lehrbuch der entomologie || nervensystem
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8 Nervensystem
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8.1 Aufgaben
Das Nervensystem übertrifft in seiner Komplexität alle anderen Organsysteme der Insekten. Dabeidient es als oberste Instanz zur Regelung undKoordinierung der Funktionen des Organismus.Zur Realisierung dieser Aufgabe werden kontinuierlich Informationen aus der Umwelt und demKörperinneren von sensorischen Systemen aufgenommen, in schnelle elektrische Signale über setztund im Nervensystem weitergeleitet. Dort werdensie unter Berücksichtigung geplanter Ziele undgesammelter Erfahrungen zu Kommandos verarbeitet, die an Muskeln und Drüsen übermitteltwerden und deren Aktivität steuern und koordinieren. Das Nervensystem kann regulatorischwirken, indem es einen gewünschten Zustand trotzÄnderungen der Umwelt durch kompensatorischeAktivität erhält, oder völlig neue Zustände initiieren . Zusammen mit dem endokrinen Systemund der Muskulatur ist das Nervensystem diephysiologische Grundlage des Verhaltens.
Insekten können laufen, springen, fliegen und schwimmen - verfügen somit über komplizierte Lokomotionsformen, die einer präzisen Steuerung bedürfen. Darüberhinaus besitzen sie leistungsfähige Sinnesorgane, wieKomplexaugen und Antennen. Ein Blick in das reichhaltige Verhaltensrepertoire zeigt ein weites Spektrumvoneinfachen Reflexen bis hin zu komplexen Verhaltensabläufen. So finden sich neben mannigfaltigen Orientierungs- und Navigationsformen raffinierte Systeme zurchemischen, akustischen und visuellen Kommunikationsowie beachtliche Lernleistungen. Auch Prinzipien wiedie Arbeitsteilung der staatenbildenden Insekten sindnur auf der Grundlageeines hoch entwickelten Tnformationssystems vorstellbar. Die Anforderungen an das Nervensystem der Insektensind somit beträchtlich und verlangeneinenhohen Organisationsgrad.
8.2 Grundaufbau
Das Nervensystem umfasst ein im Kopf dorsalüber dem Schlund gelegenes Gehirn und dasBauchmark, eine Kette von ventralen, bilateralsymmetrischen Ganglien, die in Längsrichtungdurch paarige Konnektive verbunden sind (Abb. 8-
I) . Den Ganglien entspringen Nerven, die die Verbindung zu den peripheren Sinnesorganen undMuskeln herstellen. Dieses Nervensystem erinnertin ursprünglichen Formen an eine Strickleiter,man spricht daher auch von Strickleiternervensystemen. Die Segmentierung des Insektenkörperssowie die Integration von Segmenten zu funktionellen Einheiten (Tagmata) spiegelt sich grundsätzlich in der strukturellen Gliederung des Nervensystems wider (Abb. 8-1). Während ursprünglich pro Körpersegment ein paariges Ganglionvorhanden war, sind die Ganglien in den postembryonalen Entwicklungsstufen aller Insektenmehr oder weniger stark verschmolzen. Bei dem inAbb. 8-1 gezeigten Grundtyp gliedert sich dasNerven system im Kopfbereich in das Gehirn, bestehend aus Proto-, Deuto- und Tritocerebrum,und das Unterschlundganglion. Die drei separatenGanglien der Thoraxsegmente, Pro-, Meso- undMetathorakalganglion schließen sich an , gefolgtvon acht Abdominalganglien . Die Thorakalganglien sind gegenüber den abdominalen Gangliengrößer, was in einer höheren Zahl von Neuronenaufgrund der notwendigen Kontrolle der Beineund Flügel begründet ist. Bei vielen Insekten, wiez.B. Heuschrecken und Schaben, kann sich dieneuronale Versorgung der komplizierten Geschlechtsorgane und Extremitäten (z. B. Cerci) amHinterleib in einer erheblichen Vergrößerung desletzten abdominalen Ganglions bemerkbar machen (Abb. 8-1). Derartige Terminalganglien sindaus den fusionierten ganglionären Anlagen derletzten vier Hinterleibssegmente aufgebaut. DiesesBeispiel deutet an, dass trotz genereller Konzentrationstendenzen eine Reihe von Steuerungsfunktionen dezentral bei den Ganglien verbleibenkann.
Die Abweichungen vom ursprünglichen Organisationsschema einer Strickleiter sind die Folgezweier Trends, die im Lauf der Evolution zu erheblichen Veränderungen des Nervensystems geführthaben: Durch Cephalisation wächst, begleitet voneiner Zun ahme an Ganglienmasse, die Konzentration von Funktionen im Kopfbereich, währenddurch Zentralisation zusätzlich eine Zusammenlagerung neuraler Strukturen erfolgt , die die integrativen Fähigkeiten des Nervensystems erhöht.So geht bei den Insekten die Entwicklung leistungsfähiger Komplex augen, hoch sensibler An-
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Auge
Caudales Viscerales Nervensystem
Abb. 8-1: Umriss eines Insektenkörpers mit hypothetischemGrundplan des Nervensystems(Ventralansicht). Die Verzweigungen derperipheren Nerven sind nur angedeutet.Im thorakalen und abdominalen Bereichsind die Nerven des Visceralen Nervensystems schwarz dargestellt. (NachWeber und Weidner 1974)
tennen und spezialisierter Mundwerkzeuge einhermit der Fusion cerebraler Ganglienpaare zu einemvergrößerten und komplex organisierten Gehirn.Das Gehirn nimmt in der Kopfkapsel eine dorsalePosition oberhalb des Schlunds ein (daher früherauch: Oberschlundganglion) und ist durchSchlundkonnektive mit der restlichen Ganglienkette, dem Bauchmark, verbunden, das auf derVentralseite des Tieres verbleibt. Ausgehend voneinem hypothetischen Urtyp mit Gehirn, Unterschiundganglion , drei Thorakalganglien und achtAbdominalganglien (Abb. 8-1, 8-2 A) finden sichunterschiedliche Verschmelzungsstufen bis hin zueinem Zustand, wo das Gehirn mit dem Unterschlundganglion fusioniert ist und alle thorakalenund abdominalen Ganglien einen im Thorax liegenden gemeinsamen Komplex bilden (Abb. 8-2).Dabei behalten die Neuronen ihre ursprünglichenInnervationsziele in den Segmenten bei. Darüberhinaus können sich auch die beiden Stränge derKonnektive so eng zusammenlagern , dass makroskopisch der Eindruck unpaarer Konnektive entsteht (Abb. 8-2 D). Die Konzentrationstendenzendes Nervensystems sind polyphyletisch und obwohl sie in den höheren Gruppen des Stammbaumes häufiger auftreten, ist eine allgemeine
systematische Bedeutung nicht festlegbar. Überwiegend weisen adulte Insekten einer Art einenhöheren Grad an Konzentration auf als die Larvenformen.
Gehirn und Bauchmark werden unter dem Begriff Zentralnervensystem (ZNS) zusammengefasst. Neben dem ZNS besitzen Insekten ein zusätzliches Visceral- (Eingeweide-) Nervensystem,das vor allem Verdauungstrakt und Geschlechtsorgane versorgt und in Teilsysteme untergliedertist. Das Stomatogastrische System (Abb. 8-15) innerviert vor allem Speicheldrüsen und vordereSchlundmuskulatur und steht in engem Kontaktmit Neurohämalorganen (Corpora cardiaca undCorpora allata) sowie dem Gehirn . Das VentraleViscerale System besteht aus unpaaren medianenNerven (Abb. 8-1), die dem posterioren Teil einesjeden Bauchganglions entspringen und u.a. zu denStigmen des Tracheensystems ziehen. Das CaudaleViscerale System (Abb. 8-1) schließlich hat seinenUrsprung im letzten Abdominalganglion (Terminalganglion) und versorgt die Keimdrüsen undden posterioren Teil des Verdauungssystems.
8.2 Grundaufbau 207
Abb. 8-2: Konzentrationstendenzen des Zentralnervensystems (Körpergrößen nicht maßstabsgleich). A HypothetischerGrundzustand. B Heuschrecke (Acrididae). CHonigbiene (Hymenoptera). D Bremse (Tabanidae). ESchildwanze (Pentatomidae). (A,D, Enach Eidmann und Kühlhorn 1970, B nach Snodgrass 1935, C nach Snodgrass 1956)
8.2.1 Entwicklung
Die Entstehung der segmentalen Ganglien ist vorallem an Embryonen von Heuschrecken (Schistocerca gregaria) und Fliegen (Drosophila melanogaster) detailliert zell- und molekularbiologischuntersucht. Ursprung der Neuronen sind danachpaarige Gruppen von Vorläuferzellen, die Neuroblasten, die nach festen Mustern in jedem Segment angelegt werden und einer ventral gelegenenSchicht des Ektoderms, dem Neuroektoderm, entstammen . In jedem Segment entstehen durch wiederholte Teilung eines einzelnen Neuroblastennacheinander Ganglionmutterzellen aus deren Teilung jeweils zwei Neuronen hervorgehen. So können aus einem segmentalen Neuroblasten bei Heuschrecken bis zu 100Neuronen hervorgehen, derenIdentität und Differenzierung vom Zellstammbaum und den lokalen Wechselwirkungen mitNachbarzellen abhängt. Die Neuronen wandernin ihre vorgesehenen Positionen im Zellverbandund bilden Ausläufer, deren Spitzen mit Wachstumskegeln versehen sind. Diese wiederum bewegen sich innerhalb des entstehenden ZeIlgeflechts, das sie mit feinen Fortsätzen erkunden,und bewerkstelligen den Aufbau der neuronalenVerknüpfungen . Die Wachstumskegel werdendurch eine Vielzahl von Faktoren zielgerichtet gesteuert. So können sie z.B. entlang eines chemischen Gradienten auswachsen, oder bereits be-
stehende Nerven- oder Gliazellnetze als Leitstrukturen benutzen .
Die Mechanismen, die zur Neurogenese des Zentralnervensystems im Kopfbereich führen , sind weit weniger gutuntersucht und selbst die Anzahl der beteiligten segmentalen Anlagen ist noch unklar. Nach neueren Untersuchungen sind bei Drosophila melanogaster vier Neuroblastenpopulationen an der Entstehung des Gehirnsbeteiligt. Das Unterschlundganglion wird aus drei segmentalen Ganglienpaaren gebildet, die den Mundgliedmaßen assoziiert sind (Mandibular-, Maxillar- und Labialganglion). Die bei der Neurogenese der segmentalenGanglien beobachteten Gesctzmäßigkeiten gelten in groben Zügen wohl auch für das Gehirn . Allerdings ist derGrad an Zellmigrationen sehr viel höher und darüberhinaus besitzen die Neuroblasten des Gehirns offenbareine längere Lebensdauer, die es ihnen erlaubt, einegrößere Anzahl neuronaler Nachkommen und damit verbunden eine komplexere Architektur zu produz ieren.
8.2.2 Neurochemie
Der hohe Organisationsgrad des ZNS der Insekten manifestiert sich in einer Vielzahl neuroaktiverSignalstoffe, deren Liste beständig wächst . Bis aufden klassischen Neurotransmitters Acetylcholin,gehören alle weiteren identifizierten Substanzenentweder zur Stoffklasse der "biogenen" Amine,Aminosäuren oder Peptide. Mit Ausnahme derPeptide kommen viele der von Vertebraten be-
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kannten Stoffe auch bei Insekten vor, allerdings indurchaus unterschiedl ichen Funktionszusammenhängen. So ist z. B. Acetylcholin bei VertebratenTransmitter der neuromuskulären Synapse, wohingegen Insekten Glutamat verwenden und Acetylcholin als synaptische Überträgersubstanz inolfaktori schen und mechanosensorischen Rezeptorneuronen der Antennen nachgewiesen werdenkann .
Wie neuere Studien zeigen, existiert offenbarkeine strikte Trennung zwischen den beidenGrundmechanismen der chemischen Signalübertragung , der synaptischen Transmission der Neuronen und der Wirkungsweise neurosekretorischerZellen. Zwischen beiden Extremen finden sichÜbergänge in Form von Neuronen, die eine regulatorische Substanz freisetzen, welche ins Gewebediffundiert und lokal auf Zellgruppen und Synapsen in der unmittelbaren Nachbarschaft einwirkt. Dieser Vorgang wird als Neuromodulationbezeichnet und in Anlehnung an diese Befundelassen sich neuroaktive Substanzen je nach Artund Weise ihres Wirkungsmechanismus in Neurotransmitter, Neuromodulatoren oder Neurohormone unterteilen. Dabei kann jedoch eine Substanz, die als z. B. Neurohormon identifiziertwurde, in anderem Zusammenhang und an anderen Orten durchaus als Modulator oder Transmitter fungieren. Darüber hinaus können auchmehrere neuroaktive Substanzen gleichzeitig inNeuronen vorkommen (Colokalisation) . So belegen die jüngeren Forschungsergebnisse eine ungeheure neurochemische Vielfalt, ohne dass derenfunktionelle Bedeutung bereits abzuschätzen wäre.Dennoch lassen sich einige allgemeine Aussagenfür Insekten treffen:
Amine, wie Dopamin, Histamin , Serotonin undOctopamin sind in weiten Bereichen des ZNSnachzuweisen, wobei die Zahl der Neuronen relativ überschaubar bleibt. Vor allem histaminergeNeuronen besitzen typischerweise großflächigeVerzweigungen im Neuropil , die eine gleichzeitigeSteuerung vieler nachgeschalteter Neuronen vermuten lässt. In der Peripherie ist Histamin darüber hinaus auch der Transmitter der Fotorezeptoren . Octopamin spielt eine Rolle bei der Aktivierung motorischen Verhaltens (z.B. Flug derHeuschrecke, Fluchtreaktion der Schabe).
Die AminosäurenGABA (Gamma-Amino-Buttersäure) und Glutaminsäure (Glutamat) werdenals Transmitter der Motoneuronen der Skelettmuskulatur benutzt, wobei Glutamat erregendund GABA hemmend wirkt. Auch innerhalb desZNS ist GABA der bedeutendste inhibitorischeTransmitter.
Die Peptide stellen die größte Klasse neuroak tiver Substanzen dar. Ihre bekanntesten Vertreterwirken als Neurohormone wie z. B. das Adipoki-
netische Hormon (AKH) oder das Prothorakotrope Hormon (PTTH) . Darüber hinaus lassensich ganze Familien strukturell verwandter Peptide im ZNS nachweisen, die typischerweise inkleinen Populationen von Neuronen vorkommenund diverse Funktionen als Transmitter oder Modulator übernehmen könnten . Beispieledafür sinddie FMRFamide und FLRFamide, Oligopeptide,deren Name darauf beruht, dass die Aminosäurensequenz aller Gruppenmitglieder mit den gleichen vier Aminosäuren eines international gebräuchlichen Ein-Buchstaben-Codes endet .
Jüngste Erkenntnisse der Hirnforschung weisen daraufhin, dass auch Gase als Botenstoffe im Nervensystemeine Rolle spielen können. Das in diesem Zusammenhang meist genannte Stickoxid (NO) sowie entsprechende Mechanismen zur Synthese sind inzwischen auchbei Insekten bekannt geworden .
8.3 Bausteine
Neuronen, Gliazellen und Neurosekretorische ZeIlen sind die Bauelemente des Nervensystems, dasvon einer schützenden und isolierenden Bindegewebshülle umgeben ist. Neuronen empfangen undübertragen Information in Form chemischer oderelektrischer Signale, während Gliazellen vor allemdem Schutz, der Stabilisierung und der Ernährungder Neuronen dienen. Neurosekretorische Zellenverfügen neben typischen neuronal en Eigenschaften zusätzlich über die Fähigkeit Sekrete zu produzieren und an das ZNS oder spezielle Organeabzugeben. Sie stellen somit ein Bindeglied zwischen Nervensystem und endokrinem System dar(s. Kap. 12).
8.3.1 Neuronen
Das wichtigste Bauelement des ZNS sind die Nervenzellen oder Neuronen . Allein für das Gehirnadulter Insekten ergaben Zählungen der neuronalen Zellkörper bei der Fliege Musca domest icacirca 340000, der Bienenarbeiterin Apis mellifera850000 und der Schabe Periplaneta americana 1,2Millionen Neuronen. Das ist im Vergleich mit denetwa 1012 Neuronen des menschlichen Gehirnszwar wenig, bewegt sich aber durchaus in Zahlenbereichen, wie sie bei kleineren Vertebraten, etwaVertretern der Anuren, vorkommen können.
Neuronen sind spezialisierte Zellen, die der Informationsverarbeitung dienen und zu diesemZweck strukturelle und funktionelle Besonderheiten aufweisen. Grundsätzlich entspringt dem Zell-
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DeszendierendesNeuron
Termina l ~I'--.:_?'-a
200 flmLokales Interneuron
Halsmuskel
Haarsensillum
der Cuticula
Soma
Flugmuskel
Abb. 8-3: Neuronale Bautypen des cephalen und thorakalen Zentralnervensystems (Dorsalansicht) und Verbindungen zuperipheren Muskeln oder Sinnesorganen am Beispiel eines Tabakschwärmers (Sphingidae).
körper oder Soma ein Fortsatz, der in das Nervengewebe zieht und sich dort aufspaltet. Einerseitsbildet er dort baumartige Verzweigungsfelder, dieDendriten, andererseits einen oft langen Zellfortsatz, das Axon, dessen Terminalbereicherneut vielfach aufzweigt (Abb. 8-3). Diese Grundstruktursteht in unmittelbarem Zusammenhang mit dersignalverarbeitenden Funktion. Dabei empfangendie Dendriten von den Sinnesneuronen oder anderen Nervenzellen einen chemischen Stimulus,der eine Änderung des elektrischen Potentialsüber der Zellmembran verursacht. Diese kurz-
zeitige Potentialänderung kann in Aktionspotentiale umgesetzt werden, die sich entlang des Axonsausbreiten. Im Terminalbereich verzweigt dasAxon und überträgt die Signale mittels eines chemischen Botenstoffes, eines Neurotransmitters,über Synapsen auf Folgezellen, die erneut Neuronen bzw. Muskel- oder Drüsenzellen sein können. Die Anzahl der synaptischen Eingänge, dieein Neuron erhält , bzw. der Ausgangsverknüpfungen, die es mit Folgezellen besitzt, kann durchaus im Bereich von zigtausenden liegen. Dieseenorme Vielzahl signalübertragender Kontakte ist
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die Basis der nervösen Informationsverarbeitung.Im Gegensatz zu den Neuronen der Vertebraten istdas Soma bei Insekten nicht in die elektrischeSignalentstehung miteinbezogen und kann daherin die Peripherie des ZNS ausgelagert werden.
Nach ihrer Funktion lassen sich drei Klassenvon Neuronen unterscheiden (Abb. 8-3):
Rezeptorneuronen (Sinneszellen) empfangenchemische oder physikalische Reize aus der Umwelt oder sprechen auf Zustandsänderungen innerhalb des Körpers an (Propriorezeptoren). Sieverfügen über spezielle Modifikationen des Dendritenbereichs, die die Umwandlung der Reizenergie in elektrische Signale bewerkstelligen.
Interneuronen stellen die Mehrzahl neuronalerZelltypen im Nervensystem. Sie erhalten zahlreiche synaptische Eingänge von Rezeptorneuronenoder anderen Interneuronen, die sie integrieren,weiterleiten und auf nachgeschaltete Interneuronen oder Motoneuronen übertragen. Lokale Interneuronen verzweigen sich innerhalb eines engbegrenzten Bereichs im ZNS und dienen der Signalintegration vor Ort. Andere Interneuronentypen, so genannte Projektionsneuronen, bewerkstelligen die Verbindung voneinander entfernt liegender Gehirnareale miteinander. Große intersegmentale Interneuronen verknüpfen das Gehirn mit denGanglien des Bauchmarks. Nach der Richtung desInformationsflusses unterscheidet man absteigende oder deszendierende Neuronen (vom Gehirnzum Bauchmark) bzw. in Gegenrichtung aufsteigende oder aszendierende Neuronen.
Motoneuronen übermitteln die motorischenKommandos zur Steuerung der Muskelbewegung .Sie erhalten Information von Interneuronen oderauch direkt von Rezeptorneuronen.
Die Axonen der drei Neuronentypen bilden imZNS oft markante Faserbündel, die als Nerven ,Konnektive, Trakte oder Kommissuren im histologischen Bild wichtige Landmarken darstellen (s.8.4, Abb. 8-5). Die Gestalt eines einzelnen Neurons weist durchaus auf seine möglichen Schaltverbindungen hin und eine wachsende Zahl besonders prominenter Neuronen, die von Individuum zu Individuum immer wieder identifiziertwerden können, ist im ZNS der Insekten beschrieben worden . Abb. 8-3 steIlt einige typische Vertreter aus der ungeheuren Vielfalt der vorkommenden Insektenneuronen vor.
8.3.2 Gliazellen
Im Zusammenspiel mit den Neuronen sorgenGliazellen für die Entwicklung des Nervensystems, sichern seinen Fortbestand und bilden dieGrundlage für dessen Fähigkeit, auf Veränderun-
gen der Umwelt zu reagieren. Strukturelle Untersuchungen des ZNS zeigen, dass zwischen denNeuronen ein weit verzweigtes zelluläres Systembesteht, das aus Gliazellen gebildet wird, derenAnzahl die der Neuronen erheblich übersteigt.Unter Aussparung der synaptischen KontaktsteIlen sind Neuronen meist in allen Bereichen vonGliazeiien umhüllt. Das Ausmaß und die Komplexität der Gliaschicht ist in der Umgebung derneuronalen Zellkörper am größten, während imNeuropil-Bereich des ZNS nur wenige Fortsätzevon Gliazellen vorkommen. In den Konnektivenund Nerven sind die Axone durch eine Gliahüllegegeneinander isoliert. Der Grad der Umhüllungvon Axonen kann allerdings sehr unterschiedlichsein. So findet man z.B im Konnektiv der Schabe(Abb. 8-4) kleine Axone, die von einer einfachenGliaschicht umgeben sind neben den Axonen vonRiesen-Neuronen mit einer mehrlagigen Gliahülle.Die verschiedenen Gliaschichten sind jedoch weder eng aneinander gelagert noch markhaltig undunterscheiden sich somit von den Myelin-Scheidender Vertebraten-Neuronen. Ebenso ist die bei Vertebraten anhand der Zellgestalt gebräuchlicheanatomische Klassifizierung in vier unterschiedliche Typen, bei Insekten aufgrund einer außerordentlich hohen morphologischen Variabilitätder Gliazellen nicht anwendbar.
Gliazellen sind nicht nur durch spezifischeKontaktsteIlen untereinander gekoppelt, sondernauch durch eine Vielzahl spezialisierter ZeIlfortsätze eng mit den Neuronen verzahnt, wobei sichder Interzellulärraum zwischen beiden Zelltypenauf 10-20 nm Breite verengen kann. Sogar direkteKontakte in Form von gap junctions zwischenGliafortsätzen und neuronalen Zellkörpern wurden beschrieben . Das Ausmaß derartiger Verbindungen zwischen Glia und Neuronen ist jedochnoch unbekannt.
Die hohe strukturelle Differenzierung und Vielfalt von Gliazellen ist Ausdruck ihrer multifunktionellen Aufgaben. Dazu gehören neben stützenden und isolierenden auch ernährende Funktionendurch Transport von Nährstoffen aus dem Blut indie Neuronen. Darüberhinaus können GliazellenAminosäuren zur Proteinsynthese aufnehmen unddie fertigen Proteine weiter transferieren. In densynapsennahen Interzellulärräumen beeinflussendie Gliazellen die Konzentration von Neurotransmittern wie GA BA und Glutamat, indem sie dieseselektiv aufnehmen und damit zur Inaktivierungbeitragen oder bei Bedarf freisetzen. Auch in dieRegulierung pharmakologisch wirksamer Substanzen greifen Gliazellen durch enzymatischenAbbau ein.
Gliazellen können während der Entwicklungals Leitstrukturen für auswachsende Neuriten dienen, wie z. B. beim Aufbau der Glomeruli in den
8.3 Bausteine 211
Abb. 8-4: "Blut-Hirn-Schranke" amBeispiel des Abdominalganglionseiner Schabe (Blattodea). (NachTreherne 1985)
Riesen ·axon ____
-
olfaktorischen Loben des Tabakschwärmers(Abb. 8-14), aber auch durch Phagocytose Zellreste degenerierter Neuronen beseitigen.
Während der neuronalen Erregung wirkenGliazellen als Puffer, indem sie zur Erhaltung einesionalen Gleichgewichts die sich im Extrazellulärraum anreichernden Kalium-Ionen aufnehmen.Zusätzlich können bei Bedarf auch gespeicherteNatrium-Ionen freigesetzt werden.
Obwohl Gliazellen wie Neuronen ein von Kalium-Ionen bestimmtes Ruhepotential aufweisenund auch über transmittergesteuerte Ionenkanäleverfügen, fehlen offenbar spannungsabhängige 10nenkanäle, wie sie für die Entstehung und Fortleitung von Aktionspotentialen erforderlich wären. Immerhin lassen neuere Befunde über Zellkontakte zwischen Gliazellen und Neuronen prinzipiell sowohl die Möglichkeit eines schnellenelektrischen als auch eines langsameren chemischen Informationsaustausches zwischen beidenZelltypen zu. Es ist daher nicht völlig auszuschließen, dass Gliazellen neben ihrer .Ammenfunktion" auch an der elektrischen Informationsverarbeitung der Neuronen beteiligt sein könnten .
8.3.3 Neurosekretorische Zellen
Zwischen Nervensystem und Endokrinem Systembesteht eine enge Verbindung, deren Grundlageneurosekretorische Zellen sind. Diese Zellen haben neben typischen neuronalen Eigenschaften,wie der Generierung von Aktionspotentialen,auch die Fähigkeit Sekrete zu bilden und dieseüber das Axon zu transportieren und freizusetzen.Neurosekretorische Zellen synthetisieren Hormone und geben diese vielfach an spezielle Strukturen, die Neurohämalorgane ab, die der Speiche-
rung und Freisetzung in die Hämolymphe dienen.Bekannteste Beispiele sind die Corpora cardiacaund Corpora allata (s. Kap. 12.1.2). Das von denZellen produzierte Neurosekret kann jedoch auchlokal innerhalb des ZNS sezerniert werden. ImGehirn befinden sich größere Gruppen neurosekretorischer Zellen in der Pars intercerebralis, imlateralen Protocerebrum sowie im Tritocerebrum(Abb. 8-15).
Immunhistochemische Färbungen weisen einzelne Zellenaber auch in anderen Bereichen wie z. B. den optischenLoben nach. Neben Gehirn und Unterschlundganglionsind neurosekretorische Zellen sowohl in den segmentalen Ganglien als auch im visceralen Nervensystemvorhanden .
8.3.4 Blut-Hirn-Schranke
Als Folge des offenen Kreislaufsystems der Insekten ist das ZNS ständig von Hämolymphe umspült, die vor allem bei Pflanzenfressern einenhohen Anteil an Kalium-Ionen aufweist. Für dieEntstehung, Fortleitung und Übertragung vonSignalen in Neuronen ist jedoch ein extrazelluläresIonen-Milieu erforderlich, in dem die Konzentration an Natrium-Ionen dominiert. Darüberhinausunterliegt die Zusammensetzung der Hämolymphe abhängig vom Ernährungszustand eines Individuums starken Schwankungen und kann nahrungsbedingt sogar erhebliche Konzentrationenvon Substanzen (z.B. Alkaloide) enthalten, die imZNS toxisch wirken. Zudem finden sich in ihr eineReihe von Aminosäuren, die im Nervensystem alsNeurotransmitter benutzt werden. Um eine einwandfreie Funktion der Neuronen zu ermöglichen, benötigt das ZNS daher eine Barriere zwischen der Hämolymphe und dem die Nervenzellen
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umgebenden Extrazellulärraum. Ihre Aufgabe istes, unerwünschte Substanzen fernzuhalten bzw.abzubauen, sowie das für neuronale Aktivitätenerforderliche extrazelluläre Ionen-Milieu unabhängig von Veränderungen in der Zusammensetzung der Hämolymphe herzustellen und aufrechtzuerhalten. In Analogie zu den Vertebraten sprichtman von einer Blut-Hirn-Schranke. HistologischeUntersuchungen zeigen, dass die Neuronen desZNS durch eine mehrschichtige Hülle umgebensind (Abb. 8-4), wobei unklar ist, welche Strukturdie eigentliche Ionen-Barriere darstellt. Die äußereSchicht , das Neurilemm, kann von Ionen problemlos durchdrungen werden. Es ist nicht-zellulär undwird von den darunterliegenden Zellen des Perineuriums abgeschieden, die im Gegensatz zu Neuronen und Glia mesodermalen Ursprungs sindund somit dem Bindegewebe zugerechnet werden.Diese perineurialen Zellen sind durch tight junctions so eng miteinander verbunden, dass sie denAustausch von Ionen und Molekülen zwischenHämolymphe und Interzellulärraum erheblicheinschränken. Zusätzlich verfügen sie, wie die darunterliegenden Gliazellen auch, über Membranpumpen, mit denen sie das Ionenmilieu aktiv regulieren können .
Während Untersuchungen am embryonalen Zentralnervensystem der Taufliege Drosophilamelanogasterdie mesodermale Herkunft der perineurialen Zellen bestätigen ,ist die Funktion als Ionen-Barriere möglicherweise nichtoder nicht allein an das Perineurium gebunden. So besitzen embryonale Mutanten, denen Neurilemma undPerineurium fehlt, nach wie vor eine funktionierendeIonen-Barriere , die durch die am weitesten außen liegende Schicht der die Neuronen umhüllenden Gliazellenaufgebaut wird.
8.4 Bauchmark undperiphere Nerven
In der ursprünglichen Form trägt jedes thorakaleund abdominale Segment mit je einem bilateralsymmetrischen Ganglion, das durch paarige Konnektive in Längsrichtung kettenartig mit seinenNachbarn verbunden ist, zur Bildung des Bauchmarks bei. Weitere Faserbündel, die den Ganglienentspringen und das Bauchmark mit der Sensorikund Motorik in der Peripherie verbinden , werdenals periphere Nerven bezeichnet. In einer hypothetischen Ursprungsform eines einfachen Ganglions geht man von zwei paarigen Nerven aus, diejeweils gemischt motorische und sensorischeAxone enthalten. Danach versorgt ein dorsaleranteriorer Nerv die dorsale Körperwand und einweiter posterior entspringender ventraler Nerv die
Bauchseite und die Körperanhänge. Besonders imFall dieser peripheren Nerven manifestieren sichdie vielfältigen segmentalen Spezialisationen vonSensorik, Motorik und Exoskelett innerhalb derInsekten in zahlreichen Variationen von Anzahlund Ursprungsort, die sich der Beschreibung einesallgemeinen Grundmusters widersetzen .
Im Fall des Bauchmarks jedoch haben vergleichendeanatomische Studien gezeigt, dass sich anhand einessegmentalen Einzelganglions durchaus ein Grundbauplan erstellen lässt, aus dem die Architektur miteinanderverschmolzener Ganglien ableitbar ist und der sich offenbar auch auf andere Arten übertragen lässt.
8.4.1 Aufbau der Ganglien
Das bilateralsymmetrische Ganglion eines Segments ist durch eine Neurilemm-Schicht nach außen isoliert und besteht aus einer äußeren Rinde,die einen zentralen Bereich umgibt. In dieser Rindenschicht, die im ventrolateralen Bereich besonders mächtig ist, befinden sich die von Gliazellenumhüllten Zellkörper der Neuronen; man sprichtdaher auch von Somarinde (Abb, 8-5). Der zentrale Bereich hingegen enthält keine Zellkörper undist aus einem dichten Geflecht neuronaler Fortsätze, dem Neuropil, aufgebaut, in dem die synaptischen Interaktionen stattfinden. Darüber hinaus ist das Ganglion mit Bündeln von Axonendurchzogen , die das Gewebe in Art einer Matrixstrukturieren. Dazu gehören die Wurzeln der peripheren Nerven und gemeinsame Bündel von Neuriten einer Somapopulation. Alle anderen Faserbündel im Neuropil werden als Trakte bezeichnet ,mit Ausnahme der Kommissuren, die rechte undlinke Seite eines bilateral symmetrischen Ganglionsüber die Mittellinie hinweg verbinden . Trakte undKommissuren sind die zuverlässigsten anatomischen Landmarken im Neuropil und werden daherzur Beschreibung der generellen Architektur einesGanglions herangezogen. Ihr Verlauf im Ganglionfolgt einem geordneten Muster, das von Individuum zu Individuum unverändert bestehen bleibt.Dieses Grundmuster ermöglicht eine klare Gliederung des ganglionären Neuropils und findet sichbisher mit Modifikationen bei allen genauer untersuchten Insekten wieder. Es ist im Folgenden amBeispiel eines Querschnittes durch das Mesothorakalganglion von Manduca sexta (Sphingidae) veranschaulicht (Abb. 8-5).
Dieser Bauplan der thorakalen Ganglien findetsich in Grundzügen auch bei den Abdominalganglien wieder. Eine Übertragung auf fusionierteGanglien, wie das Unterschlund- oder Terminalganglion, bereitet zwar größere Schwierigkeiten grundsätzlich gilt jedoch, dass trotz zahlreicher
8.4 Bauchmark und periphere Nerven 213
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Abb. 8-5: Aufbau desMesothorakalganglions einesTabakschwärmers (Sphingidae). Querschnitt durch ein histologischesPräparat (Foto einer Ethylgallat-Färbung). Einzelne große Zellkörper der Somarinde sind besonders gut zu erkennen. DieSchnittebene ist inA angegeben. B Schematische Darstellung der Strukturen des Ganglions. (Nach Suder und Wendler 1993)
art spezifischer Spezialisationen eine gemeinsameGrundorganisation der segmentalen Ganglienvorliegt.
Frühe anatomische Untersuchungen unterteil ten aufgrund von Übersichtsfärbungen die Ganglien in drei horizontal orientierte Schichten, die inForm eines "Sandwichs" organisiert sind. Dabeiist zwischen einer dorsalen motorischen und einerventralen sensorischen Schicht eine so genannte"assoziative" Region eingelagert. Dieses Konzepterweist sich als bei weitem zu grob, wie spätereUntersuchungen mit Methoden höhere r Auflösung belegten. Danach finden sich durchaus Verzweigungen von Motoneuronen auch außerhalbdes dorsalen Neuropils, ebenso wie sensorischeProjektionen ohne weiteres im angenommenenmotorischen Neuropil terminieren können . Wieneuere Untersuchungen weiterhin zeigen, könnendie terminalen Verzweigungen von Rezeptorneuronen in Ganglien in Form einer dreidimensiona-
len Karte angeordnet sein, man spricht von einertopographischen Organisation. So projizieren z:B.die taktilen Sinneshaare am Hinterbein der Wanderheuschrecke Locusta unter Aufrechterhaltungihrer Lagebeziehung geordnet in einen ventralenBereich des Metathorakalganglions (Abb. 8-6).Als Folge des klaren Ordnungsprinzips dieser somatotopischen Karte ist es möglich, anhand desdendritischen Verzweigungsmusters eines gegebenen Interneurons innerhalb des sensorischen Neuropils auf den Beinbereich zu schließen, von demes Informationen bezieht. Ähnliche Lagebeziehungen bestehen auch zwischen Motoneuronen undMuskeln des Sprungbeines. Von den paarigen abdominalen Fortsätzen der Schaben und Grillen,den Cerci, ist ebenfalls bekannt, dass die Projektionen mechanosensitiver Haare in das Terminalganglion in Form einer somatotopischen Kartedarstellbar sind. Auch bei den Hörorganen verschiedener Orthopteren sind die zentralen Pro-
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ILage mark ierter Haarsensillenl ITerminale dieser SensillenI ITopog raphle der Sinneshaar-Terminale des Hinterbeins l
Abb. 8·6: Topographie von Sinneshaaren des Sprungbeins und ihrer zentralen Projektionen einer Heuschrecke.A lage dreier Sinneshaare. B Durch Färbung dargestellte Endverzweigungen der Sinneshaaraxone im Metathorakalganglion.C Dreidimensionale Verteilung der Haarterminale im Neuropil. (Nach Burrows und Newland 1993)
jektionen der Rezeptorneuronen im entsprechenden Thorakalganglion topographisch repräsentiert.Man spricht in diesem Fall von einer Tonotopie.
8.5 Gehirn undUnterschlundganglion
Die bis heute ungeklärte Anzahl der an der Bildung der Kopfkapsel beteiligten Segmente ist einIndiz dafür, dass der Bauplan der Ganglien desBauchmarks im ZNS des Kopfbereiches kaumnoch nachvollziehbar ist. Wohl befindet sich unterhalb des Schlunds ein aus drei paarigen Ganglien zusammengesetzter Komplex, das Unterschiundganglion (Subösophagealganglion), dasnoch klare segmentale Gliederungen aufweist; dasoberhalb des Schlundes gelegene Gehirn (Cerebralganglion) lässt jedoch keine klare Segmentierung mehr erkennen. Grundsätzlich ist das Gehirnbilateralsymmetrisch organisiert und wird gewöhnlich in drei Teile untergliedert (Abb. 8-7):Der vorderste und größte Teil ist das Protocerebrum, das die so genannten "höheren Zentren"oder "Assoziationszentren" des Gehirns beinhaltet und massive Verbindungen mit den Komplexaugen und Ocellen aufweist. Daran schließt sichdas Deutocercbrum an, das funktionell mit denAntennen assoziiert ist und sowohl deren Bewegung steuert als auch die Signale der zahlreichenantennalen Sensillenempfängt. Das Tritocerebrumkontrolliert die sensorische und motorische Funktion der Oberlippe (Labrum) und steht in Verbindung mit dem stomatogastrischen System (Abb. 8-
15). Die drei Gehirnabschnitte können so starkmiteinander fusionieren, dass eine klare Abgrenzung gegeneinander äußerst schwierig ist. In einigen Insektenordnungen (z.B. Diptera, Lepidoptera, Hymenoptera, Heteroptera) ist zusätzlichauch das Unterschlundganglion noch mit demposterioren Teil des Gehirns verschmolzen, sodassein gemeinsamer cephaler Komplex vorliegt(Abb. 8-2 C-E).
Die oben skizzierte Unterteilung in Proto- und Deutocerebrum folgt der üblichen Standardnomenklatur, dieauch im Folgenden Verwendung findet. Es soll jedochnicht verschwiegen werden, dass durchaus eine alternative Unterteilung möglich ist, nach der das Protocerebrum die so genannten "höheren Zentren " und allezentralen Neuropile ohne primäre sensorische Eingängeumfasst. Das Deutocerebrum besteht dann aus den Bereichen mit primären sensorischen Eingängen von denOcellen, Antennen und Mechanorezeptoren des Kopfesund den Ausgängen der optischen Loben der Komplexaugen .
Die vergleichende Betrachtung des ZNS kann dadurch erschwert werden, dass der Kopf relativ zumKörper um bis zu mehr als 90 Grad geneigt ist undsomit auch die Lage des Gehirns relativ zumBauchmark verändert ist (Abb. 8-7). In diesen Fällen stimmt im Gegensatz zu den Verhältnissen inThorax und Abdomen die Longitudinalachse desGehirns (Neuroachse) nicht mehr mit der Körperlängsachse überein. So können z.B. die Antennalloben des Deutocerebrums, die homolog zu denBeinneuromeren und somit ventrale Strukturensind, in eine, auf die Körperachse bezogen, anteriore Position gelangen. Die Rückseite des Gehirns entspricht dann eigentlich der dorsalenOberfläche, der obere Bereich dem am weitestenanterior gelegenen Teil und der frontale Bereich
c o
8.5 Gehirn und Unterschlundganglion 215
Prothorakalganglion
Abb. 8-7: Zentralnervensystem einer Heuschrecke. Gehirn und Unterschlundgangl ion in A Frontal- und B Seitenansicht.C Lage des Gehirns in der Kopfkapsel. D Seitenansicht des cephalen und thorakalen Nervensystems. Das Inset zeigt dieBeziehungzwischen Neuro- und Körperachse im Kopfbereich . (A, B nach Snodgrass 1935, C nach Williams 1975, D nach Wilson 1968)
dem ventralen Anteil des Gehirns. Diese Beziehung zwischen der Neuroachse im Koptbereichund der Körperachse ist in Abb. 8-7 am Beispieleiner Heuschrecke verdeutlicht. Der Mehrzahlanatomische r Arbeiten folgend, findet bei der anschließenden Beschreibung der Hirnstruktureneine Nomenklatur Verwendung, die sich auf dieKörperachsen bezieht.
8.5.1 Protocerebrum
Den größten Teil des Zentralhirns nimmt das Protocerebrum ein (Abb. 8-8). Es besitzt umfangreiche Verbindungen mit den optischen Loben (Lamina, Medulla und Lobula) der Komplexaugenund den Ocellen. Das Protocerebrum enthält denZentralkomplex und die Pilzkörper, zwei klar erkennbare separate Neuropilstrukturen, die in keinem anderen Ganglion vorkommen. Der Zentralkomplex ist eine mediane Struktur, die sich inProtocerebralbrücke und Zentralkörper untergliedert , und im Zentrum des Protocerebrums ober-
216 8 Nervensystem
Lam ina
dorsal
rechts+ links
ventral
0.5 mm
ITritocerebrum ~
Ocellennerv
Abb. 8·8: Schema der wichtigsten Hirnstrukturen einer Heuschrecke aus frontaler Sicht.
halb des Ösophagus liegt. Beiderseits des Zentralkomplexes schließen sich die paarigen Pilzkörper(Corpora pedunculata) an. Die protocerebralenBereiche außerhalb der Pilzkörper und des Zentralkörpers erscheinen in anatomischen Übersichtsfärbungen nur gering strukturiert, besitzen jedochdurchaus klar abgrenzbare Areale mit typischenCharakteristika und lassen sich in verschiedenenInsektenspezies immer wieder identifizieren.
Das gilt z. B. für den am weitesten lateral gelegenen Teil des Protocerebrums, das laterale Horn,das massiv von Neuronen der Lobula und desAntennallobus innerviert wird oder die antcrior,unterhalb des Zentralkomplexes gelegenen lateralen akzessorischen Loben, die durch mächtigeTrakte mit dem Zentralkomplex verbunden sind.In der dorsalen medianen Region des Protocerebrums oberhalb der Protocerebralbrücke, der Parsintercerebralis, liegt beiderseits der Mittellinie einegrößere Ansammlung neurosekretorischer Zellen,deren Axone in die Corpora cardiaca ziehen. Eineweitere Gruppe neurosekretorischer Zellen, derenAxone zum retrocerebralen Komplex (s. 8.6.2) laufen, befindet sich lateral neben den Kelchen derPilzkörper.
8.5.1.1 Optische Loben
Unter den Sinnessystemen sind die Komplexaugenbei den meisten Insekten von herausragender Bedeutung. Dementsprechend kann auch der Anteilder optischen Loben am gesamten Gehirn sehrhoch sein. Bei Weibchen der Stubenfliege Muscadomest ica rechnet man 76% aller Neuronen imGehirn zu den optischen Loben. Grundsätzlichbesteht die Sehbahn aus drei separaten , hintereinandergeschalteten Neuropilen, der Lamina, Medulla und Lobula (Abb. 8-9 A). Sie weisen einecharakteristische, geordnete Struktur auf, wobeidie Medulla über den höchsten Komplexitätsgradund die größte Anzahl verschiedener Neuronentypen verfügt. Während die Lobula bei den meistenInsekten bereits deutliche Merkmale einer Unterteilung in einen jeweils unterschiedlich strukturierten äußeren und inneren .Teil zeigt, ist sie nurbei Diptera, Coleoptera, Lepidoptera und Trichoptera in zwei völlig voneinander getrennte Teile,die Lobula und Lobula Platte (Abb. 8-9 A), gegliedert, die man unter dem Begriff Lobula-Komplex zusammenfasst. Bei Fliegen ist diese Zweiteilung offenbar Ausdruck einer Aufspaltung derSehbahn in ein farbtüchtiges (Lobula) und einnicht farbtüchtiges System (Lobula Platte) , das
8.5 Gehirn und Unterschlundganglion 217
Abb. 8-9: Struktur der optischen Loben. A Organisationder Sehbahn (schematischer Horizontalschnitt durch einen Insektenkopf).Verlauf der Faserüberkreuzungen und Orientierung der visuellen Neuropile im Normalfall (links) und bei Insekten mitgeteiltem3. visuellen Neuropil (rechts). Der Zusammenhang zwischen einem Ommatidium des Auges und den korrespondierenden Säulen imvisuellen Neuropil ist durch gleiche Musterung angedeutet. B Photorezeptorterminale und Beispiele für Säulenneuronen in denoptischen Loben von Drosophila melanogaster (horizontales Diagramm). R1-6, R7, R8 Photorezeptoren; Ll-5 Monopolarzellen derLamina; Mi1 intrinsisches Medullaneuron; Li 1 intrinsisches Lobulaneuron; Tm3, Tm 14, T3 Verbindungsneuronen Medulla-Lobula;TmY1, TmY8, Y6 Verbindungsneuronen Medulla-Lobula und Lobula Platte; T4 Verbindungsneuron Medulla-Lobula Platte; T5, Tlp2Verbindungsneuronen Lobula-Lobula Platte. C Beispiele fürAmacrinzellen und Tangentialneuronen. Dm3, Pm 1 Amacrinzellen derMedulla; Tangentialneuronen der Medulla (Mt1, Mt3), Lobula (U5, U6)und Lobula Platte (Lpt2). (B, C nach Fischbach und Dittrich1989)
der Detektion von Bewegungen dient (Abb. 810).
Die Mehrzahl der Photorezeptoraxoneder Komplexaugen endet in der Lamina, der Rest zieht bisin die äußeren Schichten der Medulla (Abb. 8-9B). Die Projektionen der Photorezeptoren aus derRetina folgeneinemtopographischenArrangement,sodass das Raster der optischen Untereinheitendes Auges, der Ommatidien , beibehalten wird,man spricht von Retinotopie. So terminieren Fotorezeptoren benachbarter Ommatidien auch in benachbarten Bereichen der Lamina . Dieses retinotopische Mosaik wird durch isomorphe Kleinfe1dneuronen bei den nachfolgenden Verschaltungsstufen von Lamina zu Medulla und Medulla zuLobula aufrecht erhalten . Dadurch ergibt sich zunächst ein säulenartiger Aufbau der optischen
Neuropile. Durch Überkreuzung der Verbindungsfasern in der Horizontalen entsteht zwischenLamina und Medulla das 1. Optische Chiasmasowie zwischen Medulla und Lobula das 2. Optische Chiasma (Abb. 8-9 A, B). Somit ist der vordere Augenbereich im hinteren Teil der Medullarepräsentiert, wird dann aber durch die erneuteKreuzung wieder in die vordere Lobula verschaltet. Diese Art der Verschaltung ist allein Konsequenz der postembryonalen Entwicklung deroptischen Loben und ohne funktionelle Bedeutung.
Jede Säule eines visuellen Neuropils setzt sichaus vielen Neuronen mit typischer Gestalt zusammen, wobei häufig je ein Zelltyp pro Säulevorkommt (Abb.8-9 B). Diese Säulenneuronenverbinden einzelne Säulen zweier Neuropile eines
218 8 Nervensystem
Abb. 8-10: Tangent ialneuronen derLobula Platte der Fliege Calliphoraerythrocephala. Darstellung nachFrontalschnitten aus posteriorer Sicht. InRelationzu dem horizontalen Gehirnschema (oben) erschließt sich die um90 Grad veränderte Betrachtungsrichtung . Gezeigt ist jeweils eine Gruppevon Neuronen, die bevorzugt aufhorizontale (HS-Neuronen, links) bzw. vertikale (VS-Neuronen, rechts) Bewegungsreize ansprechen. Die dendritischen Verzweigungen einer jeden Gruppe erreichen innerhalb einer Schicht alleBereiche der Lobula Platte und deckensomit das gesamte Sehfeld eines Augesab. Die Neuronen enden in spezifischenArealen des medianen Protocerebrums.(Nach Hausen 1993)
optischen Lobus miteinander bzw. Säulen der Lobula mit visuellen Zentren des Protocerebrums(Abb. 8-11). Die Richtung des Informationsflussesweist bei der Mehrzahl der Neuronen von derPeripherie in das Zentrum. In Medulla und Lobula sind darüberhinaus intrinsische Säulenneuronen bekannt, die innerhalb eines Neuropils verbleiben und diverse Schichten miteinander verbinden. Viele der säulenartigen Elemente sind inden optischen Loben unterschiedlichster Insektenarten anatomisch identifiziert worden, unabhängig von den Anforderungen der Tiere an dieLeistung (z. B. Sehen bei Tageslicht oder in derDämmerung) und Konstruktion der Komplexaugen (Appositions- oder Superpositionsauge, s.11.4). Offenbar hat sich trotz der vielfältigen funktionellen Diversifikation der Augen auf Ebene deroptischen Loben ein gemeinsames Grundgerüstneuronaler Bau typen erhalten.
Die charakteristischen Verzweigungen der Vielzahl parallel angeordneter Säulenneuronen in unterschiedlichen Tiefen eines visuellen Neuropils(Abb. 8-9 B) führen zur Ausbildung spezifischstrukturierter Schichten im rechten Winkel zurAchse der retinotopischen Säulen . In diesenSchichten verlaufen die Fortsätze zwei weitererKategorien von Neuronen, der AmacrinzeUen undder Tangentialneuronen (Abb. 8-9 C). Amacrinzellen besitzen kein Axon und verzweigen sich innerhalb einer spezifischen Schicht in mehreren Säulen, d. h. sie verbinden mehrere benachbarte Säulen miteinander. Tangentialneuronen haben Fort sätze in großen Bereichen einer oder mehrererSchichten und greifen somit viele Säulen auf einmal ab. Ähnlich wie die Säulenneuronen erstellensie in ihrer Mehrzahl Verbind ungen von der Peri-
pherie in das Zentrum. Eine kleinere Zahl vonTangenzialneuronen transportiert Informationenaus dem Gehirn in die optischen Loben oder stelltVerbindungen zwischen visuellen Neuropilen beider Augen her (Abb. 8-11). Besonders gut untersucht sind die riesigen Tangentialneuronen in derLobula Platte von Fliegen (Abb. 8-10), die jeweilsin einer der vier Schichten dieses Neuropils verlaufen . Sie dienen der Erkennung von Bewegungenim Sehfeld und sprechen entweder auf vertikaleoder horizontale Richtungen bevorzugt an . Durchden retinotopischen Aufbau der optischen Lobenkann man für jedes dieser Neuronen bereits an hand der Lage der dendritischen Verzweigungen inder Lobula Platte auf den damit korrespondierenden Bereich des Auges zurückschließen. DieMehrzahl dieser Neuronen verbindet die Lob ulaPlatte mit Bereichen des medianen Protocerebrums, in denen dendritische Verzweigungen deszendierender Interneuronen lokalisiert sind (s.8.3.1).
Von vielen Insekten sind in den optischen Loben zusätzliche (akzessorische) Strukturen von geringerGröße bekannt, die nicht retinotopisch organisiert sind. Es handelt sich um Gruppen von Fotorezeptoren oder kleineseparateNeuropile am Rand der Lamina oder Medulla.Sie sind möglicherweise Reste des larvalen Sehsystemsund werden teilweise mit der circadianen Uhr in Verbindung gebracht.
8.5.1.2 Visuelle Zentren
Mit Ausnahme der Pilzkörper und des Zentralkomplexes ist der größte Teil des Protocerebrumsmit einer Vielzahl von Fasertrakten angefüllt, die
8.5 Gehirn und Unterschlundganglion 219
Anterioreroptischer Tuberkel
OPtische~Foci J \
Abb. 8-": Verbindungen der optischen loben mit den visuellen Zentren des Gehirns bei der Fliege Calliphoraerythrocephala aus dorsaler Sicht. (Nach Strausfeld und Lee 1991)
den optischen Loben entspringen. Zum einendurchziehen sie das Protocerebrum, um die optischen Neuropile beider Augen miteinander zu verbinden , zum anderen enden sie zentral in diskretenNeuropilbereichen, den optischen Foci, in denendie Terminale der visuellen Neuronen u.a. mitdeszendierenden Interneuronen verschaltet werden, die das Gehirn mit den Thorakalganglienverbinden . Einige der wichtigsten Verbindungensind am Beispiel der Fliege Cal/iphora erythrocephala in Abb. 8-11 dargestellt. Im Gegensatz zuden optischen Loben sind die visuellen Zentrendes Protocerebrums nicht mehr retinotopisch organisiert. Optische Foci können sehr komplexstrukturiert sein, wie sich am Beispiel des anterioren optischen Tuberkels erkennen lässt. Dieseram weitesten anterior gelegene optische Focus erhält sowohl aus der Medulla als auch der Lobuladurch den anterioren optischen Trakt Eingänge,die in spezifischen Mustern mit den Dendriten vonInterneuronen verknüpft werden, die entweder dasGehirn verlassen oder zum optischen Tuberkel deranderen Hirnseite ziehen. Der markante posterioreoptische Trakt enthält die Axone großer Tangentialneuronen und verbindet die Medullae beiderSeiten miteinander (Abb. 8-ll).
Viele Insekten besitzen zusätzlich zu den Komplexaugen ein zweites visuelles System, die Ocellen. Deren zentrale Projektionen sind in allen bisher untersuchten Arten sehr ähnlich. Die periphere ocellare Retina wird durch Interneuronen,die zu den größten Neuronen im ZNS gehören,direkt mit deszendierenden Neuronen im posterioren Gehirn verbunden . Dabei bilden die Axonen dieser Interneuronen einen markanten Trakt ,der an der Rückseite des Gehirns hinter der Protocerebralbrücke verläuft und seitlich und oberhalbdes Ösophagus aufzweigt und terminiert. Bei Bienen und Fliegen kommen große ocellare Interneuronen vor, die von den Ocellen direkt in die thorakalen Ganglien absteigen.
8.5.1.3 Zentralkomplex
Der Begriff Zentralkomplex bezeichnet eine auffällige Gruppe miteinander verbundener Strukturen im Zentrum des Insektengehirns, die vonden Pilzkörpern flankiert wird und eine Vielzahlvon Verbindungen mit den sie umgebenden Gehirnarealen besitzt (Abb. 8-8). Die markante Position im Gehirn sowie die erkennbar komplizierteArchitektur des Zentralkomplexes erregte schon infrühen anatomischen Arbeiten Aufmerksamkeitund führte zu zahlreichen Spekulationen übermögliche Funktionen. Während Größe undGrundstruktur des Zentralkomplexes in adultenInsekten aus unterschiedl ichsten Habitaten ziemlich konstant sind, zeigen sich bei den Larvenformen erhebliche Unterschiede : Larven hemimetaboler Insekten entwickeln bereits in frühen Stadien einen Zentralkomplex während er zu diesemZeitpunkt bei holometabolen Formen noch fehlt.Die detailliertesten Beschreibungen des Zentralkomplexes liegen bisher vor allem für Fliegen,Bienen und Heuschrecken vor, wobei unterschiedliche Terminologien Verwendung finden. Trotzdem lässt sich ein einheitliches Bild erstellen:
Danach besteht der Zentralkomplex anatomisch aus vier Untereinheiten (Abb.8-l2), vondenen drei unter dem Begriff Zentralkörper zusammengefasst werden. Dieser ist in einen größeren, oberen Teil untergliedert, der kappen art igauf einem kleineren unteren Teil sitzt. Beide Teilesind in horizontaler Ebene geschichtet und weisenin der Vertikalrichtung eine klare Segmentierungauf. Posteroventral darunter liegen zwei symmetrische glomeruläre Strukturen, die Noduli, die sichteilweise in eine größere obere und eine kleinereuntere Einheit untergliedern, darüberhinaus aberkeine erkennbaren regelmäßigen Substrukturenaufweisen. Die vierte Untereinheit des Zentralkomplexes, die Protocerebralbrücke liegt in dorsaler Position in der hinteren Grenzschicht des medi-
220 8 Nervensystem
Lateraleakzessor ische
Loben
I '. \. ," A . __ ""~
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, , , I , ,, , , ,
B (\ C (\Abb. 8-12: Architektur des Zentralkomplexes. Das vereinfachte Schaltschema zeigt ein Netzwerk einer Heuschrecke ausfrontaler Sicht. (Nach Williams 1975) A - C Neuronentypen des Zentralkomplexes der Honigbiene aus frontaler Sicht.
anen Protocerebrums. Sie überspannt in Formeines Stabes, dessen Enden leicht nach posteroventral gebogen sind, die Mittellinie des Proto cerebrums. Die Protocerebralbrücke ist wie derobere und untere Teil des Zentralkörpers segmentiert, wobei insgesamt 8 oder 16 Segmente nachArt eines Fächers aufgespannt sind. Die einzelnenSegmente des Zentralkomplexes sind durch spezifische Typen von Kleinfeldneuronen miteinanderverknüpft, sodass ein topographisch geordnetesdreidimensionales Netzwerk entsteht. Das Schemain Abb. 8-12 zeigt ein Beispiel für die so entstehende Ordnung anhand eines Systems von 16Neuronen des Zentralkomplexes von Heuschrecken. In diesem Fall werden Segmente der Protocerebralbrücke mit Segmenten des unteren Zentralkörpers und den lateralen akzessorischen Loben(auch: "ventral bodies") verbunden. Ein entsprechender neuronaler Baustein ist daneben aus demZentralkomplex der Biene dargestellt (Abb. 8-12A) und weist daraufhin, dass die Grundmerkmaleder Architektur des Zentralkomplexes bei verschiedenen Arten ähnlich sind. Neben derartigen
Systemen, die aus spezifischen Verknüpfungendurch Kleinfeldneuronen entstehen, werden Zentralkörper und Protocerebralbrücke zusätzlichdurch Neuronen innerviert, die sich z. B. in allenSegmenten einer Untereinheit verzweigen können(Abb. 8-12 B, C).
Die Lage des Zentralkomplexes im Gehirn , seine hochgeordnete komplizierte Struktur sowie die zahlreichenVerbindungen mit den Gehirnarealen in unmittelbarerNachbarschaft haben zwar die Aufmerksamkeit zahlreicher Neurobiologen geweckt, seine funktionelle Bedeutung ist jedoch bis heute ungeklärt geblieben. Nachhistochemischen Untersuchungen geht die hochgradigestrukturelle Differenzierung des Zentralkomplexes einhermit einer reichhaltigen Ausstattung an neuroaktivenSubstanzen. Neurobiologische Untersuchungen deutenauf eine Beteiligung an der visuellen Informationsverarbeitung (Wahrnehmung von polarisiertem Licht) aberauch an der Kontrolle und Koordination motorischenVerhaltens, wie z. B. Laufen und Lauterzeugung, hin.
8.5 Gehirn und Unterschlundganglion 221
Anleriorsuperioreroptischer
Trakt
Abb. 8-13: Die Pilzkörper der Honigbiene (Frontalansicht) und ihre wichtigsten Verbindungen. Links: Eingänge von sensorischenTrakten derAntennen und optischen Loben. Rechts: Verbindungs- und Ausgangstrakte zum benachbarten Neuropil. (NachMobbs 1982)
8.5.1.4 Pilzkörper
Die paarigen Pilzkörper (auch : Corpora Pedunculata) sind neben dem Zentralkomplex die auffälligsten Strukturen im Neuropil des Protocerebrums. Sie lassen sich grundsätzlich in drei Bestandteile untergliedern (Abb. 8-13): Ein obere s,kelchartiges Gebilde, der Calyx , sitzt auf einemmassiven Pedunculus (Stiel), der in zwei Endbereiche, die Loben aufzweigt, die in Alpha- bzw.Beta-Lobus unterschieden werden . Fliegen undSchwärmer besitzen zusätzlich pro Pilzkörper einen deutlich strukturierten dritten Lobus , der alsGamma-Lobus bezeichnet wird. Anatomisch äquivalente Strukturen lassen sich nach neueren Untersuchungen auch bei Honigbienen nachweisen.Bei einigen Insekten, wie Bienen und Schaben ,finden sich zwei Calyces in jeder Hälfte des Gehirns.
Das grundsätzliche Bauelement der Pilzkörpersind zigtausende paralleler Neuronen geringenAxondurchmessers, die Kenyon-Zellen (Abb. 813), die extrem dicht aneinander gepackt sind . Inder Fliege Musca domestica z. B. machen die Pilzkörper nur 1% des gesamten Gehirnvolumens aus,enthalten aber 13% aller Neuronen. Die dort auf-
tretende Packungsdichte übertrifft selbst diehöchsten aus dem Gehirn von Vertebraten bekannten Werte um ein Mehrfaches. Kenyon-Zellentreten in unterschiedlichen morphologischen Klassen auf, besitzen aber eine gemeinsame Grundstruktur. Die Gestalt der Pilzkörper ist eine Konsequenz der Morphologie dieser Zellen, die keineProjektionen in das umgebende Neuropil besitzenund daher als intrinsisch bezeichnet werden. Vonden Zellkörpern der Kenyon-Zellcn, die peripherum die Calyces gruppiert sind, ziehen die Neuritenin den Calyxbereich und bauen mit ihren dendritischen Verzweigungen die typische Kelchform auf.Von dort läuft pro Kenyon-Zelle eine Faser geordnet durch den Pedunculus bis zu dessen Basisweiter und zweigt dann in die Loben auf DieAnordnung der Dendriten der Kenyon-Zellen untergliedert die Calyces in weitere Substrukturen,deren Topographie durch säulenartige Unterteilung des Pedunculus und Schichtung innerhalbder Loben weitgehend erhalten bleibt.
Die Pilzkörper sind über eine Vielfalt neuronaler Verbindungen mit dem umgebenden Neuropil verbunden. Diese so genannten extrinsischenNeuronen aus unterschiedlichsten Gehirnbereichen innervieren die Pilzkörper als Einzelelemente
222 8 Nervensystem
oder zusammengelagert zu massiven Faserbündelnund verzweigen in diskreten Bereichen des Pedunculus, der Calyces oder der Loben. Zusammenmit den geordneten Mustern der Kenyon-Zellenentstehen so außergewöhnlich komplexe Strukturen. Dabei scheinen die Calyxbereiche vor allemEingänge zu erhalten, während im Bereich derLoben und der Pedunculi sowohl Ein- als auchAusgänge vorkommen. Das sensorische Neuropilder Antennen, die Antennalloben(s. 8.5.2), ist überdrei Antenno-Cerebral-Trakte (auch: AntennoGlomerular-Trakte oder Tracti Olfactoris Globulari) mit dem Protocerebrum verbunden, derenprominentester reichhaltige Verzweigungen in denCalyces aufweist. Vor allem bei der Biene sinddarüber hinaus auch Eingänge von den optischenLoben bekannt, die über den anterior-superiorenoptischen Trakt zu den Calyces ziehen, dort aberin anderen Bereichen verzweigen als die olfaktorischen Fasern (Abb. 8-13).
Neben zahlreichen Projektionen von und inverschiedene Bereiche des benachbarten Protocerebrums über z. B. den Anterior-Iateralen Protocerebral-Trakt sowie den Protocerebro-CalycalTrakt, bestehen auch Verbindungen der Pilzkörper-Neuropile beider Gehirnhälften miteinander,z. B. über die Anterior-dorsale Protocerebralkommissur (Abb. 8-13). Eine auffällige Eigenart extrinsischer Pilzkörper-Neuronen besteht darin ,dass sie Rückkopplungs-Schleifen bilden können,d.h. sie verbinden Teile eines Pilzkörpers, die eherAusgangsbereiche darstellen, wie z. B. den alphaoder beta-Lobus, mit den Eingangsbereichen derCalyces. Ein derartiges Rückkopplungsneuron istin Abb. 8-13 dargestellt.
Insgesamt ergeben die anatomischen Beschreibungen der Pilzkörper ein hochgradig kompliziertes Bild, das zu zahlreichen Spekulationen überderen Funktion und Bezeichnungen wie "höheresIntegrationszentrum" geführt hat. Im Gegensatzzum Zentralkomplex kommen Pilzkörper sowohlbei Hemi- als auch Holometabolen bereits in denLarvenstadien vor und zeigen zwischen den Adultformen verschiedener taxonomischer Insektengruppen erhebliche Unterschiede in Form undGröße. Bei sozialen Insekten, wie Bienen undAmeisen, sind die Pilzkörper im Verhältnis zumGesamtvolumen des Gehirns nicht nur relativgroß, zusätzlich besteht auch ein ausgeprägter Sexualdimorphismus sowie ein klarer Unterschiedzwischen einzelnen Kasten . Aus diesen Gründenist vermutet worden, dass die Pilzkörper ein wichtiges Gehirnzentrum für die Steuerung des hochentwickelten Verhaltens der staatenbildenden Insekten darstellen . So ist bei Honigbienen eine wesentliche Rolle der Pilzkörper beim Lernen vonDüften und der Gedächtnisbildung gesichert, aberauch bei Pilzkörpermutanten der Taufliege Droso-
phila melanogaster treten Beeinträchtigungen desLern- und Gedächtnisvermögens auf (s. 10.4 und10.5). Die außerordentlich gut entwickelten Pilzkörper stark olfaktorisch geprägter Insekten, wiez. B. Schaben und Schwärmer, weisen auf eineAufgabe der Pilzkörper hin, die offenbar allenSpecies gemein ist: die Weiterverarbeitung vonGeruchssignalen , die von den olfaktorischen Sensillen auf den Antennen über die Antennallobendurch mächtige Trakte in die Pilzkörper laufen.Dabei sind die Pilzkörper jedoch keineswegs einrein olfaktorisches Zentrum denn sie erhalten überandere Verbindungswege sowohl mechanosensorisehe als auch visuelle Informationen. So gibt esauch experimentelle Hinweise für eine Rolle derPilzkörper als Sitz eines Ortsgedächtnisses odereine Beteiligung an der Initiierung lokomotorischen Verhaltens.
8.5.2 Deutocerebrum
Das Deutocerebrum umfasst die bilateralsymmetrischen Gehirnbereiche, die mit dem antennalenKopfsegment assoziiert sind. Es erhält Eingängevon den Chemo-, Mechano-, Hygro- und Thermorezeptoren der Antenne und umfasst das Areal derMotoneuronen, die die Ausführung antennalerBewegungen bewerkstelligen. Dabei werden zweiNeuropilbereiche unterschieden (Abb. 8-14): DerAntennallobus, in dem die Axone der Rezeptorzellen des antennalen Flagellums enden sowie derDorsallobus, der die Terminale mechanosensitiverSensillen der beiden basalen Antennensegmente(Scapus und Pedicellus) sowie die Antennenmotoneuronen umfasst.
8.5.2.1 Antennalloben
Die Antennalloben sind die Zentren für die Verarbeitung der Information olfaktorischer Sensillenauf den Antennen. Sie sind aus einer Gruppeknäuelartiger Neuropile, den Glomeruli (Abb. 814), aufgebaut, die eine spezifische Position innerhalb eines Antennallobus einnehmen. Die Anzahlder Glomeruli beträgt je nach Art bis zu 200. DieAxone der Rezeptoren einer Antenne ziehen überden Antennennerv in den ipsilateralen Antennallobus, wo siejeweils in einem einzigen, bestimmtenGlomerulus enden. Nur von Dipteren ist bekannt,dass Rezeptorterminale zuerst ipsilateral einenGlomerulus innervieren, und dann über eineKommissur auch noch in den korrespondierendenGlomerulus des contralateralen Antennallobusziehen können.
8.5 Gehirn und Unterschlundganglion 223
)~
B """
Abb. 8-14: Organisation des Deutocerebrums von Manduca sexta (Sphingidae). A Frontalansicht des Gehirns mit Dorsalund Antennallobus und typischen Neuronen. B Dorsalansicht mit typischen Neuronen der Verbindungstrakte von den Antennallobenzu den Pilzkörpern und dem lateralen Protocerebrum. (Nach Homberg et al. 1989)
Die auffällige typische Architektur der Glomeruli wird von den becherartigen Verzweigungender Rezeptoren zusammen mit Gliazellen und verschiedenen Typen von Interneuronen aufgebaut.Dabei lassen sich zwei Hauptklassen von Interneuronen unterscheiden: lokale Interneuronen undProjektionsneuronen (Abb. 8-14). Lokale Interneuronen verzweigen strikt innerhalb eines Antennallobus, wo sie in einigen oder gar allen Glomeruliverzweigen, und somit Kontakte zwischen denGlomeruli untereinander vermitteln . Projektionsneuronen verbinden einen oder mehrere Glomeruli mit anderen Gehirnarealen, wie den Pilzkörpern . Das prominenteste Beispiel sind die dreiAntenno-Cerebral-Trakte (ACT), die aus Zusammenlagerungen von Projektionsneuronen ähnlichen Typs gebildet werden (Abb. 8-13,8-14). Dermächtigste Trakt ist der innere ACT, dessen Pro-
jektionsneuronen typischerweise nur in einemGlomerulus verzweigen, von dort in die Calycesdes Pilzkörpers projizieren und schließlich im lateralen Horn des Protocerebrums enden. Der mittlere ACT besteht aus Projektionsneuronen, diemehrere Glomeruli abgreifen und dann großflächig das laterale Protocerebrum bis zum lateralenHorn innervieren können . Die Projektionsneuronen des äußeren ACT sind ebenfalls multiglomerulär und projizieren überwiegend in das lateraleHorn und die Calyces.
Eine geringere Anzahl von Neuronen mit individuellerMorphologie erhält Eingänge aus diversen Bereichen desZNS und terminiert multiglomerul är in einem oder beiden Antenn alloben . Aufgrund dieser Verknüpfung desZentrums mit der Peripherie spricht man von zentrifuga len Interneuronen. Weitere Interneuronen verbinden dieAntennalloben beider Seiten miteinander.
224 8 Nervensystem
Die glomeruläre Organisation findet sich auch imBulbus olfactorius der Vertebraten wieder undstellt möglicherweise ein basales Merkmal vonGeru chssystemen dar. Vorstellbar wäre, dass inden jeweiligen Glomeruli Rezeptoren mit gemeinsamen Eigenschaften konvergieren, wie es derSexualdimorphismus bei den Antennalloben einiger Insektenarten andeutet. Dort besitzen dieMännchen einen speziellen, vergrößerten Glomerulus, den makroglomerulären Komplex oderMakrog lomerulus (Abb. 8-14), in dem die Axonesexspezifischer Pheromonrezeptoren der Antennen terminieren . Die Architektur und Verknüpfungsmuster der Glomeruli deuten allerdings darauf hin, dass dort nicht nur die Rezeptoreingängegesammelt werden, sondern bereits erste Verarbeitungsschritte erfolgen. Physiologische Untersuchungen zeigen, dass die Projektionsneuronennicht nur auf Duftreize, sondern auch auf mechano sensorische Stimuli antworten. Eine bemerkenswerte Eigenschaft der olfaktorischen Schaltbahnen ist die hohe Konvergenz tausender vonRezeptoren auf wenige hundert Projektionsneuronen, die dann z.B in den Calyces divergent aufTausende von Kenyon-Zellen verschaltet sind. DieBedeutung dieser Organisation ist noch unverstanden.
8.5.2.2 Dorsalloben
Mit diesem Begriff wird ein separates deutocere brales Neuropil außerhalb der Antennalloben bezeichnet, das als mechano sensorisches und moto risches Zentrum der Antenne dient (Abb. 8-14A).Es wird von den Sinneszellen mechanorezeptiverOrgane auf den beiden basalen Antennensegmente(Scapus und Pedicellus) innerviert, deren Axoneüber den Antennennerv in das Deutoce rebrumeinlaufen und am Antennallobus vorbei in ihrposterior gelegenes Zielgebiet ziehen. Die überwiegende Anzahl der Rezeptorprojektionen istzwar im Dorsallobus konzentriert; darüber hinausfinden sich aber auch Verzweigungen in anderenNeuropilbereichen, wie dem Protocerebrum unddem Unterschlundganglion . Aufgrund dieser Tatsache und einer starken Verschmelzung des Dorsallobus mit benachbarten Neuropilen sind seinepräzisen Grenzen schwer zu bestimmen.
Die Motoneuronen, die die antennalen Muskeln versorgen, haben ihre dendritischen Verzweigungen ebenfalls im Dorsallobus, von wo die Axonen in den motorischen Ast des Antennennervs biszu ihren Zielmuskeln ziehen (Abb. 8-14 A).
8.5.3 Tritocerebrum
Das Tritocerebrum ist der kleinste Teil des Gehirns und liegt ventral beiderseits des Ösophagus(Abb. 8-1, 8-7, 8-8). Ihm entspringt pro Seite einNerv, dessen einer Ast sensorische Fasern desLabrums enthält und auch zur Muskulatur desLabrums und des Schlunds aufzweigen kann(Abb. 8-7). Ein zweiter Ast zieht als Frontalkonnektiv zum unpaaren Frontalganglion (Abb.8-7,8-15) und verbindet so das Tritocerebrum mit demStomatogastrischen System (s. 8.6.1). Zusätzlichkann ein medianer Abzweig zur Labralmuskulaturvorhanden sein. Häufig findet sich ein weiterertrito cerebraler Nerv, der als Tegumenta lnerv diefronta le Oberfläche der Kopfkapsel innerviert.Die beiden Hälften des Tritocerebrums sind durcheine unter dem Schlund verlaufende Tritocerebra lkommissur miteinander verbunden, die bei Insekten mit kaum verschmolzenem cephalen Nervensystem, wie z. B. Orthopteren, ein markantesStrukturmerkmal darstellt.
8.5.4 Unterschlundganglion
Das Unterschlundganglion (USG) liegt in derKopfkapsel unterhalb des Ösoph agus (Abb.8-1,8-7) und innerviert die Mund werkzeuge, die denthorakalen Beinen homolog sind. Es besteht ausden drei fusionierten Ganglien des mandibularen,maxillaren und labialen Segments, deren Neuromere, Trakte und Kommissuren bei ursprünglicheren Insekten wie Orthopteren weitgehend nochzu differenzieren sind. Bei ihnen ist das USG vomGehirn separiert und durch Schlundkonnektivemit dem Tritocerebrum verbunden. Halskonnektive stellen die Verbindung zum Bauchmark desRumpfes her. Mit der Entwicklung komplexererMundwerkzeuge, wie z.B. dem Rüssel der Fliegen,die unter Einbeziehung des vom Tritocerebruminnervierten Labrums erfolgt, kommt es zu Verschmelzungen des Gehirn s mit dem USG. So besitzen höhere Insekten keine Schlundkonnektivemehr und das USG erscheint als integraler Bestandteil des Gehirns (Abb. 8-2). In diesen Fällenist der basale Bauplan der segmentalen Ganglienim Bereich des USG kaum mehr erkennbar.
Neben der sensorischen und motorischen Kontrolle der Mundwerkzeuge ist das USG an derSteuerung von Kopfbewegungen beteiligt. Dabeibefinden sich die Motoneuronen der HaIsmuskulatur in dem dorsalen Bereich des Neuropil s, der inden Ganglien der flügeltragenden Thoraxsegmente von Motoneuronen der Flugmuskulatureingenommen wird. Zusätzlich zu diesen "üblichen" Funktionen, die denen segmentaler Gang-
lien entsprechen, ist eine gemeinsame Beteiligungvon USG und Gehirn an der Steuerung komplexermotorischer Abläufe nachgewiesen, wie sie beimLaufen und Fliegen erforderlich ist.
8.6 Viscerales Nervensystem
Auch Insekten bilden neben dem Zentralnervensystem ein vegetatives Nervennetz aus. Dieses Viscerale Nervensystem ist mit dem Zentralnervensystem verbunden und innerviert vor allem denDa rmkanal und die Geschlechtsorgane. Es wird inzwei Teile untergliedert: Der vordere (auch : stomodeale) Teil umfasst das Stomatogastrische Nervensystem, das Vorderdarm und Speicheldrüseninnerviert, sowie die nervösen Verbindungen zuden endokrinen Organen des RetrocerebralenKomplexes. Der hintere (auch: proctodeale) Teildes Visceralen Nervensystems steht in Verbindungmit den Ganglien des Bauchmark s und wird in einVentrales und Caudales Nervensystem unterteilt.
8.6.1 StomatogastrischesNervensystem
Das Stomatogastrische Nervensystem besteht auseiner Reihe kleiner Ganglien, von denen Nerven inden vorderen Darm abschnitt und den Mundbereich ziehen. Die ganglionären Teile sowie Zahlund Muster der abzweigenden Nerven könnenzwischen den Insektenordnungen erhebliche Unterschiede aufweisen. Grundsätzlich ergibt sichfolgendes Bild (Abb. 8-15): Zentrum des Stomatogastrischen Nervensystems ist das mittig vor demGehirn liegende Frontalganglion . Es ist über diepaarigen Frontalkonnektive bidirektional mit demGehirn verbunden und wird über diesen Weg auchvon Zellen des Unterschlundganglions innerviert.Darüberhinau s können dem Frontalganglionmehrere unpa are Nerven entspringen. Der wichtigste ist der Nervus recurrens (Recurrenter Nerv),der zwischen Schlund und Gehirn nach hinten biszu einem mehr oder weniger entwickelten unpaa ren HypocerebraIganglion verläuft . Hinter demHypocerebralgan glion kann sich dieser Nerv alsÖsoph agealnerv unpaar bis zu einem dorsalen,unpa aren Ventricularganglion fort setzen, oder inzwei Äste teilen, die seitlich entlang des Vorderdarm s in je ein Ventricularganglion ziehen. Daneben kann dem Frontalganglion ein unpaarer Frontalnerv (Nervus front alis) entspringen, der zumvorderen Schlund bereich und zum Cibarium zieht.Desweiteren kann ein medianer unp aarer Nervus
8.6 Viscerales Nervensystem 225
connectivus vorkommen, der eine Verbindun g zwischen Protocerebrum und Fronta lganglion herstellt.
Das Stomatogas trische Nervensystem ist mitdem Retrocerebralen Komplex (s. 8.6.2) assoziiert,wobei die direkte Verbindung meist durch einenkurzen Nerv zwischen dem Hypocerebralganglionund den Corpora cardiaca hergestellt wird. DieseTatsache lässt, zusammen mit zahlreichen histochemischen Nachweisen über die Präsenz neurosekretorischen Material s den Schluss zu, dassdas Stomatogas trische System an endo krinen Vorgängen beteiligt sein könnte. Versuche bei denendas Frontalganglion ausgeschaltet wurde, weisenauf eine Rolle bei der Eireifung, der Regelung desMetabolismus und der Aufnahme und Weiterverteilung von Nahrung im vorderen Schlundbereichhin.
8.6.2 Retrocerebraler Komplex
Der Retrocerebrale Komplex umfasst die meistpaarigen Corpora cardiaca und Corpora allata, dieeine wicht ige Aufgabe als Hormondrüsen erfüllen(s. Kap. 12). Er steht in nervöser Beziehung zumHypocerebralganglion des StomatogastrischenNervensystems und erhält Eingänge von neurosekretorischen Zellen des ZNS. Das Insekten gehirnenthält vor allem zwei große Gruppen neurosekretor ischer Zellen, deren Zellkörper median inder Pars intercerebralis oder im lateralen Protocerebrum liegen (Abb. 8-15). Beide Gruppen innervieren die Corpora Cardiaca über paarigeNervi corporis cardiaci (NCC), wobei die medianen Axone in NCC 1 und die lateralen in NCC 2verlaufen. Die Axone einer weiteren Gruppe neurosekretorischer Zellen im Tritocerebrum vereinigen sich entweder mit dem NCC I oder bildenzusammen mit aufsteigenden Fort sätzen von ZeIlen des Unterschlundganglions einen separatenNerv, der als NCC 3 zu den Corpora cardiacazieht. Die Corpora allata stehen über Nervi corporis allati sowohl mit den Corpora cardiaca (NCA1) als auch dem Unterschlundganglion (NCA 2) inVerbindung. Der Retrocerebrale Komplex ist sowohl Speicher als auch Bildungsort hormonellerSubstanzen und spielt z. B. bei der Häutung undMetamorphose eine wichtige Rolle (s. Kap. 12).
8.6.3 Ventrales und CaudalesViscerales System
Dieser Teil des vegetativen Nervensystems stehtmit den Ganglien des Bauchmarks in Verbindungund bezeichnet die 'dem unpaaren medianen Nerv
226 8 Nervensystem
Abb. 8-15: Stomatogastrisches Nervensystem und RetrocerebralerKomplex aus seitlicher Sicht. (Nach Weber 1966, nach Penzlin 1985)
zugehörigen Äste und Projektionen. Dieser Nerventhält sensible und motorische Fasern und dieAxone in den Ganglien vorhandener neurosekretorischer Zellen. Bei Insekten mit unfusioniertenGanglien entspringt jedem thorakalen Ganglionim posterioren Bereich an der Basis der Konnektive ein unpaarer Nerv, der sich rechtwinklig inzwei Äste aufzweigt (Abb.8-l). Innerviert wirdz.B. die Muskulatur der Stigmen und Tracheen,während die Terminale der neurosekretorischenZellen in der Peripherie zu spezialisierten Strukturen anschwellen, die als Neurohämalorgane arbeiten. Bei den abdominalen Ganglien verändertsich das thorakale Verzweigungsmuster, indem derunpaare mediane Nerv nun zwei Ganglien miteinander verbindet und zwischen diesen die beidenSeitenäste abgibt. Alle Anteile des unpaaren medianen Nervs der thorakalen und abdominalenGanglien, mit Ausnahme des Terminalganglions,werden als Ventrales Viscerales Nervensystem bezeichnet. Der sich von den unpaaren medianenNerven der zum Terminalganglion verschmolzenen letzten Abdominalganglien herleitende Teilwird separat Caudalcs Visceralcs Nervensystem genannt. Es versorgt über einen nach posterior ziehenden Nerv die Reproduktionsorgane und denhinteren Teil des Verdauungssystems.
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