnimmt.-> Pointe: Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht

a) Wiederholungszwang:

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Erzählung illustriert Wiederholungszwang. Die Wiederholung beobachtete Freud erstmals im Kinderspiel, dann auch in der Analyse: Der Patient kehrt immer zu unbewussten Inhalten zurück (=Wiederholung) Bsp. Tochter, die von Vater traumatisiert wurde, sucht dann immer ältere Partner.

Erzählung hat eine wichtige Szene (Urszene)= Diebstahl (von Minister durchgeführt, dann von Dupin wiederholt)

Erstes Dreieck: Minister stiehlt Königin den Brief. Sie sieht es, kann aber nix machen. König sieht es nicht.

Zweites Dreieck:Dupin stiehlt den Brief; Minister sieht es nicht; Polizei kriegt es nicht mit.

I. König und Polizei: sie teilen einen Blick, „der nichts sieht“;II. Königin und Minister: beide sehen, dass der andere nichts sieht, und hoffen, das Ungesehene weiter verdecken zu können;III. Minister und Dupin, deren Blick all das wahrnimmt, wodurch sie sich des Briefs bemächtigen können. I. Subjekt „eines Blicks, der nichts sieht“ [Unwissenheit];II. Subjekt „eines Blicks, der sieht, daß der erste nichts sieht“ (und hofft, dass verborgen bleibt, was er verbirgt) [Wissen + Ohnmacht];III. Subjekt, das „sieht, daß diese beiden Blicke das zu Verbergende offen liegen lassen“ (und sich seiner bemächtigen will) [Wissen + Macht].

Wiederholungszwang= Die Ambivalenz Lust- Angst wird immer wieder wiederholt. Das könnte man über die Leser des Kriminalromans auch sagen: Dass sie sich immer wieder auf das Lesen einlassen, obwohl sie das Schema kennen.

b) Symbolische Ordnung

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• Verbindender Gegenstand: Brief (franz. lettre = Brief, Buchstabe)

• Brief-> Schrift, Zeichen

• Brief= Zeichen einer Abwesenheit. (Sender ist abwesend) -> Zeichen überhaupt steht für Abwesenheit; verweist auf etwas anderes als sich selbst. Dasselbe gilt auch für die Sprache.

• Der Brief ist ein Signifikant; das Signifikat ist abwesend. Der Brief wird zum Signifikanten ohne Signifikat; an ihm ist nur interessant, wie er weitergegeben wird

• -> Kette von Signifikanten- steht unter Wiederholungszwang: dieselbe Dreieckskonstellation muss wiederhergestellt werden durch Weitergabe

• Kind eignet sich Sprache an -> Zugang zur symbolischen Ordnung (zwischen Zeichen und realem Objekt immer Differenz, reales Objekt immer abwesend.)

c) Imaginäre Ordnung

Bevor das Kind (durch Sprache) in die symbolische Ordnung eindringt, befindet es sich in imaginärer Ordnung = symbiotische Einheit mit der Mutter (keine Sprache). Das Ich des Kindes ist noch eines mit der Umwelt.. Diese Einheit geht beim Spracherwerb verloren; Körper der Mutter ist von nun an verboten.

In Erzählung wird imaginäre Dimension sichtbar: Transformation des Ministers: Er tritt an die Stelle der Königin (wird feminisiert)und auf dem vertauschten Brief steht seine eigene Adresse in seiner Schrift, diese wird weiblich dargestellt.

Poes Text zeigt einerseits die Logik des Unbewussten und andererseits die Analyse.

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Einheit 4, 29.3.

Annette von Droste- Hülshoff: 1797- 1848

1. Der Text

a. Entstehung und Vorlage

ED: in: „Morgenblatt für gebildete Leser“, April- Mai 1842(war ihr erster Prosadruck)

EA: in: „Letzte Gaben“ (1860)

Erste Notizen sammelte sie bereits in den 20ern Jahren; auch der erste Entwurf: „Friedrich Mergel, eine Criminalgeschichte des 18. Jahrhunderts“ entstand in dieser Zeit.

Der Stoff war quasi eine Familientradition: Niederschrift ihres Onkels August von Haxthausen: „Geschichte eines Algierer- Sklaven“ (1818) -> historischer Kriminalfall (siehe unten)

Karte: Um Münster: Gegend von Droste; Paderborn… Dorf B liegt dort -> ist wohl Dorf Bellersen. (Die historischen Orte, die in der Novelle vorkommen, sind auf der Karte unterstrichen)

Stoff- Überlieferung des historischen Kriminalfalls und Vorlage für Droste:

1783 wurde der jüdischer Händler Soistmann Berend erschlagen -> Drostes Großvater war der Gerichtsherr, der den Fall untersuchte und den Mörder bestrafen sollte.

1806 Rückkehr des Knechts Hermann Georg Winkelhan, der sich an einem Baum erhängte.

Familienüberlieferung wurde von Onkel aufgezeichnet. -> Vorlage zur Judenbuche-> Jedoch: Auch diese Aufzeichnungen sind nicht hundertprozentig real-> Die Geschichte handelt, laut Droste selbst, von einem Burschen, der einen Juden erschlägt.

Das IndizienparadigmaDie Judenbuche. Annette von Droste- Hülshoff

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b. Gattungsbezeichnung

• Eigentlich wollte sie einen Sammelband über Westfalen zusammenstellen; wurde jedoch nicht verwirklicht; nur Teile davon wurden veröffentlicht. -> Daher auch der Titel (zunächst wählte sie das als eigentlichen Titel, im Druck wurde es dann jedoch nur zum Untertitel): „Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westphalen“ -> regional gebundene Milieustudie.

• Dorfgeschichte- poetischer Realismus. Dieser Gattung wurde „Die Judenbuche“ damals zugeordnet (Vertreter: Karl Immermann, Jeremias Gotthelf, Berthold Auerbach)

• „Criminalgeschichte“- so nannte Droste selbst ihren ersten Entwurf. Die Vorgeschichte und die psychologische Motivation der Tat werden behandelt, was typisch für eine Kriminalgeschichte ist.

• Detektivgeschichte: Zweite Hälfte der Erzählung: Aufklärung des Verbrechens und Suche nach dem Täter. Jedoch keine Personalisierung der detektivischen Funktion, d.h. keine Detektivfigur, sondern diese wird von Erzähler oder vom Leser übernommen

• Novelle: Jedoch nicht strenger Bau der Novelle. Fontane kritisierte z.B. die (für eine Novelle untypische) doppelsträngige Handlung :

[...] das rein Novellistische kann ich nicht so sehr hoch stellen. Natürlich ist alles stimmungsreich und wirkungsvoll, solch Inhalt muß wirken, aber das Maaß der Kunst oder gar der Technik ist nicht hervorragend. Eigentlich enthält die ‚Judenbuche’ zwei Geschichten und das ist auf 50 oder 60 Seiten kein Vortheil; die Geschichte mit dem Onkel hätte, nach meinem Gefühl, verdient zur Hauptsache gemacht zu werden, und die Judengeschichte wäre dann ganz fortgefallen, wollte Annette aber lieber diese bringen, was auch vieles für sich hat, so mußte das Voraufgehende mit dem Onkel nur ganz kurze Etappe sein, nicht aber Concurrenzstück.

c. Inhalt

1738: Geburt von Friedrich Mergel Vater: Hermann Mergel Mutter: Margaret Semmler

Kleinbauern- Familie; Örtlicher Hintergrund: Paderborn; Vater ist Säufer und brutal im Umgang mit der Familie. Die erste Frau flieht schon nach der Hochzeitsnacht. Zweite Heirat: Schöne und kluge Margaret; jedoch kann auch sie ihren Mann nicht bändigen. Friedrich wird in diese unglückliche Ehe hineingeboren. Als Friedrich neun Jahre alt ist, d.h. im Jahr 1747, stirbt sein Vater- Unfall, alkoholisiert. Vater als Spukgespenst- Aberglaube, Gespensterglaube- kränkt Friedrich. Er wird dann einige Jahre später, 1750, vom Bruder seiner Mutter adoptiert. Der Onkel Simon hat einen Schweinehirten- Johannes Niemand. Er sieht sowohl Simon als auch Friedrich sehr ähnlich, weshalb Friedrichs Mutter annimmt, dass es sich dabei um Johannes uneheliches Kind handelt. Friedrich entwickelt sich unter der Obhut des Onkels gut; er wird dann zum Dorfelegant.

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Die Blaukittel, eine Holzfäller-truppe, treiben ihr Unwesen in Wäldern (Holzdiebstahl als Delikt: nicht mehr arme Leute sammeln Fallholz auf, sondern Blaukittel schlagen Bäume tatsächlich um). Friedrich wird eines Tages vom Förster Brandis beleidigt; daraufhin schickt er ihn auf einen falschen Weg, daher fühlt er sich mitschuldig am Mord an Brandis (1756), denn dieser wird wenig später von den Blaukitteln erschlagen. Friedrich verdächtigt Simon- denn dieser besitzt dieselbe Axt, mit der Brandis erschlagen wurde.Eines Tages findet eine Bauernhochzeit statt: Johannes Niemand macht sich lächerlich- gestohlene Butter schmilzt in seiner Tasche und so bemerken alle den Diebstahl; auch Friedrich macht sich lächerlich: Er gibt mit einer teuren Uhr an, doch der Jude Aaron weist ihn darauf hin, dass er ihm noch Geld für die Uhr schuldet. Wenig später wird Aaron ermordet aufgefunden (1760), weshalb Friedrich flüchtet: Er weiß, dass alle annehmen würden, er wäre der Schuldige. Zusammen mit ihm flüchtet auch Johannes Niemand.Die jüdische Gemeinschaft lässt nach Aarons Tod hebräische Buchstaben auf einer Buche, die sie gekauft hat, einritzen:

„Der Lumpenmoises“ gesteht dann den Mord an einem Juden namens Aaron; er hängt sich dann aber auf, bevor man ihn noch genauer befragen kann.

28 Jahre später, 1788: „Johannes Niemand“ kommt zurück; er wird aufgenommen; verdient sich als Bote; erhängt sich an Buche; Leiche wird von Gutsherrn als Friedrich Mergel erkanntBuche: „Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.“

d. Erzählstruktur:

Erster Gipfel: Mord an Brandis, Mitte des BuchesZweigipfeliger Verlauf: Mord hat sich verdoppelt (Brandis, Aaron), restliche Ereignisse stehen sich spiegelbildlich gegenüber

Jedoch nicht nur schlecht (Fontane), sondern auch gut kalkuliert.

Erzählweise: Chronikartige Berichte des Erzählers und direkte Rede

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Erzählinstanz: nicht auktorial, denn sie gibt wieder, was „man“ glaubt, redet, meint. Sie ist manchmal die Stimme des Dorfes, das seine Gerüchte verbreitet. -> Erkenntnistheoretische Problematik: Wer der Täter war, sagt uns diese Stimme nicht; sondern nur die Annahmen verschiedener Leute darüber

e. Täter

Dass Friedrich der Täter war bzw. gewesen sein könnte, weiß man nur durch Indizien, aber es wird nie gesagt.

Dass der Heimkehrer Friedrich ist, weiß man auch nur durch Indizien: weil er Holz schnitzt (was Friedrich immer getan hatte) und durch das Erkennen des Gutsherrn der Narbe Friedrichs. -> Der Leser wusste jedoch nichts von der Narbe und weiß daher nicht, ob das, was der Gutsherr sagt, stimmt!

falsche Spuren? Falsche Fährte, um klar zu machen, dass man oft voreilig Unschuldige verurteilt.

Andere mögliche Schuldige- andere Tätertheorien:

• Johannes Niemand: wollte die Ehre Friedrichs retten und hat deshalb Aaron umgebracht; dann wäre er der Rückkehrer und wäre nur durch Gutsherren falsch identifiziert worden

• Der „Lumpenmoises“: Er gesteht den Mord an einem Juden namens Aaron; wenn er wirklich der Mörder ist, dann wäre der Leser mit seinem eigenem falschen Täterverdacht konfrontiert -> diese Meinung vertritt Huszai.

-> Novelle klärt Schuldfrage nicht endgültig auf

2. Deutungen

a. Metaphysische Deutung

v.a. frühe Interpreten deuten die Geschichte so. Diese Deutung geht von den religiösen Elementen der Novelle aus. Vertreter dieser Theorie entscheiden die Schuldfrage im spirituellen Sinn, z.B. Rölleke. -> siehe auch Handout

Der Hochmut ist unmißverständliches Zeichen für Friedrichs Paktieren mit dem Bösen, und dieser Hochmut ist durchaus die Basis seiner späteren Verbrechen. [...] Der Mord ergibt sich konsequent aus der Superbia. Diese Erkenntnis rückt die Novelle mit einem Schlag in eine theologische Dimension: Der Ursünde Lucifers entspricht die Erste Sünde des Menschen, die sich entschiedener in einer Haltung (die Hybris, sein zu wollen wie Gott) als in einer Tat

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manifestiert; darauf aber erfolgt als erste eigentlich böse Tat der Mord, den Kain an Abel verübt

Problem: Die Novelle nimmt Bezug auf zwei verschiedene religiöse Systeme:

• Alttestamentarische Vergeltung: (Jüdischer Spruch) -> Selbstmord Friedrichs ist Ausgleich - nach dem Talionsprinzip: Rächender Gott bringt Mörder des Juden Aaron zur Strecke. (Ende des Textes)

• Anfang des Textes – Mottogedicht- siehe Handout – Zweifel an menschlicher Urteilsfähigkeit:

Wo ist die Hand so zart, dass ohne IrrenSie sondern mag beschränkten Hirnes Wirren,So fest, dass ohne Zittern sie den SteinMag schleudern auf ein arm verkümmert Sein?Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen,Zu wägen jedes Wort, das unvergessenIn junge Brust die zähen Wurzeln trieb,Des Vorurteils geheimen Seelendieb?Du Glücklicher, geboren und gehegtIm lichten Raum, von frommer Hand gepflegt,Leg hin die Waagschal’, nimmer dir erlaubt!Lass ruhn den Stein – er trifft dein eignes Haupt!

-> bezieht sich auf Johannesevangelium- Friedrich ist infam gemacht worden; seine Ehre wurde ihm durch Vorurteile genommen. -> Anderer religiöser Ansatz: christlich- Vergebung; Kritik an Unbarmherzigkeit des Urteils

-> Spannung zwischen den beiden religiösen Systemen

b. Sozialpsychologische Interpretationen

70er/80er Jahre

Sozialgeschichtliche und gesellschaftliche Aspekte stehen bei dieser Deutung im Vordergrund

Friedrich ist Opfer seiner Umgebung

Vertreter: W. Freund (-> siehe Handout):

In einem Milieu wie der Dorfgemeinschaft läßt sich nur durch die Unterwerfung unter die Gruppennormen eine Existenz sichernde Identität begründen. Hier liegt der Grund für Friedrichs Empfindlichkeit und auch für seine Repräsentationssucht, die sich im Sinne der

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Individualpsychologie Alfred Adlers als Überkompensation seiner früheren gesellschaftlich geächteten Verhältnisse darstellt.

-> Sozialer Rahmen der Novelle: archaische Dorfgemeinschaft, stabile Gruppennormen; Konformität mit diesen Normen wird von Mitgliedern verlangt. Friedrich ist der Täter und der Selbstmörder, aber er kommt in die Rolle nur als Opfer.

Auch bei anderen Interpreten ist Friedrich ein Opfer; er ist narzisstisch gekränkt. Bei dieser Deutung verabschiedet man religiöse Erklärungen- schädliche Wirkungen religiösen Aberglaubens erkennt man im Text.

Die Rätselstruktur des Textes bleibt erhalten.

c. Erkenntnistheoretische Ansätze

Warum hat Novelle die Täterfrage nicht erklärt?

Vertreter: H. Henel (siehe Handout)

In der Detektivgeschichte ist der Indizienbeweis bloß Mittel zur Erzeugung von Spannung; in der Judenbuche wird er zum eigentlichen Gegenstand der Erzählung, indem seine Zuverlässigkeit erprobt wird und indem er versagt.

-> Indizienstil des Textes: Der Leser erhält nur Hinweise; er wird zum Detektiv gemacht und muss selbst Rätsel lösen -> ähnlich wie Detektivgeschichte, nur ohne Aufklärung

Mord an Brandes: Nur Verdacht gegen Simon; kein Motiv, nur ein Indiz: Axt

Undeutbare Stelle:

An einem solchen Tage [...] sah man sie abends aus dem Hause stürzen, ohne Haube und Halstuch, das Haar wild um den Kopf hängend, sich im Garten neben ein Krautbeet niederwerfen und die Erde mit den Händen aufwühlen, dann ängstlich um sich schauen, rasch ein Bündel Kräuter brechen und damit langsam wieder dem Hause zugehen, aber nicht hinein, sondern in die Scheune.

-> Erzähler, der nur aufnimmt, was passiert, ohne Deutung -> kein allwissender Erzähler -> was hat Friedrichs Mutter im Garten gemacht? Etwas vergraben, ausgegraben? = Indizienstil des Textes (dass eben solche Fragen offen bleiben)

Hendel: Sinn der Novelle= ihre Dunkelheit. Keine Detektivgeschichte, sondern eine Geschichte vom Richten, am Ende handelt der Text nur von der Ohnmacht des erkennenden und richtenden Geistes. (d.h. Novelle handelt nicht von der Täterschaft)

Erkenntnisskepsis: Niemand kann zu vollständigen richtigen Aussagen über die Wirklichkeit kommen.

Droste verunklarte den Text nach und nach; gezielte Strategie der Verdunkelung.

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Literatursatire von Droste: „Perdu!“: Adelige Schriftstellerin; ihr liegt nichts daran, ob sie verstanden wird oder nicht; sie könnte das ganze klar machen, aber sie tut es nicht -> Droste war also klar, dass sie Verdunkelungsstrategien betreibt!Ironisches Selbstportrait -> Text als fundamentale Erkenntniskritik

3. Das Indizienparadigma

Droste zieht die Möglichkeit der kriminalistischen Ermittlung in Zweifel.-> Erkenntnisprinzip- wurde von Ginzburg als Indizienparadigma bezeichnet- er beruft sich auf drei Beispiele:

1. Giovanni Morelli Man kann Malern, zu wissen, dass sie das Bild gemalt haben, Bilder zuschreiben: Bilder sind nicht aufgrund von Hauptmotiven, sondern durch kleine Details einem Maler zuzuschreiben (jeder Maler mal ganz spezielle Handstellungen, Ohren, … siehe Handout) -> Morelli Methode

2. Literarische Verfahrensweise von Arthur Conan Doyle (Sherlock Holmes)Eruierung des Täters anhand kleinster Indizien

3. Sigmund Freud Bezog sich auf beide- stellte Verwandtschaft der Methoden fest

Ginzburg: In allen drei Fällen wird durch kleine Spuren die Realität eingefangen. Die „spuren“ sind:

- Symptome (Freud)- Indizien (Holmes)- Malerische Details (Morelli)

Wie Frühgeschichtlicher Jäger: liest Fährten der Tiere. Dieses Modell des Wissens (beruht auf Erfahrung) steht in Konkurrenz zum abstrakten und verschriftlichten Wissen, das man aus Büchern nimmt.

Man muss nicht lesen können, um Spuren zu entschlüsseln; daher ist das Wissensmodell unhierarchisch; außerdem ideologiefrei

Drostes Texte: Indizienparadigma schlägt fehl: es gibt schon Spuren, die auch gedeutet werden… aber nie eindeutig, bzw. keine Lösung!

ist trügerisch. -> Erkenntnisohnmacht

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4. Tausch und Ersetzung

Leser: Irritation, da er um die Täteridentifikation geprellt wird. Wenn man aber das Bedürfnis, zu erfahren, wer der Täter ist, zurückstellt, kann man erkennen, dass die Tausch- und Ersetzungsvorgänge souverän durchgeführt werden.

Was alles getauscht/ersetzt wird:

• Identität:

Friedrich wird durch Johannes ersetzt: Johannes sieht Simon ähnlich; aber auch FriedrichVertauschung:

- Herdszene (Mutter hält Johannes für ihren Sohn Friedrich)- Am Schluss bei Rückkehr (Friedrich gibt sich als Johannes aus)

Friedrich ist das „Spiegelbild“ von Johannes -> hier wird schon klar, dass es keine eindeutige Identität gibt.

• Dingsymbol:

Eiche- Buche:Friedrichs Vater wird tot unter einer Eiche gefunden; die Eiche wird durch eine Buche ersetzt (Brandes wird in den Tod geschickt; Witwe des Aarons sucht Trost bei der Eiche; in die Eiche wird was eingeritzt)

• Requisiten:

- Münzen (die F seiner Mutter gibt; der Gutsherr findet 5 Groschen in Johannes Kammer… Geld wird von einem zum andern weitergegeben)

- Knöpfe (Knöpfe an Brandes Jagdrock,…) - Geige: (Violine aus Holzschuh, die Friedrich Johannes schenkt; wird zu einer Bassgeige bei Hochzeit) - Hund (Friedrich weckt Hund; der Hund weckt Brandis,…)

Diese Motive kehren ständig wieder Motive zirkulieren und wiederholen sich, ohne dass ihre Bedeutung endgültig

festgelegt werden könnte

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Verdoppelung, Wiederholung, Austausch (so kann auch die (verdoppelte) Kompositionsstruktur der Novelle verteidigt werden)

• Rhetorische Stilfiguren : Ersetzungs- und Verschiebungsoperationen

• Semiotisch : Signifikant- Bedeutetes lässt sich nicht fixieren (d.h. kein eindeutiges Signifikat kann zugewiesen werden)

Es gibt eine ständige Bedeutungsverschiebung- kommt am Ende nicht zum Abschluss sondern bleibt offen -> Novelle bleibt unverständlich, genauso wie hebräische Schriftzeichen, die in den Baum eingeritzt wurden. Diese Schriftzeichen stehen als Teil fürs Ganze (Metonymie: alles unverständliche Zeichen, die nicht aufgelöst werden können -> Text wiederholt sich in sich selbst) -> von Kilcher herausgehoben

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Einheit 5, 5.4.

1. Text

Es gibt keinen Zweifel an der Täterschaft -> Poetischer Realismus

Der Text will mit dem Täter etwas anderes sagen.

a) Ausgaben und Stoff

Text sollte ursprünglich „Fein Gespinnst, kein Gewinnst“ heißen; Entstehung ab Oktober 1884.

ED: 1885 in „Die Gartenlaube“EA: 1885, Verlag Müller- Grote, Berlin

Die Handlungszeit wurde um über 50 Jahre zurückverlegt: Spätsommer 1831 bis 3.10. 1833

Realer Ort: Letschin; hier war 1842 eine Leiche im Garten eines Wirtshausbesitzers entdeckt worden und man vermutete, dass es die Leiche eines Reisenden war, der in dem Gasthof übernachtet hatte; im Werk heißt der Ort Tschechin.

Es gab also einen historischer Fall, der über 40 Jahre zurück lag -> Daher ist auch die Handlungszeit des Textes früher angesetzt.

b) Inhalt:

Abel Hradschek ist ein Gastwirt in Tschechin. Abel entwickelt einen Mordplan, um der drohendenVerarmung zu entgehen. Er gibt zunächst vor, seine Frau habe eine Erbschaft gemacht. Szulski- der Schuldeneintreiber, der zu Gast in Hradscheks Wirtshaus war, wird umgebracht; am nächsten Tag spielt Ursel Szulski. Hradschek gerät unter Verdacht- man gräbt in seinem Garten; findet aber nur eine alte Leiche. Aufgrund von Aberglaube, Spukangst und Furcht vor erneuter Verdächtigung will Hradschek ein Jahr später die Leiche Szuskis, die er im Keller verscharrt hat, in die Oder schmeißen; aus Unachtsamkeit schließt er sich selbst in Keller ein und wird dann am nächsten Tag tot neben der schon halb ausgegrabenen Leiche Szulskis ausgegraben.

Indiz und poetisches ZeichenUnterm Birnbaum (1885)

Theodor Fontane

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c. Gattung und Erzähler

Fontane selbst nennt sein Werk eine Novelle oder Kriminalnovelle.

Der Fontaneforschung gefiel „Unterm Birnbaum“ nicht so gut; daher gibt es wenig Sekundärliteratur dazu.

Fontane schrieb vier Kriminalgeschichten:„Grete Minde“ (Brandstifterin)„Ellernklipp“ (Geschichte eines Sohnesmörders)„Quitt“ (Geschichte eines Wilderers)„Unterm Birnbaum“

Das Ende des Werkes wurde immer wieder kritisiert: Das rächendes Schicksal greift ein; damit zerstört Fontane den sonstigen Realismus des Werkes.Fatalismus vom Ende vs. Rationalismus des sonstigen Werks

Dagegen könnte man aber einwenden, dass Hradscheks Furcht vor Aberglauben im Laufe der Geschichte plausibilisiert wird

Auf den ersten Seiten des Textes erfährt man, dass Ölfässer am Flur durch einen Keil nicht zum Rollen beginnen; am Ende ist es dieser Keil, den Hradschek wegnimmt, wodurch die Fässer zum Rollen beginnen und Hradschek eingesperrt ist -> unbewusstes Strafbedürfnis?! Das Schicksal bräuchte man für diese Erklärung des Endes dann nicht mehr

Zyklische Verbindung von Anfang und Ende (durch die Ölfässer)… typisch für Novelle

Aufbau:Das Werk hat 20 Kapitel und ist novellistisch aufgebaut. Der Mord an Szulski ist jedoch nicht der Höhepunkt. Aufbau: Pyramidenstruktur, typisch für Novelle (analog zum Drama)

Der Birnbaum kommt bereits im ersten Kapitel vor… -> alle Details haben ihren Platz! „Zufälle“ in literarischen Texten sind ästhtetisches Arrangement und keine wirklichen Zufälle

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ErzählerEr gibt sich objektiv; er will nur sehen, was das Dorf sieht! Der Erzähler stellt sich taub, als Hradschek mit Ursel Mordpläne schmiedet. Man SIEHT nur, dass Hradschek Ursels Widerstand besiegt, aber man hört nichts von dem Gespräch.Der Erzähler wird aber Zeuge von Hradscheks inneren Vorgängen -> manchmal personaler Erzähler mit erlebter Rede (Präteritum 3. Person). Der Erzähler ist stellenweise auch auktorial: (normal: Anbiederung an den Leser) hier: Komplizenschaft Erzähler- Leser; schließt auch die Hauptperson Hradschek mit ein! Der angeblicher Hauptantrieb, nämlich den Mörder zu finden, ist hier nicht wirklich das Ziel des Erzählers; Hradschek wird auch auf unsere Seite gezogen -> „unerhörte Gewöhnlichkeit“ Hradscheks -> Mörder ist normaler Bürger!

2. Kriminalfall

Die Handlung ist- dem Stoff entsprechend- um 50 Jahre vorverlegt, aber das Werk ist keine historische Novelle.

Historische Ereignisse im Text:

• Polenaufstand von 1830 -> Revolte polnischer Offiziere gegen Statthalter in Warschau; breitete sich auf ganzes Land aus. Sympathien galten polnischen Aufständischen. -> Im Werk: löst bei Dorfleuten wohligen Grusel aus; wird von Szulski erzählt

• Franz. Julirevolution von 1830: Im Werk: Preußische Offiziere, die bei Hradschek einquartiert sind, erzählen davon. Sie sind für die alte Feudalherrschaft und gegen den Aufstand. Hradschek wechselt Seite -> Hradschek hat keine Gesinnung; jeder Standpunkt ist ihm Recht… er will nur aggressives Prickeln spüren

• Berliner Trivialkulutr: Hradschek wird zu Konsumenten der Berliner Trivialkultur nach Ursels Tod. Die Possen, Lustspiele, Witzheftchen usw. die Hradschek mitbringt nach Tschechin, sind authentisches Material. Hradschek hat bald eine neue Partnerin. „Ach, das ist ja zum tot lachen!“ ist deren Lebensmotto -> Zukunftsgewisse Vorausdeutung. Blutrünstigkeit und Banalität vereinen sich in der Abendunterhaltung der Dorfleute.

Gängiger Materialismus- Tschechin ist ein reiches Dorf; alle denken an ihr Geld. Grabkreuz für Ursel- über Teschechiner wird gesagt, dass ihnen am meisten viel Geld Ausgeben imponiert. -> Fontane zielt mit dieser Kritik auf seine Zeitgenossen ab!

• 1871: Reichseinigung nach dem deutsch-französischen Krieg; danach in den 70ern und 80ern die „Gründerzeit“

-> Deutschland florierte, hatte Geld, wirtschaftlicher Anstieg, Neubauten… von Wirtschaftsentwicklung profitierte die neue Bourgousie (Geldadel) vs. alte Bildungsbürger mit wenig Geld

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Gegenwart sollte ein Spiegel vorgehalten werden Kulturelle Banausen und Materialismus… Tschechin

Abel repräsentiert das Kollektiv; dass er zum Mörder wird, hat er nur seiner Spielermentalität, dem Außenseitertum im Dorf, seiner dubiose Vorgeschichte und der Angst vor Armut zu verdanken.

Distanzlosigkeit Erzähler- Hradschek: Das zeigt, dass die Gesellschaft mörderisch materialistisch ist

3. Der Baum: das poetische Zeichen

Frage: Warum heißen zwei berühmte Kriminalgeschichten [Die Judenbuche; Unterm Birnbaum] nach Bäumen? Eignen sich Bäume als Dingsymbole gut für Kriminalliteratur?

Edgar Allan Poe: „The gold bug“(dt. “Der Goldkäfer”; 1943)

Auch hier ist ein Baum wichtig!Es geht um eine Schatzsuche. Es gibt einen verschlüsselten Code, der die Schatzsucher auf die Spur des Schatzes bringen soll -> Hinweis auf Ort des Schatzes; Tulpenbaum spielt entscheidende Rolle. Vom Stamm des Baumes muss man eine bestimmte Länge abmessen, um an den Schatz zu kommen.

Wie in Judenbuche: Baum in engem Zusammenhang mit zuerst unsichtbaren, dann unverständlicher Schrift, die erst entziffert werden muss! Verbindung Baum- Schrift

In der „Judenbuche“: Baum als symbolische Markierung. Eine unverständliche Schrift ist in den Baum selbst eingeritzt; sie steht dadurch metonymisch für ganzen Text! (den man eben auch nicht verstehen kann, wenn man ihn so liest, als ob er eindeutig auf einen Täter weist) Die Judenbuche ist der Todesort des Juden Aaron und wird zum Galgen für Friedrich. Der Baum repräsentiert auch das Opfer! (Waldfrevel= Mord an Bäumen; Baum= Mordopfer)). Buche= mit Axt von Holzfrevlern gefällt; tritt metaphorisch für spätere Opfer ein. Baum= immer auch ein Zeichen für Leben. Baum der Erkenntnis- Schuldzusammenhang (Paradies) NT: Baum= Zeichen des Kreuzes. Kreuzsymbol… Baum= Todes- und Begräbnisstätte.

Etymologisch: Baum= nicht nur Pflanze, sondern auch bearbeitetes Holz und Mastbaum und Schlagbaum. -> auch Sarg!In Judenbuche: Baum/Kreuz= AT/NT In „Unterm Birnbaum“ kommt der Baum auch in all diesen Kontexten vor. „Unterm Birnbaum“ = nicht einfaches darunter, wie wenn Menschen unter einem Baum sitzen, sondern noch weiter unten! Vergraben und unsichtbar… dort urspr. Knochen des Franzosen -> Vertauschungen, Ersetzungen. Hradschek täuscht vor, Szulski liege unter dem Birnbaum, obwohl in Wahrheit die Leiche des Franzosen darunter liegt.

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Sichtbares Grab (Birnbaum) vs. unsichtbares Grab (Keller) -> Werden vertauscht. Dazu kommt dann noch Ursels Grab am Kirchhof. Dort lässt Hradschek ein Kreuz aufstellen: Darauf sind folgende Symbole:

- Engel, die Fackel senken (die die Fackel des Lebens auslöschen)- Schmetterling (Seele d. Verstorbenen)- Schrift: zwei verschiedene Schriften- ein Bibelvers und Spruch des gekränkten

Pfarrers Eccelius

Das Grabkreuz ist überdeterminiert! Es ist ein Indikator von Schuld. Und es ist auch selbst noch ein Produkt von Täuschung, denn Ursel wollte mit dem Geld eigentlich Seelenmessen für Szulski lesen lassen; Hradscheck jedoch widmet dann das Geld für das Grabkreuz um!

Ursels Grab steht auch stellvertretend für Ermordung Szulskis. (vorher schon Vertauschung der Rollen- als sie vortäuscht, er zu sein)

Bäume sind also markante Zeichen: Sie stehen im Zusammenhang mit Inschriften; sie bezeichnen das Leben und den Ort der Toten.

-> Auch in der Theorie findet man Bäume: Linguistik und Semiotik privilegieren Bäume- ziehen immer Bäume heran, wenn sie etwas zeigen wollen!Zum Beispiel:

Sprachphilosoph Fritz Mauthner „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“(1901)

Am Bsp. von Bäumen zeigt er die individuelle Semantik des Zeichens.

„Wenn ich Baum sage, so stelle ich mir — ich persönlich — so ungefähr etwas wie eine zwanzigjährige Linde vor, der Hörer vielleicht eine Tanne oder eine mehrhundertjährige Eiche. Und das sind die einfachsten Begriffe. […]“

Sprache als Kommunikationsmittel fkt nicht, weil jeder mit einem Wort unterschiedliche Dinge verbindet.

Man schafft nicht durch Einzelvorstellungen ein gesamtes Ganzes!

Der „Baum“ funktioniert als Metapher. Das Wort ist nicht ein Extrakt unterschiedlicher Vorstellungen, sondern eine Metapher, ein mentales Bild; nie der Name, der untrennbar mit der Sache verbunden sind. Die Vorstellung, dass ein Wort und ein Ding zusammengehören, kommt bei ihm nicht mehr vor. Ein Wort referiert nicht mehr auf ein Ding, sondern auf die Vorstellung dieses Dings!

Signifikate sind immer abwesend! (Man kann sich einen Baum vorstellen, ohne dass wirklich ein Baum da ist)

„Ein dichterisches Genie war, wer in Urzeiten zuerst seine Einzelvorstellungen von Tannen, Eichen u. s. w. durch das Lautzeichen "Baum" festhalten konnte, und nur wieder eine Art dichterischer Phantasie knüpft heute noch an das Wort "Baum" lebhafte Vorstellungen.“

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Die Zeichentheorie wurde dann ausgeführt von Ferdinand de Saussure “Course de linguistique générale“

Er spricht nicht mehr von „Wort“, sondern von „Zeichen“.Er wendet sich gegen die Annahme, das Wort könne sich auf einen Sachverhalt in der Realität beziehen.Sprache= keine Liste von Ausdrücken, der ebenso viele Sachen entsprechen.Keine Verbindung mehr zwischen Wort und Ding

Baum= nur Zeichen

Zeichen hat zwei Ebenen:

- Signifkant= das Bedeutende (Abbildung: Laubtild; Reihe von Buchstaben); ist arbiträr= zufällig! Lautbild entsteht durch Differenz … „Baum“ ist nicht gleich „Traum“ oder „Raum“. Mit der Differenz verbindet sich Vorstellung (aber nicht mit realer Sache). Der Signifikant kommt durch Differenz zustande

- Vorstellung

Die Fortsetzung stammt dann von Jacques Lacan : L’instance de la lettre

Psychoanalytische und semiotische Sicht

-> Grafik: Signifikanten, gebrochen durch Signifikat (=Vorstellung)… d.h. das

Signifikat ist eine Funktion des Signifikanten ->

Der Signifikant funktioniert nur durch Differenz (Saussure)-> das überträgt Lacan auf das Signifikat… dasselbe gilt nun auch für die Vorstellungen! Auch die Vorstellung ist nur markiert durch Differenz zu anderen Dingen (Bsp Baum ist unterschieden von Strauch oder Blume)

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Auf beiden Seiten gibt es dasselbe Zeichen der Differenz, das auf Seite des Signifikats ins Ewige gehen kann

Signifikant: Baum- Traum- Raum Signifikat: Bäume- Sträuche- welche Sträuche- Pflanzen-…

„The purloined letter“ (siehe 3. Einheit): Man hat nie gewusst, was wirklich in dem Brief steht Brief= Zirkulation des Buchstabens (Brief), sodass Bedeutung desselben sich nicht festlegen lässt, ist unendlich.--> Weitergabe des Signifikanten

Die Bedeutung des Zeichens hängt auch davon ab, was das Zeichen nicht ist -> Die Bedeutung im Zeichen ist auch immer abwesend; sie kann nie leicht festgenagelt werden; sie ist eine Art konstantes Flackern von An- und Abwesenheit.

-> Auf die Kriminalgeschichte angewandt ist dieses Flackern von An- und Abwesenheit die Opposition von Präsenz und Alibi (Alibi= anderswo)

Lacan durchtrennt die Beziehung von Signifikat und Signifikant

Baum durchbricht Balken ->

-> Das Zeichen „Baum“ zieht alle symbolischen Kontexte an. -> Baum = Leben, Tod als symbolisches Zeichen. [Baum der Erkenntnis =Zeichen für Tod]. Das sind dichotomische (entgegengesetzte) Bedeutungen!

Das Zeichen für Baum bezeichnet nicht nur gut und böse, Leben und Tod, sondern auch die Gabelung, d.h. Differenz. -> verweist auf hebräisches Wort für Baum: setzt sich aus zwei Zeichen zusammen; es sind die gegabelten Zeichen im hebräischen Alpabet! Stellen also diese Dichotomie dar.

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Bäume sind dann wirklich privilegierte Zeichen! Symbolisieren Leben und Tod und den Tausch von beidem!

So funktionieren Baum und Kreuz in den Kriminalgeschichten:

Die Judenbuche: Mord und Selbstgericht werden durch eingeritzte Buchstaben bezeichnet.

Unterm Birnbaum:Baum= Begräbnisstätte des Franzosen; dann wird getauscht bzw. getäuscht: Hradschek erweckt den Eindruck, dass nicht der Franzose, sondern Szulski unter dem Baum liegt. Inzwischen hat Ursel auch ein Grab -> Vertauschung von Gräbern.

Warum liegt Ursel nicht bei den Kindern begraben? -> Damit sie –bei der Auferstehung- nicht nach den Kindern greifen kann!

Tote Kinder: Dies sind mindestens zwei Kinder; Novelle beginnt am Sterbetag der Kinder; Ursel flicht ihnen Kränze. Drittes Kind, unehelich, nicht von Hradschek- von diesem erfährt man auch nichts. Schweigegebot- auch Forschung respektierte dieses und warf Frage nach Kindern nie auf

Auch Hradscheks vorige Geliebte verschwand; man erfährt nicht, ob sie gestorben ist oder was sonst mit ihr passierte.Es gibt also mindestens zwei tote und ein verschwundenes Kind sowie eine verschwundene Geliebte -> diese werden verschwiegen und vergessen und mit Szulski vertauschbar.

Hradschek wird zwar, was damals für eine Mörder sehr unüblich war, auf dem Kirchhof, aber bei Nesseln und Schutt begraben.Es wird noch gesagt, dass Ursels Grabkreuz von den Dorfbewohnern umgerissen werden würde.Damit bleibt wieder nur Baum übrig; die Grabstätten werden eliminiert.

Poetisches Zeichen der beiden Novellen: Baum= Stätte, an der Identitäten vertauscht werden und Identitäten in Frage gestellt werden

These: Detektivroman= eine überholte Gattung -> Erkenntnistheoretisches Problem: Konzepte der Identität in der Moderne werden ernsthaft thematisiert und seit Postmoderne verabschiedet; jedoch: herkömmliche Detektivgeschichte hält an Identität fest! Daher sei es eine rückschrittliche Gattung! Denn sie versichert dem Leser, Identität sei erkennbar durch eindeutige Findung des Täters. -> Das gilt aber nur für Kriminalliteratur, die der Unterhaltungsliteratur zugerechnet werden kann.

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Auf der anderen Seite stehen die hochliterarischen Werke: z.B. „Die Judenbuche“ lässt das Konzept der Identität nicht unangetastet. Wo der Täter identifiziert wird, beginnt das Spiel mit der Vertauschung; in „Unterm Birnbaum“ ist es umgekehrt: Leichen sind in ständigem Positionswechsel.

Durch Tausch entsteht eigenes Bedeutungsspiel, das nicht identifizierbar ist

Hochliterarische Texte weichen, wie gesagt davon ab, die Identität immer eindeutig festzustellen (wie das eben die Werke der Kriminalliteratur, die der Unterhaltungsliteratur zuzurechnen sind, tun). Sie lassen das Konzept der Identität nicht angetastet wie das in der Unterhaltungsliteratur der Fall ist (hier weiß man eindeutig, wer der Mörder/das Opfer ist… Der Tausch von Positionen ist analog zu dem ständigen Gleiten des Zeichens -laut Lacan)

Bäume bezeichnen das semiotisches Spiel, das die hervorragende Kriminalgeschichte weiter betreibt : Sie hat das Indiz zugleich als poetisches Zeichen, das auf sich selbst reflektiert.

Bsp dafür: Epigramm von H.v. Hoffmannsthal:

Kunst des Erzählens

Schildern willst du den Mord? So zeig mir den Hund auf dem Hof,Zeig mir im Aug von dem Hund gleichfalls den Schatten der Tat

Mord, Tat und Hund, Hof gehören zusammen (Chiasmus) Hund auf dem Hof; Hund als Tatzeuge kehrt in mehreren Kriminalgeschichten wieder;

Hund ist stumm Hund= stummes Zeichen; in sein Auge ist die Tat hineingefallen; Auge= Gedächtnis

der Tat; Zeichen spricht nicht (Hund kann sich nicht mitteilen); Auge wird- als stummes Zeichen- zum Indiz, zur Spur – muss zum Sprechen gebracht werden.

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Einheit 6

Heimito von Doderer: 1896 -1966

1. Der Text

Titel: Komma fehlt.

a) Inhalt

Stadt: Wien, wird aber nicht genannt. Kokosch wächst dort als Sohn eines Tuchhändlers auf; dessen Frau, also Kokosch Mutter, ist viel jünger als ihr Mann. Sie wird als blümerant beschrieben: blass blau; aber auch schwach (flau). Vater: ungezügeltes Temperament- zwischen Wutausbrüchen und Verwöhnung. Mutter immer zerstreut und abwesend; Assoziation mit Himmelsblau, Segeln,… -> deutet auf Konrads Sterbeszene voraus:

„blümerant“: von „bleu mourant“ – „sterbend blau“: blassblau oder schwach, schwindlig

Konrads Sterbeszene:„Der Himmel dieses Aprilmorgens wies jenen zerfahrenen und verwaschenen Ausdruck, der dem Schwanken der Erde im halben Frühling, zwischen Tod und Leben, entspricht. In der Leere des Himmelrandes zerflossen und entschwanden einige ganz erstaunliche Gebilde, aufgekrauste weiße Windwolken, wie Segel unter dem Horizont.“

Diese Leitmotivtechnik verwendet Doderer in all seinen Texten.Konrad: ernstes Kind; großes Anpassungsvermögen; Sicherheits- und Ordnungsbedürfnis. Als 15 jähriger ist er daher bereit, eine Alleinreisende zu erschrecken. Auf Stock gestellter Totenkopf- hält er ans Abteilfenster. Erste Liebeserfahrungen ohne größere LeidenschaftTextilingenieur- süddeutsche Stadt- Unternehmen. Tochter des Unternehmers, Marianne, wird Konrads Frau. Marianne hatte eine jüngere Schwester, Louision, die bei einem Raubmord in

Mythos- Psyche- PolitikEin Mord den jeder begeht. Heimito von Doderer (1938)

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einem Zug ums Leben kam. Konrad verliert das Interesse für Marianne und interessoert sich nur noch für Louision. Er kommt auf die Zugstrecke; die Indizien weisen auf ihn selbst. Er findet den Medizinstudenten von damals; es stellt sich als Unfall heraus.Stirbt durch Funken an elektrischer Türklingel; löst Gasexplosion aus; Tod ist Rückkehr zu Mutter und Versöhnung mit seinem früheren Selbst.

b) Handlungszeit und Entstehung

Orte werden nicht genannt, außer Reutlingen und Berlin.

Auch keine Zeitangaben; kann man aber erschließen: • 1905 wird Conrad geboren.• Am 25. Juli 1921 – Conrad ist sechzehn – wird Louisons Leiche gefunden.• 1926 tritt Conrad in die Firma Veik ein.• 1928 stirbt sein Vater und er heiratet Marianne (die sechs Jahre älter ist als er).• Im Oktober 1929 nimmt er seine eigentliche detektivische Tätigkeit auf. • Conrad stirbt im April 1930.

Zeit der Inflation der 20er Jahre: Hinweise darauf im Buch. 1914-1918: erster WK-wird im Text nicht gedacht; historische Leerstelle

Anregung zum Roman durch Meldung in Wiener Tageszeitung- 18Jährige wird im Zug geistig umnachtet, nachdem junge Leute sie erschreckten; die jungen Leute wurden wegen schwerer Körperverletzung angezeigt.Doderer schnitt Bericht aus und klebte es in sein Studienheft (Anregungen und Einfälle sammeln); wurde zum Anstoß für einen KR (= Doderers Kürzel für Kriminalroman)

1935: zweiter Entwurf; Titel bereits

1936: immer wieder Beschäftigung

1937: konsequente Arbeiten am Text; verschiedene Recherchen. Z.B. Oktober: reiste nach Baden- Württemberg, um Schauplatz anzuschauen; dort schaute er z.B. Tunnel an: 8 km lang; Durchfahrt dauert 25 Sekunden. Gegend: Nekartal

1938: Recherchen in Berlin (Aufdeckungshandlung); im Mai vollendet; im Herbst vom Verlag ausgeliefert.

Historischer Vorfall von 1927 auf 1921 zurückverlegt (im Buch); Aufdeckung zurückverschoben auf 1930 (statt 1928).

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• Quelle: Wiener Tageszeitung Die Stunde v. 12. 8. 1927• Studienheft Doderers v. 5. 11. 1929: Plan des „KR“ (Kriminalromans).• Mai 1935: Zweiter Entwurf• Ab 1937: konsequente Arbeit (Recherchen, Lokalaugenschein)• 1938 EA bei C. H. Beck, München

Tatort: Kirchheimer Tunnel vor Lauffen/Neckar

2. Mythos: Ödipus und Laios

Der Text ist, von der Handlung her, eher eine Detektivgeschichte und besteht aus 51 Kapiteln.

Mordtat geschieht schon ziemlich früh (7. Kapitel), aber Trick: der Leser weiß das nicht; er ist nur Zeuge eines Scherzes. Aber der Leser weiß, wie schnell Konrad bereit ist, an einem blöden Unfug zu beteiligen.

Der Mord bleibt erstmals verdeckt. Zunächst nur beiläufig Infos über Louision. Konrad geht auf Mördersuche; wird vom Erzähler als „Sherlock Holmes“ bezeichnet. Der Leser ist bei der Suche nach Spuren und Indizien dabei, und er erfährt schließlich gleichzeitig, dass der Detektiv erkennen muss, dass er auch gleichzeitig der Mörder ist.

Extreme Lösung der Täterfrage: Täter= Detektiv. Varianten des Gattungsschemas: Fairer Zweikampf zwischen Mörder und Täter; Text weicht vom klassischen Schema ab.

Handlungsstrukur: Nachträgliche Aufdeckung= Analyse der Geschichte; aber auch Analyse des analytischen Dramas (was an Aufdeckung geschieht, ist mit dem analytischen Drama durchaus vergleichbar). Vergleich mit dem antiken analytischen Drama- Sophokles: „König Ödipus“: Ödipus hat versehentlich seinen Vater umgebracht (wusste nicht, dass es sein Vater war) und seine Mutter geheiratet; er sucht den Mörder seines Vaters; Ödipus erkennt dann seine Identität und seine Schuld und sticht sich selbst die Augen aus… -> erstes Beispiel von Kriminalliteratur! (Man weiß bei Ödipus schon sehr früh, dass Ödipus selbst der Mörder ist). Ödipus glaubt dann nicht an seine eigene Identität; erst als immer mehr Indizien auftreten, muss er es glauben. Er holt dann am Schluss physisch nach, was mental immer schon der Fall war: Er sticht sich die Augen aus und wird so blind und verblendet.

Sophokles:König Ödipus (429-425 v. Chr.)

Teiresias: „Der Mörder, den du suchst, das bist du selbst“

Mythisches Vorbild wird bei Doderer als allgemeinmenschliche Prägung ausgegeben. -> Wenn man sich erkennt, erkennt man sich als Mörder.

Roman: Konrad erblickt sich im Spiegel:

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Blickte man zur Zeit der ersten Abenddämmerung mit etwas zusammengekniffenen Lidern in diesen Spiegel und entfernte sich dabei allmählich nach rückwärts – so gedieh das Spiel an einem bestimmten Punkte zum leichten Erschrecken: denn mit leeren, dunklen Augenhöhlen sah einen da plötzlich das Gegenbild an. Durch die Art der Beleuchtung und den gekniffenen Blick blieben von einem bestimmten Punkte an tatsächlich nur mehr jene Höhlungen im Antlitze sichtbar. [...] Jenes Spiel vor dem Spiegel aber gestaltete sich noch viel seltsamer, wenn man in umgekehrter Richtung sich bewegte, also auf den Spiegel zuging: da war erst nur der eigene dämmernde Umriß, dann die hellere Fläche des Antlitzes, jetzt schon deutlicher, auszunehmen. Jedoch im gleichen Augenblicke, wo man sich selbst sozusagen erst erkannte, sahen einen auch schon die leeren Augenhöhlen aus dem Gesichte dort in dem andern Raum an. Ein leichtes und tiefinneres Erschrecken war dabei jedesmal kaum zu unterdrücken.

Variation des berühmten Spiegelmotivs in der deutschen Literatur -> Selbsterkenntnis; aber auch schaurige Inhalte- Begegnung mit dem Doppelgänger, der auch abgespaltene Anteile hat; hier (typisch bei Doderer): Überdeterminierung des Motivs:

- Handlungsebene: im Spiegel blickt ihm sein eigener Tod entgegen (Skelett mit leeren Augenhöhlen)

- motivlich ist es der Totenschädel der Medizinstudenten, der ihn aus dem Spiegel anschaut

- auf der mythologischen Ebene ist es der Schädel des Ödipus, der ihn mit ausgestochenen Augen ansieht.

Spiegelszene ist daher geschichtet (mehrere Bedeutungen)

Doderer schrieb über den geplanten Roman folgendes:‚Ein Mord, den Jeder begeht‘ ist seiner Handlung nach ein Kriminal=Roman zu nennen, freilich nicht im landläufigen Sinne; insoferne jedoch schon, als die Aufklärung eines Raubmordes und die Ermittlung des Täters durch den Helden des Buches den Gang der Erzählung bestimmen. Dieser Täter ist mein Held selbst, jedoch ohne es zu wissen [...]. Da er nun aber Licht in die Sache bringt, muss er sich ja selbst allmählich entgegenkommen, wie in einem Spiegel. Das ist auch der Fall. Er ermittelt sich als den Täter, als den Mörder der von ihm meistgeliebten Frau, er erkennt im Spiegel ganz zweifelsfrei sein Bild, ja dieses fliesst mit ihm zusammen.

[aus dem Roman-Exposé Doderers

Narrativer Gang wird verglichen mit Annähern an das eigene Spiegelbild. Wichtigkeit des Spiegelbilds wird noch einmal unterstrichen

Spiegelmotiv wird dann für Konrad- Selbsterkenntnis- auch zum Todesmotiv; Auf der Zugfahrt betrachtete er den Totenschädel genau und dabei fiel ihm auf, dass ihn die toten Augen des Kopfes an seine eigenen Augen, die im Spiegel leer aussahen, erinnerten; diese Erinnerung verscheuchte er jedoch:

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Er [Conrad] betrachtete den Schädel genau, während an der Stirnseite des Lebens allerhand bedeutsame Vorstellungen aufleuchteten. Er sah in die leeren Augenhöhlen, die aber jetzt ganz von der herabstrahlenden Deckenlampe erhellt waren. Nur flüchtig streifte ihn die Erinnerung an sein einstmaliges seltsames Spiel im Empfangszimmer: dies paßte nicht hierher, er verscheuchte es.

Dann Untat: Todesschädel- Louision stirbt; ist dann auch sein Todesbild.

Roman: Selbsterkenntnis ist das eigentliche Ziel des Lebens

Was er im Spiegel nicht sieht, das ist der Tod, der durch das halbe Buch schon hinter ihm geht und wartet, mit der Mission, ihn sogleich abzutun, diesen bürgerlichen Helden, dem das Fatum die Krone verliehen hat, zu erreichen, was nur dem dramatischen Heroen gegeben ist oder dem Spirituellen [!]: nämlich sich selbst einzuholen, die eigene wirkliche Biographie aufzudecken, die ja sonst kaum Einer kennen lernt.

[aus dem Roman-Exposé Doderers]

3. Psyche: Der Ödipus- Komplex

Roman ist unterlegt mit einem Subtext, der auf Sophokles mit seinem „Ödipus“ hindeutet. Tiefenpsychologisch gesehen: Castiletz= Ödipuskomplex.

Freud erklärt, warum Ödipus noch immer so populär ist: Diese Tragödie spricht die unbewussten Wünsche des Zusehers an; Ödipus, der seinen Vater tötet und die Mutter heiratet, ist unsere Wunscherfüllung unserer kindlichen Wünsche. Ödipale Phase zwischen 3 und 4 Jahren; wenn aber dann normale Entwicklung, kommt man darüber hinweg; wenn keine normale Entwicklung: Neurose; man bleibt auf den Komplex fixiert :

Es muß eine Stimme in unserem Innern geben, welche die zwingende Gewalt des Schicksals im Ödipus anzuerkennen bereit ist [...]. Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch das unsrige hätte werden können, weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat wie über ihn. Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten Haß und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon. König Ödipus, der seinen Vater Laïos erschlagen und seine Mutter Jokaste geheiratet hat, ist nur die Wunscherfüllung unserer Kindheit. Aber glücklicher als er, ist es uns seitdem, insofern wir nicht Psychoneurotiker geworden sind, gelungen, unsere sexuellen Regungen von unseren Müttern abzulösen, unsere Eifersucht gegen unsere Väter zu vergessen. Vor der Person, an welcher sich jener urzeitliche Kindheitswunsch erfüllt hat, schaudern wir zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, welche diese Wünsche in unserem Innern seither erlitten haben.

Sigmund Freud, ‚Die Traumdeutung‘ (1900)

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Menschliche Allgemeinheit: Wir alle haben einen Hass auf den Vater und lieben unsere Mutter (betrifft nur Männer -> war ein Hauptpunkt der feministischen Freud- Kritik; es gibt für Mädchen kein Äquivalent; das wurde dann später versucht, nachzuholen: Mädchen möchte Mutter umbringen und Vater heiraten= Electra- Komplex; hinkt aber ein bisschen). Der Junge muss diese Phase durchlaufen und dann überwinden, damit seine Sexualentwicklung glücken kann- nur dann kann sich der Sohn mit seinem Vater akzeptieren und so zu einer stabilen Identität kommen. Wenn es nicht gelingt, hat das neurotische Folgen: Der Betreffende wählt sich als Liebesobjekt immer wieder jemanden, der seiner Mutter ähnlich ist. Außerdem droht Impotenz und ein komisches Sexualverhalten, z.B man sucht sich Frauen, die nicht an die Mutter erinnern, sondern eben genau anders sind. Außerdem kommt es zu einer Spaltung zwischen Mutter (unerreichbares Liebesobjekt) und Hure (alle anderen Frauen, die erreichbare Liebesobjekte sind, werden lieblos behandelt und quasi als Prostituierte angesehen):

Die Sexualbetätigung solcher Personen läßt aber an den deutlichsten Anzeichen erkennen, daß nicht die volle psychische Triebkraft hinter ihr steht. Sie ist launenhaft, leicht zu stören, oft in der Ausführung inkorrekt, wenig genußreich. Vor allem muß sie der zärtlichen Strömung ausweichen [...]. Das Liebesleben solcher Personen bleibt in die zwei Richtungen gespalten, die von der Kunst als himmlische und irdische (oder tierische) Liebe personifiziert werden. Wo sie lieben, begehren sie nicht, und wo sie begehren, können sie nicht lieben.

Sigmund Freud, ‚Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens‘ (1912)

Liebesleben solcher Personen: Triebkraft nicht ganz vorhanden; Sexualität und Zärtlichkeit sind für solche Personen verschieden; ihr Liebesleben ist gespalten in zwei Richtungen (wie auch in der Kunst) irdische und himmlische Liebe.

Freud über diese Männer: „Wo sie lieben, begehren sie nicht; und wo sie begehren, können sie nicht lieben“ -> typische Spaltung des bürgerlichen Mannes in seinem Liebesleben (19. Jhs)

Dichotomisierung des Frauenbildes im 19. Jhs -> erhabene Frau vs. Hure

Doderers Text ist mit diesen Thesen Freuds kongruent:Konrad leidet an Tyrannei des Vaters; inzestuöses Begehehren nach seiner Mutter- Bsp. Konrad hilft Mutter Vorhänge abnehmen; schreibt etwas auf mit Bleistift des Vaters, den er versehentlich einsteckt- Vater wird böse; Prügel- Mutter rettet ihn vor zornigem Vater. Bleistift= phallisches Objekt; nur ganz kleiner Stift -> Lächerlichkeit. Szene deutet aber Konrads Neurose an, denn inzestuöse Beziehung ist quasi erfüllt, da die Mutter ihn rettet.

Konrad bleibt in dieser Phase stecken; die Zwangshandlungen, die er schon als Kind entwickelt (alles genau zurechtlegen) begleiten ihn sein Leben lang. Übersteigertes Sicherheitsbedürfnis- passt sich immer allen Regeln und Normen an.

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Idealisiertes Frauenbild (Louision), das ihn an seine Mutter erinnert- Gemälde von Louision- hier erkennt man große äußerliche Ähnlichkeiten mit seiner Mutter: beide haben blaue Augen; Louision hält Blumen (-> blümerant), und man sieht Wolken im Hintergrund.Mutterliebe ist dadurch ausgelöst!

Konrads reale Partnerinnen behandelt er sehr lieblos: Ida, Anni (Angestellte des Vaters- ödipale Dreiecksbeziehung mit dem Vater; hat mit beiden Verhältnis- das befriedigt Konrad)

Konrads Mutter stirbt.

Marianne, Konrads Frau, hat dann ein Verhältnis, da ihr Mann sich nicht um sie kümmert (da sie ihn an ihre verstorbene Schwester verloren hat)

Letzter Traum Konrads: Ida kommt zurück und versöhnt ihn mütterlich mit der Bleistift-affäre-> deutet auf Einsicht hin, und darauf, dass er die ödipale Affäre verstanden hat.

4. Politik: Chiffrierte Geschichte

Castiletz als ein in ödipaler Phase stecken gebliebener Neurotiker. -> Individuelle Fehlentwicklung oder ist Castiletz’ Analyse verallgemeinerbar und bezieht sich auf eine mörderische Disposition, die geschichtlich bedingt (zeittypisch) ist? Dann wäre der Roman als radikale Zeitkritik zu verstehen.

-> Entstehungsgeschichte des Romans:Zeit der Weltkriege! Prekäre Periode deutscher und österreichischer Geschichte und heikle Lebensphase des Autors.

Jänner 1933: Hitler wurde deutscher Reichskanzler; März -Ö 1933: Dollfuß übernahm Macht und gründete Ständestaat (Gegenposition zum deutschen NS). April 1933: Doderer trat der deutschen NSDAP bei. Im Juni wurde Hitlers Partei in Ö verboten; österreichische NSDAP- Mitglieder wurden also plötzlich zu Illegalen. Um in Deutschland publizieren zu können, musste man Mitglied der Reichsschrifttumskammer sein: Man musste dafür Arier sein (dritte Generation: kein jüdisches Blut) und entsprechende politische Anpassungsfähigkeit; Doderer übersiedelte daher nach Dachau und stellte den Aufnahmeantrag an die Reichsschrifttumskammer. -> Strukturelles Leben wurde von den Nazis gleichgeschaltet. In Dachau befand sich ein KZ: Dort wurden Juden offiziell eingesperrt; das war allgemein bekannt. FOLIE: Zeitungsausschnitt von 1936- Sonderbeitrag über dieses KZ. -> Doderer wusste also von diesem KZ.September 1937: Doderer schloss Vertrag über Buch. Aber zugleich begann auch Doderers Abwendung des NS, die man in seinen Aufzeichnungen finden könnte -> man vermutet, dass die Kenntnisse, die Doderer über Dachau hatte, zu diesem Sinneswandel beitrugen.

Anschluss Ö an Dtld: Doderer war noch in Dtld; zog jedoch 1938 nach Wien zurück.

• 30. 1. 1933 Machtübernahme Hitlers• 1. 4. 1933: Beitritt Doderers zur NSDAP

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• Juni 1933: Verbot der NSDAP in Österreich• August 1936: Übersiedlung Doderers nach Dachau• September 1936: Aufnahmeantrag in die Reichsschrifttumskammer• September 1937: Verlagsvertrag mit C. H. Beck• 12. März 1938: Einmarsch deutscher Truppen in Österreich • Ende August 1938: Rückübersiedlung Doderers nach Wien

Kriegsbeginn 1939

1940 konvertierte Doderer zum Katholizismus (war wohl auch ein Zeichen seiner Abwendung von den NS, die ja protestantisch waren). Musste zur Luftwaffe einrücken; kam dann in englische Kriegsgefangeschaft und kehrte 1946 nach Ö zurück.

Abwendung vom NS wurde von ihm schon sehr früh vollzogen; er tat Buße durch den Frontdienst. 1946 bekam er wegen seiner NSDAP- Vergangenheit ein 3jähriges Berufsverbot- das fand er sehr ungerecht, da das seiner Meinung nach schon gebüßt war.

Mord steht für einen ambivalenten Zustand des Autors- Spuren dieser Ambivalenz lassen sich im Text finden.

Konrad und Ligharts treffen sich in Berlin vor dem Palais Albrecht :Die doppelte Säulenreihe vor der Auffahrt des ehemaligen Palais Albrecht verlor sich kalt in der eingefallenen Dunkelheit. Das mächtige Haus selbst (welches damals völlig leer stand) entwich wesenlos nach rückwärts in sein massiges Schwarz.

Castiletz blieb [...] stehen; [...] es war noch viel zu früh. Ihm fiel nicht auf, daß der Hintergrund, vor welchem er sich da bewegte, aussah wie die Kulisse für eine tragische Oper (nur wäre eben dann und wann ein Automobil über diese Bühne gefahren). Die Dunkelheit nahm zu und setzte sich zwischen den grauen Säulen fest.

Palais Albrecht, benannt nach preußischem Prinzen; war im Frühjahr 1933 das Hauptquartier der GESTAPO geworden: Hier wurden angeklagte Menschen angehört, gefoltert und gefangen genommen - war die gefürchtetste Adresse Deutschlands!

1938 – letzte Arbeitsphase zum Roman: Doderer sah dieses Gebäude, als es schon Hauptquartier der Gestapo war; in der Zeit, in der Doderer den Roman zurückverlegt, stand das Gebäude aber noch leer.

Im Text steht kein Wort von dieser tragischen Geschichte des Gebäudes! Die Zeitgenossen Doderers verstanden die Anspielung aber natürlich -> Er schreibt im Text, das Palais sehe aus wie die Kulisse für eine tragische Oper.

Dieses Anspielungsverfahren könnte man für eine Strategie der „Sklavensprache“ halten: Typisch für die Literatur der inneren Emigration: Autoren, die Dtld nicht verlassen hatten, aber auch nicht regimskonform waren und daher in Anspielungen schreiben müssen. (z.B. Robert Schneider) -> Sklavensprache: Sklaven unterhalten sich untereinander und daher verstehen andere sie nicht

Palais= verschlüsselter Topos für das Gestapo- Hauptquartier

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Auch noch andere Motive:

- Verfolgung des Peitz ganz am Anfang trägt Züge einer Menschenhatz: Verfolgung wird nur durch Abneigung legitimiert; er hat gar nichts getan!

- Junge Generation ist durch Skrupellosigkeit charakterisiert

Doderer weist auf die Aufrüstung zum Krieg hin: Die Wintersportartikel schauen aus wie ein Heerlager -> der Verleger wird sagen, das muss gestrichen werden. Doderer kokettiert mit der Zensur; er bringt diese Botschaft in den Text hinein.

Konrad= Autoritärer Charakter: (Adorno, Fromm)

- Autoritätsfixiertheit- Außengesteuertheit durch Normen der Gruppe- Verabscheuung von Unterlegenen - -> autoritärer Charakter buckelt nach oben und unten

Seine frühe Neigung zu Tierquälerei und der Gruppendruck machten ihn zum Mitläufer, der zu fürchterlichen Taten bereit ist -> biographische Züge! Das bestätigen auch seine Aufzeichnungen zu dem Roman:

„‚Ein Mord den jeder begeht‘ will leben, webt wie das Geheimnis meines eigentlichen Lebens hinter den Wänden, daran dieses bis jetzt entlang lief, und diese Geschichte eines Conrad Castiletz erscheint mir wie meine eigentliche wesentliche Biographie.“ (9. 11. 1936)

Über Castiletz: „einer mit ständigen Schuldgefühlen, schon als Kind. Zudem manischer Verranntheiten fähig. Servil, insoweit er sich jeder minderwertigen Umgebung gefällig anpasst, statt sich von ihr abzusetzen.“

-> Identifikation des Autors mit seinem Helden.

Selbsterkenntnis also auch im Hinblick auf den Autor.

Castiletz: Ein Mord den jeder begeht -> Exemplarisch für Schuldverstrickung durch die Mithilfe im dritten Reich.

Roman der Schuldeinsicht.

Allegorische Lesart: Castiletz als typischer Mitläufer des Regimes.

Auch Argumente gegen diese Lesart (denn tatsächlich war Doderer ja auch während des Schreibens des Romans eine Zeit lang noch überzeugter Nazi- daher trägt der Text

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auch noch Spuren dieser Zeit!):

Eichner: diese Stelle kann nicht mehr als Sklavensprache bezeichnet werden: Polizeioberkommissar Inkrat, der von allen „Waran“ genannt wird, meldet sich zu Wort:

Aber Sie vergessen ganz, daß es überall auf der Welt eine Geheimpolizei gibt und geben muß [...]. Gegen jeden von uns läuft sozusagen irgendwo und irgendwie ein Akt, der von Zeit zu Zeit Vermerke bekommt, Ergänzungen und Richtungsweiser. Ist er einmal abgeschlossen, dann zeigt sich wahrscheinlich, daß schon im Wasserzeichen des Papiers alles gestanden hatte, was später darauf geschrieben worden war. [Die Geheimpolizei ist] gewissermaßen nur ein Symbol und um nichts mehr als die Sichtbarmachung einer ganz allgemeinen Tatsache des Lebens an einer bestimmten Stelle und in Form einer notwendigen Institution.

--> Es wird hier versucht, die Überwachung zu verallgemeinern im Hinblick auf die „Schrift des Lebens“- die Geheimpolizei ist nur ein Sichtbarmachen dieser Schrift -> jammervoller Versuch, die Überwachung der Geheimpolizei als schicksalshafte Vorbestimmung des Lebens zu deuten. Eichner kritisierte das!

Doderer gehört das aber zu einem poetischen Prinzip: Apperzeption (Wahrnehmung der Wirklichkeit- ist für Doderer ein positiv besetztes Wort; ein Schriftsteller ist nur einer, der alles wahrnimmt von der Welt) -> es kommt nur darauf an, die Wirklichkeit wahrzunehmen, so wie sie ist; Leute, die die Welt verändern wollten, fand Doderer gemeingefährlich. Doderer dachte, es gäbe ein Schicksal, und an dieser Vorherbestimmung könnte man nichts ändern.

Leben= Papier; Wasserzeichung= die Prägung, die man nicht los wird

Von dieser Überzeugung hat sich Doderers politische Einstellung nie ganz losgelöst.

Politisch: Text= Zeugnis eines Autors, der mit dem dritten Reich nicht zurecht kam.

Poetisches Programm: Die Welt so annehmen, wie sie ist und jeden Anspruch auf eine politische Veränderung aufgeben. -> Der Romanschriftsteller wäre somit zum reinen Empiriker geworden: Nur das wahrnehmen, was ist.

Doderers Ideologiekritik- daran wurde Kritik geübt: Seine reaktionäre politische Haltung verbirgt sich dahinter.

Castiletz wird durch Tragik gestraft und durch Einsicht verändert -> stellt Abweichung von Empirie dar.

„Fatologie“:

Der Arzt, der Polizist sowie – um diesen ganzen geistigen Typus noch stärker herauszustellen – der reine Prosaschriftsteller, der Erzähler innerhalb der Dichtkunst: sie alle haben, sofern sie ihre Typen rein repräsentieren, das größtmögliche Opfer gebracht, das im Geiste gebracht werden kann: die Welt so zu sehen, wie sie ist, nie wie sie sein soll; und zudem alle noch im Hintergrunde des Herzens sich haltenden oder dort in einer Traumwiege schlafenden Ansprüche auf ein Anders-sein-Sollen dieser Welt für null und nichtig zu erklären.

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Einheit 7, 3.5.

1. Der Titel- Krimi

Englischer Originaltitel: Ten little Niggers (1939)

Zeitungsartikel aus Hannoverscher Tageszeitung, von 2002: Buch wurde von „Zehn Kleine Negerlein“ –wegen der Diskriminierungsstelle- umbenannt in „Und dann gabs keines mehr“ (And then there were none). Denn in Hannover lebende Afrikaner fühlten sich aufgrund des Titels diskriminiert.

Geschichte des Titels ist ein Titelkrimi- von Anfang an:

• 1939 erschien Buch unter Titel „Ten little niggers“- britische Ausgabe. Bezog sich auf berühmte Kinderverse- Auszählreim von Frank Green (siehe Handout); die Musik dazu kam von Mark Mason. Das Lied wurde durch Nigger-shows bekannt (wo Schwarze auftraten). Es ist auch handlunsstrukturierend für den Roman!

• 1940 amerikanische Ausgabe. Wurde umgeändert in den Titel: „And then there were non“. Christie dramatisierte den Text dann einige Jahre später und blieb bei dem alten Titel- wurde 1943 in London uraufgeführt. 1944: NY- Uraufführung- allerdings unter dem Titel: Ten little Indians. Die eigentliche Vorlage für den Auszählreim von Green, der Auszählreim von S. Winner, trug nämlich diesen Titel. Das Kinderlied verbreitete sich dann in ganz Europa.

Auszählreim von Winner: (1868)

Ten little Injuns standin' in a line,One toddled home and then there were nine;

Nine little Injuns swingin' on a gate,One tumbled off and then there were eight.

One little, two little, three little, four little, five little Injun boys,Six little, seven little, eight little, nine little, ten little Injun boys.

Krimi und Ideologie:Und dann gabs keines mehr.

Agatha Christie, 1939

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Eight little Injuns gayest under heav'n.One went to sleep and then there were seven;

Seven little Injuns cuttin' up their tricks,One broke his neck and then there were six.

Six little Injuns all alive,One kicked the bucket and then there were five;

Five little Injuns on a cellar door,One tumbled in and then there were four.

Four little Injuns up on a spree,One got fuddled and then there were three;

Three little Injuns out on a canoe,One tumbled overboard and then there were two.

Two little Injuns foolin' with a gun,One shot t'other and then there was one;

One little Injun livin' all alone,He got married and then there were none.

• Die deutsche EA erschien 1944 unter einem ganz anderen Titel: „Letztes Weekend“. Dann erschienen die Ausgaben unter allen drei Titeln.

• Erste amerikanische Verfilmung: „And then there were none“ (1945)

• Erste britische Verfilmung: „Ten little Indians“ (1965)

• Deutsche Fernsehadaption: „Zehn kleine Negerlein“

• In anderen Sprachen brachte der Titel keine Probleme (noch politisch inkorrekt, d.h. Negerlein oder Indians.)

2. Der Text

a) Figuren:

Das Täterrätsel ist berühmt geworden. 10 Personen – Sommeraufenthalt in Südengland- keine Gastgeber- aber eine Aufnahme auf Schallplatte, die alle 10 eines Mordes verdächtigt. Dann werden nach und nach alle umgebrachtExtremvariation des Detektivromanschemas (Mörder= Opfer)

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Personen:

• Justice Wargrave (Richter)-> soll Edward Seton umgebracht haben. Dieser war ein Angeklagter, der von Richter Wargrave zum Tod verurteilt worden war, weil der Richter die Jury beeinflusst hatte, die ihn eigentlich freisprechen wollte.

• Vera Claythorne (Erzieherin) soll Schutzbefohlenes Kind umgebracht haben, indem sie es auf’s Meer hinaus

schwimmen ließ, obwohl es dazu noch nicht fähig war.

• Captain Philip Lombard überließ 21 Afrikaner den Hungertod, um sein eigenes Überleben zu sichern

• Emily Brent Sie sei am Tod eines Dienstmädchens beteiligt gewesen: Ihr Dienstmädchen war

schwanger geworden, was die religiöse Emily Brent nicht dulden konnte. Daher hatte sie es gefeuert, woraufhin sie sich umgebracht hatte.

• General Mc Arthur soll Liebhaber seiner Frau in den Tod geschickt haben (im WK- er war General und

der Liebhaber seiner Frau war in seiner Truppe- er schickte ihn mit Absicht in den Tod)

• Doctor Armstrong: Arzt, soll Patientin umgebracht haben. Stand bei OP unter Alkoholeinfluss!

• Tony Marston hat zwei Kinder überfahren

• Mr Blore (Detektiv) jmd wurde wegen ihm verurteilt und starb in Haft

• Rogers, Mr. Und Mrs. sollen eine alte Dienstgeberin ermordet haben, indem sie ihr ihre notwendigen

Medikamente nicht gaben.

Das betreffende Verbrechen konnte jeweils nicht rechtlich geahndet werden. -> Sinn: Alle 10 sind schuldig geworden am Sterben von Menschen; anonymer Mörder nimmt Rache

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b) Locked- room- mystery (abgeschlossener Raum)

Für Christie: richtige Laborbedingungen- Morde immer in abgeschlossenem Raum. Mörder ist unter den Anwesenden zu suchen. Dieser Trick versetzt den Leser in die Lage, mitzuraten. Einsetztender Sturm- niemand kann Insel betreten oder verlassen. Morde tragen sich zu:

c) Literarische Muster- Aufbauschemata

Morde müssen bestimmten Ablaufschema folgen -> dieses ist durch den Kindervers „Zehn kleine Negerlein“ vorgegeben! Jeder Strophe entspricht ein Mord. -> Künstliches Handlungsschema einer Vorlage= allgemeines Charakteristikum eines Detektivromans. Verbrechen müssen arrangiert werden -> Leser spekuliert. Kinderreime verwendete Christie in mehreren Werken, z.B.

• A Pocket Full of Rye, 1953. Reim: Sing a Song of Sixpence• The Mousetrap, 1952. Reim: Three Blind Mice• One, two, Buckle my Shoe, 1940. (Titel = Reim)

Nostalgische Kindheitserinnerung durch Reim -> auf der anderen Seite kündigen diese Verse das Unheimliche, Gewalt an.

Die Vorgabe leistet auch noch was anderes: Durch sie ist die Konstruktion des Romans sehr durchschaubar. Erhöht Künstlichkeit und Fiktionalität -> Realismus-charakter wird dadurch entschärft. Der Text enthält dadurch Spielcharakter- „Ritualisierungen“

Die Unwahrscheinlichkeiten (dass Morde wirklich so der Reihe nach passieren) werden vom Leser in Kauf genommen.

Film: Copycat= Musterexemplar für diese Art von Konstruktion. Plot folgt einem Song von Sting: „Murder by numbers“. -> Die Vorlage selbst reflektiert auf Gunst des Mordens:

Once that you've decided on a killingFirst you make a stone of your heartAnd if you find that your hands are still willingThen you can turn a murder into art

-> Darstellung wird zu Kunst!

Bei Agatha Christie wird die Künstlichkeit verdreifacht:-> Sie lässt 3 bzw. 4 Zehnersequeznzen gleichzeitig ablaufen:- Negerleinlied- Negerfiguren aus Porzellan

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- Gerichtsritual: Anklage gegen die 10 Anwesenden wird vollzogen- vierte evtl: Die Morde selbst.

Über das Anklageritual werden 10 weitere Krimis inkludiert: die 10 Morde, aufgrund derer die Anwesenden angeklagt sind. -> Die in dem Buch vorkommenden Morde werden so mindestens verdoppelt auf 20

Aufbau:

Kap. I-III: ExpositionIV: Mord an MarstonVI: Mrs. RogersIX: General MacarthurXI: Mr. RogersXII: BrentXIII: WargraveXIV: ArmstrongXV: BloreXVI: Lombard und Vera

Kap 1 und 2 : ExpositionDann: Morde, Entdeckung der Toten. Zuerst langsam, dann beschleunigt sich das TempoEpilog: verstärkt das Rätsel zuerst noch und löst es dann auf- stellt auch Schematismus der Handlung heraus.

d) Übersetzungsprobleme

Tarnung durch Artifizialität- Geschichte wirkt harmlos

Titelkrimi:Ist die Änderung es Titels nicht albern? Was hilft die Titelkorrektur, wenn im Text ständig das Wort Neger fällt?

- Nigger Island - Nigger Figures- Nigger tricks - The nigger in the woodpile (der Neger im Holztstoß -> der Haken an

der Sache -> Neger im Holzhaufen/ Nadel im Heuhaufen (deutscher Versuch, den Ausdruck zu übernehmen)

Titeländerung wäre bloße Kosmetik!

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Übersetzungsbeispiel:

„There had been a very faint smile on the thick Semitic lips of Mr Morris.“

-> Dt.: „Ein schwaches Lächeln umspielte Mr. Morris‘ volle Lippen.“Richtig wäre jedoch:

auf den dicken, semitischen Lippen…Über diese Stelle lässt sich streiten. In dt. Übersetzung wurde semitisch streichen -> das eigene schlechte Gewissen verlangt immer nach Korrekturen!

3. Motiv Todesstrafe

Bringt die ganze Sache in Gang: Personen sollen büßen für Morde, die nicht vor Gericht gebracht wurden.Auch in A Certain Justice: Mordmotiv= Rache für ungesühnten Mord.

Zusammenhang mit dem Prinzip der angemessenen Vergeltung= Taleonsprinzip= Todesstrafe

Christies Haltung zur Todesstrafe: In ihrem Krimi „Abfahrt 16:50 ab Paddington“ (1957)- Mörder wird von Ms Marple entlarvt -> Lösungsvortrag:

‘[…] Everything he did was bold and audacious and cruel and greedy, and I am really very, very sorry,’ finished Miss Marple, looking as fierce as a fluffy old lady can look, ‘that they have abolished capital punishment because I do feel that if there is anyone who ought to hang, it’s Dr Quimper.’

Mr Marple will Todesstrafe. Das kommt in so vielen Büchern von Agatha Christie vor, dass man wohl darauf schließen kann, dass sie selbst für die Todesstrafe war.

Die Abschaffung der Todesstrafe in UK war sehr langwierig; gelang erst 1998 vollständig- als man auch jene Verbrechen, die unter das Kriegsrecht fielen, nicht mehr mit der Todesstrafe bestraft wurden:

• 1957: Zum ersten Mal eine Abschwächung der Todesstrafe in UK (= „Homicide Act“): Es wurde zwischen Mord ersten und zweiten Grades unterschieden (Mord zweiten Grades wurde nicht mehr mit Todesstrafe bestraft). Eigentum war höher gestellt als menschliche Unversehrtheit! Z.B. Mord nach Diebstahl schlimmer mit Todesstrafe bestraft als Mord nach Vergewaltigung.

• 1964: Letzte Exekution

• 1965: Todesstrafe versuchsweise abgeschafft

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• wurde 1969 zum Dauergesetz; 1973 auch in Nordirland

• 1998 dann schlussendlich auch für Verbrechen unter dem Kriegsrecht keine Todesstrafe mehr.

In den 10 kleinen Negerlein werden literarische Todesstrafaen vollzogen: dass Vera sich erhängt, ist dafür eine Bestätigung- Hängen war in UK DIE Todesstrafe.

Richter: Sein Motiv für den Selbstmord (wie man im Epilog erfährt) ist nicht Schuldbewusstsein, sondern er ist unheilbar erkrankt und macht seinem Leben deshalb ein Ende.

Falschenpost, die der Richter schickt (Epilog): Die ihm zugeschriebene Tat war kein Verbrechen -> Richter wird zur Instanz der Gerechtigkeit im Epilog.Flaschenpost= Bekennerschreiben des Richters:

Ich empfinde ein ausgesprochen sadistisches Vergnügen, wenn ich beim Töten zuschauen oder den Tod herbeiführen kann. [...] Hand in Hand damit ging jedoch ein entgegengesetzter Charakterzug – ein starker Sinn für Gerechtigkeit. Es ist mir ein Gräuel, wenn ein unschuldiger Mensch oder eine Kreatur durch meine Hand leiden oder sterben muss. [...] Es ist daher verständlich [...], dass ich [...] die Rechtsprechung zu meinem Beruf gemacht habe. Die Juristerei befriedigte fast alle meine Triebe. [-] Das Verbrechen und seine Bestrafung haben mich immer schon fasziniert. Ich lese gerne jede Art von Detektivgeschichten und jeden Kriminalroman. Zu meinem Privatvergnügen habe ich mir die genialsten Mordarten ausgedacht [...]. Ich habe – lassen Sie mich das offen zugeben – selbst einen Mord begehen wollen. Ich erkannte dies als den Wunsch des Künstlers, sich auszudrücken! Ich war selbst ein Künstler des Verbrechens („artist in crime“) oder könnte einer sein!

Epilog. Sadistische Persönlichkeit des Richters zeigt dem Leser, dass er so auch ist! Denn jeder Leser von Kriminalromanen hat Lust daran, über Morde zu lesen. -> Wie ein Spiegel, der dem Leser vorgehalten wird.

Daraus ergibt sich: 1. Richter ist trotzdem Instanz der Gerechtigkeit; sein Richtspruch ist unfehlbar. 2. Wird der Richter zum Spiegel für den Leser. 3. Warcrave ist auch ein Serienkiller, mit der Absicht: To turn murder into art. Er schrieb gleichsam das Derhbuch; er ist Autor der Morde. -> Der Autor hat aggressive Impulse, die er dadurch abarbeitet.

Warcarves Rechtsfindung beruht auf üblen Gerüchten über seine Opfer. Die Legitimation wird nur durch das erzählerische Arrangement gegeben; die Angeklagten waren wirklich alle schuldig, was sie im Laufe der Geschichte auch zugeben. Dadurch bekommt der Richter Recht. Am Ende trägt er Pistole auf der Stirn als Kainsmal -> Das verträgt sich nicht mit seinem eigenen Bewusstsein, denn er denkt ja, dass er keinen Bruder ermordet hat, sondern nur einen Brudermord gerächt hat -> wird von Kinderreim bestätigt. Dieser Reim habe ihn schon als Kind fasziniert; dieses Gefühl der Unausweichlichkeit- wenn Vorlage da ist, müssen

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Morde auch passieren -> bestätigt Richter noch einmal; seine taten werden dadurch gerechtfertigt.

4. Ideologie

Gesellschaftsbild bei Christie:Klassische Detektivroman ist gesellschaftlich determiniert; Praktiken der Verbrechen und die Fahndung sind mit historischen Bedingungen verknüpft. Die Gattung „Detektivroman“ hält an der Ständeklausel fest: Nur Helden hoher Gesellschaft dürfen eine Rolle spielen im Werk. Niedrige Gesellschafsschichten scheiden bei Detektivgeschichten als eigentliche Handlungsträger aus; zB Postler wäre nie Täter!

Der Gärtner, das Dienstmädchen, der Postbote als Täter wären genauso unzumutbar wie der mündige Statist in der Tragödie. Mehr noch, die Wirkung einer Gestalt aus dem sozial abhängigen Personal wäre enttäuschend: fordert doch das der bürgerlichen Literaturform innewohnende Bewußtsein gesellschaftlicher Hierarchie einen sozusagen satisfaktionsfähigen Gegner. Auch der Mörder muß ein Protagonist des bürgerlichen Heldenlebens sein, kein beliebiger Außenseiter. [...] Gut und Böse kommt daher meist aus dem gehobenen Mittelstand, vor allem aus den Kreisen der freien Berufe. [...] Indem [...] sogar die Wahl des Mörders standesbewußt geschieht, werden die sozialen Schranken nicht aufgehoben, sondern erst recht beibehalten.

Viktor Žmegač, Der wohltemperierte Mord

Denn Duell zwischen Leser und Täter kann nur stattfinden, wenn Täter auch duellfähig ist, d.h. höherer Schicht. Gut und Böse aus gehobenem Mittelstand, v.a. aus dem Kreis der freien Berufe. Diese „Ständeklausel“ gilt bis in die 60er Jahre.

Der Detektivroman folgt einem immer gleich bleibendem Schema- er spiegelt die soziale Hierarchie.

Romane des golden age suggerieren ein gewisses Gesellschaftsbild - So auch in „Und dann gabs keine mehr“ -> generell in sich geschlossene Räume in Christies werken, sowohl räumlich als auch sozial geschlossen.

z.B. kleines ländliches Dorf (miss marple) oder Herrschaftssitz, auf dem eine geschlossene Gesellschaft zusammenkommt

Die Regeln der britischen upper middle class gelten hier. Prinzipien des Eigentums und der Gewinnmaximierung. Industrielle Arbeitswelt kommt in Krimis des Golden age nicht vor; ebenso wenig wie die Anonymität der Großstadt (es gibt aber Ausnahmen) -> Sozialmodelle, die anders geartet sind als das urbane Leben; um kleine Gesellschaft zusammenzuhalten

Darstellung des englischen Bürgertums wird bei Christie auch ironisch dargestellt; am Ende bestätigt ihr Roman immer nur den Status quo- das Loch der Gesellschaft (durch den Mörder) lässt sich schnell wieder kitten

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Bürgertum nach 1. WK: Kriegsverluste, Inflation untergrub die ökonomische Basis der Mittelschicht. Statussymbole, z.B Dienstpersonal, konnten nur mit großer Mühe beibehalten werden.

5. REZEPTION

Chrsities 70 Romane waren sehr populär und wurden in viele Sprachen übersetzt. Chrsitie steht hinter der Bibel und hinter Shakespeare an dritter Stelle der meistverkauften bzw. meitgelesenen Bücher.

Sehnsüchte nach stabiler Sozialordnung werden mit ihren Büchern befriedigt; nicht nur die Leute, die der Geschichte angehören.

Middle-class- Ideologie soll von Lesern übernommen werden. Ihre Romane geben diese Schichten und Klassen als natürlich aus; gesellschaftlicher

Wandel spielt keine Rolle: Egloff (siehe unten): Es wird so getan, als gäbe es gesellschaftliche und soziale Werte, die nicht von der Zeit abhängig sind.

Agatha Christie verwendet in ihren Strukturelementen soziale Mechanismen, die konkreten gesellschaftlichen Bezügen entnommen sind, aber durch ihre Verbindung mit den ungefragt akzeptierten Glieder[ungs]prinzipien vom Leser internalisiert werden, weil sie in dieser Verbindung scheinbar jeden Bezug zu seiner Situation verloren haben und gleichsam überzeitliche Werte repräsentieren. Die Strukturelemente der Detektivromane Agatha Christies enthalten damit geronnene Ideologie, in diese Bausteine ist gesellschaftliches Sein eingebrannt: Das Produktionsschema ist Produkt der gesellschaftlichen Umwelt ebenso wie es umgekehrt normierend das gesellschaftliche Verhalten der Leser ausrichtet.

Gerd Egloff, Detektivroman und englisches Bürgertum

Bezogen auf 10 kleine Negerlein: Geschlossene Gesellschaft in locked room; diese

repräsentiert einen sozialen Querschnitt. Richter, Arzt, General, repräsentieren- mit Übergewicht- die Gruppe der Akademiker, der leisure class und des Militärs. Innerhalb der Gruppe regelt der Richter das Verhältnis von Gut und Böse. -> Problem der 10 kleinen Negerlein: bestimmte kriminalistische Bauformen lassen sich erfahren. Aber es ist ein Bsp dafür, wie bestimmte Gattungsmerkmale ideologisch funktionieren können, im Sinne einer konservativen und reaktionären Gesellschaftsordnung; daher wäre mit der Titeländerung alleine noch keine Einsicht in die Ideologie gewonnen.

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Einheit 8, 10.5.

Patricia Highsmith: 1921-1999

1. Mord zahlt sich aus

Verhältnis Krimiliteratur- GerechtigkeitDetektivgeschichte: Geschichte eines Verbrechens und seiner Aufklärung, und auch wie die Gesellschaft auf das Verbrechen reagiert. Auch Verhältnis zu Strafprozessordnung.

• Kriminalgeschichte wirbt um Verständnis für Täter- kritisiert/thematisiert so Justiz.• Detektivgeschichte: analytisch, oft nur Lösung des Täterrätsel; Buße geschieht nur

intellektuell durch Identifizierung des Täters.

Psychoanalytische Theorie: Rezeption von Krimiliteratur -> eigenes mörderisches Potential des Lesers. Das wird auf manifester Ebene der Texte verdeckt; hier wird nur die gestörte Ordnung wieder hergestellt und Gerechtigkeit entsteht durch Sühne.

Bei Highsmith ist das alles anders! Der Roman ist ungerecht!

Zitat aus einem Interview mit Highsmith:

Mich haben immer nur die kriminellen Anlagen und Möglichkeiten des Normalmenschen in der Gesellschaft beschäftigt, dabei ist mir die Aufklärung eines Mordfalls völlig gleichgültig. Gibt es etwas Langweiligeres und Ge-künstelteres als Gerechtigkeit? Weder das Leben noch die Natur scheren sich einen Deut darum, ob einem Geschöpf Gerechtigkeit widerfährt. Ich erfinde Geschichten, und mein Ziel ist es nicht, den Leser moralisch aufzurüsten, ich will ihn unterhalten. Leute ohne Moral, wenn sie nicht sture, brutale Charaktere sind, amüsieren mich. Sie habenPhantasie, geistige Beweglichkeit und sind dramatisch nahrhaft.

Es geht nicht um Gerechtigkeit. Der Leser fühlt sich auf der Seite des Täters; er hofft, dass er eben nicht gerecht bestraft wird.

Krimi und Mimikry:Der talentierte Mr. Ripley

P. Highsmith, 1955

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Nicht die Detektivfigur hält die Kriminalgeschichten zusammen, sondern die Figur des Mörders -> er muss daher nach jedem Mord davonkommen. Die Ripley- Romane sind eine Romanreihe, insgesamt gibt es fünf Romane:

‘The Talented Mr. Ripley’(1955)‚Ripley Under Ground‘ (1970)‚Ripley’s Game‘ (1974)‚The Boy Who Followed Ripley‘ (1980)‚Ripley Under Water‘ (1991)

-> Über 35 Jahre lang befasste die Autorin sich mit der Figur Tom Ripley- er wird von einem armen, jungen Mann zu einem Villenbesitzer mit einer schönen Frau -> Der Mord hat sich ausgezahlt bei ihm! Romane sind nicht nur durch literarische Qualität Meilensteine, sondern sie widerlegen auch die These, dass Kriminalliteratur das Gerechtigkeitsbedürfnis des Lesers stillt.

Suspense= Es wird immer weiter die Lösung hinausgeschoben = Spannung in der Kriminalliteratur. Es werden hier moralische Übereinkünfte weggeschoben. Die Ripley- Romane stellen Gewalt dar und verbinden sie mit Mittelklassewerten. Der Held ist kein Psychopath; er lebt das amerikanische Aufstiegsideal (vom Tellerwäscher zum Millionär) aus.

„Dichterin der Unbestimmbaren Beklemmung“ (Green über Highsmith) -> sie untergräbt auch den moralischen Boden, auf dem man steht!Highsmith bringt das Potential zum Vorschein, dass der Leser durch die Lektüre von Kriminalliteratur seine Aggressivität auslebt.

2. Der Text

a) Inhalt

Inhaltsangabe von Highsmith selbst (auch schon verbunden mit einer Deutung)

In meinem ersten Ripley-Roman ist Tom Ripley ein unsteter, arbeitsloser junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, der in New York vorübergehend in der Wohnung eines Freundes lebt. Er war früh verwaist und wurde von einer knauserigen Tante in Boston aufgezogen. Er besitzt ein gewisses Talent für Mathematik und Mimikry, und diese beiden Gaben befähigen ihn zu einem Spielchen, mit dem er amerikanische Steuerzahler brieflich und telefonisch ins Bockshorn jagt: Er fordert von ihnen „Nachzahlungen“, zu leisten an eine Außenstelle des Finanzamts, als deren Adresse er die des Freundes angibt, bei dem er wohnt. Ripley nimmt die eingehenden Briefe in Empfang, obwohl ihm die beigelegten Schecks nichts weiter einbringen als einen hämischen Spaß. Als Ripley eines Abends auf den Straßen Manhattans einen gesetzten Herrn bemerkt, der ihm offenbar folgt, glaubt er zuerst, der Mann sei womöglich ein Polizist, der ihn wegen seiner Steuerspielchen festnehmen soll. Aber der Verfolger entpuppt sich als Vater eines entfernten Bekannten, an den sich Ripley zuerst nur mit Mühe erinnern kann: Dickie Greenleaf, der nach den Worten des Vaters zur Zeit in Europa lebt. Herbert Greenleaf lädt Tom für den nächsten Abend zum Essen ein, und Tom lernt Dickies Mutter kennen und bekommt kurz einmal die schöneren Dinge des Lebens zu sehen: gute Möbel, Silberbesteck, Ordnung

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und gute Umgangsformen, das war schon immer Toms Lebenstraum gewesen. Nun bieten die Greenleafs auch noch an, ihm eine Reise nach Italien zu bezahlen. Er willigt ein. Es ist Toms erste Europareise. Er kommt in Dickie Greenleafs kleinem Dorf an und sucht ihn auf. Je länger er bei Dickie wohnt, desto mehr beneidet er ihn um sein bescheidenes, aber regelmäßiges Einkommen aus einem Trust in Amerika, beneidet ihn um seine Unabhängigkeit und seine – aus Toms Sicht – europäische Kultiviertheit. Als Dickie jedoch einmal dazu kommt, wie Tom gerade seine Sachen anprobiert, wird Dickie böse und ist nahe daran, Tom hinauszuwerfen. Aber sie fahren noch zusammen nach San Remo, und Tom erschlägt Dickie, als sie weit draußen vor der Küste allein in einem kleinen Motorboot sitzen. Tom beschwert die Leiche mit Steinen und versenkt auf gleiche Weise auch das Boot. Am Tag darauf kehrt er in Dickies Haus zurück und hat für Dickies Verschwinden allerlei erfundene Geschichten parat. Tom wird verhört, aber nie des Mordes an Dickie angeklagt: Es ist der einzige Mord, den er zutiefst bedauert, dessen er sich sogar schämt, weil er findet, daß er ihn aus Eigennutz, Habgier, Mißgunst und Wut begangen hat. Eine Zeitlang legt er sich Dickies Identität zu, nimmt seinen Paß an sich und benutzt ihn, schreibt ein Testament zu seinen eigenen Gunsten und setzt Dickies Namen darunter. Vater Herbert Greenleaf schluckt das alles. Tom Ripley macht seinen Weg. Er ist unabhängig und will nach oben, sich – wie er sagt – verbessern.

‚Tom Ripleys Geburt‘ (1990)

Auffälligkeiten:

Die Vorgeschichte mit den Steuerspielchen wird hier besonders betont, obwohl sie eigentlich auch als nicht so wichtig erachtet werden könnte.Nicht erzählt wird der zweite Mord (an Dickies Freund Freddie); auch Marge kommt gar nicht vor. Dass Tom den Mord aus moralischen Gründen bedauert, kommt so im Buch nicht vor. Das hat Highsmith dann begradigt. Der Verlust von Dickie schmerzt Tom aus anderen Gründen: Es wird aus einer Ambivalenz heraus gemordet: Man hasst und liebt dasselbe Objekt. -> Tom will Dickie wegschaffen, weil er ihn hasst; und sich an seine Stelle setzen, weil er ihn liebt.

b) Erzähler

Personale Erzählsituation.

Erster Satz: „Tom blickte sich um“ -> Man tritt ab da in seine Wahrnehmung ein. Man erfährt genau, was in seinem Kopf vorgeht. -> z.B. in diesem Textsausschnitt:

Da war Raouls Kneipe. Sollte er es darauf ankommen lassen? Hineingehen, noch einen trinken? Sein Schicksal und das alles herausfordern? Oder sollte er sich lieber davonmachen, hinüber zur Park Avenue, wo er ihn [seinen Verfolger] vielleicht in irgendeiner dunklen Seitengasse abschütteln konnte? Tom kehrte bei Raoul ein.

-> erlebte Rede.Diese Stelle zeigt die Technik, mit der wir die Welt aus Toms Sicht wahrnehmen.

Highsmith wurde mit Kafka verglichen: Eine Übereinstimmung zwischen beiden ist die Abstinenz des Erzählers (Beim „alten“ auktorialen Erzäher war das der Fall: er gab dem Leser

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Orientierung. Ab Mitte des 19 Jh: Personaler Erzähler aus der beschränkten Sicht einer Figur wird erzählt) Die Mordszenen sind wichtig: wie vermittelt die Erzählung die Aktion und zugleich die Psyche eines Mörders? -> gar nicht; Verbrechen werden in filmischer Außenperspektive präsentiert = camera eye. -> siehe Ausschnitte:

Tom führte linkshändig einen Schlag mit dem Ruder gegen Dickies Schläfe. Die Kante des Ruders hinterließ eine flache Wunde, die sich mit einem dünnen Blutrinnsal füllte, wie Tom beobachtete. Dickie lag auf dem Boden des Bootes, er wand sich, er wand sich unaufhörlich. Dickie gab ein stöhnendes Brüllen des Protestes von sich, das Tom erschreckte, weil es so laut war und so stark. Tom schlug ihm seitlich auf den Hals, dreimal, hackende Schläge mit der Kante des Ruders, als wäre das Ruder eine Axt und Dickies Hals ein Baum.

Die geschliffene Kante des Aschenbechers traf ihn mitten auf die Stirn. Freddie blickte benommen. Dann knickten seine Knie ein und er fiel nieder wie ein Bulle, dem man mit dem Holzhammer zwischen die Augen geschlagen hat.

Der Mord an Freddie wird so beschrieben, als gäbe es kein Objekt der Gewalt… Der Aschenbecher ist quasi der Stellvertreter für den Mörder; das agierende Element.

Handke meint, in Highsmiths Büchern geschieht Gewalt einfach so, wie sich Gesetze aneinander reihen: Sie passiert einfach -> Selbstverständlichkeit, die das Verbrechen bei Highsmith annimmt. Nur noch Angst als einzige Emotion Toms bei den Morden.

Camera eye= filmische Objektivität= Trick, die Morde wie nebenbei mitzuteilen, in einer „faktischen und metaphernfreie Sprache“ . -> Stimmt bei diesen Szenen jedoch nicht! Hier gibt es schon Metaphern: Als wäre das Ruder eine Axt…/. Er ging nieder wie ein Bulle -> Vergleiche identifizieren Mordopfer mit Baum/Tier -> Fällen eines Bauern, Schlachten eines Tieres= Handwerk, das man jobmäßig macht! Also in Wahrheit nicht Objektivität, denn Opfer werden unter die menschliche Ebene heruntergedrückt -> Entlastet den Täter (denn der Mord ist quasi nur wie ein Job, und das Mordopfer ist sozusagen nicht menschlich) und auch den Leser.

c) Übersetzung

Dt. Übersetzung von Bortfeld von 1961; urspr. Titel: „Nur die Sonne war Zeuge“

Beispiel für eine gelungene Übersetzung:

• Im Amerikanischen Original kommt vor: Marge stammt aus einem einfachen „clapboard house“ – Tom amüsiert sich über die Aussprache von Marge, die es ausspricht wie „clabbered“ = saure Milch; Marge charakterisiert damit einen Betrunkenen. Sie sagt das einmal zu Tom: „You look absolutely clabberd“

• Deutsche Übersetzung : „Fertighaus“ – Marge spricht es aus wie „fäahtichiaus“ – „Du siehst ja völlig fäahtichaus!“

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Aber nicht immer gelingen solche Übersetzungen. Zwei Beispiele, die nicht gelungen sind:

1. Schriftstücke (Zeitungen, Schecks) werden ständig thematisiert. Dokumente, die durch Unterschrift identifiziert werden müssen. Gefälschte Unterschrift beglaubigt falsche Person und bringt Identitätskonzept dadurch ins Wanken. Zeitungen, Schecks, Testament. Am Ende noch zwei Texte: Telegramm (dafür gab es keine Identifizierungsmöglichkeit), Zeitungsschlagzeile -> an diesen beiden Textsorten stimmt etwas nicht. Telegramm stammt von Dickies Vater:

HABE MEINUNG GEÄNDERT. MÖCHTE SIESPREKEN. ANKOMME 11.45. H. GREENLEAF

CHANGED MY MIND. WOULD LIKE TO SEE YE.ARRIVING 11.45 A.M. H. GREENLEAF

Im Deutschen leuchtet nicht ein, warum das „spreken“ jetzt archaisch klingen soll! (Denn das meint Tom- dass es archaisch klingt). Im Original ist das anders: Das „ye“ (für „Euch“) ist eine archaische Form, also hier passt das Wort „archaisch“- Verzerrung von Toms Identität ist an diesem Fehler abzulesen!

2. Schlagzeile: Tom gibt sein Gepäck unter dem Namen Fanshaw auf. Ein Zeitungsartikel trägt den folgenden Titel: „Niemand namens Robert gefunden…“ = Differenz zwischen Person und Namen ist stärker markiert im Original. Tom hat selbst keine Persönlichkeit und kann immer nur ein anderer Name sein. Der Fehler in Toms Identität wird hier als Fehler in der Schrift markiert und so an die graphische Oberfläche gebracht

KEIN ROBERT S. FANSHAW GEFUNDEN,DER GREENLEAF-GEPÄCK DEPONIERTE

NO ONE NAMED ROBERT S. FANSHAW FOUND DEPOSITOR OF GREENLEAF BAGGAGE

d) Verfilmungen

• 1960: Plein soleil. Im Deutschen hieß der Film –wie der Buchtitel- „Nur die Sonne war Zeuge“

Drei Szenen, die wir gesehen haben:- Tom zieht Dickies Sachen an; Dickie kommt herein- Mord an Dickie: Tom tötet ihn mit einem Messer; den Mord selbst sieht man nicht

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- Tom, der Dickies Identität angenommen hat. Moralisches Ende wurde hinzugefügt, da man es nicht aushalten konnte, dass Täter davonkommt: Leichenfund und Verhaftung Toms werden noch angedeutet.

Verfilmung relativ prüde.

• 1999: The Talented Mr. Ripley. Atmosphäre der Zeitlosigkeit- Requisiten der 50er Jahre werden als Accessoires inszeniert. Toms Homosexualität kommt vor. Entfernt sich auch von literarischer Vorlage: Es wird ein Selbstmord und ein dritter Mord hinzugefügt. In beiden Filmen ist die Darstellung der Identität spannend gelöst

3. Konzepte Identität

a) Klasse:

Tom ist arm. Mythos vom Tellerwäscher zum Millionär -> Tom ironisiert das, indem er den Mythos erfüllt. Er ist ein Kapitalist: Er will Geld, Statussymbole haben. Er legt alles ab was ihn als Kleinbürger identifizieren kann; lernt Umgang mit Requisiten der Oberschicht und zeigt so, dass man seine Klasse verlassen kann und dass sie nicht zum Wesen gehört. -> Demoktratisches Konzept hinter Toms „Karriere“. Aufstieg durch Mimikry… Mimikry= Schutztracht der Tiere. Wehrlose Spezies tarnen sich durch die Annahme der Form anderer Arten, z.B. Schlangenaal (ungiftiger Fisch, der das Aussehen der giftigen Seeschlange annimmt, um Feinde abzuschrecken)= Anpassung, um Leben zu sichern

Tom erreicht Aufstieg durch Mimikry -> er wird zu Dickie. Als er sich in Tom zurückverwandelt, wird er als Besitzender neu geboren. Wer aber ist Tom? Passieren der Klassenschranken – Tom verliert so seine Identität; die Identität ist nur noch eine Funktion von Klassenzugehörigkeit

b) Sexualität:

Toms sexuelle Identität wurde in erster Verfilmung nicht dargestellt; im Buch beschuldigt Marge Tom, „andersrum“ zu sein. Kurz vor dem Mord ist noch einmal von Homosexualität der Rede. Dickie und Tom sehen am Strand eine Artistengruppe- Dickie wendet sich angewidert ab- er sagt:

Ten thousand saw I at a glance,Tossing their heads in sprightly dance. [...]

Bzw. auf Deutsch:

„Zehntausend sah ich auf einen Blick,beim munteren Tanze mit Kopfgenick“,

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Das sind zwei Zeilen aus einem Gedicht:William Wordsworth (1770-1850):

Daffodils (1804)

I wander’d lonely as a cloudThat floats on high o’er vales and hills,When all at once I saw a crowd,A host, of golden daffodils;Beside the lake, beneath the trees,Fluttering and dancing in the breeze.

Continuous as the stars that shineAnd twinkle on the Milky Way,They stretch’d in never-ending lineAlong the margin of a bay:Ten thousand saw I at a glance,Tossing their heads in sprightly dance.

-> Literarische Anspielung. Dickie zitiert zwei Verse aus Gedicht „Daffodils“ (dt. Märzenbecher) – Daffodil ist auch ein amerikanisches Slangword für einen Homosexuellen; das Bild der Märzenbecher bezieht sich auf Selbstverliebtheit. Dickie wendet sich ab; ihn interessieren Männerkörper nicht; er sagt- durch das Gedicht- das seien ja alles nur Daffodils, also Schwule.Der Text entscheidet die Frage nach Toms Sexualität nicht.

Highsmith sagt dazu Folgendes:

‚I don’t think Ripley is gay,‘ Highsmith said adamantly in Toronto, as if trying to convince herself. ‚He appreciates good looks in other men, that’s true. But he’s married in later books. I’m not saying he’s very strong in the sex department, but he makes it in bed with his wife.‘

Patricia Highsmith - Zurückhaltung: Schrieb auch lesbischen Roman, der erst unter einem Pseudonym erschien, dann unter ihrem eigenen Namen.

Toms Beziehung zu Dickie muss homoerotisch sein.

Dickie= ego ideal und zugleich Objekt von Toms Begierde; Tom ahmt ihn nicht nur nach, sondern verwandelt sich in ihn. In Verkleidungsszene wird das sichtbar: Tom ermodert sozusagen hier nicht ihn, sondern Marge, die das Verhältnis zwischen ihnen zerstört.

Kiss or kill moment= Szene im Boot: Entweder die beiden werden ein Liebespaar, oder Dickie muss umgebracht werden. Tom tötet sein eigenes Liebesobjekt.

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Konzept der Identität wird schließlich aufgelöst.

Interesse für Kunst, Vorliebe für Schmuck… Neigungen Toms und auch der Oberschicht. Als Angehöriger der Oberschicht hat er eine heterosexuelle Identität.

Er vertritt die Identität eines Nobody, der eigentlich nur eine leere Hülle ist.

4. Ungerechtigkeit

Tom kann seine Identität frei wählen- das führte man auf Existentialismus der 50er Jahre zurück

Acte gratuit: Akt, der umsonst ist und nichts einbringt. Das Dasein hat keinen Sinn.

Zusammenhang mit Gattung Kriminalroman: Sonderstellung der Ripleyromane: brechen mit Konzept der Vergeltung; Ordnung wird nicht hergestellt und Verbrechen nicht gesühnt -> stellt Kriminalroman in Frage. Bringt verdrängte Aggressionen hervor. Wiedererkennungseffekt- daher die Unheimlichkeit des Romans.

Toms Freiheit, seine Identität zu wählen und dass er frei bleibt, entspricht auch Highsmiths literarischer Freiheit, die Gattungsvorlagen des Kriminalromans zu ignorieren oder sogar zu überbieten.

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Einheit 9, 24.5.

• Ruth Rendell: 1930 in London geboren, Journalistin.

• Ihre Detektivfigur= Inspektor Waxford

• Schrieb 60 Krimis, und noch Erzählungen und Sachbücher. Wurde 1997 geadelt.

• Gilt als Meisterin des zeitgenössischen britischen Krimis. Präziser Stil, trockener Humor, genaue Beobachtung gesellschaftlicher Entwicklungen.

• Auch eine Geschichte mit „Baum“ im Titel -> auch Symbol für Doppelung von Tod und Leben

1. Das Buch

a) Inhalt:

Erschien 1977, und 1988 als Taschenbuch.

„Urteil in Stein“- deutsche Übersetzung erst 1998

Vom ersten Satz an: Kriminalgeschichte- anders als beim Film wird die Erwartung des Lesers auf die Ursachenkette vom Analphabetismus zum Mord gelenkt.Film: anderer Anfang- man erfährt nicht gleich, dass die Frau Analphabetin ist.

25 Kapitel

Herrenhaus „Lowfield Hall“ bei „Greeving“ in der Nähe von Stanton, Suffolk (Grafschaft an der englischen Ostküste)

Verfilmte VerbrechenUrteil in Stein. Ruth Rendell

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Zeit: April bis Februar. Jahr ist nicht klar- vielleicht 1977.

Idyllische Landschaft- Bild des frühen 19. Jhs. Umgebung wird auch geschildert. In diese Landschaft bricht dann das Böse ein.

In Herrenhaus lebt Familie von George Coverdale:

OPFER:

George Coverdale (57) ∞ Jacqueline (42) | |

Peter Giles (17)PaulaMelinda (20)

TÄTERINNEN:

Eunice Parchman (47)Joan Smith (50)

In diese Familie tritt Fremde ein: Eunice Parchman; auch mittleren Alters. Ihre Vorgeschichte: Ist Analphabetin: Als Kind wurde sie- 1940- aufs Land geschickt aber wieder zurückgeholt, sodass sie nie regelmäßig eine Schule besuchen konnte. Mit 14 beendet sie ihre Schulausbildung ohne schreiben und lesen zu können. Sie konnte ihre Schwäche aber immer geheim halten. Ihre Mutter litt an MC und wurde 20 Jahre lang von ihr gepflegt. Sie erpresste ihre Nachbarn. Ihr Vater verlangte schließlich von ihr, ihn auch zu pflegen-> Sie erstickte ihn mit einem Polster; dieses Verbrechen wird nie aufgeklärt.

Sie antwortet schließlich auf ein Inserat, in dem eine Haushälterin gesucht wird, denn sie denkt, in diesem Job nicht schreiben zu müssen. Der Leser weiß bereits, dass sie eine Mörderin ist. Die Coverdales sind von ihr angetan; sie ist eine gute Haushaltshilfe. Das neue Dasein bringt ihr einen neuen Kultgegenstand: Fernseher- sie verfällt den bewegten Bildern.

Unheilsdynamik bis zum Mord (14. Februar). Jahr unklar- 14. Februar ist Sonntag- Jahr 1971- passt aber mit dem Alter nicht zusammen; 1977= Schreibgegenwart der Autorin- auch komisch. Das Handlungsjahr bleibt in Schwebe; die Jahreszeiten sind an der Natur ablesbar. Schwangerschaft von Tochter Paula- 9 Monate mit symbolischer Deutung.

Eunices Gefühlskälte fällt der Familie auf; wird aber ignoriert. Dass Eunice an sie gerichtete Zettel nicht liest, deutet die Familie so, dass sie kurzsichtig ist- daher bekommt sie eine Brille.

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Wird dann mit Joan Smith bekannt- ehemalige Prostituierte, gehört einer Sekte an: Öffnet Post der Leute. Leidet an Realitätsverlust; Übergang zu Geistesstörung. Eunice und Joan freunden sich an.

Melinda, die sich immer noch um Eunice bemüht, entdeckt schließlich deren Analphabetismus. Sie reagiert verständnisvoll; aber trotzdem erpresst Eunice sie (Melinda dachte sie sei schwanger- Eunice droht nun, das ihrem Vater zu verraten). Melinda erzählt das aber Eltern (sowohl von ihrer Schwangerschaft, als auch, dass Eunice sie damit erpressen wollte); der Vater kündigt Eunice daraufhin, aber mit einer Woche Kündigungsfrist, was das Todesurteil für die Familie ist. Eine Woche später: Valentinstag, die Familie hört sich im Wohnzimmer „Don Giovanni“ an. Joan schleicht sich ins Haus (sie gilt zu dem Zeitpunkt schon als unzurechnungsfähig); sie verwüstet alles gemeinsam mit Eunice; danach bringen die beiden die ganze Familie um (mit den Gewehren von George).

Forensisches Nachspiel: Joan schnappt sich Kassettenrekorder, auf dem die Morde aufgenommen wurden- sie läuft damit weg, hat aber einen Autounfall und fällt ins Koma.

Eunice gibt vor, weg gewesen zu sein und die Coverdales tot aufgefunden zu haben.

Auf Kassettenrekorder, der später gefunden wird, ist aber Erschießung drauf. Bei der Anklage alle erfahren dann alle von Eunices Analphabetismus, was für sie die schlimmste Strafe ist.

b.) Literarizität und Analphabetismus

Joan und Eunice hatten verschiedene Motive für die Morde:

• Joan= unzurechnungsfähig ->

M’Naghten Rules: Regulationen im Fall der Unzurechnungsfähigkeit eines Täters (nach Anschlag Daniel M’Naghtens auf den britischen Premierminister Peel 1843): Unzurechnungsfähigkeit, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat aufgrund einer Geisteskrankheit keine Einsicht in den Charakter oder die Unrechtmäßigkeit seines Tuns hatte.

Ausbruch von Joans Geisteskrankheit: Joan verhält sich schon als Jugendliche amoralisch und asozial- obwohl sie eine gute Kindheit hatte. Keine Erklärung dafür. Beitritt zur Sekte- beschleunigt Krankheit. Schizophrene Psychose? Diagnose kommt aber im Text nicht vor.

• Eunice= Zurechnungsfähig ->

Psychologische Motivation: Kindheit schränkte Erfahrungen ein; Analphabetismus isolierte sie; immer wenn sie ihre Entdeckung befürchtete, reagierte sie aggressiv.

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Sie ist eine Vertreterin der sekundären (funktionalen) Analphabeten.• primärer Analphabetismus: Lese- und Schreibfähigkeit nie erworben (v. a. in

Ländern der Dritten Welt, ca. 1 Milliarde Menschen weltweit)

• sekundärer Analphabetismus: eine einmal erworbene Lese- und Schreibfähigkeit wird mangels Ausübung wieder verlernt (bildungsferne Schichten, Dominanz visueller Medien)

• funktionaler Analphabetismus, Illetrismus: Sinnerfassung eines Textes gelingt nicht

Deutschland: 14% (7,5 Millionen)Österreich: 3-500.000USA, GB: 21 %

Die Zunahme von sekundärem Analphabetismus wird oft auf die Dominanz von visuellen Medien zurückgeführt.

Eunice: Zwischenfunktion zwischen funktional und sekundär.

Österreich: 300 000- 500 000 funktionale Analphabeten! verheimlichen ihre Schwäche oft sehr geschickt! Z.B. Brille vergessen. Orientierung

an Bildern funktioniert im Alltag gut! Problematisch: Komplexere Funktionen können nicht aufgenommen werden-> weniger Bildungsmöglichkeiten.

Zusammenhang zwischen Analphabetismus und Armut und Kriminalität:

60% der Gefängnisinsassen,85% der jugendlichen Straftäter sind funktionale Analphabeten.

Rückfallquote: 70%Bei erworbener Lese- und Schreibfähigkeit: 16%

Entstehungszeit des Buches: 1977 -> Das Phänomen der adult illiteracy sorgte erstmals anfangs der 70er Jahre in GB für Aufsehen, also genau während der Entstehungszeit des Buches.

Es gab ein Programm, das Informationen über das Phänomen bot (Adult Literarcy Resource Agency- „ALRA“) -> Anrufer wurden zu Intensivkursen vermittelt. -> Medien, um solche Leute zu kontaktieren, waren Medien und Fernsehen- ironisch! Denn diese Medien sollen ja erst zu einem Anstieg des Analphabetismus geführt haben -> Roman= Propagandaschrift gegen sekundären Analphabetismus!

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Literacy= Lese und Schreibfähigkeit; literarische Bildung = (im Buch) Grundlage von Humanität. Gegenteil: Analphabetismus.

Sie besaß die schreckliche praktische Vernunft eines atavistischen Affen, der in die Gestalt einer Frau des zwanzigsten Jahrhunderts geschlüpft war.

Das gedruckte Wort war etwas Entsetzliches für sie, eine persönliche Bedrohung. Sie mußte sich von ihm fernhalten, es meiden, allen ausweichen, die sie damit in Verbindung bringen wollten. Dieses Ausweichen war tief in ihr verwurzelt, geschah nicht mehr bewußt. Alle Quellen der Wärme, die Fähigkeit, Zuneigung zu empfinden, waren dadurch längst vertrocknet. Sich zu isolieren war für sie jetzt etwas ganz Natürliches, und ihr war nicht klar, daß es damit begonnen hatte, daß sie sich vom gedruckten Wort, von Büchern und Handschriften isoliert hatte.

Das Analphabetentum hatte ihr Mitgefühl vertrocknen lassen und ihre Phantasie ausgehungert. Diese beiden und das, was die Psychologen Affekt nennen, die Fähigkeit, sich auf Gefühle anderer einzustimmen, hatte keinen Platz in ihrem geistig-seelischen Habitus.

-> Zentrales Zitat zeigt Eigenschaften, die Eunice fehlen.

Während der Tat verwandeln sich Opfer für Eunice in verhasste Buchstaben:

[...] durch eine merkwürdige Metamorphose, die sich in Eunices Gehirn vollzog, hörten sie [die Opfer] auf, Menschen zu sein und wurden zum gedruckten Wort. Sie waren diese Dinger in den Bücherschränken, diese schwarzen Zeichen auf weißem Papier, in alle Ewigkeit ihre Feinde, verhaßt und ersehnt.

-> Metonymie: Bücher stehen für Menschen.

c.) Literarizität und Empathie

Literarizität schult Empathie und Fantasie; macht Menschen erst menschlich.

Familie= Bildungsbürger. Haben alle studiert. „Wundersohn“ liest immer Zitate des Monats- haben für das Buch immer eine vorausdeutende Wirkung.

Familie wird teilweise ironisch behandelt vom Erzähler; trotzdem sind sie Sympathieträger. Lesen hat sie zu sympathischen Menschen gemacht. -> Könnte man auch kritisieren, denn soziale und empathische Fähigkeiten fehlen in vorschriftlichen Kulturen ja auch nicht! Rendell könnte man daher eine koloniasatorische Einstellung vorwerfen.

Lesen von Fiktion schult Vorstellungsvermögen.

Annahmen funktionieren im Roman selbstreflexiv: Sie spiegeln das, was der Text (Literatur) selbst leisten will. Tradition englischer Hochliteratur: Damals galt Kriminalroman noch als mindere Gattung (emanzipierte sich erst in den 70ern). Rendell legt alle Hochachtung vor einem literarischen Erbe in Kriminalroman. Engl. Literaturkanon hat eine höhere Verbreitung als der deutschsprachige- Zitate werden auch durch andere Medien verbreitet, und berühmte

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Figuren sind auch kulturell allgemein bekannt, z.B. Scrootch (Figur von Dickens) ist heute Bezeichnung für Geizhals.d.) Intertextualität: Kanon und Zitat

Romanhandlung wird von Dickens- Zitat gerahmt , das „Bleak House“ stammt:

Charles Dickens, Bleak House (1852):[die Vögel der Miss Flite:]

Hope, Joy, Youth, Peace, Rest, Life, Dust, Ashes, Waste, Want, Ruin, Despair, Madness, Death, Cunning, Folly, Words, Wigs, Rags, Sheepskin, Plunder, Precedent, Jargon, Gammon, and Spinach.

(Hoffnung, Freude, Jugend, Frieden, Ruhe, Leben, Staub, Asche, Wüste, Begierde, Verfall, Verzweiflung, Wahnsinn, Tod, Arglist, Torheit, Worte, Streit, Lumpen, Schaffell, Plünderung, Vorrang, Kauderwelsch, Schinken und Spinat.)

-> Figur in Dickens Roman: Miss Flite- verlor Verstand. Sammelte Vögel- diesen gab sie seltsame Namen (siehe Zitat) -> Wirre Liste- zeigt die Unsinnigkeit und Irrealität des Gerichtsverfahrens.Die ersten Begriffe zeigen, was dadurch zerstört wurde. Diese Liste wird von Rendell ganz am Anfang zitiert. Liste wird nach Mord wiederholt, und ganz am Ende noch mal. Hier werden aber Hoffnung und Leben ausgelassen. Dickens Liste zeigt Hoffnungslosigkeit; referiert auf Literaturkanon, der die Utopie fairer und liebevoller sozialer Beziehungen aufrecht erhält.

Kanonische Referenz im Roman noch weiter aufgebaut- Dickens, noch ein Zitat, und Shakespeare. Werden alle von Melinda und Jiles, also von der jungen Generation, ausgesprochen. -> Jiles liest auch währen dem Essen und isoliert sich dadurch -> Literatur macht auch asozial. Beide Kinder werden, indem sie zitieren, zur lebendigen Verkörperung von Literatur und Liebe.

Zitate, die die beiden nennen:

Melinda schenkt Vater Schal. Er meint, er sollte in seinem Alter nicht mehr Geburtstag feiern -> Melinda sagt:

Shakespeare, Antony and Cleopatra (1607), I,5:

CLEOPATRA Who's born that dayWhen I forget to send to Antony,Shall die a beggar.

(Wer an dem Tag geboren,Wo ich vergaß an Mark Anton zu schreiben,Der sterb als Bettler.)

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Dieses Zitat aus Shakespeares “Antony and Cleopatra” - zeigt, dass M. studiert und das liest -> Eintritt in Kreis der Gebildeten, die sich mit

und über klassische Literatur unterhalten können- zeigt, dass M ihren Vater liebt uns seinen Geburtstag niemals vergessen würde

Deutsche Übersetzung schlecht.

Jiles: Zuneigung zu Stiefvater drückt er nie aus; bei Geburtstagsessen wird erwähnt, dass Vater Eunice zum Bahnhof bringen muss. Jiles sagt hier:

Charles Dickens, David Copperfield (1850):

„I shall never desert Mr. Micawber.”(„Ich werde Mr. Micawber nie im Stich lassen.”)

Dadurch sagt Jiles einmal das richtige. Das macht aus Jiles den Lesenden und Gelehrten, und jemanden, der Solidarität und Freundschaft ausdrücken kann. -> Familie bekennt sich zu Literarizität. Text ist also intertextuell; Zitieren ist hier auch Performanz.

2. Der Film:

Verfilmung von C. Chabrol: La cérémonie.

Rendell war mit Verfilmung zufrieden.

Titel: „Die Feier“ -> bezieht sich auf die Geburtstagsfeier (dt. „Biester“)

Film war Erfolg; Hauptdarstellerin erhielt César (nationaler franz. Filmpreis)

Film verändert Vorlage

Beginn:Beginnt mit 2. Kapitel- Erstinterview zw. Haushälterin und Frau

man weiß nicht gleich, dass es ein Krimi ist

Täterin:Statt Haushälterin im mittleren Alter- jetzt junges Mädchen

Fernsehen:Buch: Eunice- erster Fernseher- wird süchtigFilm: Fasziniertes auf den Fernseher sehen

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Zuseher wird durch Zusehen quasi zum Analphabeten

Tat:Buch: Tötung Georges blutig; die anderen Morde nicht. Opfer sind bereits verdinglicht:

Sie [Eunice] kam näher und zielte. Sie schoß beide Läufe leer, lud wieder, während ein zweiter Schuß ihr im Ohr dröhnte, dann schoß sie zweimal auf das, was auf dem chinesischen Teppich lag.

Film: Zeigt Aktion selbst. Intermediales Moment: Morde geschehen, während Familie Oper anschaut. Arie: „Komm zum Fenster“. Mutter geht auch zum Fenster, dann kommen Eunice und Joan und erschießen den Rest der Familie; Eunice schießt dann auch auf Bücher.

Doppelfigur: dunkel gekleidet (Joan, Eunice) vs. hell gekleidet (Mutter und Tochter)

Tat erscheint stilisiert; Film bleibt aber nicht bei Schnitttrennung von Täter und Opfer stehen. Sondern ein Schnitt, wo beide Täterinnen auf liegendes Opfer noch mal schießen.

Text zeigt uns nur 30 Buchstaben über die Tat; im Film ist Visualisierung dem Zuschauer abgenommen

Auflösung:Buch: Aufgrund gefundenen KassettenrekordersFilm: Keine falsche Spur; dieselbe Tonspur wird verwendet- akustisch wird die Identität festgestellt

Film:(lesbische Beziehung zw Joan und Euc.- im Buch viel schwächer)

Botschaft:Verhältnis von Literarizität und Gewalt -> erzeugen Medien Gewalt (Videospiele)? -> Debatte bis heute kontrovers -> Theorien:

• Inhibitionstheorie: Gewaltdarstellungen in Medien können Angst erzeugen und dadurch die Aggressionsbereitschaft hemmen.

• Katharsistheorie : Tragödie erzeigt Furcht und Mitleid und führt so zu Reinigung der Seele (=katharsis). Zusehen hilft, Mitleid zu schulen -> Gewaltdarstellungen in Medien können Spannungen abbauen und die Gewaltbereitschaft mindern.

Vs.

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• Stimulationstheorie = Position des Romans: Gewaltdarstellungen können die Aggressionsbereitschaft fördern

• Habitualisierungstheorie : Gewalt in Medien kann abstumpfend und gewöhnen wirken.

Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen Gewalt und Analphabetismus. Aber Analphabetismus kann schon einen negativen Einfluss haben; es gibt jedoch für Gewalt ein Bündel von Ursachen.

Mörderinnen zeigen kaum Emotionen (Film)- Problem der medialen Übersetzung: Buch: zeigt, dass Lesen Mitleid schult. Film: bewegte Bilder können diese Botschaft nicht vermitteln.

Zentrale Aussage des Romans fällt weg. Eunice und Zuseher kommen im Film ohne Kenntnis der Buchstaben aus.

Film als Medium: Bekenntnis zum Buch kann nicht mitgetragen werden; daher paradoxe Form der Übersetzung (Buch- Film)

Heute auch v.a. Verfilmungen, die begeistern.

Funktioniert die Kriminalliteratur -trotz Gewaltdarstellung- anders? -> zumindest entsteht beim Lesen eine größere Reflexion.

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Einheit 10, 31.5.

„Weinschröter, du musst hängen“ war Gerckes erste erfolgreiche Publikation.

Es war der erste Bella Block –Roman -> die Bella- Block- Romane wurden auch für das Fernsehen verfilmt: Die Kommissarin Bella Block wurde von Hannelore Hoger gespielt; nur noch entfernte Ähnlichkeit mit dem eigentlichen Text. Weitere 14 Bücher mit Bella Block

Gercke schrieb auch noch andere Krimis ohne Bella Block; Hörspiele; KinderbücherSie ist eine der berühmtesten deutschen Krimischriftstellerinnen.

Politisch ist Gercke eine Friedensaktivistin; politisch links. Bella= untypische Detektivin: Anfang 50, groß, rundlich, ohne Kinder, klug, literaturinteressiert, auch politisch links.

Bella Block ist die fiktive Nachfahrin- die Urenkelin- von Aleksander Blok – ein real existierender russischer Lyriker (1880-1921) Von diesem wird zitiert.

Jedes Kapitel hat ein eigenes Motto (steht immer am Anfang des Kapitels)- Kindervers oder Spruch; handelt meist von Gewalt.

TITEL: Weinschröter= Transporteur von Fässern (gefährlicher Job). Text des Mottos: Volkslied „Weinschröterlied“ aus Kriegszeiten in der Volksliedsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ von Achim von Arnim/Clemens Brentano, (1806) -> die beiden sammelten hier Volkslieder, die bis dahin nur mündlich weitergegeben worden warenVeränderung im Buch: „zu Wein“ -> „zum Weib“

Weinschröterlied

Weinschröter, schlag die Trommel,bis der bittre Bauer kommt.Mit den Grenadierenmusst du fortmarschieren,mit dem blauen Reiterauf die Galgenleiter.Weinschröter, du musst hangen,bist bei Nacht zu Wein gegangen;Weinschröter, schlag die Trommel,bis dein bittrer Tod gekommen.Wollt ihr den Dragoner sehnauf der leeren Treppen stehn?Morgen tun sie’n henken,der wird dran gedenken!

Kriminalität und Weiblichkeit:Weinschröter, du musst hängen. Doris Gercke, 1988

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Ei, so schlag der Kuckuck drein,lieber kein Dragoner sein.

Achim von Arnim/Clemens Brentano,Des Knaben Wunderhorn (1805-1808)

Romantische Idylle- nein! Unheimlicher Roman

1. Der Text

a) Inhalt und Aufbau

Norddeutsches Dorf. Vorgeschichte: Vergewaltigung von Frau durch Dorfwirt, Bauer und alleinstehender Frau. Opfer: Rachefeldzug: Mittäterin und Bauer sterben; als Selbstmorde getarnt. Hamburger Kripo erhält anonymen Brief -> es seien Morde. Bella soll Fall untersuchen; zufällig hat Bella in dem Dorf ein Ferienhaus; sie verbringt die nächste Woche dort. Wirt hat Angst und ist Schreiber des Briefes. Vertraut Bella die Vorgeschichte an- Dorffest: Er wird in Scheibtruhe gepackt und in Scheiterhaufen gesteckt -> Opfer legt Feuer; Wirt wird wahrscheinlich getötet. Bella weiß, wer Opfer ist: Frau, die nach Krieg als Flüchtling ins Dorf gekommen ist und immer nur verachtet wurde; Bella interviewt sie; aber erhebt aus Mitleid keine Anklage gegen sie.

Aufbau:

• 24 Kapitel; aber nicht in chronologischer Reihenfolge erzählt• Personale Erzählsituation• 5 Kapitel aus Ichperspektive (Täterin): 1. Vergewaltigung; 4. erster Mord; Mitte:

zweiter Mord; Bericht von Täterin mündet dann in Erzählgegenwart (19 und 23 Kapitel)

• Leser weiß das Motiv für die Morde von Anfang an; aber wer Täter ist bleibt unklar bis zum Schluss

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Abweichungen vom Detektivgeschichten-schema:Letzte Phase einer Rachehandlung; Bella kennt Täterin schon seit dem 14. Kapitel- weiterer Mord wird nicht nur nicht verhindert, sondern kommt auch nicht zur Anklage; Bella gibt auch Polizistinnenberuf auf. (Detektiv vs. Polizei)

Text= Mischung aus Detektiv- und KriminalgeschichteDetektivin- Täterin- Wechsel der Perspektive

Täterinnenpsyche in Ich-perspektive

Sympathie zwischen Bella und Täterin

Rache eines Menschen, der immer nur gedemütigt wurde -> Taten sind verständlich. Bestialisierung des Opfers kippt um in Kriminalität -> Selbstjustiz durch Detektivin wird gerechtfertigt; Bella legitimiert Mordausübung durch höhere Gerechtigkeit.

b) Zitate

Spröder Stil- Trostlosigkeit.

Böses Dorf: Mobbing, Ausgrenzung, Gewalt -> dieses Böse wird noch unterstrichen durch die Motti jeweils am Anfang der Kapitel.

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Die Literarizität des Textes stützt sich auf Zitate- diese werden aber nicht von der Erzählinsanz ausgeführt, sondern durch Gedanken der Heldin. (Sie denkt an irgendetwas, und dabei fallen ihr Zitate von Büchern bzw. Gedichten, die sie gelesen hat, ein).

Titelzitat: Schwarze Romantik; Schauriges und Gewaltsames

• Joseph v. Eichendorff: „Mondnacht“

-> Harmonie des Textes wird mit Leiche von Toter Katze konfrontiert -> Sie denkt an Eichendorffs Gedicht und sieht dann tote Katze. Romantik des Gedichts verbunden mit toter Katze.

Joseph von Eichendorff: Mondnacht (1837)Es war, als hätt’ der HimmelDie Erde still geküsst,Dass sie im BlütenschimmerVon ihm nun träumen müsst. Die Luft ging durch die Felder,Die Ähren wogten sacht,Es rauschten leis’ die Wälder,So sternklar war die Nacht. Und meine Seele spannteWeit ihre Flügel aus,Flog durch die stillen Lande,Als flöge sie nach Haus.

-> Buch:„Es war, als hätt‘ der Himmel die Erde still geküsst. Eichendorffs „Mondnacht“ fiel ihr ein, und während sie die Zeilen zusammensuchte, gerade als sie angekommen war bei „…und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus“, fiel ihr Blick auf die Katze, die am Rand der Terrasse lag. Der Wind blies sachte über das schwarz- weiße Fell, das sich ein wenig nach oben stellte. Da lag wirklich die toteste Katze, die sie je gesehen hatte.“

Kontrast zur Realität des Dorfes

Zitiert wird außerdem im Buch:

• Kanon „Abendstille überall“:

Otto Laub (1805-1882), Übersetzung von Fritz Jöde:

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Abendstille überall,Nur am Bach die NachtigallSingt ihre WeiseKlagend und leiseDurch das Tal.

und weiters:

• Paul Gerhardt (1653)

1. Geh aus mein Herz, und suche FreudIn dieser lieben Sommerzeit An deines Gottes Gaben:Schau an der schönen Gärten-ZierUnd siehe, wie sie mir und dir Sich ausgeschmücket haben.

2. Die Bäume stehen voller Laub,Das Erdreich decket seinen Staub Mit einem grünen Kleide:Narzissen und die Tulipan,Die ziehen sich viel schöner an Als Salomonis Seide

-> Dieser Kanon von Sommer- und Naturgedichten [dazu zählen Eichendorff, Laub und Gerhardt] bildet einen Kontrast zur ländlichen Grausamkeit -> idyllische Natur vs. Perverse Humanität

Die zweite intertextuelle Ebene ist die Lyrik von Aleksander Blok- er ist der fiktive Großvater von Bella Block-> folgende Gedichte werden im Buch zitiert:

- Die Stille blüht (1906)- Das Leben meines Freundes 6 (1914)- Die Zwölf (1918)- Rede auf Puschkin (1921)

Bloks Verse sind die poetische Begleitmusik des Textes.

Aus der Rede auf Puschkin wird der Teil „Von der Bestimmung des Dichters“ zitiert: Autonomie der Poesie; geheime Freiheit des Dichters als Voraussetzung seines Schaffens. -> gegen Zensur. War eine mutige Rede.

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Glück gibts nicht in der Welt, doch Freiheit gibts und Frieden.

Freiheit und Frieden. Beides braucht der Dichter, um die Harmonie zu befreien. Aber selbst die Freiheit und den Frieden raubt man ihm - nicht den äußeren, sondern den inneren, schöpferischen Frieden, nicht die kindliche Freiheit, die Freiheit, liberal zu schwätzen, sondern die schöpferische, die geheime Freiheit. Und der Dichter stirbt, weil er nicht mehr atmen kann; das Leben hat seinen Sinn verloren.

Den liebenswürdigen Beamten, die den Dichter hinderten, die Herzen der Menschen durch die Harmonie zu erproben, wird für immer der Schimpfname Pöbel anhaften. […]

Vor einem noch schlimmeren Schimpfnamen aber mögen sie sich in acht nehmen, jene Beamten, die sich heute anschicken, die Poesie in bestimmte Bahnen zu lenken, die sich an der geheimen Freiheit der Poesie vergreifen und die Poesie hindern, ihrer geheimen Bestimmung gerecht zu werden.

Alexander Blok, Von der Bestimmung des Dichters (1921)

Dieser Teil der Rede wird abgeändert zitiert ->„Es gibt kein Glück auf der Welt, es gibt nur Frieden und Freiheit. Das war ein Zitat aus der Puschkin-Gedenkrede ihres unehelichen Großvaters, 1921 gehalten. Und deshalb, mein Lieber, sei lieb, räum schön auf und verlass mich. Ich muss allein sein, wenn ich nach Hause komme.“

-> Bella nimmt diese politische Aussage und verwendet sie zur Beendigung einer Beziehung. Bloks Zitate behaupten auch im Text eine Autonomie und gehören nicht zur Handlung selbst.

Dritte intertextuelle Ebene:

• Jean Amery: „Hand an sich legen“

Alle Selbstmorde sind getarnte Morde= Theorie von Bellas Chef; Bella liest „Diskurs über den Freitod“; Autor wird nicht erwähnt; das Buch gibt es jedoch wirklich, der Autor ist Jean Amery (1912- 1978) – und der Aufsatz ist ein Kapitel in seinem Buch „Hand an sich legen“. (1976)

Amery überlebte KZs, arbeitete nach Krieg als Schriftsteller – für freie Entscheidung des Suizids; er brachte sich dann zwei Jahre nachdem er das Buch beendet hatte, auch um. Er übte Kritik an Österreich- raubte ihm als Juden seine Menschenrechte. Bella ist mit dieser Schrift nicht einverstanden. Auch jüdische Genossen kritisierten Amery, denn jüdische Überlebende müssten Leben, da man sonst Hitler gewinnen lässt. Den (Kriegs-)Kontext erwähnt Bella aber nicht.

Aber: Unheilvolle Vergangenheit tritt auch im Buch auf: Britische Kolonialtruppe tritt auf bei Sommerfest- wird von Teil des Publikums mit Hitlergruß beantwortet! Täterschaft der Nachkommen. Grausamkeit des Dorfes spiegelt im Kleinen die Gewalt der NS- Zeit wieder.

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2) Frauenkrimi

2.1. Kategorien

Der Terminus ist umstritten; nicht immer positiv besetzt.

2002- Umfrage zu diesem Genre „Frauenkrimi“: Die meisten Befragten meinten, dieses Etikett sei negativ- z.B. die Autorin Pieke Biermann:

Pieke Biermann (Autorin, u. a. : POTSDAMER ABLEBEN, VIOLETTA, HERZRASEN; Deutscher Krimipreis 1991, 1994, 1998):

a) wenn selbsternannt, Bitte um mildernde Umstände ("Ich bin bloß ne Frau, die das zusammengeschmiert hat, und will von niemandem ernsthaft gelesen werden...")

b) wenn von Männern gegeben, Attribut der Geringschätzung ("Is ja bloß von Frauen, das Zeug, muß ich nicht lesen!")

c) möglicherweise momentan taktisch-historisch nützlich, ähnlich wie Frauenquoten und Gleichstellungsbeauftragte (ca. Mitte 80er).

Es gibt vier Möglichkeiten, den Begriff „Frauenkrimi“ aufzufassen:

- A. Produktion: weibliche Autorinnen- B. Rezeption: Der Text wurde für Frauen geschrieben- C. Figur: Ermittlerin ist eine Frau- D. Sujet: weibliche Perspektive; „feministische“ Anliegen

a) Autorinnen:

Wenn man den Frauenkrimi so auffasst, dass dessen Merkmal eine weibliche Verfasserin ist, dann ist er nicht neu, denn Frauen als Verfasserinnen von Kriminalgeschichten gibt es schon sehr früh: z.B.

• Droste- Hülshoff: 1842- Die Judenbuche• Seeley Regester: 1866: The Dead Letter -> erster Detektivroman im strengeren Sinn• Anna Katherine Green, die als „Mother oft he Mystery Novel“ gilt- zweiter

Seriendetektiv der Kriminalgeschichte in „The Leavenwort Case“ (1878) -> Romane mit ihm wurden zu Bestseller. Schriftstellerinnen des 19Jhs meist vergessen, da nicht in Ränge des Kanons aufgenommen

• Golden Age (20er und 30er) -> „Queens of Crime“: Agatha Christie (1890-1976)

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Dorothy Sayers (1893-1957)Ngaio Marsh (Neuseeland; 1895-1982) Margery Allingham (1904-1966)

Gründeten einen Club zur Institutionalisierung des Genres; Christie wurde geadelt für ihre Krimis.

• Nächste Generation (nach 1945):Patricia Highsmith (1921-1995)P. D. James (* 1920)Ruth Rendell/Barbara Vine (* 1930)

erhielten alle viele Krimipreise

Frauenkrimi= Krimi von Frauen -> v.a. ein Phänomen der 80er/90er, aber große Vorgeschichte. -> New Golden Age: seit den 80er Jahren- greifen auf Traditionen von Vorgängerinnen zurück

b) für Frauen

Krimis für Männer, Liebesgeschichten für Frauen -> nein

Untergattung:

• Für MÄNNER: Hard boiled detective novel (z. B. Raymond Chandler, Dashiell Hammett)

• Für FRAUEN: HIBK („Had I but known“): love story + Kriminalhandlung

-> Mittlerweile werden Krimis öfter von Frauen gelesen als von Männern; weil Frauen überhaupt mehr lesen als Männer; 80% der Leser von Belletristik sind weiblich.

c) Weibliche Ermittlerin

• „Das Fräulein von Scuderi“ (E.T.A. Hoffmann, 1819) wird oft als erstes Bsp von Kriminalliteratur insgesamt gesehen-> Scuderi= weibliche „Ermittlerin“

• 19JH immer wieder weibliche Detektivinnen; aber öfter Männer! Raciocination= logische Schlussfolgerung = vernünftige Ermittlung wird als

männliches Prinzip verstanden. Im Gegensatz dazu: weibliche IntuitionCLUB des Golden Age, dem auch Christie angehörte stellte Regeln für Schreiben von Detektivromanen auf: Täter muss logisch erschließbar sein -> Intuition kann demnach kein detektivisches Verfahren sein

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• 20er Jahre: Doch weibliche Detektivinnen: Little old ladies oder unverheiratete Detektivinnen (= spinster sleuth; z.B. Miss Marple)

• Ab den 1980ern: „New Golden Age“: Heldinnen= aktive Ermittlerinnen; sind hauptberufliche Polizistinnen oder Privatdetektivinnen oder einen anderen Beruf und sind nebenbei Detektivinnen; Hausfrauen als Detektivinnen gibt es nicht mehr

d) Inhalt

Alltag von Ermittlerinnen; weibliche Interessen und Sichtweisen im Vordergrund.

- erkenntnistheoretisch/psychologisch: Andere detektivische Methodik: Statt männlicher Rationalität die weibliche Intuition.

- strafrechtlich: Verbrechen, die lange nicht genug sanktioniert wurden aus weiblicher Sicht -> (Sicht weiblicher Opfer [Gewalt in der Familie, Kindesmissbrauch, Mädchenhandel, Internetpornographie etc.])

- ideologisch: Es geht um einen Geschlechterkampf: Rachefantasie gegenüber dem männlichen Partner?

Täterin wird identifiziert aber nicht bestraft -> Modifikation des Kriminalromans

2.2. „New Golden Age“

a) Autorinnen

Frauenkrimi und literaturgeschichtlicher Kontext:

Beginn des modernen Frauenkrimis in den 70er/80ern in den USA -> New Golden Age – „Mutter“ ist Marcia Muller

Wichtige Autorinnen des NGA:

• 1977 Marcia Muller (* 1944, „Mother of the Modern Female Sleuth“): Edwin of the Iron Shoes

• Sharon McCone (erster weiblicher PI = Private Investigator)• 1982 Sue Grafton (* 1940): A is for Alibi

Kinsey Millhone

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• 1982 Sara Paretsky (* 1947): Indemnity only V.I. Warshawski

Alle der Heldinnen sind „gutsy heroines“= mutig, draufgängerisch, intelligent; lehnen alle konventionellen Charakteristiken von „typisch weiblich“ ab; galten als Exempel von emanzipatorischen Frauen

Es folgten hunderte Serienheldinnen, die auch so waren. -> Boom an Kriminalliteratur

Berühmte Detektive: Wallander (Mankell)

Aktuelle, prominente Autorinnen im deutschsprachigen Raum und international mit Seriendetektivinnen:

deutschsprachig:

• Doris Gercke (* 1937): Bella Block• Christine Grän (* 1952): Anna Marx (ab 1986)• Eva Rossmann (* 1962): Mira Valensky (ab 1999)

international:

• Donna Leon (* 1942) – Commissario Guido Brunetti • Batya Gur (1947-2005) – Inspektor Ochajon • Anne Holt (* 1958) – Hauptkommissarin Hanne Wilhelmsen

Diskussion zum Frauenkrimi- tot?

Formal: oft Ichperspektive; -> sehr intime Gedanken und Gefühle der Ermittlerin; Subjektivität -> Erfolg des Genres!!

b) Kontexte:

• erkenntnistheoretisch:

Dichotomie: Männliche Ratio gegen weibliche Intuition= alogisches Erkennen/Erspüren von Zusammenhängen

Christie: Miss Marple hat immer wieder Einfälle, die sie auf Spuren bringen -> Der erinnert mich an….. keine logischen Schlüsse, sondern Menschenkenntnis durch Erfahrung.

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Diese Methodenteilung befördert alte Geschlechterklischees (stammt aus dem 19. Jh) und stimmt nichtAuch bei männlichen Detektiven nicht nur reine Detektion, sondern auch Abduktion= eine Hypothese wird gebildet = RATEN (beide, sowohl männliche als auch weibliche Detektive raten zuerst mal über Motiv und Täter= stellen eine Hypothese auf); erst dann wird die These überprüft.

Verfahren von Männern und Frauen sind also nicht so unähnlich. Aber bei den Autorinnen des NGA berufen sich die Detektivinnen auf ihr Gespür. (80er) -> Ist tiefenpsychologisch plausibel.

Gegensatz: Frauen beobachten Details im Alltag mehr (stimmt wirklich) -> haben also einen Vorsprung gegenüber Männern.

• Strafrechtlich

Roman suggeriert Motiv des gerechtfertigten Mordes.Motiv gerät in Vordergrund. Archaisches Talionsprinzip. Detektvinnen identifizieren Täterinnen aber führen sie nicht dem Strafrecht zu – haben eigenen Moralkodex abseits von Gesetzten. Problem: Institutionalisierung des Rechts wird untergraben.

Frauenkrimi= Projektionsfläche von Rachephantasien – problematisch!

Als Leser identifiziert man sich mit Täter -> empathisch

Justiz urteilt nicht ohne Ansehen des Geschlechtes. Verbrechen gegen Frauen früher vergleichsweise mild geahndet - dauerte lange, bis Vergewaltigung in Ehe oder Gewalt in Ehe unter Strafe gestellt wurden! (Ö: 1989; BRD 1997)

• -> Gewaltschutzgesetz: Österreich 1997, BRD 2002

Daten von Amnesty International 2002:- mind. 1 von 3 Frauen wurde misshandelt oder zum Sex gezwungen- WHO: bis zu 70% der weiblichen Mordopfer von Partnern getötet- USA: Alle 90sek eine Frau vergewaltigt; alle 50 sek Frau von ihrem Mann geschlagen- 36 000 russische Frauen werden täglich von ihren Männern geschlagen -> kein Gesetz

gegen Gewalt innerhalb von Familie- Südafrika: mehr Frauen sterben zu Hause als wo anders (erschossen)- Spanien: alle 4 Tage wurde eine Frau von ihrem Mann ermordet- 59 Länder keine Gesetze gegen Gewalt in Familie

Weltweit: Muss die Gleichstellung von Frauen noch weiterentwickelt werden.

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-> Begründung für diese Art der Justiz: Autorinnen gehen davon aus, dass so viel ungerechtes gegen Frauen passiert, dass es legitimiert ist. Lynchjustiz.

• ideologisch:

Provokation: Verhältnis von Frauen und Gewalt.

Frau gibt Leben; ist daher Lebensspenderin und wird als das idealisiert -> Frau als Mörderin ist daher größerer Skandal als männlicher Mörder.

Kulturhistorischer Skandal: Frau als Täterin.Furchtbar- nicht nur gegen Gesetz, sondern auch gegen Natur der Frau!

Mörderinnen sind ein Presseereignis!

- z.B. im 19. Jh Bestie von Bremen- Giftmischerin! Tötete über 12 Menschen durch Arsen.- Bsp. von heute: Elfriede Blauensteiner: wurde 2001 als dreifach- Mörderin verurteilt- Ehemann und zwei Lebensgefährten.

Frauen als Täterinnen- Blick auf Realität:

• Weniger Mörderinnen als Mörder

- 2008: 75% männliche, 25% weibliche Verdächtige- Mord: 87,3 männl und 12,7 weibl

• Bei Mord wirklich fast nur Männer die Täter; bei anderen Delikten Frauenquote höher (z.B. Diebstahl 1/3 Frauen; auch Urkundenfälschung; aber keine Gewaltdelikte)

-> Realität kennt also nicht so viele Täterinnen wie neuer Frauenkrimi suggeriert.

Gewalttätige Frau sind immer noch ein Tabubruch.

Frau schlägt zurück- Modell: auf Gesellschaft bezogen. -> nicht nur Notwehr-überschreitung, sondern wirklich geplante Morde (in neuer Kriminalliteratur)

Kriminalistinnen sind positiv gezeichnet und sympathisch: fiktiv wird Rache am Täter vorgeführt= Probehandlung.

Geschichtensammlung: „Bye bye Bruno. Wie Frauen morden“ -> Sympathie für Mörderinnen.

Rächender Mord: Ausdruck der Unterdrückung

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Die neuen Kriminalromane entsprechen nicht der Realität der Leserinnen, sind aber attraktiv, weil mit der Detektivin eine neue Frauenrollen ausprobiert werden könnte =Probehandlung

Einheit 11, 7.6.

Biographie- 1960 in Maria Alm geboren- studierte Psychologie, Germanistik, Sprachwissenschaften- Zivildiener beim Roten Kreuz- Lektor- seit 1992 lebt er in Wien- Werbetexter- war sehr erfolgreich. („Ö1 gehört gehört“; „A Mazda müsst’ ma sein“;

Lied: „Peter und Peda“- Ansatz zu Kriminalliteratur; Gesprächsstil)- Durchbruch als Schriftsteller mit erstem Brenner- Roman: „Auferstehung der Toten“

Brenner- Romane:

- Auferstehung der Toten (1996)- Der Knochenmann (1997)- Komm, süßer Tod (1998)- Silentium! (1999)- Wie die Tiere (2001)- Das ewige Leben (2003)- Der Brenner und der liebe Gott (2009)

1. Figur- „Der Brenner“

Durch die Hinweise in den Romanen kann man Details aus Brenners Biographie ableiten: Er wurde in Puntigam geboren; ging dann zur Polizei und wechselte dann zum Roten Kreuz. Er hat oft schlechte Laune, Migräne, löst(e) Fälle durch grübeln; hat teilweise ein hartes Schicksal: Freundin verlässt ihn, Kopfschuss, kleiner Finger wird ihm abgeschnitten…

Trockener Witz, Charme.

Detektion und SpracheKomm, süßer Tod. Wolf Haas(1998)

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Hard boiled novelDetektiv: „lonely cowboy“- wirkt auf Frauen attraktiv

Berühmteste Vertreter der Hard boiled novel:

- Dashiell Hammett (1894- 1961) – The Maltese Falcon 1930, Detektiv: Sam Spade- Raymond Chandler (1888-1959)- The Big Sleep, 1939, Philip Marlowe

Typisch für hard boiled novels: Aktionsreiche Aufklärungshandlung- oft direkte Konfrontationen mit den Tätern, Verfolgungsjagden, Detektivfigur macht von Waffe Gebrauch.

Haas nennt Chandler und Georges Simenon (1903- 1989; Detektiv: Jules Maigret)- ob der hard boiled ist, ist aber umstritten) als seine Vorbilder

Manche Brenner- Romane wurden auch verfilmt (von Murnberger), so auch „Komm, süßer Tod“. Die Rolle des Brenner spielt Hader; auch Barbara Rudnik und Karl Markovics spielen wichtige Rollen.

2. Handlung- Die „Kreuzretter“

Es geht um zwei konkurrierende Rettungsgesellschaften:

• Kreuzretter Real: Rotes Kreuz, gegründet 1863- Neutralität ist wichtiger Grundsatz: Im Krieg werden alle behandelt)

• Rettungsbund Arbeiter- Samariterbund; gegründet 1927 [Justizpalastbrand]; verboten 1934 [Bürgerkrieg]; wiedergegründet 1947

Brenner gehört den Kreuzrettern an; sein Chef ist „Junior“.

Im Roman geht es um harte Konkurrenz zwischen den beiden Rettungsgesellschaften.

Die Kreuzretter haben Geldsorgen-> Junior erschleicht das Erbe alter Menschen- zuerst durch überreden, dann durch Dokumentenfälschung [indem er vorgibt, die alten Menschen Krankenhauspapiere unterschreiben zu lassen; in Wahrheit unterschreiben sie aber immer ihr eigenes Testament], dann durch Mord: Die alten Menschen, die an den Tropf gehängt werden, sind Diabetiker und bekommen Zuckerwasser gespritzt…Der Mittäter von Junior ist Bimbo (Manfred Groß). Auch der Kollege Lungau weiß von der Sache. Als diesem das Ganze zu viel wird und er nicht mehr mitmachen will, sticht Bimbo ihm „versehentlich“ mit einem Schraubenzieher ins Auge, der sich in sein Gehirn bohrt.

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Lungau gibt daraufhin vor, schwer behindert zu sein und eine Aphasie zu haben, um sein Leben so zu retten. Seine Freundin Irmi stellt Nachforschungen an, was aber natürlich Junior nicht passt, als er davon Wind bekommt. Daraufhin werden Irmi und Stenzel, das ist der Chef der Blutbank, ermordet- auf ihn wird geschossen, und da die beiden sich gerade küssen, stirbt auch sie dadurch. Es wird dann angenommen, dass das Attentat Stenzel galt und Irmi nur ein versehentliches Opfer war; tatsächlich aber war Irmi das eigentlich Opfer, und dass Stenzel auch getötet wurde, war nur Tarnung. Geschossen hat Bimbo im Auftrag von Junior- um Irmi auszulöschen, da sie schon zu viel wusste.

Brenner erhält einen detektivischen Auftrag von Junior- er soll herausfinden, ob ihr Funk vom Rettungsbund abgehört wird. Brenner findet aber bald heraus, dass Junior das nur vorgab, um von sich selbst abzulenken. Bimbo wird getötet- von Lungau, da er auch zu viel wusste. Junior versucht schließlich, Lungau und Brenner zu ermorden; der Mord wird aber verhindert und Junior stirbt.

„Zentrale“= Keller= krimitypisches Setting; zwar nicht locked room, aber geschlossen genug, um zur Identifikation des Täters zu kommen

3. Sprache- „Mündlichkeit“

Rief Ablehnung bei Deutschen hervor

a.) Erzähler

Wer ist der Erzähler?

Neuhaus meint, der Krimi verlange eine spezielle Erzählsituation. Der allwissende Erzähler verträgt sich eher nicht mit der Detektivhandlung

Lösung: - Begleiterfigur, die erzählt- personale Erzählsituation (z.B. Gercke)- Bei Haas: Der Erzähler ist auch wie eine Art Begleitperson, aber sie ist ein Ich-

Erzähler, durch personale und auktoriale Einschübe unterbrochen; wie Wirtshausgespräche

Das Vor- sich -hin –sprechen des Erzählers hat Haas von seinen Vorbildern Chandler und Hammet

In „Das ewige Leben“ kommt der Erzähler dann als Person vor- ist Untermieter; wird am Ende des Textes erschossen -> Reflexion der Erzählsituation.Im 7. Brenner- Roman erzählt der Erzähler als Toter weiter (denn eigentlich hätte die Romanreihe nach dem 6. Roman enden sollen)

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b.) Stil

Gesprochene Sprache; Text wie Aufzeichnung eines Diskurses

Die Sprache und der Stil erzeugten viele Nachmacher und Parodien

Werk über Haas – in Haas’ Stil geschrieben: „Viel Spaß mit Haas!“ von Astrid Poier- Bernhard

Textausschnitt:Und es wird nicht lang dauern das versprech’ ich dir, da wird es die ersten Zentimeter

Fachliteratur zum Thema Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei Wolf Haas geben, weil Haas da praktisch proto-typisch, wo Sätze manchmal aufhören, wie wenn einer merkt, ver-standen hast du mich ohnehin schon, wozu noch der Aufwand, den Satz zu Ende zu sagen, quasi Anakoluth und Ellipse, falls du an Fachausdrücken interessiert bist. Für den ernsthaften Mündlichkeits- und Schriftlichkeitsforscher also Haas praktisch gefundenes Fressen, weil prototypisch und vergnüglich noch dazu [...].

Aber paß auf: Was macht den Stil vom Haas aus? [...] Siehst du, da denkst du jetzt gleich an dies und das, Mündlichkeit und Schriftlich-keit, was der Haas plötzlich wegläßt, Kausalverbindungen, die dich überraschen und überhaupt, wie er immer du sagt zu dir und noch gar kein offizielles Du-Wort, du denkst an Wörter, die du bei der Deutschschularbeit lieber nicht so oft verwenden solltest, quasi Wortwiederholung, praktisch, paß auf, und und und, vielleicht ist dir auch aufgefallen, daß er das mit den Zeiten und ob eigentlich Kon-junktiv u.s.w. nicht ganz so ernst nimmt, wie er was Neues einführt von hinten herum, und natürlich Tonfall, Satzmelodie, Frage ohne Fragezeichen und fallende Intonation, aber auch Gedankenfiguren, wo dich die Logik überrascht oder Schlußfolgerung, und war nicht die Prämisse irgendwie anders. Jetzt warum ist dir das alles aufgefallen. Weil das immer wieder einmal so ist, nicht ununterbrochen, aber häufig.

Es gibt viel Fachliteratur über Haas, z.B. eine Dissertation über ihn von Nindl („Wolf Haas und sein kriminalliterarisches Sprachexperiment“

Sie schreibt darin, dass es sich bei Haas Stil um eine Kunstsprache handelt; NICHT authentische Rede! -> Nicht- muttersprachliche Leser sollen nicht denken, das wäre österreichisches Deutsch.

Charakteristika der mündlichen Gesprächssituation

• Reduziertheit

• „Kongruenzschwäche“ (Nicht-Über-einstimmung von Flexionsformen)

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Z.B. Satz mit Substantiv im Plural+ Verb im Singular

• Passepartout- Wörter: mit denen kommt man überall durch, z.B. „ding“

• Dialogischer Charakter, non-verbale Kommunikation -> werden auf Adressaten hin gesprochen

• Aber keine Dialogiszität: Leser kann nicht mit- oder zurückreden

• Nichtbeachtung grammatikalischer / syntaktischer Regeln (weil + Hauptsatz)

• Ökonomie: Auslassungen (Anakoluthe: unvollständige Sätze; Ellipsen: Auslassungen im Satz selber); „syntaktische Diskontinuität“

Aber: Graphischer Code, und nicht phonischer Code -> Da es ja trotz allem noch ein geschriebener Text, und kein gesprochener Text ist.

Diese Sprache ist genauestes narratives Kalkül

TYPE- TOKEN- RELATION

(Beispielstext aus „Komm, süßer Tod“ mit den Erläuterungen aus Nindls Dissertation)

Token= alle Wörter eines Textes

Types= Anzahl der voneinander verschiedenen Wörter eines Textes

Zahl der Types * 100 dividiert durch Zahl der Tokens = Type/Token- Relation

Beispielstext:

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70 Tokens (der Text besteht aus 70 Wörtern)nicht (4x), er, der, Aufregung (3x), ist, hat, da, Munz, in, dem, Sinn, beobachtet (2x)

-> 53 Types (verschiedene Wörter)

-> Relation: 7 %

Nindl zählte das auch für alle anderen Brenner- Romane durch:

Wie man sieht, gibt es in den Brenner- Romanen einen sehr geringen Wortschatz= restringierter Code (und kein elaborierter Code); also ein eingeschränkter Wortschatz -> das wurde oft kritisiert

Diese niedere Type/Token/Relation ist charakteristisch für Mündlichkeit; sie zeigt hier also den Kontrast zur Schriftsprache und ist absichtlich!!!

Haas Lieblingswörter:ding, (472 mal in den ersten sechs Brenner- Romanen), quasi, praktisch, sprich (= genauer gesagt)

• Konzipierte Wirklichkeit = konzeptuelle Wirklichkeit; keine echte Mündlichkeit, sondern geplante, durchdachte, inszenierte Wirklichkeit

• Nähesprachliche Orientierung -> non verbale Codes, Vereinfachung und Auslassung

Rhetorische Wiederholungsfiguren, Wortneubildungen (Kreuzretter, Kellerstüberl), genaue Differenzierung der Figurensprache (z.B. Herr Oswald spricht schönes Hochdeutsch)

Sprache imitiert Mündlichkeit; Mündlichkeitskriterien sind überzeichnet! Ist nicht österreichisches Deutsch, sondern bestimmte Stilmerkmale werden übertrieben; Spiel mit Authentizitätsmerkmalen

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4. Sprachstruktur und Detektionslogik

Lungau hat eine Aphasie. Das ist eine Störung des Sprachzentrums im Gehirn, die zu Sprachverlust führen kann -> Lungau

Walter Ruprechter wies darauf hin, dass Jakobson mithilfe des Brenner-Romans die zwei Seiten - Theorie der Sprache entwickelt hat:

- Auswahl von Wörtern (Selektion) - Zusammenstellung von Wörtern- Syntax (aus dem ganzen einen Satz machen) -> vertikal- Horizontal erfolgt das Zusammensetzen der einzelnen Wörter- Beziehungen zwischen Elementen= Kontiguitätsbeziehungen = benachbart; stehen

dann benachbart im Satz- Einzelne Elemente des Satzes können ausgetauscht werden. Diese Ersetzungen

funktionieren paradigmatisch; Paradgima= Beispiel, Muster -> untereinander austauschbare Zeichen- Funktionieren nach der Beziehung von Ähnlichkeit= Similaritätsbeziehung; getauschte Elemente müssen Ähnlichkeit haben

Diese zwei Seiten der Sprache wurden in Zusammenhang gebracht mit Ersetzung, Metapher und Metonymie

Metapher:

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-> Mond durch Sichel ersetzen. Zwei verschiedene Bildbereiche (Astrologie/Ackerbau), aber es gibt eine Ähnlichkeit -> entspricht paradigmatischer Operation. Ersetzung auf vertikaler Ebene

Metonymie

-> Ersetzung auf horizontaler Ebene. Nur ein Bildbereich. Ein Glas trinken statt Wein trinken - sind benachbart

Es gibt- laut Jakobson- zwei Typen der Aphasie:

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• Kontiguitätsstörung:Man kann Wörter nicht mehr verbinden; spricht nur in Einzelwörtern

• Similaritätsstörung:Man kann Wörter nicht mehr ersetzen, d.h. Ähnlichkeit nicht mehr erfassen

Lungauer: beide Typen der Aphasie kommen vor• Zimmer- Brenner -> Möchte Brenner in Zimmer sprechen -> Kontiguitätsstörung

„ Sie ist mein Mantel gewesen“.„Er meint: seine Freundin“, hat die Mutter übersetzt

[...]. „Wahrscheinlich sagt er Mantel, weil sie immer diesen weißen Krankenschwesternmantel angehabt hat.“

„Oder weil er sich beschützt gefühlt hat“, hat der Brenner gesagt. „Oder weil sie seine Kragenweite gewesen ist“, hat er ein bißchen patzig nachgeschoben. „Oder weil sie ihn gewärmt hat. Oder weil ihm erst bei ihr der Knopf aufgegangen ist. Oder weil er als Bub einen Kamelhaarmantel gehabt hat und die Irmi so hübsche Höcker.“

• Sie ist mein Mantel gewesen -> Metapher.Mutter bietet metonymische Deutung an (Mantel). Brenner: metaphorisch: Mantel wärmt, beschütztKragenweite, Knopf aufgehen – komplizierte DeutungenSexuelle Nebendeutung: hübsche Höcker -> vereint metonymische und metaphorische Operation. Metonymie -> Mantel Kamelhaar; Metaphe -> Höcker- weibliche Brust

Lungauer. weiß Ausführungen zu schätzen; erfindet Sprachstörung, um sich vor Juniors Verfolgung zu schützen

Auch Brenner gleicht Aphasiestörung: assoziiert immer weiter weg führende Inhalte; kann sich nicht konzentrieren. Brenners Sprache nimmt auch Metonymie und Metapher auf.Seine Detektionsarbeit folgt nicht rationaler Logik, sondern einer unbewussten Technik (brüten, grübeln)Das Unbewusste verfährt syntagmatisch und paradigmatisch

Traumarbeit- zwei Arten: ( von Sigmund Freud, in „Die Traumdeutung [1900])

• Verschiebung: syntagmatische/metonymische Operation (Botanikbuch – Lieblingsblumen der Ehefrau)

• Verdichtung: Theater ersetzt als Bild den Sexualakt- paradigmatische/Metaphorische Operation (Parterre – erster Stock – „unten“ – „oben“ – sexuelle Stellung)

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Brenners Assoziationen funktionieren ähnlich -> Innerer Monolog von Brenner:

Vielleicht sage ich nur Schädel zu dem Ding, das jetzt durch die zerberstende Trennscheibe hereindonnert und so an die Hecktüren des Rettungsautos kracht […] wie die berühmte Silvester-Pummerin. Und daß das ganze Auto dunkel wird von dem Blut, das herumspritzt wie in diesen Turbo-Orangenpressen, wo du zehn Blutorangen hineingibst, und eine Sekunde später hast du einen Liter Blutorangensaft.

Weil das bißchen Kopf, was vom Junior noch dagewesen ist, ist wirklich wie eine ausgelutschte Orangenschale an der Hecktür langsam zu Boden gerutscht.

Was passiert: blutiger Schädel fliegt ins AutoErsetzungen:

- Schädel: Ding- Orange (metaphorisch)- Auto: Pummerin- Orangenpresse- Pummerin- Glocke- Glock (metonymisch)

Der Erzähler verwendet auch Verdichtungen und Verschiebungen. Z.B. vergleicht er das Kaugummi- Kauen von Brenner mit dem Notstrom in einem Krankenhaus (Metonymie)

Die Erzählerrede folgt einer Verkettung von assoziativ sich einstellenden Bildern.

Poetik der ZerstreutheitWitz, Komik beruhen auf Unvermutetheit der Assoziationslogik, die nicht zusammen passende Bildfelder miteinander kombiniert. -> alte Erklärung für Entstehung eines Witzes

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Detektionsverfahren:Brenner folgt nicht einem rationalen Denken und intelligentem Denken, sondern unbewusster Technik des Assoziierens; konzentriert sich auf das Nebensächliche und nicht auf die Hauptsachen -> freischwebende/gleichschwebende Aufmerksamkeit= keinen Punkt privilegieren, sondern auch auf kleine Details achten (empfiehlt Freud Therapeuten beim Anhören von Patienten- Träumen)

Der Gegensatz zwischen männlichen (rational) und weiblichen (intuitiv) Detektionsverfahren wird hier als zerstört!

Effekte des Mündlichen und Verschiebung und Verdichtung machen Haas Sprache besonders

5. Intertextualität

Lyrikzitate werden in Haas Brenner-Romanen so eingesetzt, dass sie viele Funktionen haben, wobei es nicht zu dialogischem Kontakt in diesem Text kommt.

Bimbo (Manfred Groß)- Mittäter; wird tot aufgefunden. Munz sagt zu Brenner: „Der Groß ist tot“ – Brenner lacht- Satz erinnert ihn an Trauerbillet bei Beerdigung bei Tante, wo er Spruch auswählen sollte, und folgenden Spruch ausgewählt hat:

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Der Tod der Tante ist 10 Jahre her; Gedicht hatte Brenner schon fast vergessen; aber jetzt fällt es ihm wieder ein. Metapher: Gedächtnisinhalt (hier: Gedicht) wurde wie eine Leiche vergraben und kommt nun als Geisterstunde (Erinnerung) zurück. -> Metapher beschreibt Arbeit des Gedächtnisses

Dieses Gedicht stammt von Rilke- wird jedoch nicht dem Literaturkanon entnommen, sondern einem Kondolenzalbum!!

Rilkes Gedichte haben oft einen feierlichen Pathos-ton, der durchaus satirefähig ist.

z.B. Jandl versuchte sich an Rilke- Parodie (1987):

Haas Rilke- Parodie

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- Der Groß ist totDer tot ist Groß

wäre syntagmatische Störung

- reimen/weinenPhonemersetzung von zwei Minimalpaaren: r/w und m/n

- Munds/Munz

-> Parodie, um Tod zu entlarven

Literarische Anspielung dient der Entmythologisierung des Todes

Zweite große Anspielung im Text:

- Robert Schneider: Schlafes Bruder (1992)- Jimi Hendrix: Foxy Lady (1967) -> wenn er in Rothaarige verliebt war- Billy Mo: Ich kauf mir lieber einen Tirolerhut (1962)-> wenn der Frisör ihm die Haare

verschnitten hat

Musik weist auch auf Brenners Alter hin -> 1951 geboren; Titel aus den 60ern gehören zu seiner Kindheit und Jugend. Brenner pfeift oft unbewusst Lieder; wenn er es sich bewusst macht, merkt er, dass der Text der Lieder immer zu seiner Stimmung passt

Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion -> auch daraus wird zitiert; der Titel kommt daher. Klara trifft Jugendliebe Klara wieder; pfeift Melodie, die ihm Klara auf Kassette aufgenommen hatte. Erinnert sich an „Komm, süßer Tod“. Klara klärt ihn dann auf, dass es eigentlich heißt: Komm, süßes Kreuz. -> Brenner kommt dann drauf, dass er es verwechselt hat, weil die Kreuzritter, die eigentlich Leben retten sollten, den Tod gebracht haben (Metonymische Verschiebung Kreuz -> Tod)

Wie er im Lauf von dreißig Jahren die beiden Wörter verwechselt hat, das hat den Brenner jetzt ein bißchen an den Lungauer mit seiner Aphasie erinnert. Aber natürlich, das entscheidende Wort hat er schon richtig gehabt. Weil irgendwo ganz hinten in seinem Hirn muß der Brenner schon die längste Zeit das süße Diabetikerblut im Visier gehabt haben. Schon lange, bevor er gewußt hat, daß der Bimbo seine Patientinnen, statt sie zu retten, mit einem Zuckerschock ins Jenseits befördert hat.

Es wird mit Strukturen der Sprache gespielt- Wenn es ums Unbewusste geht, dann weil die Texte selbst sich der Techniken des Unbewussten bedienen (Verschiebung, Verdichtung).

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Im Finale wird Paul Gerhardt zitiert:(gelb die Stellen, die im Roman zitiert werden)

Immer wieder eingestreut: Gedichtzeilen von verschiedenen Autoren

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Einheit 12, 21.6.

AUTOR:

Paulus Hochgatterer: * 1961Psychologie und Medizin- Studium; FA für Psychiatrie für Kinder und Jugend.Viele Preise, auch österreichischer Staatspreis.Reflexion auf den Umgang mit Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft.

Wildwasser (1997):Jakob, 16 Jahre, Ich- Erzähler, Vater verschwunden, wahrscheinlich verunglückt. Reißt von daheim aus -> Abenteuerfahrt; körperlicher Zusammenbruch; wird von Kaplan aufgenommen -> Re-inszenierung der Familie. Kümmert sich mit Empathie um seine kleine „Schwester“. Ende: Kommt an Stelle, an der Vater verschwand; verabschiedet sich.

Caretta Caretta (1999)Dominik, 15 Jahre, Kriminell, WG. Vaterersatz: ist krebskrank; Dominik leistet Sterbehilfe. Kommunikationsgestörtes Mädchen- Ersatzschwester. Dominik kann sie dann teilweise aus ihrer Reserve locken. Endet mit Begräbnis des Vaters. Bestattung durch die Kinder: Vergraben den verstorbenen in Schildkrötenschale (Schildkröte= Caretta Caretta)

Beide Romane bestellen eine Rite de Passage dar:

1. Rites de passage

Wildwasser. Wien/München, 1997Caretta Caretta. Wien/München 1999.

Übergang zum Erwachsenen:- Ablösungsphase- Zwischenphase- Integrationsphase

-> dann vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Übergänge in indigenen Völkern ritualisiert!

Forensische Literatur:Das Matratzenhaus. Paulus Hochgatterer

(2010)

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(Bei uns Reste: Firmung, Matura)

Beide Romane behandeln diese kritische Zwischenphase; erinnert an Parzival- Struktur (jugendlicher Held erlebt Abenteuer; ist tollpatschig; erreicht Ziel durch Erlernen der „Mitleidsfrage“ [Wie geht’s dir?] = Haltung des Mitgefühls; Empathie)

Empathie beweisen Hochgatterers Helden auch! Kümmern sich um die verhaltensgestörte „Schwester“. Stehen am Ende am symbolischen Vatergrab- Akzeptanz seiner Rolle in Generationenabfolge

2. Das Rachephantasma

„Über Raben“. Wien/Frankfurt a.M. 2002

Lehrer schwänzt Schule; rennt in den Bergen herum; rechnet mit Verfolgung durch Lehrerkollegen; denkt, sich verteidigen zu müssen.Valentina, 12 Jahre, lebt alleine- Verdacht: Dass tote Eltern in der Wohnung liegen.

Kriminalistische Struktur. Aber kein Täterrätsel wird gelöst, und es ist nicht klar, ob überhaupt eine Tat passiert ist. Hinweise durch Musik, die Valentina hört:

deutet auf vollzogene Rache hin. Rachemord nach Kindesmissbrauch= Vermutung des Lesers; wird aber nicht aufgelöst.

3. In Furth

„Die Süße des Lebens“. Wien 2006

Vorroman zu Das Matratzenhaus.

Hier wird das erste Mal ein Ort erfunden (bis jetzt: Immer genaue Infos über Ort); Kleinstadt

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an See, dahinter Berge – FURTH.

In beiden Romanen ist die Detektivfunktion auf 2 Figuren verteilt: - Psychiater Raffael Horn- Kriminalkommissar Ludwig Kovacs

„Die Süße des Lebens“: Rachemord an NS- Täter; aber Kinder haben wichtige Rolle: Kleines Mädchen- Tatzeugin; kleiner Junge: gewalttätig, weil er auch Gewalt erfahren hat

Beide Romane sind sehr unübersichtlich, zumindest auf den ersten Blick. In Wahrheit ist die Komposition aber transparent. Bsp. „Das Matratzenhaus“:

23 Kapitel, Prolog: „Wie es gewesen sein muss“ -> Diese Vorgabe wird im letzten Kapitel eingeholt: der Kommissar stellt sich vor, wie es gewesen sein muss.

Prolog: Präsens, filmische Perspektive. Frau mit kleinem Mädchen ist unterwegs; Dabhol in indischer Provinz. Schlangenbeschwörer: kleiner Stein (Schlangengift); Frau übergibt Kind gegen Geld an drei ausländische Personen- erstes Verbrechen: Menschenhandel (weltweit 1,2 Mio Kinder) Dann: Abfolge der 23 Kapitel

1. Präsens- Lehrerin Stella. Lehrerin von 4 beteiligten Kindern; psychisch leidend; gescheiterte Ehe, Selbstverletzerin. Schizophrener Pater- komplizierte Beziehung

2. Präteritum, 3. Person: Horn; Spitalsarzt, betroffene Kinder und Täter. Tobias- Ablösungsphase- Vater- Sohn- Probleme

3. Präteritum- Kovacs; 16 jährige Tochter4. Ich- Erzählerin, Fanni, 13 Jahre. Indisches Mädchen, Pflegeeltern. Hat kleine

Schwester, Switi, erhalten (Kind aus Prolog); Susi. 3 ½ Jahre alt -> liegt 3 Jahre zurück.

Komposition folgt dann immer diesem Vierer- Schema Stella- Horn- Kovacs- Fanni.

Gegenwartshandlung: April bis Ostersonntag.

Vergangenheitshandlung (Fanni, Switi) wird nach und nach an Gegenwartshandlung heranerzählt, bis sie im 20. Kapitel in Gegenwartsgeschichte mündet.

Komplizierte Handlung-Rätselhafte Taten an Kindern werden untersucht: Felix, Britta, Sen wurden geschlagen; unbekannter Täter. Zeichnung von Britta: Glocke; jemand in einem Umhang „Schwarze Glocke“. Kinder sagen nichts, weil ihnen sonst „das Gleiche“ passiere.Viertes geschlagenes Kind- Julia= Opfer des Vaters (Vater hatte behauptet)

Schwarze Glocke= Deckverbrechen für schlimmeres Verbrechen.Fanni, Switi missbraucht; gefilmt worden; kleines Mädchen wurde getötet und das wurde

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auch gefilmt. Fanni hat Geheimorden von kindlichen Gefolgsleuten gegründet, die Film anschauen mussten, wurden dabei geschlagen = Einweihungsritual.Sie trug dabei eine Cuculla= Tracht. Täter besaß Tracht, weil er kurze Zeit einem Benediktinerorden angehörte. Wird auch Flocke genannt -> schwarze Flocke; die Kinder aber verstanden immer „schwarze Glocke“. Mit dem Ritual sollte Rache an Vater eingeleitet werden; Täter wird aber rechtzeitig überführt; Fanni zurück am Weg nach Indien.

4. Strafrechtlicher Kontext:

Falsche Spur- man hält Kinder für Opfer eines unbekannten Täters.

• Menschenhandel/Kinderhandel:

- 2,7 Mio. Menschen = Opfer von Menschenhandel, die zum Sex oder zum Arbeiten gezwungen werden. Drittgrößter Sektor des organisierten Verbrechens.

- 1,2 Mio Kinder weltweit (Kinderhandel)

- Opfer aus Osteuropa, Asien, Afrika. Ö: Durchreise, aber auch Zielland.

• Kindesmissbrauch:

Öst.: 10-20.000 Kinder/Jahr25% der Mädchen, 14% der Buben

- 0-5 Jahre: 40%- 6-12 Jahre: 43%- 12-16 Jahre: 15%StGB § 206 (schwerer sexueller Missbrauch von Unmündigen), Abs. 1:Wer mit einer unmündigen Person den Beischlaf oder eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung unternimmt, ist mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen.

-> (Strafrahmen derselbe wie z.B. bei Diebstahl eines Luxusautos)

Wien: Zentrum für Minderjährige ohne Begleitung2009: 121 Kinder; manche Opfer von Menschenhandel

Kindesmissbrauch

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Ö: jede 4. Familie!!!

Meist über mehrere Jahre Opfer von Misshandlungen. Meister Missbrauch: Beziehungsumfeld des Kindes -> Buben höherer Missbrauchsrate als bisher angenommen

Die beiden neuesten GesetzeBerücksichtigen Opferschutz

- schonende Einvernahme- Begleitung bei Gericht- Erhöhter Strafrahmen bei fortgesetzter Tat

a) Strafprozessreformgesetz (2008)b) Zweites Gewaltschutzgesetz (2009)

Roman reagiert auf diese Gesetze!!

Drittes Verbrechen im Buch:

• Kinderpornographie :

Bill (Täter): Erwerbstätig; fester Kundenstock

Seit 1994:(1) Wer eine pornographische Darstellung einer minderjährigen Person herstellt oder einem anderen anbietet, verschafft, überlässt, vorführt oder sonst zugänglich macht, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.

(3a [seit 2009]) Nach Abs. 3 wird auch bestraft, wer im Internet wissentlich auf eine pornographische Darstellung Minderjähriger zugreift.

(4) Pornographische Darstellungen Minderjähriger sind [...] wirklichkeitsnahe Abbildungen einer geschlechtlichen Handlung an einer unmündigen Person [...].

4) geht immer noch davon aus, dass das gespielt ist (fiktiv und nicht Realität); das stimmt aber nicht! Denn oft reale Szenen.

Im Buch: Vergewaltigung bis hin zur Tötung -> Snuff- Filme (= engl. eine Kerze auslöschen) Im Internet downloadbar!!!

Verhältnis zwischen Anzeigen und Dunkelziffer; wie auch zwischen Verurteilung und Anzeige geht auseinander!!

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207 b sexueller Missbrauch von Jugendlichen215 a Förderung der Prostitution von Minderjährigen

5. Kriminalistik und Psychiatrie:

Unzurechnungsfähigkeit: Bewusstseinsstörung, krankhafte Störung des Geistestätigkeit, Geistesschwäche -> keine Bestrafung wenn darunter leidet zum Zeitpunkt der Tat, denn man war dann unfähig, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln.

Romane in Grauzone zwischen Kriminalität und Psychose (deutet daraufhin : Detektivische Aufspaltung Kommissar, Arzt).

1835: James C. Prichard: Moral insanity: -> Geisteskrankheit kann auch dann vorliegen, wenn Patient intellektuell sehr gut ist. (Davor: unzurechnungsfähig, wenn sie wirklich halluzinierten.) Hatte keinen Einfluss auf zeitgenössische Rechtssprechung -> M’Naghten- Rules: Nach wie vor bei normaler Definition von Unzurechnungsfähigkeit geblieben

Heute:Anti soziale Persönlichkeitsstörung (=Antosocial Personality Disorder)

Für diese Diagnose muss vor dem 15 Lebensjahr eine Verhaltensstörung (Schule schwänzen, lügen, Diebstahl, Brandstiftung,….) aufgetreten sein.

Erwachsenenalter: Aggression, Betrug,… setzt sich fort. Betreffende können dabei sehr klug sein und ihre Taten gut kaschieren Reuelosigkeit; Schuld wird auf andere geschoben. Reicht nicht für Schuldunfähigkeit!!

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Wie können Opfer vor den Tätern beschützt werden?

Matratzenhaus: Tötungsfantasie Fannis: versetzt Steifvater, mit Ninja- Schwert ausgerüstet, Todesstoß. -> Rachemotiv doppelt fiktiv

Viele Gewaltopfer neigen zu aggressiven Fantasien gegen die Täter (gesund!)

Fanni: Therapieverlauf von Opfer selbst in Gang gesetzt -> Sicherung und Weitergabe der Tatbeweise; gut vorbereitete Flucht -> Verarbeitungsstrategie und Überlebenswille; gute Chancen auf Heilung.

6. Poetik

Detektionsvorgang: Protagonisten versagen. Lösung erst, als Fanni die Beweis-dvd ihrer Freundin Lara weitergibt - diese gibt sie der Lehrerin.

Suche nach schlagender Glocke führt auf die falsche Spur:

„Sie hat sicher nicht Glocke gesagt“, sagt sie, „sondern Dlocke, dwarze Dlocke. Glocke kann sie nicht, obwohl sie zweimal pro Woche zur Logopädin geht.“ „Du bist so etwas von genau“, sagt er, „manchmal ist mir das unheimlich.“ Es stimme natürlich, die Kleine habe nicht Glocke gesagt, sondern Dlocke oder vielleicht Slocke, wie es halt ihr Sprachfehler zulasse, aber erstens liege auf der Hand, dass es sich um eine Glocke handle, und zweitens sei das nicht so wichtig.

-> Kind hatte „Flocke“ gesagt; phonetisches Minimalpaar- macht Unterschied aus. Das hätte die Erwachsenen auf Personen, die Benediktinertracht haben, bringen können.

Leser hätte auch Zusammenhang herstellen können:S. 37 Indiz für Täter: Armin Possner erwähnt, jüngeres Pflegekind sei nach Indien zurückgeschickt werden müssen; ora et labora- Gesellschaft: Hinweis auf Benediktinermönch; und in Kirche erkennt Pater jemanden, der wegen Diebstahls aus dem Kloster geflogen sei.

Kommissar und Horn leiden darunter, dass sie nichts erkennen. (Vorgängerroman: Kovacs leidet darunter; hier: Horn leidet darunter):

„Irgendetwas habe ich übersehen, dachte Horn [...]. Er kam nicht drauf“ (20);„Am äußersten Rand seines Bewusstseins streifte ihn etwas Unangenehmes. Er bekam es nicht

zu fassen“ (31);„Es sind die Kleinigkeiten [...], es sind die Dinge, von denen man meinen sollte, dass die gar

nichts bedeuten“ (73);„Irgendetwas fehlte. Er kam nicht drauf.“ (81);„Darüber hinaus existierte noch diese seltsame psychische Fläue, das Gefühl, etwas

Wichtiges übersehen zu haben“ (255f.);„mir versagt die Wahrnehmung [...] ich sehe und höre Dinge nicht und ich schätze Menschen

falsch ein“

Wahrnehmungsdefizite, auch von Stella und vom Leser

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Aufmerksamkeit für kleine Zeichen sei beruflich notwendig (Hochgatter über seinen Beruf als Therapeut)

Roman: Kinder sind Modellfiguren solcher Aufmerksamkeit.-> Tobias: merkt, dass Katze sich komisch verhält- bringt Katze zum Arzt. Besteht somit rite de passage; hat verantwortungsvolles und mitfühlendes Verhalten eines Erwachsenen-> Lara, 7 Jahre, blind. Aufmerksamer als der Rest der Welt. Meisterin des Registrierens kleiner Zeichen. Wahrnehmungsparadox: Normalität (Funktionieren der Sinne) verleitet zum Unaufmerksamsein; Aufmerksamkeit nur durch Blockade der Sinne

7. Wirkung

Bücher verlangen forensisches LesenForensik= Lehre von Ermittlung und Analyse krimineller Taten. Aus Spuren muss ein Bild der Tat ermittelt werden; Indizien müssen gedeutet werden.

Kriminalistisches Sujet= Vehikel, um diese Art der Aufmerksamkeit hervorzurufen.

Bsp. Fanni zeigt Switi Umgebung; Betonviereck mit Eisenwinkel -> DVD das letzte ist zu sehen: eben dieser Betondeckel.-> Detail des Anfangs gehört zum Schauplatz eines Verbrechens!

[Der Vogel] macht zwei Sprünge zur Seite, bis zu dem überwachsenen Betonviereck mit dem Eisenring, fliegt aber nicht fort. (65)

Aus. Es ist der Augenblick, in dem nichts mehr von ihr zu sehen ist außer den Blasen auf der weißen Brühe. Links oben ein Stück von einem Betondeckel mit dem Eisenring. Ein paar Grashalme. Alles steht still. (278)

-> Soll uns in Aufmerksamkeit schulen

Thema verlangt gesellschaftliche Aufmerksamkeit -> Misshandlung, Missbrauch Viele Opfer und Zeugen erstatten keine Anzeige; viele schauen weg. (Also keine Aufmerksamkeit)

Inhaltliche Ebene: Appell, diese Aufmerksamkeit zu leisten.

Anspruch, dass Literatur Menschen in sozialen Tugenden ausbildet:

Lessing: Tragödie schult Mitleid- außerhalb des Theaters- Altruismus

Schiller: Theater schult Sympathie- Zusammenfühlen = Sympathie der Zuschauer wird gefördert.

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In der Praxis erfüllte sich diese Hoffnung jedoch nicht

-> Brecht: alternative Form des Theaters: Episches Theater schult Erkenntnis- Einsichtsfähigkeit des Publikums

Verbesserung des Menschen durch Literatur hat sich nicht bewährt.

Hochgatterer glaubt nicht, soziale Qualitäten könnten sofort hergestellt werden.Inhaltlich: Aufmerksamkeit auf Verbrechen, die täglich nebenan passieren. Aber Texte beziehen sich auch auf sich selbst zurück -> Leser wird gezwungen, so genau zu lesen, dass er seine Aufmerksamkeit unter Beweis stellen muss-> Risiko des Versagens (man versteht das Buch nicht)

Dupin, Holmes wissen alles besser - das machen Detektive des 21. Jh nicht mehr; sie sind nicht mehr genial, sondern versagen. Sie führen vor, wie unsere lesende und soziale Aufmerksamkeit versagt. Aufgabe dieser Texte, die sie uns aufgeben: Dass wir aufmerksamer sein sollen.

Die besten Beispiele von Krimiliteratur verhandeln erkenntnistheoretische Fragen: wie lässt sich der Täter erkennen? Gibt es Identität? Kann man sie eindeutig feststellen?

Auch rechtsphilosophische Probleme: Strafen?

Wie steht man zu Gewalt; zu dem Bösen?

Indizienparadigma= Modell für das Lesen von Literatur selbst schlechthin. Darauf verweist Krimiliteratur immer wieder.

Philologie= Lehre vom langsamen Lesen- wie ein Detektiv lesen; langsam; auf Details achten:

Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor Allem Eins heischt, bei Seite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden —, als eine Goldschmiedekunst und -kennerschaft des W o r t e s, die lauter feine vorsichtige Arbeit abzutun hat und Nichts erreicht, wenn sie es nicht lento erreicht. Gerade damit aber ist sie heute nöti-ger als je, gerade dadurch zieht sie und bezaubert sie uns am stärksten, mitten in einem Zeitalter der „Arbeit“, will sagen: der Hast, der unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit Allem gleich „fertig werden“ will, auch mit jedem alten und neu-en Buche: — sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt gut lesen, das heißt langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen lesen ... Friedrich Nietzsche, Morgenröte (1881)