lehrerbildung revisited: kulturen, kompetenzen und biographien

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REZENSIONEN Sammelrezension zu 1. Colin Cramer: Entwicklung von Professionalität in der Lehrerbildung. Empirische Befunde zu Eingangsbedingungen, Prozessmerkmalen und Ausbildungserfahrungen Lehramtsstudierender. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012. 579 S. ISBN 978-3-7815- 1862-9. Preis: 39,90 €. 2. Katharina Kunze: Professionalisierung als biographisches Projekt. Professionelle Deutungsmuster und biographische Ressourcen von Waldorflehrerinnen und -leh- rern. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011. 365 S. ISBN 978-3-531- 17831-8. Preis: 49,95 €. 3. Christian Kraler/Helga Schnabel-Schüle/Michael Schratz/Birgit Weyand (Hrsg.): Kulturen der Lehrerbildung. Professionalisierung eines Berufsstandes im Wandel. Münster: Waxmann 2012. 287 S. ISBN 978-3-8309-2353-4. Preis: 29,90 €. Die angeführten Publikationen befassen sich mit einem Dauerbrenner im erziehungs- wissenschaftlichen Diskurs, der in den vergangenen Jahren, nicht zuletzt seit Bologna und mit Blick auf Entwicklungen in der empirischen Forschung zur Lehrerbildung und Professionalisierung, wieder intensiv und facettenreich diskutiert wird. Allein schon das 825 Seiten starke Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf (Terhart 2011) zeigt, dass nicht nur der Beruf im Ganzen, sondern spezifisch auch die Forschung zur Lehrerbil- dung und Berufsbiographie eine gewichtige Rolle in der Erziehungswissenschaft spielt und dass zwangsläufig plurale Perspektiven auf den Gegenstand und mithin sehr unter- schiedliche Forschungsinteressen entwickelt und fortentwickelt werden. Die gewählten Publikationen stehen beispielhaft für drei Blickwinkel auf Fragen der Lehrerbildung und die Professionalisierungsdebatte. Colin Cramers Dissertationsschrift steht zunächst für eine Lehrerbildungsforschung, die danach fragt, ob und in welcher Weise Lehrerbildung wirkt bzw. ob und wie qua Lehrerbildung das Lernen der Schüler optimiert werden kann, Z Erziehungswiss (2013) 16:783–789 DOI 10.1007/s11618-013-0442-9 Online publiziert: 05.10.2013 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 Prof. Dr. A. Wegner () Zentrum für LehrerInnenbildung, Universität Wien, Porzellangasse 4, 1090 Wien, Austria E-Mail: [email protected] Lehrerbildung revisited: Kulturen, Kompetenzen und Biographien Anke Wegner

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Page 1: Lehrerbildung revisited: Kulturen, Kompetenzen und Biographien

Rezensionen

Sammelrezension zu

1. Colin Cramer: Entwicklung von Professionalität in der Lehrerbildung. Empirische Befunde zu Eingangsbedingungen, Prozessmerkmalen und Ausbildungserfahrungen Lehramtsstudierender. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012. 579 S. ISBN 978-3-7815-1862-9. Preis: 39,90 €.

2. Katharina Kunze: Professionalisierung als biographisches Projekt. Professionelle Deutungsmuster und biographische Ressourcen von Waldorflehrerinnen und -leh-rern. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011. 365 S. ISBN 978-3-531-17831-8. Preis: 49,95 €.

3. Christian Kraler/Helga Schnabel-Schüle/Michael Schratz/Birgit Weyand (Hrsg.): Kulturen der Lehrerbildung. Professionalisierung eines Berufsstandes im Wandel. Münster: Waxmann 2012. 287 S. ISBN 978-3-8309-2353-4. Preis: 29,90 €.

Die angeführten Publikationen befassen sich mit einem Dauerbrenner im erziehungs-wissenschaftlichen Diskurs, der in den vergangenen Jahren, nicht zuletzt seit Bologna und mit Blick auf Entwicklungen in der empirischen Forschung zur Lehrerbildung und Professionalisierung, wieder intensiv und facettenreich diskutiert wird. Allein schon das 825 Seiten starke Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf (Terhart 2011) zeigt, dass nicht nur der Beruf im Ganzen, sondern spezifisch auch die Forschung zur Lehrerbil-dung und Berufsbiographie eine gewichtige Rolle in der Erziehungswissenschaft spielt und dass zwangsläufig plurale Perspektiven auf den Gegenstand und mithin sehr unter-schiedliche Forschungsinteressen entwickelt und fortentwickelt werden. Die gewählten Publikationen stehen beispielhaft für drei Blickwinkel auf Fragen der Lehrerbildung und die Professionalisierungsdebatte. Colin Cramers Dissertationsschrift steht zunächst für eine Lehrerbildungsforschung, die danach fragt, ob und in welcher Weise Lehrerbildung wirkt bzw. ob und wie qua Lehrerbildung das Lernen der Schüler optimiert werden kann,

Z Erziehungswiss (2013) 16:783–789DOI 10.1007/s11618-013-0442-9

Online publiziert: 05.10.2013© Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

Prof. Dr. A. Wegner ()Zentrum für LehrerInnenbildung, Universität Wien, Porzellangasse 4, 1090 Wien, AustriaE-Mail: [email protected]

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Anke Wegner

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wobei er die Frage nach der Wirkungsweise der Lehrerbildung differenziert bearbeitet und diesbezüglich auch Grenzen auslotet. Katharina Kunze nimmt in ihrer Dissertations-schrift hingegen eine ganz andere Perspektive ein: Im Rahmen ihrer qualitativen Studie steht das Subjekt, der Einzelne mit seinen biographischen Erfahrungen im Fokus und es wird der Zusammenhang von Biographie und handlungsleitenden Orientierungs- und Deutungsmustern rekonstruiert. Christian Kraler et al. stellen schließlich den Begriff der Kultur bzw. Kulturen der Lehrerbildung ins Zentrum, um aus internationaler Sicht und mit Blick auf unterschiedliche Institutionen und Akteure plurale Zugänge zur Thematik und je spezifische Herausforderungen um diesen „Arbeitsbegriff“ herum zu sammeln und zu sichten – dies nicht zuletzt mit dem Anliegen, eine gemeinsame Bezugsgröße zuguns-ten der Verständigung über Zugänge zu und Perspektiven auf Lehrerbildung und Profes-sionalität/Professionalisierung zu schaffen.

Cramer, Entwicklung von Professionalität in der Lehrerbildung. Colin Cramer legt eine Monographie zur Entwicklung von Professionalität in der Lehrerbildung vor und ver- steht diese als eine „umfassende (empirische) Bestandsaufnahme für die Lehrerbildung in Baden-Württemberg“ (S. 11). Er beschreibt den Anspruch empirischer Lehrerbildungs-forschung damit, „Grundlagendaten für die Optimierung der Lehrerbildung bereitzustel-len“, was die Frage mit sich bringt, „welcher Gewinn sich aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Lehrerbildung“ ergeben kann (S. 12). Diesen verortet er sodann in „einem hohen Maß an Schülerlernen“ bzw. des „Outcomes“ seitens der Schüler (S. 12), doch räumt er bereits einleitend ein, dass die Bestimmung derjenigen Indikatoren, die eine hohe Schülerleistung befördern, durchaus schwierig ist, weil Schülerleistungen nicht nur durch die Qualität der Lehrerbildung beeinflusst sind (S. 13).

Cramer geht im einführenden Kapitel auf Aspekte der Professionalität im Lehrerberuf, auf Lehrerbildung als Weg der Entwicklung von Professionalität und ausführlich auch auf den Stand der empirischen Lehrerbildungsforschung ein. Mit Bezug auf den Forschungs-überblick und Forschungsdesiderate definiert Cramer als zentrale Forschungsfragen,

● wie sich die befragte Klientel baden-württembergischer Lehramtsstudierender beschreiben lässt, welche individuellen Eingangsbedingungen sie am Anfang des Studiums aufweisen und welche Relevanz sie im Rahmen der institutionalisierten Lehrerbildung haben,

● welche Prozessmerkmale die professionelle Entwicklung von Lehramtsstudierenden charakterisieren und welche weiteren biographischen Faktoren eine Rolle spielen,

● welche Ausbildungserfahrungen Studierende in den ersten drei Semestern machen und wie sie die Ausbildungskomponenten und die Ausbildung insgesamt beurteilen (S. 116).

In die Studie einbezogen wurden Studierende aller sechs Pädagogischen Hochschulen und der zwei Universitäten in Baden-Württemberg. Gewählt wird ein mixed-methods-re-search-design, d. h. ein längsschnittlicher Zugang mit zwei Erhebungszeitpunkten, wobei die Fragebogenerhebung um themenzentrierte Interviews mit Studierenden ergänzt wird (S. 467).

Colin Cramer lehnt an ein Modell professioneller Lehrerkompetenz an, in dem die Kompetenzdimensionen motivationale Orientierungen, selbstregulative Fähigkeiten,

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Überzeugungen/Werthaltungen und das Professionswissen im Zentrum stehen (S. 42, vgl. Krauss et al. 2004; Baumert und Kunter 2006), und er erweitert dies im Anschluss an seine Forschungsfragen zu einem längsschnittlichen Modell der professionellen Ent-wicklung (S. 121). In Bezug auf die professionelle Entwicklung Lehramtsstudierender im Rahmen der institutionalisierten Lehrerbildung in Baden-Württemberg legt Cramer entsprechend im dritten, vierten und fünften Kapitel präzise die zentralen Ergebnisse hin-sichtlich der Eingangsbedingungen, der Prozessmerkmale und der Ausbildungserfahrun-gen Studierender sowie eine je breite Analyse der Teilaspekte dar.

Im abschließenden Kapitel zu Herausforderungen und Perspektiven für die Lehrer-bildung bzw. für die Arbeit an lehrerbildungsspezifischen Fragestellungen hebt Cramer im Rückgriff auf die zentralen Befunde u. a. auf „theoretische und modellbezogene Per-spektiven“ ab und denkt u. a. über die Möglichkeit der Entwicklung einer an der Leh-rerbildung ausgerichteten Theorie der Schule im Rückbezug auf das Wirkungsmodell der Lehrerbildung nach, in der das Wechselspiel von Lehrerhandeln und Schülerleistung stärker in den Fokus rückt (S. 517). Hinsichtlich der „Steigerung von Unterrichtsqualität“ plädiert er zudem für eine „Kultur der Unterrichtsqualität durch bewusst reflektierendes professionelles Handeln von Lehrkräften“ (S. 518), was sowohl in der Erstausbildung als auch berufsbegleitend zu unterstützen sei.

Mit Blick auf die „Modellbildung zur professionellen Kompetenz im Lehrerberuf“ unterstreicht Cramer noch einmal, dass die Erweiterung um Eingangsbedingungen und Ausbildungserfahrungen wesentlich für ein Modell der Professionalität im Lehrerbe-ruf sei (S. 520): „Professionalität im Lehrerberuf meint mehr als das Erreichen eines bestimmten Niveaus an professioneller Handlungskompetenz,“ so Cramer, und er schlägt deshalb vor, die Rede über ein Modell professioneller Handlungskompenz durch die verschiedenen Dimensionen, die für Professonalität im Lehrerberuf relevant sind oder sein könnten, zu ersetzen (S. 521). Zwar geht Cramer zunächst davon aus, dass das Ziel institutionalisierter Lehrerbildung die hohe Kompetenz der Schüler sei, Lehrerbildung also zum Ziel habe, dass Lehrer mit „höherer Wahrscheinlichkeit Lerngelegenheiten im Unterricht schaffen“ (S. 521). Zugleich aber verweist er darauf, dass die Wirksamkeit von Lehrerbildung nur dann an der Leistung der Schüler festgemacht werden kann, wenn sie kognitive, affektiv-emotionale und soziale Aspekte mit einbezieht. Er ergänzt: „Wenn das Ergebnis von Unterricht und Schule (auch) auf einen mündigen Bürger zielt, der einen Platz in der Zivilgesellschaft findet, muss Lehrerbildung angehende Lehrkräfte neben der Fähigkeit zu Unterrichten und Erziehen auch darauf vorbereiten, einen Beitrag zu Enkulturation, Integration, Sozialisation oder Allokation deren künftiger Schülerinnen und Schüler zu leisten“ (S. 521).

Cramer legt eine differenzierte, kritische und an Befunden reichhaltige Publikation vor, die auf einen allzu engen Blick auf Wirkungsketten von der Lehrerbildung zum Schülerlernen letztlich doch verzichtet und gerade mit dem Fokus auf individuelle Bedingungen zum Studienbeginn und je spezifische Entwicklungen während des Stu-diums einen vermittelnden Akzent setzt. Letztlich bleibt dann aus Sicht des Autors wei-ter der „Tatsachenblick“ relevant – der Blick dafür, dass Rahmenbedingungen im Alltag das Lehrerhandeln mitbestimmen und Lehrerbildung auf den professionellen Umgang mit alltäglichen, je spezifischen Situationen nur bedingt vorbereiten kann (S. 528).

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Kunze, Professionalisierung als biographisches Projekt. Die Autorin verortet ihre Arbeit an der Schnittstelle von Professionalisierungs- und Biographieforschung, wobei sie eine besondere Perspektive einnimmt: Sie fragt nach dem Verhältnis von biographi-schen Ressourcen (vgl. Bartmann 2006), die als basale, biographisch erworbene und regulative Prinzipien bezüglich der Wahrnehmung und Deutung des Einzelnen relevant sind, und den professionellen Deutungs- und Orientierungsmustern, die als kognitive Bewusstseinsformationen auf der Basis berufsbezogener Erfahrungen und quasi als Wahrnehmungs- und Interpretationsroutinen begriffen werden (S. 11). Katharina Kunze setzt sich zum Ziel, aufgrund der begrifflichen Präzisierung dieses Wechselverhältnisses eine Basis dafür zu schaffen, grundlagentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Biographie und Profession fortzuentwickeln.

Die Autorin setzt sich zunächst mit der gegenstandstheoretischen Bestimmung von Profession und Biographie auseinander. Dabei rekurriert sie auf professionalisierungs-theoretische Ansätze zur Bestimmung der Strukturlogik professionalisierten Lehrer-handelns und sie diskutiert Überlegungen zur Struktur professioneller Wissensformen, Aspekte der Wissensbasis aus Sicht der kognitionspsychologischen Lehrerwissensfor-schung und der soziologischen Wissensverwendungsforschung sowie die Perspektive der (strukturtheoretischen) Professionalisierungstheorie. Anschließend an die Auseinander-setzung mit dem Schwerpunkt „Biographie und biographische Bedeutungs- und Sinn-erzeugung als Theorie- und Forschungsperspektive qualitativer Professionsforschung“ definiert Katharina Kunze im Sinne der Gegenstandskonzeptionierung die für das Projekt leitenden Kategorien „professionelle Orientierungs- und Deutungsmuster“ und „biogra-phische Ressourcen“ (11 f.). Sie vertritt diesbezüglich außerdem die These, „dass die berufsbezogenen Orientierungs- und Deutungsmuster des Einzelnen nicht losgelöst von der biographischen Erfahrungsaufschichtung verstanden werden können“, um ausgehend davon weiterführende Überlegungen zum Verhältnis von Biographie und Profession zu entwickeln (S. 35).

Katharina Kunze geht ihrer Fragestellung mit Bezug auf Waldorfschullehrer nach, wobei sie der Waldorfpädagogik eine „professionelle ‚Subkultur‘“ bzw. ein relativ kano-nisiertes „pädagogisches Programm“ zuordnet, das sie als elementare Bezugsgröße von Waldorfschullehrern ansieht (S. 10). Anschließend an Ausführungen zu zentralen Aspek-ten der Waldorfpädagogik und anthroposophisch-anthropologischen Grundlagen sowie einen knappen Überblick über den Forschungsstand zur Lehrerbiographieforschung wird die methodische Anlage dargelegt, wobei Kunze u. a. auf die Datenerhebung qua auto-biographisch-narrativer Interviews (insgesamt zwölf Interviews) und die Auswertung mit Hilfe des narrationsstrukturellen Biographieanalyseverfahren (Fritz Schütze) und der objektiven Hermeneutik (Ulrich Oevermann) eingeht. Die Darlegung der Fallrekonstruk-tionen im fünften und sechsten Kapitel umfasst zwei maximal kontrastierende Einzelfälle, wobei jeweils sowohl die objektiv-hermeneutische Rekonstruktion der professionellen Deutungsmuster als auch die biographischen Rekonstruktionen anschaulich dargelegt werden. Im siebten Kapitel werden die Ergebnisse der Rekonstruktionen „fallintern auf-einander bezogen und kontrastierend zwischen den Fällen verfolgt“ (S. 12). Die Autorin geht hierbei eingängig auf das Verhältnis von Biographie und Beruf ein, auf den Zugang zur Lehrertätigkeit, das Mandatsverständnis, den Umgang mit berufskulturell geteilten

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Wissensbeständen, auf das Schülerbild, den Adressierungsmodus und auf Strukturmerk-male der Handlungsebene.

Abschließend beschreibt Katharina Kunze das Verhältnis von biographischen Ressour-cen und professionellen Orientierungs- und Deutungsmustern als reziproke Beziehung. Sie entwickelt auf der Basis der zentralen empirischen Ergebnisse Aussagen mit allgemei-nerer Reichweite insofern, als sie konstatiert, dass sich das Verhältnis von biographischen Ressourcen und professionellen Orientierungs- und Deutungsmustern als eine „dynami-sche Wechselbeziehung darstellt, in der von beiden Seiten aus generatives Potential liegt“ (S. 346, H. i. O.) und in dem sich ein „nach beiden Seiten hin offenes Wechselseitigkeits-verhältnis“ abzeichnet (S. 347), wobei allerdings den biographischen Ressourcen eine Art der organisatorischen Funktion bezüglich der professionellen Orientierungs- und Deu-tungsmuster zugeordnet werden kann. Kunze versteht biographische Ressourcen damit sowohl als einen modus operandi biographischer Sinnerzeugung als auch als Matrix, die auf die Ausbildung professioneller Orientierungs- und Deutungsmuster prägend wirkt (S. 347). Zugleich aber sind professionelle Orientierungs- und Deutungsmuster aus Sicht der Autorin quasi als stabilisierende Einflussfaktoren zu sehen, und zwar in dem Sinne, dass die „Beeinflussungsbeziehung“ professioneller Deutungsmuster auf biographische Ressourcen theoretisch durchaus auch „im Sinne einer kreativen Freisetzung von bio-graphischem Wandlungspotenzial“ vorstellbar erscheint (S. 347). Insgesamt kommt die Autorin zu dem Schluss, dass die Kategorie „biographische Ressource“ einen vielver-sprechenden Ansatzpunkt bietet, um das Verhältnis von Biographie und Profession zu beleuchten und um über die Relevanz der biographischen Wissensbasis in Bezug auf die professionelle Wissens- und Handlungsbasis zu reflektieren (S. 348). Kunze schreibt der Biographie zentrale Bedeutung im Professionalisierungsprozess zu und schließt mit der Aussicht auf die Notwendigkeit, Lehrerprofessionalisierung im Anschluss an Meister (2005, S. 281) als „biographisches Gesamtprojekt“ zu verstehen. Mit Blick auf Anschluss-fragen für Folgestudien und im Sinne eines Ausblicks hält sie außerdem u. a. fest, dass die Befunde ihrer Studie auch für die Lehreraus-, Fort- und Weiterbildung von Relevanz seien, weil nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Bedeutung biographischer Ressourcen und in Hinsicht auf individuelle, handlungsleitende Orientierungs- und Deutungsroutinen letztlich jeweilige Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote reflexiv anzulegen seien.

Die Studie besticht durch die spezifische Verknüpfung von Biographie und Profession und verweist letztlich auch auf eine für die Zukunft bedeutende Forschungsperspektive, wenn es um die Frage der Professionalität und Professionalisierung im Kontext des refle-xiven Umgangs mit der eigenen Biographie geht.

Kraler/Schnabel-Schüle/Schratz/Weyand, Kulturen der Lehrerbildung. Der Sam-melband thematisiert ausgewählte Bereiche der Lehrerbildung und Professions-/Professionalisierungsforschung in internationaler Perspektive und mit Bezug auf unter-schiedliche, an der Lehrerbildung beteiligte Institutionen und Akteure. Die Herausgeber unterstreichen zunächst, dass Lehrerbildung gegenwärtig u. a. durch die Debatte um Kompetenzorientierung und eine Lernorientierung (anstelle einer Lehrfokussierung), durch die Modularisierung der Curricula und eine zunehmende Internationalisierung geprägt ist. Es könnte sich, so die Herausgeber, daraus schließen lassen, dass die Akteure vor dem Hintergrund einer auf Kompetenzen fußenden Ergebnisorientierung enger

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kooperieren müssten und ein Bezug auf gemeinsame Normen, Werte und Traditionen bzw. ein „neues, möglichst konsensuales Kulturverständnis“ gefordert sei, um die nach-wachsende Generation in einer strukturell in der Vergangenheit verankerten Schule für eine unbekannte Zukunft auszubilden (S. 8). Der Begriff der Kultur wird hier jedoch lediglich als „Arbeitsinstrument“ herangezogen und in pragmatischer Weise als von den unterschiedlichen Subsystemen und Akteuren „geteilte Normen, Werte, Denkweisen, Anschauungen und Traditionen“ und als „Referenzpunkte für Einstellungen und Hand-lungen von Akteuren“ beschrieben (S. 8 f.). Es mag überraschen, dass die Herausgeber sich auf die Suche nach einem gemeinsamen Kulturverständnis zu begeben scheinen, weil ein solches mit Blick auf die Komplexität und Kontingenz des Gegenstandes schon theoretisch nur bedingt denkbar erscheint (vgl. u. a. zum „schlimmen Begriff“, dem Kulturbegriff, Luhmann 1995, S. 32); und es mag ebenso erstaunen, dass der Kultur-begriff in dieser Weise pragmatisch verwendet wird, zumal selbst eine Engführung auf Kompetenzorientierung, die Optimierung von Lernergebnissen der Schüler und eine internationale, europäische Perspektive dies nicht unmittelbar nahelegt. Gleichwohl muss der Bezug auf diesen „Containerbegriff“ zuallererst als Versuch verstanden werden, sich den vielfältigen Bedingungen und Herausforderungen der Lehrerbildung überhaupt und auf internationaler, interinstitutioneller und interindividueller Ebene anzunähern.

Die einzelnen Beiträge des Bandes nehmen entsprechend sehr unterschiedliche Per-spektiven bezüglich der Lehrerbildung und der Professionalisierungsdebatte ein. Im Kapitel „Kultur und Lehrer/innenbildung“ werden drei sehr unterschiedliche Zugänge zu Kulturen der Lehrerbildung vorgestellt: Helga Schnabel-Schüle zeichnet aus historischer Sicht und am Beispiel Deutschlands die zentralen Faktoren nach, die einen Wandel der Lehrerbildung letztlich behindern, und sie verweist auf die Relevanz des Bewusstseins über solche Zusammenhänge zugunsten der Überwindung des Tradierten und der Fort-entwicklung einer Kultur der Lehrerbildung. Im Hinblick auf die Schwierigkeit, Innova-tionen im Rahmen der Lehrerbildung voranzubringen, greift dagegen Christian Kraler auf das aus der Mathematik und den Naturwissenschaften bekannte Konzept der Selbstähn-lichkeit zurück, wobei er auf selbstähnliche Strukturen vertikal im Sinne von Traditionen in Ausbildung, Inhalten und Institutionen, aber auch horizontal im Sinne vorfindlicher Handlungs- und Deutungsmuster abhebt und vorschlägt, „selbstähnliche Strukturen und Muster im Rahmen der Ausbildung bewusst zu machen und auf ihre Bedingungen, Ursachen und Funktionen hin zu analysieren“ (S. 70). Im Unterschied zu den genann-ten Beiträgen thematisiert Wolfgang Hallet u. a. Entwicklungen der Individualisierung und Relativierung tradierter Sichtweisen und die Auflösung kultureller Bezugsrahmen im Kontext von Globalisierung. Er plädiert für ein neues Selbstbild der Lehrer als Akteure: Sie seien zu „Experten für den kulturellen Wandel und kulturelle Prozesse“ auszubilden (S. 85), so dass Lehrer an diesen ko-konstruktiv teilhaben, diese mitgestalten, kritisch reflektieren und selbst relevante pädagogische und didaktische Innovationen entwickeln.

Das Kapitel „Aus- und Weiterbildung im Wandel“ bildet den Schwerpunkt des Sam-melbandes. Es werden ausgewählte Bereiche der universitären Aus- und Weiterbildung thematisiert und hierbei Perspektiven für Innovationen im Bereich der Lehrerbildung bzw. der Unterstützung von Professionalisierungsprozessen eröffnet. Dorit Bosse disku-tiert Schulentwicklung als essenziellen Bestandteil der Lehrerbildung, Thomas Coelen und Michaela Heer beschäftigen sich mit interprofessionellen Kompetenzen im Kontext

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der Ganztagsschule und Barbara Drechsel und Manfred Prenzel greifen das Wissen von Lehrern über internationale Vergleichsstudien auf. Die Beiträge beschäftigen sich außer-dem mit Fragen der Lehrerbildung als kulturelle Praxis (Ilse Schrittesser und Monika Hofer), mit der Professionalisierung von Führungspersonen als Systemwandel (Wilfried Schley und Michael Schratz), aber auch mit der theoriegeleiteten Intervention als Profes-sionalisierungsansatz (Peter Fauser, Jens Rißmann und Axel Weyrauch) und schließlich mit Zusammenhängen von Kultur, Kompetenz und Lehrerbildung aus der Sicht der Bil-dungsgangforschung (Meinert Meyer).

„Institutionen und Strukturen der Lehrer/innenbildung auf dem Weg“, das dritte und letzte Kapitel, befasst sich noch einmal mit spezifischen Einblicken in den Status quo der Lehrerbildung. Birgit Weyand geht auf die neuen Zentren für Lehrerbildung als Agen-turen des Systemwandels ein und Hans N. Weiler setzt sich mit der Reform der Lehrer-bildung und der Reform der Hochschulen auseinander. Von Hermann Saterdag wird die Entwicklung und Vereinbarung von Rahmencurricula durch die Kultusministerkonferenz in Deutschland thematisiert und Marc Mallinger bietet abschließend einen Einblick in die Lehrerausbildung in Luxemburg.

Die einzelnen Beiträge fußen auf sehr unterschiedlichen theoretischen Argumentatio-nen und empirischen Perspektiven. Aufgrund der gegebenen Vielfalt der Beiträge liegt ein aufschlussreicher, geradezu kurzweiliger Band zur Lehrerbildung vor, wobei gleich-wohl die Fragen nach der Kultur, nach den Kulturen der Lehrerbildung bzw. nach den Möglichkeiten und Grenzen ihrer Beschreibung weiterhin auszubuchstabieren wären und freilich die Verwendung des Arbeitsbegriffs letztlich auch unbefriedigend bleibt.

Literatur

Bartmann, S. (2006). Flüchten oder Bleiben? Rekonstruktion biographischer Verläufe und Ressour-cen von Emigranten im Nationalsozialismus. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.

Baumert, J., & Kunter, M. (2006). Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Zeit-schrift für Erziehungswissenschaft, 9(4), 469–520.

Krauss, S., Kunter, M., Brunner, M., Baumert, J., Blum, W., Neubrand, M., Jordan, A., & Löwen, K. (2004). COACTIV. Professionswissen von Lehrkräften, kognitiv aktivierender Mathema-tikunterricht und die Entwicklung von mathematischer Kompetenz, In J. Doll & M. Prenzel (Hrsg.), Bildungsqualität von Schule (S. 31–53). Münster: Waxmann.

Luhmann, N. (1995). Kultur als historischer Begriff. In N. Luhmann (Hrsg.), Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 4 (S. 31–55). Frankfurt a. Main: Suhrkamp.

Meister, G. (2005). Das unterrichtliche Selbstverständnis von LehrerInnen. Empirische Muster im Kontext von Unterricht und Biographie. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.

Terhart, E. (2011). Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf. Münster: Waxmann.