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Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht Professor Dr. Jens Koch Legal Judgment Rule 7. Hamburger Forum Haftpflichtversicherung 14. Oktober 2016 in Hamburg

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Page 1: Legal Judgment Rule - Universität Hamburg · 21.10.2016 · Kritik: Widerspricht eindeutiger Festlegung des BGH in der ARAG-Entscheidung. HLit. differenziert nicht zwischen Bestand

Lehrstuhl für Bürgerliches Recht,Handels- und Gesellschaftsrecht

Professor Dr. Jens Koch

Legal Judgment Rule

7. Hamburger Forum Haftpflichtversicherung14. Oktober 2016 in Hamburg

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Prof. Dr. Jens Koch

Gedanklicher Ausgangspunkt: Die Business Judgment Rule

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Gesetzgeberische Motive

1. Ursprung: Ursprünglich konzipiert als Gegengewicht zur vermeintlichenHaftungsverschärfung durch Einführung des § 148 AktG (Aktionärsklage)

2. Grundgedanke: Vorstände sollen nicht durch Haftungsgefahren in unter-nehmerischer Initiative beeinträchtigt werden.

3. Sorgfaltsmaßstab: Haftungsbegründender Pflichtenverstoß wird an Sorg-faltsvorgabe (§ 93 I 1 AktG) bemessen, der sehr stark von subjektivenErwägungen geprägt sein kann.

4. Verstärker: Gerichtl. hindsight bias kann ohnehin bestehende Haftungsge-fahren noch verstärken.

5. Fazit: Derartige Unsicherheit trägt der Schwierigkeit der Abwägungssitu-ation nicht hinreichend Rechnung.

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Die Lösung

1. Safe-Harbour-Lösung: Dem Vorstand wird durch die Business JudgmentRule ein safe harbour eröffnet.

2. Prozeduralisierung: Wenn er bestimmte Regeln optimaler Entschei-dungsfindung beachtet, nimmt Gericht keine eigene Sorgfaltsprüfung vor.

3. Einkleidung in Figur des Ermessens: Eingekleidet wird diese Regelungin die Figur des verwaltungsrechtlichen Ermessens: Dem Vorstand wirdeine Entscheidungsprärogative eingeräumt; das Gericht reduziert seinePrüfungsdichte.

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Voraussetzungen

Der Pflichtenmaßstab des Vorstands wird durch die Business JudgmentRule des § 93 I 2 AktG konkretisiert, wonach eine Sorgfaltspflicht dann ausgeschlossen ist, wenn der Vorstand

eine unternehmerische Entscheidung (Gegenbegriff: rechtlich gebunde-ne Entscheidung)

auf der Grundlage angemessener Informationen getroffen hat,

keinen Sonderinteressen oder sachfremden Einflüssen unterlag,

vernünftigerweise annehmen durfte, zum Wohl der Gesellschaft zu handeln (herrschende Interpretation: Risiko in völlig unverantwortlicher Weise falsch beurteilt)

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Die Legal Judgment Rule

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Grundgedanke

1. Gedankliche Fortführung der Business Judgment Rule

2. Ausgangspunkt: Durch das Merkmal der unternehmerischen Entschei-dung sollen rechtlich gebundene Entscheidungen aus dem Anwendungs-bereich der Business Judgment Rule grds. ausgeklammert werden.

3. Einwand: Das überzeugt, wenn rechtliche Bindung klar ist, nicht aber, wenn sie ungewiss ist.

4. Ungewissheit: besteht immer dort, wo rechtliche Aussage zweifelhaft ist und höchstrichterliche Klärung noch nicht erfolgt ist.

5. Situation des Vorstands: Hier ist Vorstand in ähnlich schwieriger Abwä-gungssituation wie beim Business Judgment. Rechtliche Einschätzung ist ebenso mit Irrtumsrisiko behaftet wie unternehmerische Entschei-dung.

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Lösung

1. Grundsatz: Übertragung der Business Judgment Rule auf rechtlicheFehleinschätzungen.

2. Präzisierung der Gesetzesmaterialien: Rechtsbindung liegt nur dannvor, wenn sich aus der fraglichen Norm ausschließlich ein zutreffendesrechtliches Auslegungsergebnis ableiten lässt, weil es nur dann lediglichein rechtlich zulässiges Verhalten gibt.

3. Folgerung: Sind in einer Rechtsfrage aus ex ante Sicht mehrere Sicht-weisen vertretbar und nimmt Gericht später einen anderen Rechtsstand-punkt ein als der Vorstand, steht er unter dem Schutz der LegalJudgment Rule.

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Beispielsfälle

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Beispielsfall 1

S will von seinem Amt als Vorstandsvorsitzender des Automobilkonzerns D-AG zurücktreten. Da diese Nachricht an den Aktienmärkten heftigeKursbewegungen auszulösen droht, wird die Veröffentlichung einer ent-sprechenden Ad-Hoc-Mitteilung erwogen. Das Kapitalmarktrecht lässt abereine Selbstbefreiung von dieser Pflicht zu, wenn es „zum Schutzeberechtigter Interessen erforderlich ist“. S hält solche Interessen fürgegeben, da die Suche nach einem Nachfolger noch nicht abgeschlossen istund er vorher sein Amt nicht niederlegen will, um keine Unruhe in dieGesellschaft zu tragen. Richter R hält nachträglich die Selbstbefreiung fürunberechtigt. Soll S wegen einer Pflichtverletzung haften?

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Beispielsfall 2

Die X-AG ist in eine Krise geraten. Für diesen Fall sieht § 87 Abs. 2 AktGvor, dass Bezüge des Vorstands auf die angemessene Höhe herabzusetzensind. Der Vorstandsvorsitzende V erhält ein reguläres Fixgehalt von 1 Mio. €pro Jahr. Der Aufsichtsrat setzt sein Gehalt auf 800.000 € herab. Muss derAufsichtsrat haften, wenn Richter R eine Herabsetzung auf 700.000 € fürangemessen hält?

§ 116 S. 3 AktG: Aufsichtsratsmitglieder sind namentlich zum Ersatz ver-pflichtet, wenn sie eine unangemessene Vergütung festsetzen.

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Beispielsfall 3

Die X-AG ist in eine Krise geraten. Für diesen Fall sieht § 87 Abs. 2 AktGvor, dass Bezüge des Vorstands auf die angemessene Höhe herabzusetzensind. Der Vorstandsvorsitzende V erhält ein reguläres Fixgehalt von 1 Mio. €pro Jahr. Der Aufsichtsrat setzt sein Gehalt auf 150.000 € herab. V hält dasfür unangemessen und klagt. Darf Richter R die Festsetzung des Auf-sichtsrats korrigieren, wenn er selbst nur eine Herabsetzung auf 500.000 €für angemessen hält?

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Wider die Legal Judgment Rule

1. Vordergründige Plausibilität: Legal Judgment Rule überzeugt, wennman sie rein haftungsrechtlich denkt.

2. Gedanklicher Fehler: Die Figur des Ermessens entscheidet in ihrenverwaltungsrechtlichen Ursprüngen nicht über eine Haftung, sondernüber den Bestand der Entscheidung. Beispiele: Schulnoten Beamtenrechtliche Beurteilungen Sachverständigenentscheidungen

3. Grund der Bestandskraft: größere Sachnähe, größerer Sachverstand,fehlende Wiederholbarkeit der Beurteilungssituation.

4. Übertragung auf Legal Judgment Rule: keiner dieser Gründe trifft aufrechtliche Beurteilungen zu.

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Schlussfolgerung

1. These: Dass Entscheidungen des Vorstands in ihrem Bestand stets voneiner rechtl. Überprüfung ausgeschlossen sind, ist eine nicht zurechtfertigende Zurückdrängung gerichtl. Kontrolle aus dem Aktienrecht.

2. Richtiger Kern der Legal Judgment Rule: Vorstand darf bei schwie-riger rechtlicher Beurteilung nicht haften, wenn er in vertretbarer Weisezu einer von der gerichtlichen Abwägung abweichenden Einschätzunggelangt.

3. Unrichtige Folgerung: Verortung im Ermessen schießt weit über diesesZiel hinaus, weil es auch den Bestand seiner Entscheidung dergerichtlichen Kontrolle entzieht.

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Richtige Behandlung

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Lösung

1. Strikte Trennung zwischen Pflichtwidrigkeit und Verschulden: ausgerichtlicher Sicht fehlerhafte Rechtseinschätzung bleibt pflichtwidrig undkann deshalb korrigiert werden.

2. Verschuldensebene: auf Verschuldensebene ist der vertretbaren Fehl-einschätzung durch Anerkennung eines entschuldbaren RechtsirrtumsRechnung zu tragen. Haftung scheitert daher an fehlendem Verschulden.

3. Drei Einwände: Terminologisches Unbehagen: Kann Vorstand hier wirklich „Pflichtwidrigkeit“ attestiert

werden? – Wird aber auch bei § 280 I BGB in Kauf genommen. Abberufung des Vorstands nicht gerechtfertigt: Kann nach § 84 III AktG aber nur

bei schwerem Pflichtverstoß vorgenommen werden. Fehlendes Verschulden lässtjedenfalls „Schwere“ des Verstoßes entfallen.

Hürde für entschuldbaren Rechtsirrtum zu hoch: Rspr. stellt an entschuldbarenRechtsirrtum hohe Anforderungen nur im Außenverhältnis, wo Entscheidungsträgerseine Interessen trotz zweifelhafter Rechtslage auf Kosten fremder Rechte wahrnimmt.Im Innenverhältnis deutlich großzügigerer Maßstab (BGHZ 131, 346).

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Behandlung auf Verschuldensebene

1. Ansatz (Gerald Spindler): Anwendung der Business Judgment Rule aufder Verschuldensebene. Vorteil dieser Lösung: beachtliche Erkenntnis-fortschritte zu § 93 I 2 AktG können für Verschulden nutzbar gemachtwerden.

2. Ansatz (BGH): BGH hat in ISION-Entscheidung damit begonnen, eigeneRegeln für die Behandlung rechtlicher Fehleinschätzungen zu entwickeln,die mit Business Judgment Rule nicht deckungsgleich sind.

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Behandlung durch BGH

1. ISION (BGH AG 2011, 876; präzisierend BGH NZG 2015, 792): Rechtsirrtum findet auf Verschuldensebene und nicht bei § 93 I 2 AktG

Berücksichtigung Entschuldigung greift ein, wenn Vorstand sich um Ermittlung zutr. Rechtslage

bemüht hat und auf dieser Grundlage vertretbaren Rechtsstandpunkt sorgfältiggebildet hat.

Bei komplexeren Entscheidungen, die rechtl. Beratung offensichtlicherforderlich machen, muss Vorstand Sachverhalt ordentlich aufarbeiten, aufdieser Grundlage sachverständigen Rechtsrat einholen und diesen im Rahmenseiner Möglichkeiten auf Plausibilität prüfen.

Anforderungen an Plausibilitätsprüfung dürfen nicht überspannt werden undmüssen Verständnishorizont u. Vorbildung des Empfängers Rechnung tragen.

Auch vollständige Lektüre eines Gutachtens ist nicht erforderlich, sondern esgenügt Kenntnisnahme einer Kurzfassung mit stichprobenartiger Überprüfungdes Gesamtgutachtens

2. Entscheidung zu § 87 II AktG (BGH ZIP 2016, 310): kein Beurtei-lungs- oder Ermessensspielraum, sondern Gericht kann eigenen Herab-setzungsbetrag festlegen

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Weitergehende Überlegungen im Schrifttum

HLit. schreibt ISION-Entscheidung heute folgendermaßen fort:

Vorstand sollte zumindest bei weitreichenden Entscheidungen im ZweifelRechtsrat, auf jeden Fall aber zweite Meinung einholen.

Bei eilbedürftigen Entscheidungen genügt summarische Rechtsprüfung.

Lassen sich die Rechtszweifel auch bei Hinzuziehung von Expertenratnicht gänzlich ausräumen, darf der Vorstand nach sorgfältiger Abwägungauch einen für die Gesellschaft günstigen Rechtsstandpunkt einnehmen.

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Weitergehende Folgerung: ARAG/Garmenbeck

1. ARAG/Garmenbeck (BGHZ 135, 244): AR trifft grds. Verfolgungspflicht, die aber zurückstehen kann, wenn Wohl der

Gesellschaft es erfordert. Bei dieser Abwägung handelt es sich nicht um eine „unternehmerische

Entscheidung“

2. Verbreitete Tendenz in der Lit.: Umdeutung in Business Judgment –Begründung: schwierige Abwägung kann nicht zuverlässig getroffenwerden, so dass Haftung der AR-Mitglieder nicht angemessen ist.

3. Kritik: Widerspricht eindeutiger Festlegung des BGH in der ARAG-Entscheidung. HLit. differenziert nicht zwischen Bestand der Entscheidung und Haftung:

Auch wenn Gericht zu abweichender Abwägung gelangt und Nichtverfolgungdeshalb für fehlerhaft hält, darf es Entscheidung des AR korrigieren. Haftungdes AR scheitert aber bei sorgfältiger Abwägung auf Verschuldensebene.

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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!