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VORWORT Ein „Fest der Erinnerung“ an den Freund, Kollegen und Lehrer Joseph Calbert war nach dem Willen und den Worten des damaligen Dekans des Fachbereichs Sprach- und Literaturwissenschaften Prof. Dr. Gerd Hentschel das zweitägige Colloquium im November 2002 zum Gedenken an den am 3. Juni 2001 Verstorbenen. Prof. Dr. Joseph Calbert, der seit dem Sommersemester 1974 anglistische Sprachwissenschaft an der Universität Oldenburg lehrte, hat in all seinen unterschiedlichen Ämtern das Fach und den Fachbereich immer entscheidend mitgeprägt. Sein Engagement galt aber auch der Universität als Ganzem. Er argumentierte und stritt für die Erweiterung und Komplettierung des philologischen Spektrums, vor allem um einen romanistischen Studiengang. Ein Projekt, das bekanntlich scheiterte und bis heute zum Nachteil der Universität Oldenburg nicht realisiert werden konnte. Dass einem Wissenschaftler wie Calbert die Universität Oldenburg mit ihrem philologischen Angebot der Germanistik, Niederlandistik, Anglistik und Slawistik immer zu eng geraten war, ist angesichts seiner Biographie und Arbeitsschwerpunkte verständlich. Die Vorträge des Colloquiums spiegeln den wahrhaft internationalen Lebensweg Joseph Calberts und

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Page 1: Leer - file · Web viewVorwort. Ein „Fest der Erinnerung“ an den Freund, Kollegen und Lehrer Joseph Calbert war nach dem Willen und den Worten des damaligen Dekans des Fachbereichs

VORWORT

Ein „Fest der Erinnerung“ an den Freund, Kollegen und Lehrer Joseph Calbert war nach dem Willen und den Worten des damaligen Dekans des Fachbereichs Sprach- und Literaturwissenschaften Prof. Dr. Gerd Hentschel das zweitägige Colloquium im November 2002 zum Gedenken an den am 3. Juni 2001 Verstorbenen.Prof. Dr. Joseph Calbert, der seit dem Sommersemester 1974 anglistische Sprachwissenschaft an der Universität Oldenburg lehrte, hat in all seinen unterschiedlichen Ämtern das Fach und den Fach-bereich immer entscheidend mitgeprägt. Sein Enga-gement galt aber auch der Universität als Ganzem. Er argumentierte und stritt für die Erweiterung und Komplettierung des philologischen Spektrums, vor allem um einen romanistischen Studiengang. Ein Projekt, das bekanntlich scheiterte und bis heute zum Nachteil der Universität Oldenburg nicht realisiert werden konnte.Dass einem Wissenschaftler wie Calbert die Universität Oldenburg mit ihrem philologischen Angebot der Ger-manistik, Niederlandistik, Anglistik und Slawistik immer zu eng geraten war, ist angesichts seiner Biographie und Arbeitsschwerpunkte verständlich. Die Vorträge des Colloquiums spiegeln den wahrhaft internationalen Lebensweg Joseph Calberts und seine weitgespannten Forschungsinteressen: allgemeine Sprachwissenschaft in der angelsächsischen Tradition und Ausprägung, französischsprachige Philosophie und Linguistik, Sprache und Kultur der arabischen Länder.

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Ausgewählt worden sind für die „Oldenburger Universitätsreden“ drei Vorträge von Weggefährten und Kollegen Joseph Calberts, denen ein einführendes Gedenken von Prof. Dr. Winfried Boeder vorangestellt ist: „Das vorliegende Bändchen ist eine bescheidene Hommage an J. Calberts Denken und Wirken.“ Mit dem Bezug auf das folgende, gleichsam zweite Vorwort des kompetenteren Kollegen Boeder kann diese Vorrede denn auch kurz bleiben.

Oldenburg, Dezember 2003 Hans-Joachim Wätjen

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WINFRIED BOEDER

Zum Gedenken an Joseph P. Calbert

Wir gedenken in diesem Heft unseres Freundes, Kollegen und Lehrers, Professor Dr. Joseph Calbert, der vor zwei Jahren, am 3. Juni 2001, von uns gegangen ist.J. Calbert wurde am 28. VIII. 1938 in Braine l’Alleud in Belgien geboren. Er kam aus einer zweisprachigen Bauernfamilie: Sein Vater war Wallone, seine Mutter war Flämin. Er erhielt eine klassische französische Ausbildung am Collège Cardinal Mercier und studierte an der Universität Löwen Germanistik und Anglistik. Nach seinem Lizentiatsexamen unterrichtete er Englisch an seiner ehemaligen Schule (1962-1964) und war dann vier Jahre lang Gymnasiallehrer für Englisch in Carthago (Tunesien). Im Jahr 1968 ging er an die Indiana University in Bloomington (USA), wo er als „Associate Instructor“ für Niederländisch und Deutsch arbeitete und seine sprachwissenschaftliche Dissertation schrieb, mit der er sich in ein Grenzgebiet zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft begab und die als die seit Jahren beste beurteilt wurde, die am Germanic Department eingereicht worden war. Anschließend lehrte J. Calbert von 1971 bis 1973 als „Assistant Professor“ an der Universität von Western Ontario in London (Kanada). Nach einer kurzen Gastprofessur an der Universität zu Köln nahm er zum Sommersemester 1974 einen Ruf an die neugegründete Universität Oldenburg an und lehrte seitdem Sprachwissenschaft im Fach Anglistik. Sein Interesse

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am Arabischen brachte ihn noch mehrmals in Kontakt mit der einheimischen Wissenschaft arabischer Länder: Im Frühjahr 1985 war er Gastprofessor an der Jarmuk-Universität in Amman (Jordanien) und im Herbst 1988 übte er Lehr- und Forschungstätigkeit in Tunis aus. J. Calberts Interessen gingen weit über die Anglistik im engeren Sinne hinaus: Er verstand seine Sprachwissenschaft immer auch als allgemeine Sprachwissenschaft, und seine weitgespannten In-teressen umfassten viele grundlegende Probleme der Semantik, insbesondere der Metapher und der Ikonizität. Dabei beherrschte er nicht nur die angelsächsische Tradition, die ihn in Amerika geprägt hatte, sondern er griff auch immer wieder Ansätze der französischsprachigen Philosophie und Linguistik auf. Seine lange Beschäftigung mit dem Arabischen öffnete ihm den Weg zu einer tiefen Einfühlung in die Tradition und Sprache des Nahen Ostens bis hin zu den semiotischen Aspekten arabischer Schriftkunst.J. Calbert hat sein Nachdenken über Sprache und seine Vertrautheit mit kontrastiver Sprachwissenschaft, Modalitäts- und Aspektsemantik, Theorie der Metapher, funktionaler Grammatik, kognitiver Sprachwissenschaft und vielen anderen Gebieten in vorbildlicher Weise und erfolgreich in seine Lehre eingebracht. Er unterrichtete sehr gern, und seine Studentinnen und Studenten haben dies dankbar gespürt. Die Lehre war ihm bis in die letzten Tage seines Lebens ein Herzensanliegen.Er hat das Fach Anglistik und den Fachbereich wesentlich mitgeprägt: oft als Fachkommissionsvorsitzender; als Fachbereichsvor-sitzender (d.h. nach heutiger Terminologie: Dekan) 1978 bis 1979, dann zwei Jahre lang von 1991 bis 1993; und als Mitglied des Fachbereichsrats 1977-78, 1981-

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ZUM GEDENKEN AN JOSEPH P. CALBERT 9

1985, 1993-1995. In all diesen Ämtern zeichnete sich J. Calbert dadurch aus, dass er seine Aufgabe sehr ernst nahm und sich verantwortungsvoll engagierte. Hervorzuheben ist z.B. sein Engagement für eine Erweiterung und solide Institutionaliserung der Sprachkurse, u.a. durch seinen Einsatz für den Unterricht der romanischen Sprachen, des Arabischen und anderer Sprachen, die an unserer Universität nicht in Fächern verankert sind. Er hat wesentlich zur schließlichen Einrichtung des heutigen Sprachenzentrums der Universität beigetragen und damit zur Schaffung von etwas, was an jeder Universität zur normalen Ausstattung gehört. Vor allem aber ist sein vorbildliches Bemühen um eine Einführung der Romanistik zu erwähnen, auch wenn dieses Projekt gescheitert ist: Seit 1980 hatte es viele einschlägige Beschlüsse der Gremien der Universität gegeben, und die Landesregierung hatte die Einrichtung der Romanistik bald versprochen, bald abgelehnt, bald verschoben. Im Januar 1993 organisierte J. Calbert eine Tagung: „Romanistik – Die Bedeutung eines Studien-ganges und des Fremdsprachenlernens von Französisch und Spanisch für die Carl von Ossietzky-Universität, die Stadt Oldenburg und das nördliche Niedersachsen“; es waren alle Personen und Institutionen vertreten, die in der Nordwestregion an diesem Projekt interessiert sein konnten. Die Tagung war ein großer Erfolg, aber danach überwogen andere Interessen, und die vorgesehenen Stellen fanden andere Verwendung.

* * * * *Der frühe Tod von J. Calbert ist ein schmerzlicher Verlust. Wir vermissen einen lieben und stets zuverlässigen Freund und Kollegen, seine heitere Freundlichkeit, sein Spannungen ausgleichendes Wirken, sein mutiges Eintreten für Gerechtigkeit, aber

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auch seinen vorbildlich sachbezogenen Umgang mit Problemen der Selbstverwaltung und sein Bemühen, deren Ideologisierung zu vermeiden; wir gedenken dankbar seines Engagements in der Anglistik und während der Zeit seines Dekanats; und wir erinnern uns an das intellektuelle Vergnügen, mit dem er Kollegen und Studierende an seiner behutsam gewonnenen Einsicht in sprachliche Bedeutung und sprachliche Zeichen hat teilhaben lassen. Das vorliegende Bändchen ist eine bescheidene Hommage an J. Calberts Denken und Wirken.

* * * * *Vom 22. bis 23. XI. 2002 fand ein Colloquium zur Erinnerung an J. Calbert statt. In Anwesenheit der Familie Calbert würdigten am ersten Tag der Dekan des Fachbereichs Sprach- und Literaturwissenschaften, Professor Dr. Gerd Hentschel, und die Vizepräsidentin der Universität, Dr. Marion Rieken, Person und Wirken des Verstorbenen. Professor Claude Vandersleyen von der Universität Löwen, J. Calberts Lehrer am Gymnasium und späterer Freund, fand persönliche Worte der Erinnerung; Professor Dr. Heinz Vater von der Universität Köln, ein alter Freund seit gemeinsamer Zeit in Bloomington, skizzierte den wissenschaftlichen Werdegang J. Calberts und würdigte seine wissenschaftlichen Arbeiten; Dr. Florian Panitz sprach über die Zeichentheorie bei J. Calbert. Schließlich sprach Professor Dr. Rainer Grübel über „Krise der Sprache und Sprache der Krise in der russischen Moderne“ – ein Festvortrag, da die Zusammenkunft, wie der Dekan es ausdrückte, ein „Fest der Erinnerung an Joseph Calbert“ sein sollte. Am nächsten Tag fanden sich Freunde, Kollegen, Schüler und Bekannte zu-sammen, um das Andenken J. Calberts mit Vorträgen über spezielle sprachwissenschaftlichen Themen zu

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ZUM GEDENKEN AN JOSEPH P. CALBERT 11

ehren: Professor Dr. Gisa Rauh (Universität Wuppertal): „Referentielle Argumente und syntaktische Effekte“; Professor Dr. Günther Radden (Universität Hamburg): „Der progressive Aspekt in der kognitiven Grammatik“; Holger Becker (Universität Oldenburg): „Zur Metaphorizität in der Mathematik des 19. Jahrhunderts“; Claudia Börger (Universität Hannover): „Wortbildungsprozesse aus kognitiver Sicht. Eine Analyse komplexer Präpositionallexeme“; Dr. Thomas Menzel (Universität Greifswald): „Zur Markiertheit sekundärer Funktionen des Kasus Instrumental in slavischen Einzelsprachen“; PD Dr. Rüdiger Harnisch (Universität Bayreuth): „Re-konstruktioneller Ikonismus im Spracherwerb“; Professor Dr. Gerd Hentschel (Uni-versität Oldenburg): „Ikonizität und Transparenz bei sekundären Nominalen im Slavischen“; Dr. Florian Panitz (Universität Oldenburg): „Ikonizität der Wortbildung im Deutschen, Englischen und Arabischen“; Professor Dr. Winfried Boeder (Universität Oldenburg): „Verbale Lexikalisierungsmuster im Georgischen“, der auch die Ergebnisse des Colloquiums und ihren Bezug zum Werk von J. Calbert zusammenfasste. Es zeigte sich, dass die Vorträge in vielfältiger Weise explizit oder implizit auf Gedanken und Interessen von J. Calbert Bezug genommen hatten – als ein Zeichen bleibender Verbundenheit mit ihm nicht nur als Mensch, sondern auch als Wissenschaftler.

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HEINZ VATER

Joseph P. Calbert –Werdegang und wissenschaftliches Werk

1. EinleitungIch lernte Joseph Calbert – von mir wie auch von seinen anderen Freunden „Josse“ genannt – im August 1969 in Bloomington/ Indiana kennen. Er war damals bereits ein Jahr als Lektor für Deutsch und Niederländisch am Department of German der Indiana University tätig. Ich war gerade aus Hamburg angekommen, um die Stelle eines „associate professor“ an dieser Universität anzutreten, als ich gebeten wurde, in der Promotionskommission für Josse Calbert mitzuarbeiten. Ich sagte zu und er kam zu mir, um sich mir vorzustellen. Nach einem kurzen Gespräch mit ihm gewann ich einen sehr günstigen Eindruck sowohl von Josse Calbert als Person und als Wissenschaftler als auch von der Art und Weise, wie er die Dissertationsthematik bearbeitete. Ich hatte sofort den Eindruck, dass ich in ihm einen kompetenten Gesprächspartner in linguistischen Fragen finden würde. Was ich damals noch nicht wusste, war, dass ich in ihm auch einen guten Freund finden würde, auf dessen Rat und Hilfe ich immer bauen konnte.

2. PromotionZunächst galt es jedoch, die Doktorarbeit über Stil und Bedeutung in der Sprache von Trakl und Rilke zu

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betreuen und zu begutachten, die J. Calbert 1971 abschloss und an der Graduate School der Indiana University einreichte. Sie wurde im Oktober 1972 ange-nommen und erschien 1974 im Niemeyer-Verlag Tübingen unter dem Titel: Dimensions of Style and Meaning in the Language of Trakl and Rilke. In dieser Studie untersucht J. Calbert semantische Dimensionen in der Sprache von Georg Trakls Gedichten, im Kontrast mit der Sprache in Rainer Maria Rilkes (und teilweise in Georg Heyms und Stefan Georges) Gedichten. Er unternahm statistisch-semantische Analysen von Trakls Wortschatz, um stilistische Charakteristika herauszuarbeiten. Das war keine leichte Aufgabe, da er – wie andere Trakl-Forscher – den Sinn vieler dunkler und symbolträchtiger Passagen ermitteln musste, bevor er eine adäquate linguistische Analyse liefern konnte. Diese für Linguisten wie Literaturwissenschaftler im gleichen Maße wichtige Aufgabe wurde ergänzt durch die Erarbeitung von Kriterien für die semantische Interpretation poetischer Sprache, wobei die Frage: „Wie kann die Verbindung von Wörtern zu Sätzen und von Sätzen zu Texten einen bedeutungsvollen Diskurs ergeben?“ (CALBERT 1974: 19) eine wichtige Rolle spielte. J. Calberts theoretische Fundierung semantischer Textanalysen können heute noch Semantikern und Textlinguisten als Richtschnur dienen.

3. Andere PublikationenIch will im Folgenden noch einige der Publikationen herausgreifen, die mir besonders bedeutsam erscheinen. Im Jahr 1978 übersandte mir Josse Calbert ein von ihm und Jan Aarts verfasstes Manuskript zur Semantik von Adjektiv-Nomen-Kombinationen, das ich in meiner Eigenschaft als Mitherausgeber der Reihe

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Linguistische Arbeiten beim Niemeyer-Verlag, Tübingen, begutachtete und für den Abdruck in der Reihe empfahl. Es erschien 1979 unter dem Titel: Metaphor and Non-Metaphor. The Semantics of Adjective-Noun Combinations. In diesem Buch untersuchen die Autoren nicht nur die Semantik von Nominalphrasen, sondern diskutieren auch eingehend die theoretischen Grundlagen semantischer Analysen. Auf der Grundlage der damals von KATZ/FODOR (1963) vorgelegten Semantiktheorie der generativen Grammatik erarbeiten sie ein Netz semantischer Merkmale, wobei sie einen wichtigen, bis dahin nicht beachteten Unterschied zwischen echt-binären und pseudo-binären Merkmalen machen:The main difference between true binary features and pseudo-binary features is that with the former the posit-ive and negative values of the feature each identify a class, whereas with the latter it is only the positive value that identifies a class. For example, the true bin-ary feature [±MALE] does not set up two classes: the value [–MALE] does not only specify, negatively, that the item to which it is assigned does not belong to the class of males, but also, positively, that it belongs to the class of females. A pseudo-binary feature like [±VEHICLE] only specifies that the item to which it is assigned does not belong to the class of vehicles. (AARTS – CALBERT 1979: 19).Bei echter Binarität wie [±MALE] bilden der positive und der negative Wert jeweils eine eigene Klasse; bei pseudo-binären wie [±VEHICLE] identifiziert nur der positive Wert eine Klasse. Die Autoren veranschaulichen den Unterschied durch Grafiken:

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Abb. 1 a b

X x x x x

X x x x x x x x

X x x x x

(Aarts/Calbert 1979:19)

Metaphern spielen in dem Buch, wie der Titel schon andeutet, eine zentrale Rolle. Die Autoren definieren „Metapher-Ausdruck“ (S.12) dahingehend, dass der vom Sprecher/Schreiber intendierte Referent nicht zu den normalerweise erwartbaren Referenten des Ausdrucks gehört:We may speak of a metaphorical expression if one of the senses of one of the terms composing the expres-sion has a referent that does not belong to the refer-ence class denoted by that sense.Hören wir den Ausdruck eloquent stars, so wissen wir, dass Redseligkeit keine normale Eigenschaft von Sternen ist, dass diese merkwürdige Kombination zweier Wörter also anders zu deuten ist. Ich habe das Buch wegen der anschaulichen Darstellung se-mantischer Strukturen (insbesondere metaphorischer Ausdrücke) und der instruktiven Erörterungen zur Theorie und Methodik der Semantik immer gern in meinen Seminaren und Vorlesungen benutzt und Studenten zur Lektüre empfohlen.

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Der Metaphern-Thematik ist auch CALBERTs Aufsatz „Metaphern über Sprache“ gewidmet. Er hebt hervor, dass Sprachbenutzer im allgemeinen ohne Schwierigkeiten mit Metaphern umgehen können, obwohl ihr Gebrauch oft größeres Nachdenken auf Seiten des Hörers bzw. Lesers erfordert. Metaphern sind nicht das Privileg der Dichter; sie sind allgegenwärtig. In Anlehnung an LAKOFF/JOHNSON (1980) nimmt CALBERT an, dass auch normale Sprache metaphorisches Denken voraussetzt, dass viele unserer Kultur zugrundeliegenden Metaphern oft “ungeahnt“ bleiben. Dazu gehören auch Metaphern über Sprache. Beliebte und häufig verwendet sind Metaphern aus dem organischen Bereich, Sprache wird als Lebewesen behandelt. Man denke nur an Bezeichnungen wie Sprachverwandtschaft, Sprachfamilie, Muttersprache, Tochtersprache, Blütezeit, Erstarrung, Fossilierung, Verfall, Sprach-Tod usw. Auch ein zentraler Terminus der Linguistik wie Wurzel ist eine Metapher aus dem organischen Bereich. Hierher gehören auch Bezeichnungen aus dem Bereich der Valenz wie Aktant bzw. Mitspieler für die von einem Verb (oder einem Wort einer anderen Klasse) regierten Elemente. Für CALBERT ist es kein Zufall, dass sich die wesentlichen Metaphern für Sprache, ihre Eigenschaften und Bestandteile auf einige Grundmetaphern reduzieren lassen. Die Metaphernthematik behandelt Calbert auch in seinem Aufsatz “Iconicité et attitudes linguistiques“ in der sprachwissenschaftlichen Zeitschrift Linguistica Communicatio.In seinem umfangreichen Aufsatz „Towards the Semantics of Modality“ (1975) setzt sich CALBERT kritisch mit dem damaligen Forschungsstand im Bereich der Modalität auseinander, der durch mangelnden Konsens in Bezug auf die Abgrenzung des Modali-

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tätsfeldes und Unkenntnis charakteristischer semantischer Eigenschaften von Modalkonstruktionen gekennzeichnet ist. Er bemüht sich daher, die den Modalkonstruktionen zugrunde liegenden konzeptuellen Grundbedeutungen herauszuarbeiten, die durch vom Kontext beigesteuerte Konnotationen (“overtones“) gefärbt sein können. Anhand der Modalverben (die er als Vollverben ansieht) arbeitet er heraus, dass ein bestimmter Modalitätsgrad in allen Sprechakten enthalten ist. In Anlehnung an HALLIDAY (1970) definiert er Modalität als Einstellung des Sprechers zum Inhalt des Gesagten. Diese Einstellung bezieht sich bei inferenziell verwendeten Modalverben auf die vom Sprecher angenommene Wahrscheinlichkeit in Bezug auf den Wahrheitsgehalt der Äußerung (vgl. Hans muss/wird/kann zu Hause sein)1, bei nicht-inferenzieller Verwendung auf den Grad der Volition oder Erlaubnis in einem Satz (vgl. Hans muss/soll/will/darf/kann einen Bericht schreiben).2 Es gelingt ihm, eine für beide Verwendungen im Prinzip einheitliche zugrunde liegende Struktur anzusetzen. Hervorzuheben ist, dass CALBERT zu den ersten Linguisten gehört, die sich der kognitiven Funktion von Sprache bewusst sind – lange vor Herausbildung der „kognitiven Linguistik“ –, wie seine Bemühung um Auffindung konzeptueller Strukturen zeigt. Deshalb ist es kein Zufall, dass heute, wo der kognitive Aspekt von Sprache im Mittelpunkt

1 1 Muss bezeichnet einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad, wird einen mittleren, kann einen niedrigen.

2 In traditioneller Terminologie spricht man von subjektiver und objektiver Modalität, in logischer Terminologie (die sich in der neueren Linguistik durchgesetzt hat) von deontischer und epistemischer.

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steht, dieser Aufsatz (CALBERT 1975) wieder öfter zitiert wird.

4. PersönlichesBereits in den USA verband mich eine enge Freundschaft mit Josse Calbert, die auch seine Frau Marie Thérèse und seine Kinder einbezog. Josse war Trauzeuge bei meiner Hochzeit in Bloomington/Indiana. Wir unternahmen gemeinsam Reisen und Ausflüge. Ich besuchte ihn mehrmals in London/Ontario und in Oldenburg. Mit Josse Calbert konnte ich zu jeder Zeit über alle sprachwissenschaftlichen, aber auch universitären Probleme sprechen, mit denen man ja als Lehrstuhlinhaber ständig konfrontiert wird. Ich schätzte immer seinen klugen (oft in humorvoller Form verab-reichten) Rat und konnte mit ihm immer ausgiebig alle Aspekte eines Problems erörtern. Naturgemäß war unsere Gemeinschaft besonders eng in der Zeit unseres gemeinsamen Aufenthalts in Bloomington/Indiana und während seiner Gastprofessuren in Köln. In Bloomington hatten wir beide nicht weit voneinander entfernte study rooms in der riesigen, wunderbar ausgestatteten Universitätsbibliothek, in der man praktisch Tag und Nacht verbringen konnte. Die Bibliothek war bis 2 Uhr nachts geöffnet. Man hatte nicht nur Bücher zur Verfügung (die study rooms erhielt man immer in der Nähe der benötigten Bücher, in diesem Fall also in der germanistisch-linguistischen Unterabteilung). Man konnte in der Cafeteria essen und notfalls sogar im study room schlafen (jedenfalls ging das Gerücht, dass einige besonders eifrige Bücherwürmer in ihrem study room schliefen). Wir richteten es meistens so ein, dass wir zur gleichen Zeit an der Bibliothek waren, um dann gemeinsam eine Ess- und Diskussionspause einzulegen.

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5. SchlussJoseph Calbert war ein sehr kompetenter Linguist, dem wir viele Anregungen, vor allem in den Bereichen Semantik, Textlinguistik und Kontrastive Grammatik zu verdanken haben. In vielerlei Hinsicht, so insbesondere bei der semantischen Analyse deutscher und englischer Modalverben, hat er spätere Entwicklungen vor-weggenommen. Darüber hinaus war er ein engagierter Hochschullehrer, der seine Studenten und Doktoranden hervorragend betreut und beraten hat, wie nicht zuletzt die unter seiner Anleitung verfassten Staatsexamens- und Doktorarbeiten bezeugen. Zu erwähnen ist z.B. die bemerkenswerte textlinguistische Dissertation von Florian PANITZ (1998). Vor allem aber war Josse Calbert ein warmherziger, liebenswerter, stets hilfsbereiter Mensch, dessen Esprit und Schlagfertigkeit, kluger Rat, aber auch intensive Anteilnahme am Geschick seiner Freunde und seiner Familie einen immer wieder beeindruckten. Wir werden ihm ein stetiges, liebevolles Andenken bewahren.

LiteraturAARTS, Jan M.G. – Joseph P. CALBERT 1979: Metaphor

and Non-Metaphor. The Semantics of Adjective-Noun Combinations (= Linguistische Arbeiten 74). Tübingen: Niemeyer

CALBERT, Joseph P. 1974: Dimensions of Style and Meaning in the Language of Trakl and Rilke. Contributions to a Semantics of Style (= Linguistische Arbeiten 17). Tübingen: Niemeyer.

CALBERT, Joseph 1975: „Toward the Semantics of Modality“. In: Joseph CALBERT – Heinz VATER: Aspekte der Modalität (= Studien zur deutschen Grammatik 1). Tübingen: Narr, 1-70.

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CALBERT, Joseph P. 1981: Metaphern über Sprache. Manuskript. Universität Oldenburg.

CALBERT, Joseph P. 1989: „Iconicité et attitudes linguistiques“. Linguistica Communicatio. Revue internationale de linguistique générale 1/1 : 55-72.

CALBERT, Joseph P. 2000: Figurative Language. Compendium. Manuskript zum Hauptseminar, Sommersemester 2000. Universität Oldenburg.

CALBERT, Joseph P. – Florian Panitz 2001: „Case Variation in Modern Arabic“. In: W. BOEDER – G. HENTSCHEL (Hrsg.): Variierende Markierungen von Nominalgruppen in Sprachen unterschiedlichen Typs (= Studia Slavica Oldenburgiensia 4). Oldenburg: BIS-Verlag, 135-152

HALLIDAY, M. A. K. 1970: „Functional diversity in language as seen from a consideration of modality and mood in English“, Foundations of Language 6: 322-361

KATZ, J.J. – J. A. FODOR 1963: „The structure of a semantic theory“, Language 39: 170-210

LAKOFF, George – Mark JOHNSON 1980: Metaphors we live by. Chicago – London: The University of Chicago Press

PANITZ, Florian 1998: Die temporalen Elemente des Englischen und deren Zeitbezug in fiktionalen narrativen Texten (= Linguistische Arbeiten 377). Tübingen: Niemeyer

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FLORIAN PANITZ

Zeichentheorie und die Theorie der Ikonizitätbei Joseph P. Calbert

Als sein Schüler kannte ich Josse Calbert erst seit Anfang der 80er Jahre, so dass ich nur einen verhältnismäßig kleinen Teil seiner Laufbahn bis zum Ende direkt verfolgen konnte. Bei der Vielzahl seiner Interessen, die von Lexikographie über die klassische Philologie bis zur Arabistik reichten, fällt es mir schwer, ein besonderes Feld herauszuheben, das repräsentativ für Josse Calbert ist, ohne seine anderen Interessen und Arbeiten ungebührlich in den Hintergrund zu stellen. In den 80er und 90er Jahren bildete die Erforschung der Motiviertheit von sprachlichen Zeichen einen Schwer-punkt seiner Forschungen. In diesem Zusammenhang galt sein besonderes Interesse der Analyse ikonischer Phänomene in der Sprache, d.h. der Ähnlichkeit von sprachlichem Zeichen und dem durch das Zeichen Bezeichneten. Ich habe dieses Thema herausgegriffen, da ich Zeuge seiner Arbeiten auf diesem Gebiet als wissenschaftliche Hilfskraft und später als Doktorand sowie Mitarbeiter werden konnte. Josse Calberts Humor, seine Menschlichkeit, die Begeisterung für die Sache, seine Fähigkeit, andere ebenfalls zu begeistern, sowie sein fundiertes Fachwissen und die Kompetenz in vielen Sprachen werden mir immer ein Vorbild sein und sind, soweit es sich mir darstellte, auf diesem Feld besonders zum Tragen gekommen. Leider bleibt ein Teil seiner Ar-beiten wohl für immer unvollendet (und unpubliziert).

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20 FLORIAN PANITZ

Im folgenden werde ich kurz das von Josse Calbert im Rahmen der Ikonizitätsforschung entwickelte zeichentheoretische Modell besprechen, um dann auf Möglichkeiten der Behandlung pragmatischer Phänomene in dem von Calbert entwickelten Rahmen einzugehen. Die Ausführungen stützen sich dabei weitgehend auf private Aufzeichnungen von Josse Calbert, auf seinen reichen Schatz an Unterrichtsmaterialien soweit sie mir noch zur Verfü-gung stehen, und auf einige Analysen, die ich z.T. noch zusammen mit ihm durchgeführt habe.

1. Ein Modell sprachlicher MotivationTrotz, oder gerade wegen seines Interesses an ikonischen Phänomenen war die Vorgehensweise J. Calberts im Grunde strukturalistisch geprägt, d.h. er benutzte die von SAUSSURE postulierte Arbitrarität (und damit den nicht-ikonischen Charakter) der meisten sprachlichen Zeichen als Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Dieses wird zum Beispiel in der von ihm mitverfassten Einführung in die Sprachwissenschaft deutlich (BOEDER & CALBERT 2001: 6):Die sprachlichen Zeichen sind arbiträr (willkürlich, konventionell [...]); der Begriff stammt von SAUSSURE. Dies bedeutet, dass die Formen der Sprache nicht notwendigerweise mit der Bedeutung verknüpft sind. Die Entität „Käse“ wird z.B. in der menschlichen Sprache nicht zwangsläufig durch die sprachliche Form Käse ausgedrückt [...]. Deshalb kann „Käse“ auch im Englischen als cheese bezeichnet werden, im Französischen als fromage oder im Georgischen als q’veli. Genauso muss eine Frage nicht notwendiger-weise durch Umstellung von Subjekt und Verb ausgedrückt werden; vgl. Schläft sie? mit: Sie schläft?.

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ZEICHENTHEORIE ... 21

Es gibt aber auch sprachliche Zeichen, deren Bedeutung nicht zufällig ist, sondern wo die Form des sprachlichen Zeichens die Bedeutung mehr oder weniger vollständig abbildet (sog. ikonische Zeichen [...]), z.B. miaow, chuckle, giggle, splash usw. Diese Formen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, was sie bezeichnen; ähnlich bildet die Reihenfolge der Teilsätze in: She came in and sat down die Reihenfolge der bezeichneten Ereignisse ab, und Wörter mit kurzem i bezeichnen in vielen Sprachen bekanntlich etwas Kleines (dies trifft aber nicht auf alle derartigen Wörter zu, vgl. z.B. big), wie in: wee, teeny (aber: small), französisch pitit pitit, engl. chip vs. chop, nib vs. knob usw. [...].“Diese Darstellung folgt in Teilen BOLINGER (1975). Hier wird die Ikonizität, d.h. die direkte Änlichkeit von Zeichen und Bezeichnetem, als besondere Form der Motivation sprachlicher Formen betrachtet. Es wird aber auch deutlich, dass ikonische Phänomene auf unterschiedlichen Ebenen der Sprachstruktur zutage treten, wie z.B. der Syntax, dem Lexikon, oder der Morphologie. Man impliziert ebenfalls, dass die ikonische Motivation durch andere Motivationsmuster überschattet werden kann, z.B. dem Streben nach Ökonomie in der Sprachstruktur. Dieser Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Arten ikonischer Motivation und anderen Motivationen galt das besondere Augenmerk Calberts, d.h. der Abgrenzung des Begriffs „Ikonizität“ von „Nicht-Ikonizität“.Insbesondere angeregt durch die Diskussion bei GENETTE (1976), wies Calbert immer wieder auf die Vielfältigkeit der Motivation sprachlicher Zeichen hin. Er stützte sich dabei häufig auf die bereits bei Augustinus

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identifizierten Motivationsmuster (absteigender Grad der Motivation, vgl. CALBERT 1992):1. Klangimitation: hinnitus ‘Wiehern’ (Arab.

/hamhamal/): direkte Imitation; totale Mimesis;2. Konzeptuelle Gegensätze, die sich in der Form

wiederspiegeln: lene ‘mild, sanft’ vs. asperitas ‘Rauheit, Unebenheit’: Analogie auf der Basis gewisser Ähnlichkeit;

3. Konzeptuelle Ähnlichkeitsrelationen, die sich in formaler Ähnlichkeit zeigen: crus ‘Bein’ vs. crux ‘Kreuz’; indirekte Analogie;

4. Keine direkte Analogie, aber Metonymie durch Nähe: piscina ‘Bad’ zu piscis ‘Fisch’ ;

5. Konzeptuelle Gegensätzlichkeit zeigt sich in formaler Ähnlichkeit (bzw. Identität): bellum ‘Krieg’ vs. bellus ‘hübsch’; engl. terrible ‘fürchterlich’ vs. terrific ‘toll’; auch: terrific headache ‘schlimme Kopfschmerzen’ vs. terrific concert ‘tolles Konzert’;

6. reine Konvention.Aufgrund der Vielfältigkeit der obigen Relationen zwischen Form und Bedeutung folgert CALBERT (1989), dass die Zweiteilung des Zeichens nach SAUSSURE zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem nicht ausreichend sei, um der Komplexität des Phänomens der Ikonizität (und der Motivation im allgemeinen) gerecht zu werden:

“Zweiteilung“ des Zeichens nach SAUSSURE:Bezeichnendes, z.B. Haus

Arbiträre Beziehung (Ikonizität nur als

Sonderfall)

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ZEICHENTHEORIE ... 23

Bezeichnetes, z.B.

Die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem ist nach SAUSSURE arbiträr und invariant. Diese invariante Beziehung ist Teil der „langue“, d.h. des Wissens, das der gesamten Sprachgemeinschaft zur Verfügung steht. CALBERT geht nun davon aus, dass womöglich das gesamte System der Sprache in irgendeiner Form auch ikonische Eigenschaften aufweist, und dass Ikonizität nicht nur eine Eigenschaft des der gesamten Sprachgemeinschaft zur Verfügung stehenden Systems ist, sondern auch eine Motivierung sprachlicher Zeichen durch den individuellen Sprecher (und nicht zuletzt durch den die Sprache Analysierenden!) darstellen kann (1989: 56):Ma thèse sera que presque tout dans la langue peut être doué de propiétés iconiques, soit que ces proprié-tés soient déjà conventionalisées dans le système lin-guistique, soit qu’elles soient le résultat d’un usage par-ticulier, soit qu’elles soient projetées sur la langue par l’examinateur soucieux d’y voir un reflet de ses propres prédilections.CALBERT schlägt anstatt der SAUSSURE’schen zweiteiligen Zeichenkonzeption ein auf vier Ebenen beruhendes Modell sprachlicher Bezugnahme vor (1989: 57), das folgende Charakteristika aufweist: Es berücksichtigt die von OGDEN und RICHARDS (1926) und anderen eingeführte Ebene des „Konzepts“ und der „Konzeptualisierung“ neben dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten und es schließt die zeitliche, räumliche und subjektive Positionierung des Sprechers (und Hörers) im Kommunikationsprozess als relevanten

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Parameter mit ein (hier folgt Calbert BÜHLER 1934; Adaption und deutsche Übersetzungen von mir):

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ZEICHENTHEORIE ... 25

Ebenen

I Welt (monde) Erfahrung /experience Sprecher (locuteur)

Konzeptualisierung(conceptualisation)

II Kennzeichnendes (des individuellen Sprechers)(désigné)

Symbolisierung (activité symbolique)

III Bezeichnetes (singifié)phonolog.

Bezeichnendes (signifiant) FormGraphisch

IV Element in der Sprache andere Elemente(entité de la langue) (autre entité)

Paradigma (paradigme)

Ebene III stellt hier wieder die „Doppelseitigkeit“ des sprachlichen Zeichens nach SAUSSURE dar. CALBERT geht von der Annahme einer nicht-ikonischen Beziehung (d.h. arbiträren Beziehung) auf dieser Ebene aus und behält somit die SAUSSURE’sche Zeichenkonzeption als ein Modul in seinem Modell bei. Er bemerkt in Bezug auf diese Ebene III (1989: 58; meine Hervorhebungen):

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[...] la relation iconique, liée au phénomène de la moti-vation, ne se situe pas à ce niveau [d. h. auf Ebene III]. Par ailleurs, l’iconicité est souvent comprise comme un rapport direct entre le signifié et le monde [...] ; nous montrerons qu’il n’en est rien non plus et qu’il s’agit essentiellement d’un rapport indirect par la mé-diation du désigné.Im Gegensatz zu früheren Ansätzen betrachtet CALBERT also ikonische Beziehungen nicht als direkte Beziehungen zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem, sondern als indirekte Beziehung, bei der die Motivierung sprachlicher Zeichen durch den individuellen Sprecher eine Rolle spielt. Als Vermittlungsgröße führt CALBERT den Parameter „désigné“ (Kennzeichnendes) ein. Das désigné wird als Konstrukt des individuellen Sprechers angesehen. Es ist das Resultat der Konzeptualisierung, die auf den Er-fahrungen des individuellen Sprechers beruht. Calbert verschiebt somit das Phänomen der Ikonizität von der Ebene invarianter Bedeutungen der Zeichen auf die Ebene des von Individuum zu Individuum variablen Sprachgebrauchs. Dies öffnet die Möglichkeit, Ikonizität als ein pragmatisches Phänomen (z.B. des kontextuell „adäquaten“ Sprachgebrauchs) zu betrachten.

2. Arten ikonischer MotivationDas obige Modell erlaubt es, zwischen direkter und indirekter Motivation zu unterscheiden. Diese Unterscheidung führt CALBERT wie folgt durch:

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ZEICHENTHEORIE ... 27

(a)

Welt (monde) (I) désigné (II) Bezeichnendes (signifiant) (III)

(= Form)

(b) (b)

(c)

1. morphologische Varianten 2. formale Ähnlichkeiten

Während im Fall (a) eine direkte Relation zwischen Bezeichnendem und der Welt hergestellt wird, erfolgt bei (b) die Herstellung dieser Beziehung auf indirektem Wege über die Ebene des „désigné“, welche sprecherabhängig ist. Rein formale Ähnlich-keitsbeziehungen und morphologische Varianten im Sinne von (c) werden bei CALBERT als nicht-ikonisch definiert:(a) motivation „directe“ (iconicité „au sense strict“)(b) motivation „indirecte“ (iconicité „indirecte“)(c) motivation „indirecte“ (non iconique)Als Resultat erhalten wir eine Unterteilung, bei der Phänomene wie morphologische Ähnlichkeiten, die häufig als ikonisch angesehen werden, nicht mehr unter die Kategorie der Ikonizität fallen.

3. Die pragmatische DimensionIn ihren auch von CALBERT sehr geschätzten Werken widmet sich Anna WIERZBICKA des Problems der Relation

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zwischen invarianten semantischen Bedeutungen der Zeichen (CALBERTs Ebene III). Sie analysiert insbesondere Alternationen im Sprachgebrauch, die tra-ditionell als Charakteristika individuellen Sprachgebrauchs angesehen werden oder die Klassifikation der sog. „freien“ Variation erhalten bzw. anhand pragmatischer (vor allem sprechakttheoreti-scher) Parameter ihre Erklärung finden. WIERZBICKA analysiert insbesondere semantisch „redundante“ Formen wie nachgestellte Fraugesätze (“tag questions“; die Interpretationen in Klammern beruhen auf WIERZBICKA 1991):

(1) Close the door, will you?(Wir wissen nicht, ob der Hörer tatsächlich die Tür schließen wird.)(2) Close the door, won’t you?(Wir gehen davon aus, dass das Schließen der Tür dem Hörer zugute kommt und dass er gehorchen wird.)(3) Close the door, can’t you?(Wir drücken unsere Unzufriedenheit mit der geöffneten Tür aus, aber wir gehen gleichzeitig davon aus, dass der Hörer die Tür nicht schließen wird.)

Anstatt wirklich neue Informationen zu geben, wiederholen die nachgestellten Fragen im Hauptsatzes gegebene temporale und modale Informationen. Wie die obigen Interpretationen von Wierzbicka zeigen, erfüllen die Alternationen jedoch auch eindeutig identifizierbare pragmatische Funktionen, die zu eindeutigen Interpretationen führen. Es kann ebenfalls erwartet werden, dass derartige Alternationen sprachspezifisch sind. Während WIERZBICKA derartige Phänomene direkt auf zugrundeliegende semantische

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ZEICHENTHEORIE ... 29

(invariante) Bedeutungen zurückführt, können wir im Rahmen des Modells von CALBERT diese Phänomene als indirekte Motivation darstellen, die auf Wechselwirkungen der unterschiedlichen Ebenen seines Modells beruht. Beispielsweise können die nachgestellten Fragesätze negative Polarität ausdrücken (Close the door, can’t you?), bei der die positive Form durch einen negativen Fragesatz ergänzt wird oder umgekehrt, und sie können positive Polarität zum Ausdruck bringen, bei der Kongruenz in der Modali-tät des Hauptsatzes und der nachgestellte Frage herrscht (You’re completely broke, are you?). Wir stellen fest, dass positive Polarität ein offensichtlicherer Fall der Wiederholung von Informationen ist, als negative. Daher werden wir zunächst erwarten, dass die natürliche Funktion von Äußerungen mit positiver Polarität diejenige der Zusammenfassung des vorher Gesagten ist, oder die Betonung der vorhergehenden Information. Dieses zeigt sich in den Interpretationen Wierzbickas:

A.: Can you lend me some money?

B: You’re completely broke, are you? (d.h. ich folgere dies auf der Basis des vorher

Gesagten)im Gegensatz zu:

B: You’re complete broke, aren’t you?(allgemeinere Frage, „neutraler“ im Hinblick auf eindeutige Beweise)

Wir können dies als folgende Definition des relevanten „désigné“ nach CALBERT zusammenfassen: Positive Polarität bedeutet ‘Wiederholung’ und daher ‘Betonung’/‘Schlussfolgerung’. Im Hinblick auf negative Polarität folgern wir: Negative Polarität bedeutet

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‘Neutralisierung’, ‘Abschwächung’. Dies lässt eine Asymmetrie erkennen, die sich als Markiertheitsgegensatz darstellen lässt, und somit wieder auf der Beziehung zwischen Zeichen im Sinne von SAUSSUREs Ebene III verweist:

markiert (weil „eindeutiger“): positive Polaritätunmarkiert: negative Polarität

Diese Asymmetrie lässt sich quantitativ dadurch untermauern, dass negative Polarität in englischen angehängten Fragesätzen häufiger auftritt als positive.Es stellt sich die Frage, als welche Art der Motivierung wir derartige Phänomene betrachten sollen. Tatsächlich scheinen zumindest die von CALBERT definierten Kategorien der indirekten Ikonizität und der indirekten Motivation gleichsam vorzulegen: so weisen die behandelten „tags“ formale Ähnlichkeit im Sinne der indirekten Motivation auf, sie scheinen aber auch die indirekte Ikonizität unter Mediation des „désigné“ aufzuweisen, da die bei Wierzbicka durchgeführten Interpretationen der Fragen höchst kontextabhängig sind und individuelle Variationen zulassen.

4. SchlussfolgerungenDas von Calbert entwickelte Modell der Ikonizität als Art der Motivation erlaubt es, semantisch-pragmatische Schnittstellen in einem auf SAUSSURE aufbauenden zeichentheoretischen Ansatz zu integrieren. Wenngleich einige der verwendeten Parameter (z.B. „Welt“) immer noch sehr abstrakt erscheinen und der näheren De-finition bedürfen, ist hier ein Instrumentarium geschaffen worden, dass auch spachtypologische Untersuchungen in ein neues Licht rücken kann. Denkbar wäre z.B die Einbettung der drei Motivati-

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ZEICHENTHEORIE ... 31

onstypen als Merkmale in eine entsprechende semantische Matrix.

LiteraturBOEDER, W. – J. CALBERT (2001): Einführung in die

Sprachwissenschaft für Anglisten. Universität Oldenburg.

BOLINGER, Dwight 1975: Aspects of Language. Third edition. New York, ...: Harcourt Brace Jovanovich.

BÜHLER, Karl 1934: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena (Neudruck Stuttgart: Fischer 1965 und Frankfurt a.M: Ullstein 1978).

CALBERT, Joseph P. 1989: „Iconicité et attitudes linguistique“. In : Linguistica Communicatio 1,1: 55-72.

CALBERT, J. 1992: Types of Motivation. Manuskript zum Seminar „Iconicity“, Universität Oldenburg, Sommersemester 1992.

GENETTE, Gérard 1976: Mimologiques. Voyage en Cratylie. Paris : Ed. du Seuil.

OGDEN, C.K. – I.A. RICHARDS 1926 : The Meaning of Meaning. London: Routledge & Kegan Paul.

SAUSSURE, Ferdinand de 1916: Cours de linguistique générale. Publié par Charles Bally et Albert Sechehaye avec la collaboration de Albert Riedlinger (1ére éd.). Paris – Lausanne.

WIERZBICKA, Anna 1991: Cross-Cultural Pragmatics. The Semantics of Human Interaction. Berlin … : Mouton de Gruyter.

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RAINER GRÜBEL

Krise der Sprache – Sprachen der Krisein der russischen Moderne

Plädoyer auch für eine Erweiterung der Sprachwissenschaft1

Liebende könnten, verstünden sie’s, in der NachtluftWunderlich reden. Denn es scheint, daß uns allesVerheimlicht. Siehe, die Bäume sind; die Häuser,die wir bewohnen, bestehn noch. Wir nurziehen allem vorbei wie ein luftiger Austausch.Und alles ist einig, uns zu verschweigen, halb alsSchande vielleicht und halb als unsägliche Hoffnung.Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien. Die zweite Elegie

1. Drei Einsprüche gegen den Prosadiskurs negierende „irre“ poetische Rede

[...] und die Sprache spielt uns immer wieder neue Streiche. Wittgenstein, Vorlesungen über Ästhetik1

„Futurismus und Wahnsinn“ nannte der russische Psychiater Dr. E. Radin seine im Jahr 1914 in St. Petersburg veröffentlichte programmatische Broschüre

1 1 Für Hinweise zu einer früheren Fassung des Beitrags danke ich Winfried Boeder, Ralf Grüttemeier und Rüdiger Hillgärtner.

1 2 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen über Ästhetik. In: idem, Vorlesungen über Ästhetik, Psychologie und Religion. Göttingen 1968, S. 19.

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im Umfang von 50 Seiten2. Diese Über-Schrift zehrt von Lombrosos Buchtitel Genio e follia, der weniger reißerische Untertitel – „Parallelen des Schaffens und Analogien der neuen Sprache der Kubofuturisten“ – verspricht den Vergleich sprachlicher Artikulationen mental Kranker mit Gedichten der Futuristen, zumal mit ihrem Entwurf einer „neuen Sprache“ (russ.: novyj jazyk). Die Radikalität der Diagnose eines Psychologen, der zuvor „Die seelische Stimmung der heutigen lernenden Jugend“3 erforschte, zeigt eine Krise der Sprache in der russischen Kultur um die Jahrhundertwende an. Sie manifestierte sich im Umwerten, ja Entwerten sprachkünstlerischer Texte zu Hervorbringungen geistig Kranker ebenso wie in der „neuen Sprache“ selber, die ausdrücklich auf das Unvermögen der Alltagsprosa reagiert, gelingende Kommunikation zu gewährleisten. Im Tanz der Alternativen deuten wir sie anders als Radin nicht als Stigma des Irrwegs Malader, sondern als Symptom für den bewussten Abschied von der Herrschaft einer Sprachverwendungsweise durch die Wertschätzung für die Konkurrenz verschiedener Diskurspraktiken. Jene Eigenart der Redeweisen, jener dialogische Habitus, den Bachtin (1929) den Romanfiguren Dostoevskijs zusprach, ist in der bürgerlichen Kultur4 gegen vielerlei Widerstand zum Merkmal des Miteinanders kultureller Stimmen, vielleicht sogar kultureller Medien geworden.

2 3 E. P. Radin, Futurizm i bezumie. Sankt Peterburg 1913.3 4 Idem, Duševnoe nastroenie sovremennoj učaščejsja

molodeži. Sankt Peterburg 1913. 4 5 Auf den bürgerlich-kapitalistischen Charakter der

Polyphonie haben O. Kaus (Dostojewski und sein Schicksal, Berlin 1923, S. 36) und M. Bachtin (Problemy poėtiki Dostoevskogo. Moskva 1963, S. 31) hingewiesen.

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Radins Protest ist beileibe kein Einzelfall. In den Jahren 1913 und 1914 veröffentlichte der bedeutende Sprachwissenschaftler und Wegbereiter des linguistischen Strukturalismus Baudoin de Courtenay in der russischen Zeitschrift Antwortrufe (Otkliki) zwei Aufsätze mit den Titeln „Wort und ‚Wort’“ sowie „Zur Theorie des ‚Wortes als solchem’ und des ‚Buchstaben als solchem’“5. Der Gelehrte wies die von den Futuristen Velimir Chlebnikov und Vasilij Kručenych entworfene und erprobte6 futuristische Verssprache wegen der unvermittelten Verknüpfung von Buchstabe und Bedeutung als unakzeptabel zurück. Des Verweises auf Realia, der Referenz entbehrend, erzeugten diese verbalen Neuschöpfungen, statt Wörter „phonetische Exkremente“. Obzwar der Linguist im Grunde Verständnis für futuristische Poetik bekundete, verwarf er den Anspruch der Avantgardisten, eine neue Sprache begründet zu haben. Die Grundvorstellung von Sprache, die dem Linguisten eignete, ließ sich nicht mit dem Redegeschehen vereinbaren, das er in der futuristischen Lyrik beobachtete. Vor allem irritierte der Verzicht auf den Griff zu einem Wörterbuch, das den Lautfolgen stabile wiederkehrende Bedeutungen zuwies. Die Sprachkrise in der russischen Kultur der Jahrhundertwende geriet auch ins Blickfeld der zeitgenössischen Philosophie. Davon zeugt das 1916 in

5 6 B. de Kurtene, Slovo i ‘slovo’. In: Otkliki. 1914; idem, K teorii ‘Slova kak takovogo’ i ‘Bukvy kak takovoj’, in: Otkliki, 1914, 8.

6 7 Zum Unterschied zwischen den Sprachkonzepten Kručenychs und Chlebnikovs cf. Aage Hansen-Löve, Randbemerkungen zur frühen Poetik Roman Jakobsons. In: Hendrik Birus (u.a., Hrg.), Roman Jakobsons Gedichtanalysen. Eine Herausforderung an die Philologen. Göttingen 2003, 89-120.

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Petrograd erschienene Buch Prinzipien philosophischer Sprache: Versuch einer exakten Sprachwissenschaft des Sprachtheoretikers Ja. Lincbach. Linguistiken, die bestehende – unvollkommene – Einzelsprachen beschreiben, will er ersetzen durch eine „exakte Sprachwissenschaft“, durch „mathematische Lin-guistik“7. Sie soll eine neue, vollkommene Sprache8

entwerfen. Diese ersetze Etymologie und Syntax, also Bedeutungsgeschichte und Wortfügungsregeln durch Geometrie und Algebra und reduziere die in Ziffern auszudrückenden Sprachlaute „zur Wahrung der Symmetrie“9 auf acht Vokale und ebenso viele Konsonanten. Eines Wörterbuchs, dieses Surrogats der Mathematik, bedürfe die neue, sich zum Projekt der Futuristen gegenläufig verhaltende Sprache nicht. Pavel Florenskij hat Lincbachs Unternehmen denn auch mit dem französischen Aufklärungsdenken des 18. Jahrhunderts verknüpft und, als Streben nach „Mechanismus“, der Suche nach jenem „Organismus“10

in der neuen Sprache der Futuristen entgegengesetzt, den wir der europäischen Tradition der Romantik zuordnen können. In derselben aufklärerischen, hier freilich mit hegelianischem Fortschrittsdenken gepaarten, Überlieferung steht der mehr als ein halbes Jahrhundert

7 8 Ja. Lincbach, Principy filosofskogo jazyka: Opyt točnogo jazykoznanija. Petrograd 1916, S. VIII.

8 9 Dieser Entwurf fehlt in der sonst umfassenden Studie: Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache. München 1994.

9 10 L.c., S. 179. Cf. den Symmetriebegriff bei dem russischen Phonologen N. S. Trubeckoj.

10 11 P. Florenskij, Antinomija jazyka. In : idem, Sočinenija v četyrech tomach. Bd. 3 (1). Moskva 1999, S. 141-185, hier S. 175.

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später, 1970, in der Festschrift für Hans Gadamer veröffentlichten Aufsatz „Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik“. Darin nennt der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas den von Radin und De Courtenay verworfenen Sprachtypus „durch die wahnhaften präsymbolischen Elemente, welche durch Projektion und Verleugnung in die Sprache eingeschleppt werden“,11 stigmatisierte, „systematisch verzerrte Kommunikation“, ja „gestörte Kommunikation“12. Als Grundelement dieses Sprach-typus registriert Habermas das „vorsprachliche Symbol“13, und er wertet, was wir im Anschluss an die futuristische „neue Rede“ „poetische Sprache“ nennen werden, vom Standpunkt seiner philosophischen Diskurskritik ab zu vorsprachlichem Symbolgebrauch. Besonders bemängelt der Kommunikationsphilosoph das Fehlen der „Trennung von sprachlichem Symbol und leibgebundener Expression“14. Unmissverständlich dekretiert er: „Die ältere Symbolorganisation, die sich gegen eine Umsetzung ihrer Gehalte in grammatisch geregelte Kommunikation sperrt, lässt sich nur an Hand von Daten der Sprachpathologie und aufgrund der Analyse von Traummaterial erschließen.“15 Zwar billigt

11 12 J. Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik. In: idem, Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze. Frankfurt a.M. 1973, S. 264-301, hier S. 290.

12 13 Op. cit. S. 301, S. 291.13 14 Op. cit. S. 286. Unter der Hand kommt hier ein

Stereotyp des Kulturfortschritts ins Spiel, das frühmenschlicher wie kindlicher Kommunikation die Vollwertigkeit abspricht.

14 15 Ibid.15 16 Ibid. Aufschlussreich ist auch der dem Avantgardismus

entliehene Hochmut des Verwenders und Propagandisten jüngerer Diskurspraktiken gegenüber den Nutzern „älterer Symbolorganisation“.

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er den verhaltensteuernden Symbolen als „Darstellungen von Interaktionserfahrungen“ „echte Bedeutung“ zu, doch kreidet er ihnen im Übrigen das Fehlen „aller Eigenschaften der normalen [!] Rede“16 an: Insbesondere seien sie nicht in ein stabiles grammatisches Regelwerk eingefügt. Den Negativkatalog von Eigenschaften vermeintlich vorsprachlicher Kommunikation, ergänzt Habermas unter Berufung auf Lorenzer um den Hinweis auf die Kontextbindung, welche die Äußerung der Möglichkeit beraube, frei gegenüber Einzelhandlungen zu variieren. Die nur an eine einzige Handlung, ein solitäres Ereignis gebundene Redehandlung ist demnach kein vollwertiger Sprechakt. Solchen „defektiven“ Sprachgebrauch verunglimpft der Soziologe im Jargon der späten 60er Jahre als „privatistisch“17, ja als eigentlich „vorsprachlich“, wobei kultursoziologisches mit kulturhistorischem Brandmarken um die Vorherrschaft ringt. Und er belegt ihn mit dem Verdikt des „Adualismus“, fehlender Scheidung von Ausdrucks- und Inhaltsseite des Zeichens: Der Privatismus der vorsprachlichen Symbolorganisation, der bei allen Formen der Sprachpathologie auffällt, geht darauf zurück, daß die für die umgangssprachliche Kommunikation übliche Distanz zwischen Symbolzeichen, semantischem Gehalt und Referenten noch nicht entwickelt sind. Die Realitätsstufen von Sein und Schein, von öffentlicher

16 17 Ibid.17 18 „Privatismus“ ist das soziologische Äquivalent von

Barthes spätstrukturalistischem Prädikat „Einsamkeit“.

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und privater Welt, können mit Hilfe der Paläosymbole noch nicht klar differenziert werden (Adualismus).18 Man mag einwenden, die poetische Rede tue als funktional abgespaltetene Sprachverwendungsform hier nichts zur Sache, da sie des sozialen Charakters entbehre, um den es Habermas gehe. Hannah Arendt neigte, wie ihr Denktagebuch zeigt, ganz anderer Auffassung zu: Die Liebe, ein originär soziales Phänomen, ist ihrer Anschauung nach ausgezeichnet durch die von Habermas als präsymbolisch stigmatisierte Redeweise. Wir lesen bei der Philosophin: „Die Rede der Liebenden ist aus sich ‚poetisch’, in ihr gibt es weder denkendes dialeghestai noch Sprechen-über“19, weder Dialektik noch Metasprache. Mit Blick auf die Liebenden fährt sie fort: „Sie reden nicht und sie sprechen nicht, sondern sie ertönen.“ Liebende im Sinne der jüdischen Heideggerschülerin greifen, in unserer Terminologie geredet, zur poetischen Sprache.Roland Barthes bescheinigte denn auch dem „Diskurs der Liebe“20 1977 „extreme Einsamkeit“. Diese soziale Exterritorialisierung dürfte daher rühren, dass der Verfasser selber die Prosasprache pflegte und sie ganz überwiegend zum Gegenstand seiner Betrachtung erhob. Gleichwohl hatte der französische Gelehrte ein Gespür für die Andersartigkeit dieser Rede:

18 19 Op. cit. S. 287.19 20 Hannah Arendt, Denktagebuch. 1950-1973. Hrg. Ursula

Ludz u. Ingeborg Nordmann. München 2002. 20 21 Kein Zufall ist, dass L. Bloomfield in seiner 1933

erschienenen Monographie Language als Beispiele für die Unmöglichkeit, die Bedeutung von Wörtern exakt zu definieren, die Lexeme „love“ und „hate“ anführte. Diesem positivistischen Verdikt folgte bis hin zu N. Chomskys Syntactic Structures Enthaltsamkeit in Dingen der Semasiologie.

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Wenn ein Diskurs, durch eigene Kraft, derart in die Abdrift des Unzeitgemäßen gerät und über jede Herdengeselligkeit hinausgetrieben wird, bleibt ihm nichts anderes mehr, als der wenn auch winzige Raum einer Bejahung zu sein.21 Freilich konnte der in die Postmoderne Eintretende selber dieser Rede als „sich der Behandlung Entziehendes“22 nur die Gestalt der Zitatensammlung verleihen. Beschreibung wurde eingestandenermaßen durch „Nachbildung“ ersetzt. Theatralisch inszenierte das Porträt dieser Sprache den Ort dessen, „der angesichts des Anderen [...] spricht, der seinerseits schweigt“23.

21 22 Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt a.M. 1984, S. 13.

22 23 Ibid., S. 15. 23 24 Ibid. Auf die von Barthes nicht mitbedachte, im

Ausdruck „inszeniert“ versteckte Konfiguration theatralischer Kommunikation, in welcher das Ich eben doch wieder den Anderen bezeichnet, wird später die Rede sein.

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2. Kleiner Blick zurück in die Philosophiegeschichte

In gewissem Sinne mach ich Propaganda für einen Denkstil und gegen einen anderen.Ludwig Wittgestein, Vorlesungen über Ästhetik24

Es verblüfft, dass dem Philosophen Habermas die Ähnlichkeit seiner Beschreibung der (wie er sagt) „älteren Symbolorganisation“ mit der kratylischen Auffassung von der Sprache nicht aufgefallen ist. Platon lässt sie im berühmten Kratylos-Dialog diskutieren und Genette hat sie im Buch Mimologique. Voyage en Cratylie in ihren kulturhistorischen Varianten beschrieben. In Platons Dialog stoßen Kratylos’ Auffassung, die Richtigkeit der Namen gründe in ihrer „Natur“ (φύσει), und die des Hermogenes aufeinander, die Richtigkeit der Namen beruhe auf „Satzung und Übereinkunft“ (νόμωι και ξυνθήκηι). Für Kratylos wohnt den Eigennamen selber ihre Bedeutung naturhaft inne, sind Nomina popria nicht ersetzbar; für Hermogenes ist die Semantik der Namen Folge freier Akte von Zuordnung oder der Verabredung der Kommunikationsteilnehmer, sich mit diesem bestimmten Wort auf eben diese und keine andere Person zu beziehen. Die Sprachwissenschaft der Neuzeit hat sich bis hin zu Ferdinand de Saussures „Cours“, Chomskys Syntactic Structures und Pinkers Sprachinstinkt25 ganz

24 25 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen über Ästhetik. In: idem, Vorlesungen über Ästhetik, Psychologie und Religion. Göttingen 1968, S. 55.

25 26 Steven Pinker, Der Sprachinstinkt. München 1996. Sibylle Krämer (in: Sibylle Krämer/Ekkehard König (Hrg.), Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen. Frankfurt a.M. 2002) weist das Projekt der Universalgrammatik als an die

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überwiegend der Auffassung des Hermogenes angeschlossen und Wörter, die wie Eigennamen durch den Eins-zu-eins-Bezug von Referenz und Ausdruck bestimmt sind, als Ausnahmen abgestempelt26. Ferdinand de Saussure gründet auf die unterstellte idealtypische Konfiguration der im Sprachsystem dominanten arbiträren sprachlichen Zeichen sogar die Annahme, sie prädestiniere die Linguistik zum Modell der Semiotik: Man kann also sagen, dass völlig beliebige Zeichen besser als andere das Ideal des semiologischen Verfahrens verwirklichen; deshalb ist auch die Sprache das reichhaltigste und verbreitetste Ausdruckssystem, zugleich das charakteristischste von allen; in diesem Sinn kann die Sprachwissenschaft Musterbeispiel und Hauptvertreter der ganzen Semiologie werden [...]27.„Das Wort Hund beißt nicht“28 lautet das Argument der Hermogenisten, die zugleich Verfechter des Prinzips der

Konstanz der Schrift gebundenes Phantasma zurück. Cf. Bierwischs Protest im selben Band. Claudia Schmölders (Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? Neue Antworten auf eine alte Frage. In: Merkur 57, 2003, 619-624, hier 620) weist in ihrer Besprechung des Bandes indes auf ein Krämer und Bierwisch verbindendes ontogenetisches Modell „vor dem Sprechen liegende[r] Sprache“ hin, da beide von der Voraussetzung ausgingen, jedes Kind werde in das Regelwerk einer Sprache hineingeboren.

26 27 Eine in diesem Zusammenhang beachtenswerte Ausnahme bildet hier: Joseph Calbert, Dimensions of Style and Meaning in the Language of Trakl and Rilke. Contribu-tions to a Semantics of Style. Tübingen 1974.

27 28 Ferdinand de Saussure, Vorlesungen über allgemeine Sprachwissenschaft (2. Auflage). Berlin 1967, 80.

28 29 G. Genette, Mimologiques. Voyage en Cratylie, Paris 1976. Dt.: Mimologiken, Frankfurt a.M. 1972, S. 9.

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alltäglichen Prosasprache sind29. Der Sprecher des Merseburger Zauberspruchs und seine Zuhörer indes erwarten, dass seine Worte auf magische Weise den Heilungsprozess auslösen: ben zi bena / blout zi blouda, / lid zi geliden, sose gelimida sin! (Bein zu Beine, Blut zu Blute / Glied zu Gliede als sein’n sie geleimt30). Auch die Rede des Mythos gründet in einer Sprache der Namen31. In der frühen Neuzeit hat Jakob Böhme sie als „Naturspache“ proklamiert und Leibniz sie erstmals wissenschaftlich zu beschreiben gesucht – unter dem legendären Titel „Adamische Sprache“ (lingua Adamica)32. Liefern die Redeweise der russischen Futuristen ebenso wie das Sprachverhalten des Magiers in der archaischen Kultur und das Redegebaren der Patienten in der psychoanalytischen Sitzung Freuds und Jungs nur Belegmaterial für eine unzureichende, mit Habermas an der ‚normalen’ Umgangssprache des Alltags zu messende vor-sprachliche Verhaltensweise, oder bildet sie nicht vielmehr eine von der Prosa des Alltags in der Tat abweichende verbale Äußerungsform, die mit ihrem verstärkten Eintritt in das europäische Kommunikationsgeschehen an der Wende vom 19. zum

29 30 Auch Florenskij (l.c., S. 185) will die Schöpfer der poetischen Sprache durch eine Prosa-Erzählung besiegen!

30 31 Echtermeier, Deutsche Gedichte. Düsseldorf 1960, S. 26.

31 32 Ju. Lotman/B. Uspenskij, Mif – imja – kul'tura. In: Semeiotike. Trudy po znakovym sistemam. 6. Tartu 1973, 282-303. Ju., Lotman/Z. Minc, Literatura i mifologija. In: Semeiotike. Trudy po znakovym sistemam. 13 Tartu 1981, S. 35-55.

32 33 G.W. Leibniz, De scientia universali seu calculo philosophico. In: idem, Philosophische Schriften, Bd. VII, S. 198-199; idem, Fundamenti calculi ratiocinatoris. In: op. cit., S. 204-205.

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20. Jahrhundert eine kulturelle Krise anzeigt und auf sie reagiert?

3. Besondere Eignung des russischen Materials zur Untersuchung der Sprachtypen

Um die aufgeworfene Frage zu beantworten, ließe sich auch Material aus der englischen, der französischen oder der deutschen Kultur heranziehen33; erinnert sei an Hugo von Hofmannsthals Ein Brief (1902), die Fiktion eines an Bacon gerichteten Schreibens von Lord Chandos34, an Fritz Mauthners dreibändige Sprachkritik, die im Anschluss an Nietzsches Hegel-Kritik den Zweifel an der Fähigkeit der Sprache schärft, Wirklichkeit zu erklären. Zu denken ist im romanischen Sprachraum an Mallarmés Un coup de dés und an Gabriele d’Annunzios Romane. Auch ein Rekurs auf die naturalistische Sprachauffassung des im 19. Jahrhundert berühmten deutschen, in Oxford wirkenden Sprachgelehrten und Orientalisten Friedrich Max Müller (1820-1900), niedergelegt in seiner Schrift Lectures on the science of language35 lohnte, dessen David Crystals 1987 erschienene The Cambridge Encyclopedia of Language mit keiner Silbe gedenkt. Für die Hinwendung zur

33 34 Cf. Rolf Grimminger, Der Sturz der alten Ideale. Sprachkrise und Sprachkritik um die Jahrhundertwende. In: idem u.a. (Hrg.), Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbek 1995, S. 169-200.

34 35 Cf. zum fiktiven Charakter des oft als Zeitdokument gelesenen Briefes: R. Helmstetter, Entwendet. Hoffmannsthals Chandos-Brief, die Rezeptionsgeschichte und die Sprachkrise. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 77, 2003, S. 446-480.

35 36 London 1861, 14. Auflage 1885!

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russischen Kultur bei der Betrachtung des behaupteten Kontinuitätsbruchs der Sprachauffassungen in den europäischen Kulturen sprechen fünf Argumente. Zunächst eignet sich die russische Moderne für unsere Analyse dieser ganz Europa erfassenden Sprachkrise und der durch sie hervorgerufenen Sprachen der Krise besonders gut, weil hier die Vorgänge mit einer anderenorts ungekannten Geschwindigkeit vonstatten gegangen sind. In Petersburg, dem „Laboratorium der Moderne“36, war nach jahrhundertelanger Aufholjagd auf westliche kulturelle Prozesse in dem von Dr. Radin beklagten Futurismus Gleichzeitigkeit mit den kulturellen Ereignissen Europas erreicht; dies zeigt vor allem auch der Dadaismus. In seiner epochemachenden Schrift Über das Geistige in der Kunst hat der russische Maler und Kunsttheoretiker Wassily Kandinsky 1912, ausgehend von der Sprache Maeterlincks, die enge Beziehung des „inneren Klangs“ des Wortes zur abstrakten Vorstellung, zum „dematerialisierten Gegenstand“ aufgewiesen. Bei hinreichend häufiger Wiederholung werde „nur der reine Klang des Wortes entblößt“37. Und unter Berufung auf die offene Semantik der Musik – „Der musikalische Ton hat einen unmittelbaren Zugang zur Seele“38 – sowie die enge Verwandtschaft von Musik und Malerei sieht er die bildende Kunst aufgrund ihrer Basismittel Farbe und Form „zur Kunst im abstrakten Sinne heranwachsen“. Letztlich prognostiziert er einen Maler,

36 37 K. Schlögel, Jenseits des Großen Oktober. Das Laboratorium der Moderne: St. Petersburg 1909-1921, Berlin 1988.

37 38 W. Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst (1912). Bern 1952, S. 46.

38 39 Ibid., S. 66.

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dem er das Vermögen zubilligt, „seine Kunst konstruktiv erklären zu können“39. Des weiteren radikalisierte die russische Kultur durch den ihr eigenen Binarismus40, die beharrliche Entgegensetzung von nur zwei einander entgegengestellten Erscheinungen, auch die innere Spannungshaltigkeit der verbalen Kommunikation. Hier wurde der Gegensatz zwischen „poetischer“ oder aber „praktischer Sprache“ im Sinne der Kulturosophie oft zum alternativen Weg in ein gelungenes oder aber misslungenes Leben stilisiert.41 Der bereits genannte Theologe, Philosoph und Kulturtheoretiker Pavel Florenskij hat kurz nach der Oktoberrevolution im Aufsatz Die Antinomie der Sprache42 die unterschiedlichen Diskurstypen geradenwegs zur Basis gegensätzlicher Philosophien erklärt. Unter Berufung auf die Sphärenmusik, das Zeugnis von Lauten der Stille in der Lyrik der russischen Spätromantiker Tjutčev und

39 40 Ibid., S. 142.40 41 Jurij Lotman, Kul'tura i vzryv. Moskva 1992. 41 42 Hiermit kongruiert der Hang der russischen Kultur zur

Kulturosophie. Cf. Verf., I. Smirnov, Die Geschichte der russischen Kulturosophie im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: “Mein Rußland”. Literarische Konzeptualisierungen und kulturelle Projektionen (=Wiener Slawistischer Almanach, Sonderbd. 44). München 1997, S. 5-18. Die Folgen des Binarismus sind wohl auch noch Roman Jakobsons Sprachmodell abzulesen.

42 43 Pavel Florenskij, Antinomija jazyka. In: idem, Sočinenija v četyrech tomach. Bd. 3 (1). Moskva 1999, 141-185. Florenskij stütze sich dabei auf Victor Henry, Antinomies linguistiques. Paris 1896, verwarf jedoch dessen Entwurf der beiden, die Opposition von Nominalismus und Realismus umfassenden Sprachtypen als „These“ und „Antithese“ zugunsten des Humboldt’schen Gegensatzes von Sprache als Produkt und als Tätigkeit, als „Ergon“ und als „Energeia“.

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Fet sowie auf Čajkovskijs Bekenntnis, „bei Abwesenheit von Klängen in nächtlicher Stille dennoch irgendeinen Ton zu vernehmen, als ob die Erde, während sie sich durch den Himmelsraum bewegt, eine niedrige Bassnote hervorbringt“43 macht der Sprachtheoretiker auf das Fehlen einer festen Grenze zwischen einem Brustton und artikulierter Rede aufmerksam. Um der Sprache ihren vollen Lebensumfang einzuräumen, alle ihre Register zu nutzen, gälte es, die individuelle sprachliche Energie (im Sinne Humboldts) zu entbinden und „die Vielzahl misslungener, hässlicher und lebensunfähiger Hervorbringungen“ (множество неудачных, уродливых, не жизненных порождений44) nicht zu scheuen. Dann gelänge es auch, der Natur mit ganzem Körper und ganzer Seele zu antworten – wie es die Kinder täten45. Logische und alogische Sprache bildeten jene Hälften, jene Syzygie, die erst durch ihren wechselseitigen Widerspruch die Sprache als Ganzes hervorbringe.Das dritte Argument für das Heranziehen gerade russischen Materials zum Umschlag des Wertekanons der Sprachentwürfe an der Wende vom 19. zum 20.

43 44 D. Darskij, Radost’ zemli. Issledovanie liriki Feta. Moskva 1916, S. 58. Cf. die von Kopenkin in A. Platonovs Čevengur (M. 1989, S. 192) geäußerte Ansicht, im Kommunismus werde die Musik eine alles ausdrückende Sprache sein; die Musik wird so zum Prüfstein für den Kommunismus.

44 45 P. Florenskij, Antinomija jazyka. I.c., S. 159. 45 46 Hier führt Florenskij auch die Lyrik der Futuristen als

Beispiel an, u.a. Kručenychs berühmtes (unübersetzbares) Zaum'-Gedicht дыр бул щыл / убещур / скум / вы со бу / р л эз, das mehr Russisches enthalte als Puškins gesamte Lyrik. Er findet im futuristischen Redeschaffen drei Formen: 1. Ersatz aufgeblähter Ausdrücke, 2. ornamentale Arabeske, 3. zaum'.

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Jahrhundert fußt in der russischen Religions- und Bildtradition. Die in der ostslavischen Kultur noch stets lebendige Ikone ist als Bildmodell, das nicht die Repräsentation zeichenhaft dargestellter Personen anstrebt, sondern die Präsenz der gemalten Figur im Bildgeschehen selbst, von der mimetischen Auffassung der Kommunikation viel weiter entfernt als die neuzeitliche Bilderpraxis der mittel- und westeuropäischen Kulturen. Dem nicht-von-der-Hand-geschaffenen Ebenbild Christi, dem Archeiopoietos, wurde weit mehr als den mimetischen Abbildungen in Mittel- und Westeuropa Wunderwirkung zugetraut. Und so konnte ein alternatives Sprachmodell, das der bildlichen semiotischen Praxis der Ikone im verbalen Feld entspricht, sehr viel leichter in der russischen Kultur an Boden gewinnen als in westlichen Kulturen. Der russische Dichter Osip Mandel'štam nannte die russische Sprache 1922 im Aufsatz „Über die Natur des Wortes“ aufgrund der byzantinischen Prägung ihrer schriftsprachlichen Variante, des Kirchenslavischen, „hellenistisch“. Angelehnt an den Johannitischen Entwurf von Christus als verkörpertem Wort, erfährt der russisch-jüdische Autor das Russische als „ununterbrochene Verkörperung des vernünftigen und atmenden Fleisches“ (непрерывное воплощение и действие разумной и дышащей плоти46), eine Inkarnation, die sich wie in keiner anderen Kultur gegen die beliebig benennende (arbiträre) und die Sprache nur als Instrument nutzende, sie anwendende Redepraxis zur Wehr gesetzt habe. Für diese der russischen Kultur eigene Überzeugung vom unmittelbaren Ausdruck der Bedeutung prägt Mandel'štam den Begriff „russischer

46 47 O. Mandel'štam, O prirode slova. In: O.M., Sobranie sočinenij v četyrech tomach. Bd. 1, Moskva 1993, S. 217-231, hier S. 220.

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Nominalismus“ (russkij nominalizm47), der in westlichen (sprach)philosophischen Terminologien wohl eher „russischer Realismus“ oder gar „russischer Naturalismus“ genannt werden müsste.Beleg für den herausragenden Stellenwert der Sprache in der russischen Kultur48 ist noch die Nobelpreisrede des russischen Lyrikers Josip Brodsky. Im Jahr 1987 sagte er in Oslo: Während es die Sprache ist, die uns von den Angehörigen des Tierreichs unterscheidet, ist die Literatur, besonders die Poesie als höchste Form der Sprache, vereinfacht gesagt, die Bestimmung unserer Gattung.49 Die in den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzende russische Imjaslavie-Bewegung entwarf ein der Bildpraxis der Ikone entsprechendes religiöses Sprachkonzept. ‚Imjaslavie’ bedeutet ,Namen-Preis’, ‚Namen-Herrlichkeit’ und bezeichnet eine von den Philosophen S.N. Bulgakov, P. Florenskij und A.F. Losev vertretene Sprachtheologie, der gemäß Heiligkeit und Kraft Gottes in seinen Namen selber wirksam werden. Wie Christus in der Ikone präsent und wirksam sei, so sei Gott in seinen Namen wirkfähig: „Im Namen Gottes liegt die Begegnung des Menschen und Gottes. [...] der tätige Name Gottes hat zwei Naturen, da hieran auch

47 48 Ibid., S. 221.48 49 Cf. Verf., Entwürfe der poetischen Sprache in der

Russistik. In: J. Jachnow (Hg.), Handbuch der sprachwissenschaftlichen Russistik und ihrer Grunddisziplinen. Wiesbaden 1999, S. 1245-1273.

49 50 J. Brodskij, Das Volk muß die Sprache der Dichter sprechen. Rede bei der Entgegennahme des Nobelpreises für Literatur. In: idem, Flucht aus Byzanz. Essays. München/Wien 1988, S. 7-20, hier S. 10.

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die Energie des Menschen teilhat. Der ausgesprochene Gottesname ist der Ort der Begegnung göttlicher und menschlicher Energien.“50 Gegen die vom Prosa-Denken geprägte These des Philosophen Wilhelm von Windelband „Alle Namengebung beruht auf historischer Willkürlichkeit und kann sich deshalb von dem Wesen des zu Benennenden mehr oder weniger unabhängig und fern halten [...]“51 wendet Pavel Florenskij ein: „Der Name ist die Person, die Persönlichkeit, und dieser oder jener Name ist eine Persönlichkeit diesen oder jenen typischen Zuschnitts.“52 Und so hat der russische Universalgelehrte (er war außer Philosoph auch Mathematiker, Physiker, Theologe, Kultur-, Literatur- und Sprachwissenschaftler) unter anderem das Persönlichkeitsprofil seines eigenen Vornamens ‚Paul’ entworfen, also gerade jenes Nomen proprium, von dem Windelband behauptet hatte, niemand könne für seine Träger auch nur „ein gemeinsames Merkmal“ anführen. In säkularer Variante schließt hieran die jeden Prosaiker provozierende These der Dichterin Marina Cvetaeva an, nicht die Menschen wählten ihre Namen, sondern es seien die Namen, die ihre Träger fänden. Der Mensch ist dann Ausdruck der Bedeutung, die in seinem Namen gelegt ist. Für das Finden einer Antwort auf die gestellte Frage besonders hilfreich ist auch der Umstand, dass die russische Kultur selber die Abkehr von in den 10er und 20er Jahren etablierten Traditionen offener

50 51 A. Losev, in: Kontekst 1990. Moskva 1990, S. 17. 51 52 W. Windelband, Was ist Philosophie? In: idem,

Präludien, Bd. 1. Tübingen 1921, S. 11. 52 53 P. Florenskij, Namen. In: idem, An den Wasserscheiden

des Denkens. Berlin 1991, S. 192; idem, Imena. Metafizika imen v istoričeskom osveščenii. In: idem, Sočinenija v četyrech tomach. Bd. 3, Tl. 2. Moskva 1999, S. 186.

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Kommunikation, des anerkannten Nebeneinanders alternativer Redehabitus als „Großen Bruch“ (Velikaja lomka53) reflektiert hat. Die Namenpraxis der Herrscher Lenin (für: Uljanow) und Stalin (für: Dschugaschwili) war das Pseudonym54: Niemand war der, dessen Namen er trug. Die Reduktion auf einen einzigen Sprachverwendungstypus, der die beliebige Verknüpfung von Ausdruck und Referenz im frühen Stalinismus dazu nutzte, wie die Namen so auch die Bezeichnungen der Erscheinungen selbstherrlich zu dekretieren, ist zugleich sprachliches Signum des Totalitarismus55: Sie beutet Möglichkeiten theatralischer Rede außerhalb des Theaters aus56, behauptet aber

53 54 W. Kissel, Die Moderne. In: Klaus Städtke (Hg.), Russische Literaturgeschichte. 2002, S. 226-289, hier S. 265. Unter dem gewählten Blickwinkel sind totalitäre Kulturen Negationen inner- und außerkultureller Dialoge. Vasilij Belov, God velikogo pereloma. Chronika devjati me-sjacev. In: Novyj mir, 1991, 3, S. 4-44.

54 55 Allerdings sind auch die gewählten Pseudonyme semantisch und morphologisch keineswegs beliebig. Der Ersatzname Lenin ist nach dem Vorbild von Puškins Romanheld Onegin (von Onega) vom Flussnamen Lena abgeleitet. Stalin nutzt dasselbe namenbildende Ausgangsmorphem -in, verknüpft es jedoch statt mit einer Naturerscheinung mit einem Zivilisationsprodukt, das Härte suggeriert; cf. die nationalsozialistische Redensart „Hart wie Kruppstahl“. Thomas Seifrid, (Writing against Matter: On the Language of Andrej Platonov's „Kotlovan“. In: Slavic and East European Jounal, 31, 1987, 3, S: 370-387, hier S. 386f.) zeigt, wie Platonov bereits 1930 den stalinistischen Solözismus parodiert hat, der insbesondere bildliche und unbildliche Rede vermengte.

55 56 In der von Strukturähnlichkeit geprägten Reihe Lenin, Stalin, Putin erlangt der Name des Letztgenannten die selbstbestimmte Bedeutung des „Pfadfinders“ oder „Wegweisers“; er ist gleichsam der moderne Methodios.

56 57 Es ist bezeichnend, dass der Naturalist Stanislavskij, der die Differenz zwischen Schauspieler und Rolle zudeckte, im Stalinismus reüssierte, während der

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statt eines illusionären Dramas das reale Leben zu gestalten. Stalin beobachtete die von ihm konzipierten, inszenierten und überwachten Schauprozesse durch ein besonderes Fenster, das in den Schauraum ungesehenen Einblick bot. Für ihn allein galt in gesteigertem Maße, was der Philosoph Lev Šestov für die Tragödie festgestellt hat: Um das Tragische genießen zu können, müsse man es von der Szene aus betrachten.Kein Satz kann die Krise des Bewusstseins von der Sprache besser zum Ausdruck bringen als die These des Sprachphilosophen Wittgenstein: „Was zum Wesen der Welt gehört, kann die Sprache nicht ausdrücken.“57 Und so ist auch die Kritik am Ergebnis des Unterbindens der Sprachalternativen besonders pointiert im Russland der zerbrechenden Sowjetunion geäußert worden. Die Beobachtung, die uns der Sprachentwurf des Konsenstheoretikers Habermas ermöglicht hat, gilt mehr oder weniger auch für die Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts. Der Literatur- und Kulturhistoriker Jurij Lotman kritisiert mit Blick auf diese Modellierung verbaler Kommunikation den Entwurf „eines Systems mit einer einzigen Sprache“58, während doch eine jede kulturelle Praxis zur Erzeugung von Information mindestens über zwei Sprachen verfügen müsse.

Avantgardist Mejerchol'd ermordet wurde. Cf. R. Leach, Stanislavsky and Meyerhold (Stage and Screen Studies 3). Oxford (usw.) 2003.

57 58 L. Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen. Aus dem Nachlass herausgegeben von R. Rees. Stuttgart usw. o.J., 84.

58 59 Jurij Lotman, Kul'tura i vzryv. Mosvka 1992, S. 12-15. Cf. auch Harald Weinrichs These, Sprache müsse von Beginn an mindestens zwei Personen und zwei Leiber umfassen.

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Charakteristisch für solchen konzeptuellen Monologismus sei der Entwurf der Sprache als singulärer Code, den Sender und Empfänger ebenso miteinander teilten wie den Umfang ihres kulturellen Gedächtnisses. Gerade dies aber gilt nicht für die Nutzer der poetischen Sprache. Während der auf Performanz orientierte, meist rhetorisch strukturierte Diskurs der Alltagssprache eine vorgegebene Grammatik nutzt und wiederholbare Sätze in neue Kontexte einfügt, um insbesondere Aussagen über eine Wirklichkeit zu treffen, auf die sie referentiell verweist, ist die sprachkreative poetische Rede nurmehr auf ihre Ausdrucksform selber eingestellt, exponiert sie ihre Struktur und damit auch ihre grammatische Bauform: Nicht selten erzeugt sie ihre Konfiguration überhaupt erst. Die als Sprache des Wahnsinns diskreditierten Entwürfe der russischen Futuristen radikalisierten diese poetische Funktion der Sprache, indem sie neue Sprachen mit neuen Grammatiken entwarfen. Sie relativierten in ihrem Anspruch Wittgensteins Behauptung über das Unvermögen der Sprache, vom Wesen der Welt zu reden, zur Unfähigkeit der von Habermas exponierten „normalen“ Umgangssprache, solches zu tun. Diese Umgangssprache selber ist dann nichts anderes als die Negation einer poetischen Rede, die auf ihre Bauform als das Wesen der Welt verweist und durch ihre Realisierung Wirklichkeit nicht mimetisch nachbildet, sondern überhaupt erst selber hervorbringt.

4. Das Nutzen dreier Sprachtypen in der Psychoanalyse

In der Sprache wird alles ausgetragen.

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Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik59

Wer Radins und Habermas’ Perspektive der Psychologen, die Brüche in der Verwendung und Konzipierung von Sprechakten untersuchen, umkehrt und als Philologe Umstürze in der Modellierung der Seele zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrachtet, dem gerät Freuds Psychoanalyse in den Blick. In ihr lässt sich eine ähnlich rigide Wende im Entwurf der menschlichen Seele beobachten, wie sie Radin für die Sprache der Futuristen beklagt. Dabei scheint nicht unwesentlich, dass Freud sein Grundmodell der Konstellation des Kindes zwischen Vater und Mutter nicht nur am Material eines mythischen sprachlichen Beispiels vorführt, dem Sophokles im Oidipus Tyrannos literarische, nämlich dramatische Gestalt verliehen hatte, sondern die zunächst für den Mann entworfene Problemlage im bekannten Ausdruck „Ödipus-Komplex“ auch mit diesem mythischen Namen belegt hat60. Die wohl eher unbewusste Freud’sche Wahl des theatralischen Modells gewährt den Vorzug, dass die Rolle des Oidipos von jedem (Patienten) eingenommen werden kann, dass ein jeder kraft der theatralischen Rede als in der ödipalen Konstellation befindlich erfahren und analysiert werden kann. Freuds Arbeit an Problemlagen seiner Patienten nutzt nun selber verschiedenen Sprachtypen, deren Umschwung im Verhältnis zueinander für den Psychiater Radin die sprachliche Krankheit, den

59 60 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik. Frankfurt a.M. 1973, S. 143.

60 61 Cf. Ludwig Wittgensteins (Vorlesungen über Ästhetik. In: idem, Vorlesungen über Ästhetik, Psychologie und Religion. Göttingen 1968, S. 42) Charakterisierung der auf Überzeugung angelegten Verfahrensweise Freuds als Alternative zur logischen Erklärung.

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Wahnsinn der Futuristen ausmacht. Freud und Jung suchen, jeder auf seine Weise, die poetische Sprache, also eine Zeichenverwendung, die den unmittelbaren Zusammenhang von Zeichenträger und Bedeutung respektive benannter Erscheinung voraussetzt, zu entschlüsseln mit Hilfe der Prosa der psychoanalytischen Wissenschaft. Dabei übersetzen sie die kratylische oder poetische Rede ihrer Patienten in eine hermogenetische, logisch und grammatisch nach Prinzipien der Prosa organisierte Rede61. So aber erkennt Freud im 20. Jahrhundert das von ihm allerdings noch stets hierarchisch gestufte Nebeneinander von zwei Sprachen in seiner Relevanz auch für den außerkünstlerischen Bereich an: der des Unbewussten und der des Bewussten. Wir nannten sie bereits die auf Realisierung angelegte, Bedeutung beim Wort nehmende poetische Sprache und die Abstraktion betreibende alltägliche Prosasprache. Fügen wir der Vollständigkeit halber hinzu, dass Freud noch einen dritten Sprachtyp praktizierte, den der Performanz, hier: der dramatischen Realisierung62. Die Sprache des Dramas – wir verwiesen auf sie bereits am Beispiel der Namenwahl „Ödipuskomplex“ – prägt als Metasprache die psychoanalytische Sitzung; sie formuliert die Regeln ihres Ablaufs, der Rollenverteilung, auch des Verbots einer

61 62 Cf. die aufschlussreiche These von Lou Andreas-Salomé (Das Erlebnis Freud. In: eadem, Lebensrückblick. Frankfurt a.M. 1968, S. 153-166, hier S. 164) „Letztlich würde damit unser formales Denken eine Art von Symbolisierung, – um Unaussprechliches mittels Umkehrung zur Sprache, zur Verständigung zu bringen.“

62 63 Auch Michel Foucault (Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a.M. 1977, S. 7) spricht bezeichnenderweise vom Theater, wo er den Ort seines Denkens und Sprechens im Leben bestimmt.

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Liebesbeziehung zwischen dem Analytiker und dem Patienten. Ihre Problemzone belegte Freud mit dem Begriff der „Übertragung“63, der Gefahr der Projektion der zu heilenden Fehlrelationen vonseiten des Patienten in sein Verhältnis zum Analytiker. Der Analytiker müsse verhindern, dass die – wie im dramatischen Spiel erzeugte – illusionäre Gleichsetzung zwischen ihm und dem Vater des Patienten den Fortgang der Analyse durch Umschlag in Realität verhindere. Dieses Verbot gleicht der Regel, die auf der Bühne benutzte Pistole dürfe nicht mit scharfer Munition geladen sein.Die psychoanalytische Sitzung selber lässt sich demnach als sprachliche Inszenierung verstehen, als dramatischer Akt mit zwei Rollen, der nach dem Modell der Tragödie die Katharsis, die Reinigung des kranken Helden anstrebt. Der Fluss der Rede auf Seiten des Patienten ist bestimmt von der freischwebenden Assoziation, jener Redeweise, die sich der in der Kindheit dominanten, aus dem Traum geläufigen Form des Sprachdenkens annähert. Wir setzen diese Rede ihrer Bauform und ihrer Wirkungsweise nach mit der poetischen Rede gleich, die, mit Kratylos gesprochen, nur eindeutige Namen kennt. Freud zufolge gibt sie stets die Wahrheit zu erkennen. Die Prosarede des Ich dagegen, die Sprache des Bewusstseins ist von Perspektivierung geprägt und kann sich daher mit dem Standpunkt Zeit, Raum und Person verschieben. Indem statt der Mutter eine andere Person eingesetzt wird, verstellt die Rede des Bewusstseins die Wahrheit. Die

63 64 Seit Alfred Adler (Individualpsychologische Behandlung der Neurosen [1913]. In: idem, Theorie und Praxis der Individualpsychologie. Frankfurt a.M. 1974, S. 48-66) ist freilich das durchschaute Wechselspiel von Übertragung und Gegenübertragung zunehmend zu einem Mittel der Analysepraxis selber geworden.

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sogenannte Traumzensur hindert die im Unterbewussten verankerte, in der Form des Sprachdenkens artikulierte Wahrheit daran, an dieOberfläche des durch die Gesetze der Prosa definierten Bewusstseins zu geraten. Zwischen dem Sprachdenken und der perspektivierenden Prosarede erhebt sich eine Barriere, die der Analytiker in der analytischen Sitzung zu überwinden trachtet64. Er sucht die sprachdenkerischen Motive kraft theatralischer Redepraxis in die Redeform der perspektivischen, ja der rhetorisierten Prosa zu übersetzten. Habermas wiederum hat die diesen Vorgang erschwerende Barriere mit dem Ziel der Konsensbildung im Rahmen einer ausschließlich auf Logik, Perspektivik und Wahrscheinlichkeit orientierten Prosarede diskurstheoretisch legitimiert65.

64 65 Sl. Žižeks These vom slavischen Balkan als Unterbewusstem Europas hat in Lou Andreas-Salomés Idee, die Russen stünden dem Unterbewussten näher als die übrigen Europäer, ihren verborgenen Vorläufer. B. Groys (Die Erfindung Russlands. München 1995, S. 10f., 30f.) hat die regionalgeographische Verortung des Unbewussten gleichsam aus der südlichen in die östliche Slavia zurückverschoben. Als (Re-) Perspektivierungen sind beide Lokalisierungen selber typische Prosa-Manipulationen.

65 66 Cf. J. Lyotards Vorwurf (Beantwortung der Frage: Was ist Postmodern? In: P. Engelmann (Hrg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart 1990, S. 33-48, hier S. 44), Habermas habe „das Erhabene Kants mit der Freudschen Sublimierung“ verwechselt.

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5. Kleine Sprachtypologie aus literaturwissenschaftlicher Sicht

Wie wäre es, wenn ich zwei Körper hätte, d.h. wenn mein Körper aus zwei getrennten Leibern bestünde?Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen66

Versuchen wir nun, die drei hier in Rede stehenden Sprachtypen, also den poetischen, den prosaischen und den theatralischen Diskurs gegeneinander abzugrenzen.

5.1 Poetische RedePoetische Rede gründet im Sprachdenken, also einer Form von Bewusstseinsvorgängen, die statt das Denken vom Reden zu trennen, aus dem Reden denkt. Sie stützt sich grundsätzlich auf die Imagination, nutzt also die menschliche Einbildungskraft und wirkt durch Einfaltung67. Dabei setzt sie die Überzeugung voraus, Sprache gebe Wirklichkeit nicht wieder, sondern sei selber Wirklichkeit und könne als solche unmittelbar in außersprachliche Wirklichkeit eingreifen. Sie ist geprägt von der Überzeugung, die Wörter seien nicht frei wählbar und schon gar nicht austauschbar, ihnen wohne kraft ihrer unmittelbaren Verknüpfung mit Erscheinungen der außersprachlichen Wirklichkeit Eigenwirkung inne. Diese Sprache realisiert durch Identifikation68.

66 67 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen. (Schriften Bd. 2). Frankfurt a.M. 1987, S. 95.

67 68 Cf. A. Hansen-Löve, Die ‚Realisierung’ und ‚Entfaltung’ semantischer Figuren zu Texten. In: Wiener Slawistischer Almanach Bd. 10, 1982, S. 197-252.

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Dabei ist die von Joseph Calbert wiederholt untersuchte Ikonizität69, die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Ausdruck und Referent eine wichtige, aber keineswegs die einzige Möglichkeit enger Verpflichtung von Ausdrucks- und Inhaltsschicht aufeinander70. A. Zholkovsky hat die Relation zwischen sprachlichem Code und thematischem Inhalt als „Konkretisierung im Bereich des Codes“ ausgearbeitet und so den arbiträren Bezug des Ausdruckselements auf die Bedeutungseinheit durch eine gleichsam natürliche Beziehung ergänzt. In ihrem Vermögen, absolute Bedeutungen zu evozieren, grenzt die poetische Sprache an die Musik. In der Romantik als die „eigentliche Kunst des Jahrhunderts“ (Schlegel) gefeiert,71 hat Hegel sie wegen

68 69 Umberto Ecos Traktat Die Suche nach der Vollkommenen Sprache (München 1993, S. 17) schließt poetische wie phantastische Sprachen bezeichnenderweise ausdrücklich aus, weil sie „nur Fragmente einer Sprechweise“ lieferten und „meistens [...] eine geregelte Sprache“ voraussetzten „von der aber weder Wortschatz noch Syntax genauer mitgeteilt“ würden. Hier verkleidet sich die Reserve des Prosaikers gegenüber dem Sprachdenken erneut in eine Mängelrüge, die am Kern des Problems vorbeigeht. Schließlich bietet die transmentale Sprache der russischen Futuristen weniger ein Konzept als reale Sprachpraxis. Es fehlt weiterhin eine Darstellung der Entwürfe einer vollkommenen Sprache aus der Sicht des Sprachdenkens.

69 70 J. Calbert: Icônicité et attitudes linguistiques. In: Linguistica Communicatio. Revue internationale de linguistique générale Bd. 1/1, 1989, S. 55-72.

70 71 A. Zholkovsky, Themes and Texts. Towards a Poetica of Expressiveness. Ithaca 1984.

71 72 Cf. C. Carduff, Die diskursive Karriere der Musik im 19. Jahrhundert von der „Herzenssprache“ zur wahren „Philosophie“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71, 1997, 1, S.

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ihrer Begriffslosigkeit (nach der Poesie) verworfen, während Schopenhauer im Fehlen abstrakter Bedeutung gerade ihre Stärke erblickte. Nietzsche, der zunächst Schopenhauers Deutung der Musik als „Sprache des Willens“ gefolgt war72, dann Musiker und Lyriker als „in ihren Instinkten grundverwandt und an sich eins“73 sah, hat schließlich mit der romantischen Vorstellung von der Musik als Inbegriff der Philosophie aufgeräumt und der Philosophie (Schopenhauers) die Erfindung der Musik als „Sprache des Inneren“ unterstellt74. In dieselbe Richtung geht der französische Linguist Emile Benveniste, wenn er die Semiotik der Musik der Sprachsemiotik als „totally different“75 gegenüberstellt. Der Unterschied trete zum einen in der Unübersetzbarkeit musikalischer Klänge in sprachliche Laute oder Wörter hervor, zum anderen in der Besonderheit der Beschränkung der Achse der Simultaneität in der Sprache auf einen einzigen Laut, während die Musik diese Restriktion nicht übe76. Die Musik habe daher zwar syntaktische, nicht aber

537-558. Jüngste Forschungen deuten darauf hin, dass das Sprachenzentrum im Großhirn dem musikalischen Hirnareal unmittelbar benachbart.

72 73 F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In: idem, Gesammelte Werke in drei Bänden. Bd. I. München 1962, S. 91.

73 74 F. Nietzsche, Götzendämmerung. In: idem, Gesammelte Werke in drei Bänden: Bd. II. München, S. 997.

74 75 F. Nietzsche (Aus dem Nachlaß der 80er Jahre. In: idem, Gesammelte Werke in drei Bänden. Bd. III. Frankfurt a.M., S. 424) hat sich freilich in seinem Spätwerk ebenso gegen „Diese perspektivische Welt“ der Prosa gewandt.

75 76 E. Benveniste, The semiology of language. In: Semiotica. 1981, S. 5-23, hier S. 13.

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semiotische Merkmale. Es kam dem Sprachwissenschaftler offensichtlich darauf an, die sprachliche Kommunikation von der musikalischen abzugrenzen, nicht aber Gemeinsamkeiten zwischen ihnen aufzuspüren, gestattete ihm dieser Befund doch, die Sprache (wie de Saussure) als „preeminent semiotic organization“77 herauszustellen, da sie allein zugleich über wiedererkennbare Zeichen (Semiotik) und verstehbare Bedeutung (Semantik) verfüge. Damit wird die Sprachwissenschaft zum Kern der Semiotik und der (Meta-) Linguist zum Zeichenforscher par excellence.Ein Relikt magisch-ritueller Sprachverwendung im außerkünstlerischen Feld der Kommunikation gibt in modernen Kulturen übrigens die Vereidigung von Amtsträgern ab. Sie wird in unserer Amtspraxis mit den Wörtern „ich gelobe“ bekräftigt, die nicht durch synonyme Ausdrücke wie „ich sage zu“ oder „ich verspreche“ ersetzt werden dürfen. Kein Votum des Wahlvolks, keine Abstimmung im Bundestag, keine Verkündung des Stimmergebnisses verleiht dem deutschen Bundeskanzler sein Amt, sondern der Akt der Vereidigung, wobei er genau die festgelegten Wörter aussprechen und der Bundestagspräsident die Einhaltung dieser sprachlichen Ausdrücke überprüfen muss. Freilich ist die Sprachsituation des Gelobenden eine völlig andere als die eines Lyrikers. Der Gelobende spricht im Ritual der Amtsübertragung eine sprachliche Formel nach, ohne ihr etwas hinzuzufügen. Allein der

76 77 Dies trifft indes bereits auf die strikte musikalische Monodie (ohne Begleitung) nicht zu. Außerdem begegnet nicht nur im sprachlichen Alltag, sondern auch in Drama und Film die gleichzeitige verbale Artikulation mehrerer Stimmen/Texte/Sprachen.

77 78 E. Benveniste, The semiology of language. In: Semiotica. 1981, S. 18.

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Kontext definiert die Besonderheit dieses performativen Sprechaktes: Der referentielle Bezug auf den Sprecher, der Amtsträger wird, und der kontextuelle auf den das Gelöbnis Abnehmenden. Nicht die poetische Funktion dominiert, sondern die pragmatische, mit Jakobson gesprochen: die Referenz. Anders ist es bei Ludwig Wittgensteins Satz „Das was uns am Zeichen interessiert, ist in der Grammatik des Zeichens niedergelegt“78. Die neue Aufmerksamkeit des Philosophen gegenüber der semiotischen Grammatik stimmt auffällig zur Beschreibung der poetischen Funktion der Kommunikation bei Roman Jakobson, nämlich zur Einstellung auf den Ausdruck bzw. zur Orientierung auf das Medium. Marshall McLuhans These „The medium is the message“79 ist freilich zirkulär, weil sie im Prosagestus die Universalität der poetischen Funktion behauptet. Nur im Sprachdenken ist das Medium die Botschaft; auf die Prosa übertragen, bedeutet die These der russischen Formalisten von der Einstellung der poetischen Funktion auf den Ausdruck, logische und perspektivische Struktur seien Logik resp. Perspektivik. Moderne Lyrik wirkt stets vor dem Hintergrund der Prosa, sie integriert, revoziert oder negiert ihn. Prosarede wiederum erzeugt kraft der Referenz eine alternative Realität, sie alteriert. Im Lallen des Säuglings werden nicht „ganze Geschichten erzählt“80,

78 79 L. Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Frankfurt a.M. 1973, S. 13.

79 80 M. Mc Luhan, Q. Fiore, J. Agel, The Medium Is the Message. NewYork 1967.

80 81 So Claudia Schmölders aus der Sicht der monolingualen Konzeption der Prosarede (l.c., S. 621).

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sondern es wird die Identität des selbsterzeugten Klangs mit der Welt behauptet81.

5.2 ProsaredeDie Rede der Prosa gründet in abstrahierenden Verfahren der Perspektivierung, in der Bestimmung von Standpunkten der Sprecher und Schreiber gegenüber einem besprochenen Gegenstand mit Hilfe der Kategorien Raum, Zeit und Person. Kraft Perspektivierung und Fokussierung bezieht sich die Prosarede auf Wirklichkeit, erzeugt sie Referenz. Dies gilt für die Alltagsprosa, etwa eine Gebrauchsanweisung, ebenso wie für die künstlerische Prosa, z.B. eine Novelle. In ihrer künstlerischen Form erzeugt die Prosarede freilich anders als der Alltagsgebrauch der Prosa stets Fiktion, das heißt eine nur in der Rede verankerte, von der aktuellen Wirklichkeit abweichende, fiktive, raumzeitlich und personal perspektivierte Realität. Anders als die Prosarede des Alltags und des „herrschaftsfreien Diskurses“ von Habermas ist die Prosarede der Fiktion nicht an ein gegebenes „Normales“ gebunden. Das scheinbar naturhaft „Normale“ wird in avancierter Prosafiktion stets als Konstruktion bewusst gemacht. Die Alterität der „fremden Rede“ (Bachtin) wird genutzt, um jene Bedingtheit eigener Rede vorzuführen, die der Psychoanalytiker ebenso wie der die Sprechergemeinschaft therapierende Sprachsoziologe zum Verschwinden bringen muss. Freilich ist auch vor jenem Irrtum zu warnen, dem offenkundig noch der

81 82 Bezeichnenderweise treten rezente Verfechter einer neurologischen resp. evolutionspsychologischen Sprachforschung als Naturalisten hervor und stehen somit der Grundannahme der Kratylisten ebenso nahe wie die Theoretiker und Praktiker des Sprachdenkens.

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Philosoph Rorty erlegen ist82, die konstituierende Bedingung der Alterität avancierter Fiktion in der literarischen Prosa lasse sich aufs Alltagsleben übertragen. Die Lektüre von Romanen (Proust und Henry James werden als Beispiele genannt) biete – wieder ist die Prosasprache Bezugsgegenstand – anders als das Philosophieren die Chance, den eigenen Egotismus zu überwinden. Wie bei Schiller das Theater soll der Postmoderne die Prosa zur Läuterung der Person dienen. Über Bachtins Alteritätsgedanken der 20er Jahre kommt dabei Rorty nicht hinaus, nur dass er – anders als Bachtin – nicht in Rechnung stellt, dass der Preis der horizontgebenden und perspektivierenden Prosa hoch ist: der Tod der erzählten Figur83.Prosarede ist einer anderen Denkweise verpflichtet als Sprachdenken und lehnt es daher in aller Regel ab. So verwarf Maksim Gor'kij im Brief an Pasternak die lyrische Sprache der Gedichte von Marina Cvetaeva: Sie kennt die russische Sprache nicht gut und geht mit ihr auf eine unmenschliche Weise um, indem sie diese auf jede Weise misshandelt. Phonetik ist noch keine Musik, aber sie glaubt, sie sei bereits Musik.84

Der Prosaiker Gor'kij, der die monologische Prosasprache des Stalinismus mitbegründet und legitimiert hat,85 weist die poetische Rede der Dichterin

82 83 Cf. Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. N 5, 5. 12.2001. 83 84 Cf. Verf., Bachtins Philosophie der kreativen

Kommunikation und Probleme ihrer Rezeption. Im Druck. 84 85 Gor'kij i sovetskie pisateli (= Literaturnoe nasledstvo,

Bd. 70). Moskva 1963, S. 300-302. 85 86 Hans Günther, Die Diskussion über die Sprache. In:

idem, Die Verstaatlichung der Literatur. Stuttgart 1984, S. 55-67.

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zurück, die an der freien Semantik musikalischer Codes partizipiert. Eine solche Rede war nicht zu kontrollieren, ließ sich nicht in einem Wörterbuch normativ festlegen, wirkte gegenüber solchen Kontrollversuchen stets subversiv.

5.3 Dramatische RedeDie dramatische Rede basiert auf der szenisch geteilten Identität des Darstellers: Er ist Schauspieler und verkörpert zugleich eine Rolle86. Dramatische Rede zielt dabei auf Illusion, auf den Eindruck, der Schauspieler sei in der Tat der verkörperte Protagonist. Bewirkt wird dies nicht allein durch sprachlich induziertes Erleben einer Situation, in der sich die Zuschauer ebenso wie die Akteure auf der Bühne nur dank ihres Spielverhaltens befinden87. Stanislavskijs naturalistische Dramaturgie strebte zur Sicherung der Illusion die völlige Identifizierung des Schauspielers mit seiner Rolle an. Der in Brechts Epischem Theater dagegen zum Gegenstand von Verfremdung gemachte Anspruch auf Illusion gilt auch für den „Spielfilm“, so weit er kinematographisch fixiertes Theater mit Schauspielern bildet. Die Verfilmung einer Erzählung transformiert daher ebenso wie die Dramatisierung eines Romans Fiktion in Illusion. Auch bei der Verfilmung eines Szenarios werden wie bei der Inszenierung eines Dramas semantische Einheiten der Textvorlage realisiert: Statt des Nomens Szpilmann erscheint im Film der Schauspieler Adrien Brody, der verbale

86 87 Cf. H. Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers. (1948) In: idem, Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie. Stuttgart 1982, S. 146ff.

87 88 Cf. U. Eco, Semiotics of Theatrical Performance. In: The Dramatic Review, 21, 1977, S. 107-117.

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Ausdruck geht ab im Theatertext wird in das wahrnehmbare Äquivalent einer Gehbewegung übergeführt. Dramatische Rede realisiert durch Spaltung. Dabei ist es sekundär, ob diese Spaltung wie bei Brecht sichtbar gemacht oder wie bei Stanislavskij zum Verschwinden gebracht wird. Mit Blick auf die Referenz der Personalpronomina zeichnet sich die theatralische Rede durch eine Umlenkung des Personenbezugs aus. Die erste Person verweist hier nie auf den Sprecher, sondern auf den anderen, den der Sprecher spielt; die zweite Person bezieht sich nie auf die angesprochene, sondern die von ihr dargestellte Person88. Der Blick auf das gesamte Kommunikationsgeschehen im Zeitraum der letzten drei Jahrhunderte zeigt: An dessen Beginn wie an seinem Ende steht die Vorherrschaft von Bildersprachen. Die Barockkultur war ebenso bildversessen wie die der Postmoderne, und allein die Phase von der Aufklärung bis einschließlich der ,linguistischen Wende’ des 20. Jahrhunderts scheint in der Kultur der Neuzeit von der verbalen Sprache beherrscht gewesen zu sein. Dieser Wandel in der Dominanz der Medien wird zwar nicht, wie der Germanist Kittler prophezeit, zum Verschwinden der Buchkultur führen, aber er wird die Gewichte neu verteilen, die digitalen und nichtdigitalen Medien zukommen, darunter eben auch dem Buchdruck. Aufschlussreich ist nun, dass die Dominanz des Visuellen in der Kunstsprache der Avantgarde bereits vorweggenommen wird. Zum einen ist der Futurismus

88 89 Besonders aufschlussreich sind dabei generische Kreuzrepräsentationen, sei es die Gewohnheit (wie im antikgriechischen Theater) Frauenrollen durch Männer spielen zu lassen oder aber Männerrollen durch Frauen.

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anders als der Symbolismus mit Blick auf die mediale Eigenart der Sprache nicht so sehr auf die Lautlichkeit eingestellt wie auf die Graphemik. Zum anderen entwickelt die dramatische Sprache des 2. Jahrzehnts im 20. Jahrhundert unter der Losung Das Theater als solches (Teatr kak takovoj) ein Konzept, das auf der im Menschen angelegten gleichsam natürlichen Theatralizität, auf seinem „theatralischen Instinkt“ gründet. Evrejnovs Votum für eine Theatralisierung des Lebensstils ergriff auch das Realverhalten im Alltag89. Ein jedes, auch das n i c h t auf der Bühne stattfindende Verhalten ist demnach, zumal es keine Identität zwischen dem Körper der Person und dessen Semantik, zwischen dem von ihr gesprochenen Wort und dessen Bedeutung gibt, auf die Herstellung von „Bedingtheit“ (uslovnost') gerichtet, es erzeugt Illusion.Die Vorstellung von der Unumgänglichkeit der Illusion ist unter dem Schlagwort des Simulacrums Bestandteil postmodernen Wissens geworden, und sie ist mittlerweile auch in die Sprache des Alltags und der Informationssysteme eingedrungen. Davon zeugen Ausdrücke wie „Drogenszene“, „Geiseldrama“ oder „Akteure“ die keineswegs eine theatralische Aufführung, sondern Realverhalten mit Blick auf Ausschnitte aus der Wirklichkeit außerhalb des Theaters bezeichnen. Den Drogenabhängigen am Berliner Bahnhof Zoo, erpresserischen Bankräubern und den Terroristen im Moskauer Musiktheater wird der Verhaltenstypus von Schauspielern zugesprochen. Wenn sie dann selber dazu neigen, die Medien als Plattform ihrer Selbstdarstellung zu nutzen, zeigen sie

89 90 Nikolaj Nikolaevič Evreinov (1897-1953), Teatr kak takovoj (1912), Teatr dlja sebja, (1915), Proischoždenie teatra (1921) schloss auch Folter und Hinrichtung in das Inventar theatralischer Verhaltensformen ein.

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statt systemfremdem tatsächlich systemimmanentes Verhalten90. Urtypus dieses theatralischen Habitus ist Vladimir Majakovskij, der im Alltag den tragischen Helden Vladimir Majakovskij gibt, ihn ohne Unterschied auf der Bühne als Akteur der Tragödie „Vladimir Majakovskij“ und als „blažennen'kij“91 (Glückseligen) darstellt. Im traditionellen Theater getrennt, fallen die Funktionen von Autor, Regisseur und Akteur scheinbar zusammen:

А иногда Doch bisweilen

мне больше всего нравится Gefällt mir am besten

моя собственная фамилия Mein eigener Name

Владимир Маяковский.92 Vladimir Majakovskij.

Den dramatischen, im Theater wie im Film auf der Spielfunktion basierenden und auf die Erzeugung von Illusion gerichteten Sprachtypus, der den semiotischen

90 91 Auf der linguistischen Metaebene entspricht dem die Einstellung auf den „Sprechakt“ (speech act) bei Austin und Searle sowie auf die Performanz in der Literaturwissenschaft.

91 92 Vladimir Majakovskij, Vladimir Majakovskij. In: idem, Polnoe sobranie sočinenij v 12ti tomach. Bd. 1, Moskva 1939, S. 149-175, hier S. 174.

92 93 Op. cit, S. 175. Boris Pasternak (Der Schutzbrief. In: idem, Prosa und Essays. Berlin 1991, S. 233-361, hier S. 333) hat freilich aus der Sicht der Prosa die Differenz von Person und Rolle aufrechtzuerhalten gesucht: „Der Titel barg die genial einfache Entdeckung, der Dichter ist – nicht der Autor, sondern der Gegenstand der Lyrik, die sich von der ersten Person zur Welt hinwendet. Der Titel war nicht der Name des Verfassers, sondern der Familienname des Inhalts.“

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Körper eines zugleich an- und abwesenden, als Akteur und Protagonist auftretenden Menschen benötigt93, stellen wir zunächst zurück, obgleich die von ihm geforderte visuelle Kommunikation seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts kulturell weitgehend dominant geworden ist.

6. Das Erschüttern der Dominanz des perspektivisch-logisch fundierten Prosadiskurses

Entspricht nicht mein Studium der Zeichensprache dem Studium der Denkprozesse, welches die Philosophen für die Philosophie der Logik für so wesentlich hielten?Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 4.1121

Die russische Hochmoderne, unter Literatur- und Kunsthistorikern auch „Avantgarde“ genannt, hat die Dominanz des seit der Aufklärung ganz überwiegend an der Alltagsprosa orientierten Sprachgebarens beseitigt durch das Proklamieren einer Sprachverwendungsweise, mit Wittgenstein gesprochen: eines „Sprachspiels“, das in Verfahren der poetischen, einer ihrem Selbstmodell gemäß willkürfreien und sachangemessenen Sprache gründet. Die französische, aus Bulgarien gebürtige Literatur- und Kulturtheoretikerin Julia Kristeva nannte diesen Umschwung „Revolution der poetischen Sprache“94.

93 94 G. Deleuze (Ein Manifest weniger. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1991, S. 379-405) richtet sich gegen den systemorientierten Reduktionismus der Linguistik und entwirft die theatrale Sprache als eine der Minoriäten.

94 95 J. Kristeva, Die Revolution der poetischen Rede. Frankfurt a.M., S. 19.

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Angemessener wäre es, ihn einen Umsturz des prosaischen Redeverhaltens durch die poetische Sprache zu nennen. Aber die in Paris wirkende Kulturtheoretikerin wollte auf etwas besonderes hinaus, auf die feministische Deutung der poetischen Sprache mit ihren Verfahren der Verdichtung, Verschiebung und Umkehrung: als jene Subversion der herrschenden (männlich dominierten) Sprache, die durch das Heranwachsen zurückgedrängte Rhythmen des mütterlichen Körpers rehabilitiere95. Dabei sprach Jurij Tynjanov bereits 1924 mit Blick auf Chlebnikov von einer „planmäßig durchgeführten Explosion, einer Revolution, die zugleich eine Konstruktion ist“96. Die als Beleg herangezogene These „[Chlebnikovs] Wortschaffen ist die Explosion des sprachlichen Schweigens, der taubstummen Schichten der Sprache“97 verweist indes weniger auf den Konstruktivismus denn auf die zum Verstummen gebrachte rohe Natur: aufs Unterbewusste.

95 96 Es ist gewiss eine gegenläufige, traditionell maskuline Habitus adoptierende Neigung von Teilen der feministischen Bewegung, als Diskurspolizei sprachliche Normen von „political correctness“ durchzusetzen.

96 97 (Взрыв, планомерно проведенный, революция, которая в одно и тоже время является строем.) Ju. Tynjanov, Promežutok. In: idem, Poėtika. Istorija literatury. Kino. Moskva 1977, S. 168-195, hier S. 181. Die These vom revolutionären Charakter des Poetischen führt zurück auf Nietzsches Abschnitt „Die Revolution in der Poesie“, in dem er den Abschied von der künstlerischen Regel unter Berufung auf Byrons Verurteilung des „innerlich falschen revolutionären Systems“ kritisiert. Goethe wird ihm dabei zum Berufungsgrund der Erinnerung an „wahre Kunst“.

97 98 (Словотворчество – взрыв языкового молчания, глухонемых пластов языка.) V. Chlebnikov, Naša osnova. In: idem, Sobranie sočinenij v trech tomach. Sankt Peterburg 2001, Bd. 3, S. 244-254, hier S. 245.

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Dem von Wittgenstein für die Prosarede von Alltag und Philosophie beklagten Verlust der Möglichkeit, auf das Wesen der Welt Bezug zu nehmen, hat der russische Symbolismus durch systematisches Paradigmatisieren sprachlicher Kernelemente, der Motive nämlich, zu steuern gesucht98. Der Futurismus behauptete dann kraft der Erfindung einer Sprache, in der mit der Abkehr vom Rhetorisieren und Perspektivieren die Wörter, ja sogar die Buchstaben, den Charakter kratylischer Eigennamen erlangen, die unmittelbare Bezugnahme auf das Sein einer Welt, das in ihren Bauformen gründet. Dieser Umsturz hat auch die Sprache der Philosophie und über diese sogar deren Denktypus nicht unberührt gelassen. Kulturhistorisch betrachtet, reagiert die Sprachkrise des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf das im späten Positivismus und Naturalismus unübersehbar gewordene Zerbrechen der in Hegels Enzyklopädie des Geistes noch vorausgesetzten Einheitlichkeit der Welt im Wissen. Symbolismus99 und Avantgarde entwerfen Möglichkeiten der nicht mehr epistemologischen, sondern ästhetischen Konstituierung eines Ganzen, das dem Teil trotzig noch einmal seinen Sitz im Leben verspricht. Philosophisch ist in Russland der Zweifel an der Stichhaltigkeit der von der Aufklärung präferierten und zum Modell erhobenen Prosasprache am wirkungsvollsten durch den jüdischen Philosophen Lev Šestov und den Kulturtheoretiker Michail Bachtin artikuliert worden. Bachtin verwarf unter der Maske

98 99 Cf. A. Hansen-Löve, Der russische Symbolismus. Bd. 1, Wien 1989, Bd. 2, Wien 1998.

99100 Cf. Vl. Solov'ev, Sočinenija v dvuch tomach. Bd. 2, Moskva 1992, S. 140, S. 630.

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Vološinovs100 sowohl die Sprachauffassung Humboldts und Potebnjas als „individualistischen Subjektivismus“ wie auch das Sprachkonzept des „abstrakten Objektivismus“, für den Ferdinand de Saussure ihm Pate steht. Šestov hat in seiner Apotheose der Abgründigkeit vor allem die logische Syntax der philosophischen – zumal der metaphysischen – Prosa verworfen: die Schlussfolgerung. Sie bilde den Versuch, auf billige Weise aus einer Erkenntnis durch ein Urteil a priori eine weitere Wahrheit zu gewinnen101. Statt dessen komme es darauf an, Wahrheit a posteriori zu erlangen, wie „es fast alle Dichter taten, d.h., einfach gesagt, jedes Mal, wenn das Begehren entsteht, etwas zu erkennen, hinzugehen und hinzuschauen“102. So ist es kein Wunder, dass Šestov eher Dichter denn Philosophen als Beispiele heraufführt und aus ihren Werken Material zitiert, seien es Shakespeare oder Lermontov, Dostoevskij oder Tolstoj, Čechov oder Sologub. Gern brachte er auch Zitate aus Nietzsches Werk bei, hier die metaphorische, den zweiten Teil des Buches als Motto, als Eingang und Schluss der 46. Miniatur wie ein basso continuo durchziehende Losung von der Literatur „für Schwindelfreie“103. Für Schwindelfreie hatte Nietzsche eine philosophische Redeweise bestimmt, die nicht zu den Sicherungsseilen begrifflicher Argumentation greift, sondern sich zum metaphorischen und metonymischen Charakter

100101 V. Vološinov, Marxismus und Sprachphilosophie. Frankfurt a.M. usw. 1975. 101102 L. Šestov, Apofeoz bespočvennosti. Moskva 1991, S. 50. 102103«[...] попросту говоря, каждый раз, когда придет охота узнать

что-нибудь — поити и посмотреть.» L. Šestov, loc. cit., S. 50.103104Im Original Deutsch.

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philosophischer Ausdrücke bekennt. Es sind bei Šestov diese sich stetig wiederholenden Zitateinsprengsel, die seiner Prosa kraft der Intertextualität einen paradigmatischen (und damit im Sinne Jakobsons poetischen) Charakter verleihen. Analog beobachten wir bei Heidegger seit dem Buch Sein und Zeit eine Poetisierung des philosophischen Diskurses. Sie machte sich zunächst im Verfahren des Etymologisierens, also der Suche nach authentischer Bedeutung in der Vergangenheit des Redens bemerkbar. Für den Ontologen gilt: „Die Sprache spricht“, und das heißt: Sie spricht sich vollkommen aus im „Gesprochenen“104 der Dichtung. Wenn er schreibt: „Sagen, sagan heißt zeigen: erscheinen lassen, lichtend-verbergend frei-geben als dar-reichen dessen, was wir Welt nennen“105, reiht er in paradigmatischer Weise106 semantische Umschreibungen für sein eigenes Tun. Analog zu den russischen Formalisten wertet Heidegger gegenüber der Rede in poetischer Sprache „das alltägliche Reden der Menschen“ ab als „ein vergessenes und darum vernutztes Gedicht“107. Bei Wittgenstein ist die Wende vom logisch-deskriptiven, schlussfolgernden Tractatus logico-philosophicus mit der These „Was sich in der Sprache

104105M. Heidegger, Die Sprache [1950]. In: idem, Unterwegs zur Sprache. Pfullingen, 1959, S. 16.

105106M. Heidegger, Das Wesen der Sprache [1957/58]. In: idem, Unterwegs zur Sprache. Pfullingen, 1959, S. 200.

106107Das Reihen von Synonyma paradigmatisiert die Syntax durch die Einfuhr von Äquivalenz hier auf semantischer Ebene in analoger Weise wie in gebundener Rede die rhythmisch-metrische Gestaltung die Lautebene.

107108M. Heidegger, Die Sprache. [1950]. In: idem, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen, 1959, S. 31.

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spiegelt, kann sie nicht ausdrücken“108 zur pragmatischen Auffassung von der Bedeutung eines Wortes, die mit seinem Gebrauch kongruiert, sowie zum Modell vom Sprachspiel, das den ludischen Part der theatralischen, auf Illusion angelegten Rede auf die Diskurspraxis der Philosophie überträgt, eine Bewegung von der Ikonizität der logischen Grammatik, ihrer Ähnlichkeit mit der Welt hin zu einer performanzorientierten Pragmatik. Der im Tractatus logico-philosophicus und noch in den Philosophischen Bemerkungen von 1929 bis 1930 bei der Kennzeichnung des Verhältnisses von Welt- und Sprachgefüge vorherrschende Ausdruck „Bild“109 wird zunehmend abgelöst durch die Metapher vom „Sprachspiel“110.

108109L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a.M. 1963, § 4.121.

109110„Das logische Gerüst um das Bild herum bestimmt den logischen Raum.“ Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 3.42. „Das Wesen der Sprache aber ist ein Bild der Welt.“ (Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen (Idem, Schriften, Bd. 2). Frankfurt a.M. 1987, S. 85.) „‚Der Satz ist ein Bild’. Ein Bild wovon? Kann man sagen ‚von der Tatsache, die ihn wahr macht, wenn er wahr ist und von der Tatsache, die ihn falsch macht, wenn er falsch ist.’“ L. Wittgenstein, Wiener Ausgabe. „The Big Typescript“. Wien 2000, S. 198.

110111Die Spielauffassung kündigt sich freilich bereits im Tractatus an: „Die Wahrheitsbedingungen bestimmen den Spielraum, der den Tatsachen durch den Satz gelassen wird.“ (L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 4.463). Insofern scheint die These, die symbolische sei einer ikonischen Modellierung gewichen, zu grob, doch fängt sie ohne Zweifel die Tendenz richtig ein: „An die Stelle der symbolischen [...] Repräsentation einer Tatsache durch einen Satz im Sinne der Semiotik von C.S. Peirce tritt die ikonische [...] Repräsentation einer Lebensform durch ein Sprachspiel; jetzt ist das Satzradikal, d.h., die Prädikation, das Bild, das nur im Sprachgebrauch funktioniert.“ K.L., Sprachspiel. In: Hans Georg Sandkühler

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In die russische Philosophie hat diese Spielpraxis durch Engführung von poetischer Sprache und Entlarvung des illusionären Charakters der Kommunikation im Absurden der Obėriuten Eingang gefunden111. Foucault wiederum spricht in der zweiten Jahrhunderthälfte mit Blick auf den Diskurs von einem „jeu énonciatif“112. Ob als Spiel des Schreibens im Fall der Philosophie des begründenden Subjektes, als Spiel des Lesens im Fall der Philosophie ursprünglicher Erfahrung oder als Spiel des Tausches im Fall der Philosophie universeller Vermittlung, stets büßt für Foucault in der „Ordnung des Diskurses“, welche die „Ordnung der Dinge“ mit dem Eintritt ins 20. Jahrhundert abgelöst habe, der Diskurs seine Realität ein, indem – und hier werden wir hellhörig – „er sich der Ordnung der Signifikanten unterwirft“113. Wenn Foucault dazu auffordert, „die Herrschaft der Signifikanten“ zu brechen und dem Diskurs durch Profilierung von Inversion, Diskontinuität, Spezifik und Äußerlichkeit seinen Ereignischarakter zurückzugeben, reaktiviert er in den 70er Jahren Forderungen, die russische Formalisten fünfzig Jahre zuvor für die poetische Rede erhoben und die Freud sowie Jung zum Spezifikum des Unbewussten erklärt hatten. Vom Ereignischarakter der künstlerischen Rede hat zur selben Zeit der russische Kulturphilosoph Bachtin gehandelt. Mit anderen Worten gesagt: Jene

(Hg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Bd. 4. Hamburg 1990, S. 66-68, hier S. 66.

111112Cf. A. Hansen-Löve, Paradoxien des Endlichen. Unsinnsfiguren im Kunstdenken der russischen Dichter des Absurden. In: Wiener Slawistischer Almanach Bd. 44, 1999, S. 125-183.

112113M. Foucault, L’archeologie du savoir, Paris 1969. 113114M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt

(usw.) 1977, S. 34.

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Entfesselung der Sprachauffassung aus dem Diktat der rhetorisch und logisch nach Kausal- und Wahrscheinlichkeitsprinzipien organisierten Rede von Aufklärung und Positivismus, die zum Jahrhundertbeginn vor allem in den Debatten der Literaten, Kritiker und Literaturwissenschaftler gefordert wurde, hat im Lauf des 20. Jahrhunderts ihren Niederschlag auch in Sprach- und Kommunikationsphilosophie gefunden. Die Sprache der russischen Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts zeigt im philosophischen Diskurs Vladimir Solov'evs die Durchlässigkeit der Prosarede hin zu Verfahren seines poetischen Sprachgebrauchs. Wir beobachten im Spätwerk vom Ende der 90er Jahre auch die Neigung zur Fiktionalisierung der Prosa. Sie tritt vor allem in seinen „Drei Gesprächen über Krieg, Fortschritt und das Ende der Weltgeschichte unter Einschluss einer kurzen Erzählung vom Antichrist“ zu Tage. Den Gipfel der philosophischen Argumentation nimmt mit der „kurzen Erzählung vom Antichrist“ jene Gattung der Parabel ein, die aus Dostoevskijs fiktionaler Prosa, etwa der berühmten Erzählung vom Großinquisitor114, hervorgeht und eine analoge allegorische Funktion erlangt wie später in den Parabeln der russischen absurdistischen Obėriuten und Kafkas. Übrigens stammt die von Fukuyama und Lyotard zum Schluss des 20. Jahrhunderts so lautstark im Munde geführte Rede vom „Ende der Geschichte“ – sie sagt ja vor allem dem zeitfundierten Prosaerzählen den Exitus an – gerade aus dieser Quelle, aus Solov'evs philosophischer Rede. Der Vermittler der These war kein anderer als der russische

114115Cf. zur Modellhaftigkeit dieser Parabel Verf., An den Grenzen der Moderne. Das Denken und Schreiben Vasilij Rozanovs. Kap. 6. München 2003, 267-316.

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Philosoph Kojève alias Koževnikov, der bei Karl Jaspers eine Dissertation über den Religionsphilosophen Vladimir Solov'ev verfasst hatte und die These vom „Ende der Geschichte“ in der totalitären Variante nach Frankreich vermittelte, Stalin sei als Vollstrecker der Französischen Revolution, als neue Inkarnation Napoleons zugleich der Auslöser des Endes der Geschichte, des Finales der Prosa115.Bachtin, der in den 1920er und 1930er Jahren die Prosa mit ihrer dialogisch perspektivierten Rede am Beispiel Dostoevskijs der monologischen poetischen Rede vorgezogen hatte, wandte sich in den 40er Jahren der performativen Praxis des Karnevals und seiner Repräsentation in der Literatur am Beispiel von Rabelais und Gogol' zu. Dabei geriet, anders als in der Stimmenvielfalt der Prosa, nicht der mehrstimmige – ambigue und ambivalente – Standpunkt in den Blick, sondern das mehrdeutige und mehrwertige Ding selber, vor allem der sterbende und gebärende Leib. Zwar wählt Bachtin nicht das Theater mit seiner dramatischen Rede zum Gegenstand der Abhandlung, doch ist der Karnevalsteilnehmer wie der Schauspieler ein Gespaltener: Er ist spielender Mensch des Alltags und zugleich die kraft Verkleidung und Verstellung gespielte andere Persona. Gegen die seriöse, oft todernste und zumeist triviale Prosa der Stalinschen Administration profilierte Bachtin die „spezifische und schwierige Sprache des lachenden Volkes“116. Während Stalins Regime mit dem Ziel des Machterhalts das Theater zur politischen Praxis erhob, das politische

115116Cf. Verf., Lev Šestovs Philosophie des existentiellen Bruchs. Das Eigene und das Fremde im Exil (im Druck).

116117« [...]своеобразный и трудный язык смеющегося народа.» M. Bachtin, Rable i narodnaja kul'tura srednevekov'ja i Renessansa (2. Auflage). Moskva 1990, S. 545.

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Leben also theatralisierte und in Benjamins Sinne ästhetisierte, hat Bachtins Karneval die Relativität der sozialen Position sowie ihre zeitliche Begrenztheit sowie die Reziprozität von Leben und Spiel herausgestellt. Zugleich machte er aufmerksam auf den Karneval als Kunstform des Lebens: „Und so spielt im Karneval das Leben selber, und das Spiel wird auf Zeit zum Leben selber. Hierin liegt die spezifische Natur des Karnevals, seine besondere Daseinsform.“117

7. Lebenskunst versus Kunstleben

Um zur Klarheit über ästhetische Ausdrücke zu kommen, muß man Lebensformen beschreiben. Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen über Ästhetik1

Die Krise der Sprache an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war kein singuläres Phänomen, sondern Ingredienz einer umfassenderen Kulturkrise. In der Moderne war nämlich, anders als im Realismus, keine Grenze zwischen Kunst und Leben, zwischen dem literarischen Text und dem Alltagsdasein aufrechtzuerhalten. Im Realismus setzt das Grundmodell der Widerspiegelung eine unüberwindliche Trennlinie zwischen Kunstwerk und Lebenswelt: Zwischen ihnen steht der Spiegel. Wer die Grenze überschreitet, zerbricht den Spiegel. Dies hat Jean

117118«Итак, в карнавале сама жизнь играет, а игра на время становится самой жизнью. В этом специфическая природа карнавала, особый род его бытия.» M. Bachtin, Rable i narodnaja kul'tura srednevekov'ja i Renessansa (2. Auflage). Moskva 1990, S. 13. Dt.: Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a.M. 1987, S. 56.

1 119 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen über Ästhetik. In: idem, Vorlesungen über Ästhetik, Psychologie und Religion. Göttingen 1968, S. 19.

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Cocteau in seinem Film Orphée beispielhaft vorgeführt, in dem der Künstler durch den zerberstenden Spiegel in das Reich der Imagination tritt. Das Feld der alltäglichen Prosarede wird verlassen, indem der Mensch in das Sprachkunstreich der Imagination steigt.Während die Frühmoderne nun das Reich der Kunst, also die Dominanz des Ästhetischen, in die Lebenswelt expandiert, sucht die Hochmoderne, das Leben in die Kunst auszudehnen. Dabei ist freilich mit Blick auf die Sprachkonzeption ein wichtiger Unterschied zu beachten: Die Frühmoderne, etwa der russische Symbolismus, weitet den Geltungsbereich der lautorientierten poetischen Sprache auf die Lebenswirklichkeit aus; d.h., hier wird der poetischen Sprache Gültigkeit auch für den Alltag beigemessen. Die Sprache der Prosa des Alltags sei falsche Rede, sage Unwahrheiten und erzeuge so ein inadäquates Bild von der Wirklichkeit. Sophia etwa ist nicht nur der Name einer imaginierten Frau, welche der russische Philosoph und Symbolist Solov'ev zunächst als Knabe kraft eines im Traum erlebten Rendezvous mit einer Frauengestalt verbindet, ein zweites Mal mit einer halluzinierten Begegnung mit dieser Figur im Bibliothekssaal des Britischen Museums und schließlich, auf einer eigens zu diesem Zweck veranstalteten Reise in die Sahara unweit von Kairo – gleichsam als Fata Morgana. Sophia ist für Solov'ev die inkarnierte Weltweisheit, die mit und neben der christlichen Trinität das geistige Ordnungsprinzip der Welt ausmacht, sie ist so etwas wie der ins Weibliche verschobene Hegelsche „Weltgeist“. Sophia ist aber nicht nur Inbegriff des Denkens, sondern Eigenname jener Erscheinung, der – wie Berufsinhalt und Berufsbezeichnung „Philo-Sophie“ und „Philosoph“ sagen – die tätige Liebe des Denkers Solov'ev gilt.

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In der Hochmoderne, im Futurismus und seiner Ästhetik, Kunst- und Sprachtheorie, dem russischen Formalismus, tritt die poetische Sprache dagegen als die Redeweise hervor, in der die sprachliche und außersprachliche Wirklichkeit wahrnehmbar, lebendig ist, während die von Konvention geprägte Alltagsprosa die Wahrnehmung durch Automatisierung be- oder gar verhindert2. Sprachliche und außersprachliche Wirklichkeit sind daher leblos, versteinert, ja tot. Hier ist es die Aufgabe der poetischen Sprache, die Redeweise stetig vor dem Abrutschen in Konventionalität, Redeklischee und stereotypen Habitus zu bewahren, oder die bereits in Tradition erstarrte Rede durch Innovation wieder lebendig, spürbar zu machen. Als der russische Futurist Vladimir Majakovskij dessen gewahr wurde, dass sein Verhältnis zu seiner Geliebten Lili Brik in den Usancen des Alltags erstickt zu werden drohte, dass ihre Wechselrede zunehmend von der Alltagsprosa statt von der tönenden Rede der Liebe geprägt war, hat er sich, um die Liebe zu erneuern, eine mehrwöchige schmerzliche Trennung von der Geliebten auferlegt. Das neue an Lili Brik gerichtete Wort ist das in der Trennung geschriebene Poem Pro ėto, also etwa „Darüber“. Dabei wurde schon im Titel dasjenige, worüber zu sprechen war, eben die Liebe (russ. ljubov'), kraft des Euphemismus durch das Pronomen ėto (also „das“) ersetzt. Was nicht in poetischer Sprache zu erschaffen war, darüber war – zu schweigen. Das Wort ljubov' (Liebe), dem bereits Puškin im Versroman Evgenij Onegin wegen des inflationären Reims auf krov' (Blut) poetische Brauchbarkeit abgesprochen hatte (cf.

2 120 Den Unterschied zwischen Lebenskunst und Kunstleben artikuliert bereits F. Nietzsche (Werke. Bd. 1, Stuttgart usw. 1958, S. 804) im Stück „Gegen die Kunst der Kunstwerke“ von Menschliches, Allzumenschliches.

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im Deutschen den Standardreim Liebe – Triebe), ist als konventionelles Lexem unbrauchbar geworden. Mit dem Wort ist auch der gängige Liebesentwurf, die bürgerliche Ehe, für Majakovskij obsolet geworden. Im folgenden Zitat führt das „Thema“ (die Liebe) als lebensweltliche Erscheinung – wie im aktuellen Leben – selber Regie:Эта тема придет, Dieses Thema kommt,

прикажет: befiehlt:

—Истина! — „Wahrheit!“

Эта тема придет, Dieses Thema kommt,

велит: ordnet an:

— Красота ! —3 „Schönheit!“

Eine tiefe Kluft liegt zwischen dem symbolistischen Sprachentwurf Mallarmés und Velimir Chlebnikovs futuristischer Sternensprache. Mallarmé ist als Vertreter der frühen Moderne auf die Lautseite der Rede eingestellt4, auf ihre der Romantik verpflichtete Phonemik. Der russische Futurist zielt als Angehöriger der Hochmoderne auf die graphische Darstellung, auf die Buchstabengestalt. Hier ist Derridas „différance“, die Spanne zwischen Zeichenerzeugung und -aufnahme, welche die Umorientierung von der oralen auf die literale Semiose im Nachhinein philosophisch

3 121 V. Majakovskij, Polnoe sobranie sočinenij v 12 tomach, Bd. 6: Poėmy 1919-1927. Moskva 1940, S. 73-133, hier S. 76.

4 122 G. Genette, op. cit., S. 308-311.

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legitimiert, bereits Teil des Kommunikationsaktes. Zum anderen ist für Mallarmé wie für die Symbolisten der Laut unmittelbarer Repräsentant der Idee, des Entwurfs, der Bedeutung. Er versinnlicht dabei noch stets zeichenhaft ein Abwesendes. In der futuristischen Buchstabensprache Zaum' wird das Graphem dagegen als Ding, als Erscheinung mit eigenen Eigenschaften aufgefasst, die ihrerseits die Bedeutung des Buchstabens konstituiert. Zum Ding geworden, steht die Graphemfolge nicht mehr für etwas anderes, sondern allein noch für sich selbst5.

5 123 Allerdings gab es auch gegenläufige Deutungen der Zaum'-Rede. Sie liefen darauf hinaus, bedeutungsoffene, ja situationsoffene Redeeinheiten zu schaffen, die keine Bindung der Lautfolge an feste Seme mit sich bringen. So sah es Kušner als Ziel an, eine Massen-Sprache „schallender, kurzer und klarer Signale“ (zyčnych, kratkich i jarkich signalov) zu entwickeln, die nicht nur von Situation zu Situation ihre Bedeutung ändern, sondern sogar innerhalb der kurzen Spanne Zeit, die erforderlich ist, sie auszusprechen. Hier hat die Sprachschöpfung eine primär soziale Dimension: „Die Sorge darum, der Straße einen eigenen sozialen Dialekt zu verleihen, einen einzig ihr eigenen, stieß die Futuristen dazu an, sich mit der Ausarbeitung der Zaum'-Sprache zu befassen." (Забота о том, чтобы дать улице особый социальный диалект, одной ей свойственный, побудила футуристов заняться разработкой заумного языка. B. Kušner, Vstup. In: A. Kručenych, Fonetika teatra. Moskva 1923, S. 4). Diese sozial restringierte Funktion war dann auch der entscheidende Kritikpunkt E. Polivanovs (O fonetičeskich priznakach social'no-gruppovych dialektov i, v častnosti, russkogo standartnogo jazyka. In: idem, Za marksistskoe jazykoznanie. Moskva 1931): Ein Idiom, das für den Straßengebrauch reserviert sei, könne nicht allgemeingültig sein.

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8. Die Beispiele von Chlebnikovs „Sternensprache“ und „Zaum“

Vgl. den Denkfehler, daß die Bedeutung oder der Gedanke das Wort nur begleitet, und daß es auf das Wort nicht ankommt.Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen über Ästhetik6

Chlebnikovs futuristische „Sternensprache“ (zvezdnyj jazyk) entwirft ein Idiom, das nur aus mit ihren Trägern unverbrüchlich verquickten Namen besteht: Die Gestirne selber sagen ihre Namen als ihre eigenen Eigenschaften auf. Das früheste Sternensprache7

enthaltende Gedicht entwirft das Nebeneinander neuer, poetischer und traditioneller, prosaischer Rede. Anaphorisch erklingen in den ersten fünf Versen die poetischen Namen der Lippen, Blicke, Brauen, Gestalt und Kette, woran jeweils die Prosaübersetzung dieser Klangwörter anschließt. Laute schlagen um ins Sichtbare; selber dimensionslos, ist das Porträt der Person die Persönlichkeit: Бобэòби пелись губы Bobėobi tönten [sangen sich] die

LippenВээòми пелись взори Vėėòmi tönten die BlickeПиээо пелись брови Piėėo tönten die BrauenЛиэээи пелся облик Liėėėi tönte die GestaltГзи-гзи-гзэо пелась цепь Gzi-gzi-gzėo tönte die Kette

6 124 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen über Ästhetik. In: idem, Vorlesungen über Ästhetik, Psychologie und Religion. Göttingen 1968, S. 57.

7 125 M. I. Šapir, O ‚zvukosimvolizme’ u rannego Chlebnikova. In: Mir Velimira Chlebnikova. Moskva 2000, S. 348-354.

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Так на холсте каких-то соответствий

So auf der Leinwand irgendwelcher Entsprechungen

Вне протяжения жило Лицо. Außerhalb einer Ausdehnung lebte Die Person/Das Antlitz.

Ein weiteres Beispiel der Chlebnikovschen Sternensprache bildet der Titel des Poems Ázy iz úzy. Seine Unübersetzbarkeit ist im Sinne des Kunstdenkens der Futuristen Beleg für seine Authentizität. In der russischen „alltäglichen“ Prosarede wäre eine Formulierung möglich wie Azý iz uz8; sie bedeutete: „Die Anfangsgründe aus Fesseln“. Man spricht etwa von den Azý nauk und meint damit die „Anfangsgründe der Wissenschaften“. Das Poem legt aufgrund der Verdichtung von Ázija (Asien) und Azý (Ichs) sowie der metrischen Äquivalenz von Ázy und úzy gegen die grammatische Norm die Anfangsbetonung Ázy nahe. Umgekehrt motiviert diese Klangähnlichkeit die Abweichung von der grammatischen Kasusnorm im zweiten Glied: Die Präposition iz (‚aus’) verlangt im Russischen den Genitiv, der im Plural des femininen Substantivs durch ein Nullmorphem ausgedrückt ist, also regelgerecht uz lautet. Die „falsche“ Kasusform úzy induziert so die „falsche“ Betonung ázy.Für den stimmhaften Konsonanten z verzeichnet Chlebnikovs „Wörterbuch der Sternensprache“ die Grundbedeutung: „ein Paar einander ähnlicher

8 126 Der kasachisch-russische Schriftsteller Sulejmanov hat hieraus den Titel Azy i ja geprägt, also etwa „Anfangsgründe und ich“; er bezieht sich dabei aber autobiographisch vor allem auf die Verortung des „Ich“ (ja) in „Asien“ (Azija), während Chlebnikov die asischen Ichs dem Stereotyp des chaotischen Asien entgegenhält.

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Punktmengen, das durch einen Abstand geteilt ist“9. Hervorzuheben ist die räumlich-geometrische Grundorientierung dieser semantischen Bestimmung, die offenbar zwei Erscheinungen kraft des Prinzips der Ähnlichkeit sowohl Äquivalenz als auch Abstand zuordnet. Die lexikalische Bedeutung des Ursprungs, der Herkunft, die der Präposition iz im Wörterbuch der russischen Sprache eignet, wird unterlaufen von der graphematisch induzierten und indizierten Bedeutung der Distanz bei Ähnlichkeit. Und in der Tat zeigen die beiden Lexeme Azy und uzy in der vorliegenden Form weitgehende Ähnlichkeit durch Identität von zwei der drei Phoneme bei gleichzeitigem Unterschied im anlautenden Vokal. Roman Jakobson hat diese Form der Alternierung des Stammvokals aufeinander bezogener Wörter in der poetischen Sprache vor allem des Futurismus „innere Flexion“ oder „Wurzelflexion“ (flektirovanie osnov10) genannt. Wie die Wörter eines morphologischen Schemas alternierende Flexionsformen zeigen und sich gerade dadurch als Teile eines Paradigmas erweisen, so stellt die poetische „innere Flexion“ die Wörter als Elemente eines semantischen Paradigmas heraus. In regelmäßiger Reihung, als gleichmäßige Folge der paradigmatischen Elemente auf der syntagmatischen Ebene lautete der

9 127 «[...] пара взаимно подобных точечных множеств, разделенная расстоянием» (Slovar' zvezdnogo jazyka (obščego vsej zvezde, naselennoj ljud'mi). In: V. Chlebnikov, Sobranie sočinenij v šesti tomach. Bd. 3, Moskva 2002, S. 276).

10 128 R. Jakobson, Novejšaja russkaja poėzija. Viktor Chlebnikov. In: W.-D. Stempel/J. Striedter (Hg.), Texte der russischen Formalisten. Bd. 2. München 1972, S. 18-134, hier S. 96. Cf. auch H. Günther, Befreite Worte und Sternensprache. Der italienische und russische Futurismus. In: R. Grimminger u.a. (Hrg.), Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbek 1995, S. 284-313.

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Titel dann: *Azy izy uzy. Die im letzten Glied, bei uza also nicht realisierte Genitivform uz wird nun im mittleren Glied realisiert: Mit dem Nullmorphem des Genitivs Plural versehen, lautet dieser Ausdruck: iz. In der poetischen Morphologie dieses Gedichts wird so die Genitivendung auf jenen Ausdruck verlagert, mit Freud gesprochen: verschoben, der diese Endung verlangt, auf die Präposition. Mit Hanna Arendt geredet: „tönt“, futuristisch gesehen: zeigt sich der graphischen Orientierung gemäß die Herkunft in eben dem Wort, das die Herkunft benennt, genauer, in seiner Kasusform. Das Wort selber, präziser: sein Herkunftskasus ist Herkunft.Und so entwirft das Poem Azy iz uzy mit seinem Titel bei genauer Lektüre ein Programm der Befreiung des sich mit Asien identifizierenden Ich – dies bedeutet ja az – aus den Fesseln des ungeordneten Beginns. Wer (wie Hannah Arendt) Ohren hat, zu hören, wird bereits aus dem Adoneus, der Verknüpfung des akatalektischen mit dem katalektischen Daktylus Setzung und Sprengung der Ordnung hören: – È È – È (zwei Daktylen, zweiter: katalektisch). Azy iz uzy setzt jedoch vornehmlich die literale Perspektive ins Werk: „Von A bis O“ hieße im Russischen zwar ot a do ja, in der vom Kirchenslavischen (ot aza do ižicy) gestützten, poetisch erfundenen Form reicht sie von az bis uz. Der Anfang des Alphabets entspringt seinem Ende wie die Geburt dem Tod. Dieses Ent-Springen ist der Weg aus den Fesseln auch der Alltagsgrammatik. Da Florenskij in dem bereits zitierten Aufsatz Die Antinomie der Sprache die Frage stellt „Und wäre es nicht zweckmäßiger, die Lautrede, die sich aus der Brust ergießt, von den Fesseln jener Wortrede zu

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befreien, der selber ja schon keine adäquate Logik zugrunde liegt?“11 und dabei den Kernausdruck uz („Fesseln“) im Genitiv Plural anführt, liegt es nahe, Chlebnikovs Gedicht Azy iz uzy als poetische Antwort auf Florenskijs Prosa-Traktat, als poetische Realisierung einer von den Fesseln der Prosa befreiten Wortkunst zu verstehen.Kraft der sprachgestaltenden Energie des lyrischen Ich wird aus dem Chaos des Uranfangs eine alles umfassende Ordnung erzeugt. Dabei muss sich der poietische Impetus perspektivierender, grammatisch-normativer und rhetorisierender Gewohnheit widersetzen. Er hat keine Referenz mehr außer sich selbst. Die grenzüberschreitende Sprache der Krise ist die Sprache der Schöpfung. Und sie ist die Sprache der Freiheit. Im Angesicht der von ihr negierten und sie negierenden herrschenden Prosa erscheint sie freilich als eine Rede der Negativität.

11 129 Meine Hervorhebung (russ.: «И не целесообразнее ли будет просто освободить звуко-речь, льющуюся из груди, от уз слово-речи, ужé, в сущности, все-равно не несущей в себе адекватной логичности?») P. Florenskij, Antinomija jazyka. I.c., S. 159.