leseprobe edo popovic, igor hofbauer -tattoogeschichten
DESCRIPTION
Geschichten vom Rand der Gesellschaft, die wie Tattoos unter die Haut gehen. Wie das Dream Team Charles Bukowski und Robert Crumb haben sich Autor Edo Popović und Comickünstler Igor Hofbauer für das vorliegende Buch zusammengetan. Herausgekommen sind Erzählungen eines gesellschaftlichen Verweigerers, der die Welt auf der eigenen Haut spüren möchte, ungeschönt und ungefiltert – kongenial begleitet und ergänzt von Zeichnungen im Stile einer Graphic Novel.TRANSCRIPT
Er war nicht konzentriert genug gewesen, das war es. Er war einfach nicht
konzentriert genug gewesen. Er hatte sein Gehirn einfach nicht angeschaltet. Nach
dem Motto: Atme tief durch, zähl bis zehn, und denk über die Situation nach. Nein.
Die Hand war ihm ausgerutscht, scheiß Hand, und deshalb sitzt er jetzt im Flur der
Polizeiwache in der Bauerova. Statt zu Hause zu sein oder sonst wo, sitzt er hier bei
den Bullen mit einem blutigen Verband um den Kopf und wartet darauf, dass er
an die Reihe kommt. Er macht sich Sorgen, natürlich macht er sich Sorgen, es gibt
nur selten Situationen, in denen einem der Gedanke an die Bullen gefällt. Mila ist
schon im Büro und macht ihre Aussage. Die Damen haben den Vortritt, nicht wahr.
Was sie nur diesem Bullen da drin erzählt? Sagt sie zu ihm: Ich habe diesen Schrei
gehört und bin hingerannt und hab den Pudel auf dem Boden liegen sehen, und
dann ist das ganze Durcheinander entstanden … Das reicht nicht, denkt Rudi, und
blickt dabei auf die Tür des Büros. Der Bulle kann auf verschiedene Gedanken
kommen und daraus seine eigenen Schlüsse ziehen, wenn er nur diesen Teil hört.
Eine Anzeige fehlt ihm noch. Er wird seinen Job verlieren, ganz sicher wird er ihn
verlieren, sie haben ihm doch gesagt, dass das damals die letzte Scheiße war, sie
werden ihm nichts mehr durchgehen lassen. Ziemlich beschissen. Um sich ein
richtiges Bild machen zu können, muss man die Dinge als Ganzes sehen. In der
größtmöglichen Totale. Die Dinge auseinanderdividieren, die Ursachen auf die
eine, die Folgen auf die andere Seite. Genau so. Es ist nicht fair, mit dem Pudel auf
dem Boden zu beginnen. Einerseits ist das nur ein Detail, andererseits ist dieses
kleine Detail auch die Folge, deren Ursache man nicht sieht. Außerdem hat sie ihn
nach dem Treffen im Club auf der Straße eingeholt, und sie bestand darauf, dass
sie einen trinken gehen.
Lass uns einen kippen, sagte sie.
Das Wort kippen klingelte in seinen Ohren.
Wie meinst du das – kippen? Was kippen?
Na ja, einen Saft.
Er sagte ihr, dass man nur etwas Konkretes kippen könne.
Aber sie sagte, dass Veteranen einen Saft, einen Kaffee oder auch einen Tee
kippen könnten. Das hätten sie sich doch wohl verdient.
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Zuerst gingen sie in ein Café in der Marticeva. Er trank Mineralwasser und Mila
Apfelsaft. Er trank das Mineralwasser wie einen Kurzen, mit einem schnellen Wurf
des Kopfes in den Nacken. Auch sie hatte ihre Alkoholikerbewegungen beibehal-
ten: Während sie ihren Apfelsaft trank, bewegte sich der Ellenbogen der Hand, in
der sie das Glas hielt, genau auf Stirnhöhe. Sie hielten sich dort nicht lange auf.
Wenn der Mensch nicht trinkt, werden Kneipen zu ziemlich langweiligen Orten.
Wie Kirchen. Es gibt keine action, nur Quatschen, nur dummes Quatschen. Sie
sprachen über irgendwas, er weiß nicht mehr, worüber. Wahrscheinlich das übliche
Standardgesülze. Die schlecht angepasste Wirklichkeit und solche Sachen. Nicht
einen Moment lang hatte er sich gefragt, was sie von ihm will. Warum hatte sie ihn
eingeladen? Das ist ihm in letzter Zeit nicht oft passiert. Auch früher nicht. Dass
eine Frau Interesse an ihm zeigt. Aber das war ihm nicht weiter aufgefallen. Als
wäre es das Normalste von der Welt. Mann, war er unvorsichtig gewesen.
Und dann lud sie ihn zu sich nach Hause ein.
Nicht einmal das kam ihm verdächtig vor. Überhaupt nicht. Wenn solch ein
scharfer Zahn einen Typen wie ihn nach Hause einlädt, nimmt das meist ein
schlimmes Ende. Er hätte es wissen müssen, er hat doch genug Erfahrungen mit
solchen Dingen, bittere Erfahrungen. Aber nein, sein Verstand ließ ihn im Stich.
Und auch sein Instinkt und alle Warnmechanismen. Er war wie ein Kind auf sie
reingefallen, wie ein beschissener Grünschnabel hatte er gehofft, dass endlich
auch in seiner Sphäre Wunder geschehen und dass es normal sei …
Und Mila ging sofort zur Sache. In medias res, oh Mann. Da war keine Zeit für
große Worte, sofort action. Da war dieses Riesenbett, und es lag eine merkwürdi-
ge Atmosphäre in der Luft, eine elektrische Ladung entlud sich zwischen ihren
Körpern …
Nur dieser Pudel.
Rudi hat nie behauptet, dass ihm Hunde sympathisch sind. Warum sollten sie
ihm auch besonders sympathisch sein? Er ignorierte sie, so gut er konnte, er beach-
tete sie einfach nicht.
Aber dieser Pudel war zu präsent.
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Er saß da mit heraushängender Zunge, mitten im Zimmer, hechelte, winselte
und zuckte vorwärts, als wolle er jeden Moment durchstarten und in ihr Bett
springen.
Rudi konnte sich nicht konzentrieren.
In letzter Zeit war es um sein Selbstbewusstsein schlecht bestellt gewesen. Er
hatte aufgehört, die Tabletten zu nehmen, die ihn runterzogen und sedierten, aber
er fühlte sich auch weiterhin leer. Beinahe tot – gerade in dieser Hinsicht. Tech-
nisch gesehen war er nicht impotent, das sicher nicht …
Blockade – das war es. Eine beschissene mentale Blockade. Einige Gläschen
Schnaps würden diese Blockade sofort aufbrechen, sie würden sie ganz sicher
aufbrechen, aber …
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Und dann noch dieser Hund.
Er hatte sie doch gebeten, den Hund aus dem Zimmer zu bringen und die Tür
abzuschließen, aber sie hatte nicht darauf gehört. Sie war ganz in ihrem Film, ganz
darin gefangen, und sie versuchte ihn auch hineinzuziehen. Sie bemühte sich,
Mann, sie hat sich wirklich bemüht. Sie hatte Verständnis für seinen Zustand, und
dass das wohl mit dem Trinken, der Therapie und der Abstinenz zu tun hatte, aber
er war wie gelähmt. Er spürte zwar ihre Finger und ihre Zunge unten an seinem
Kleinen, er spürte auch ihren Atem, und ihr weiches Haar kitzelte ihn am Bauch,
aber diese Informationen kamen nicht an der richtigen Stelle in seinem Hirn an.
Sie bogen einfach irgendwo ab, in einen anderen Teil des Hirns.
Danach war sie weder wütend noch enttäuscht, keine Spur.
Nächstes Mal wird es schon gehen, sagte sie und ging ins Badezimmer um zu
duschen.
Und er lag dort und starrte an die Decke, und er muss wohl für ein paar Augen-
blicke eingenickt sein, denn er erinnert sich nicht mehr daran, dass er sie hörte,
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als sie zurückkam. Aber er spürte wieder die Zunge und diesen warmen Atem auf
seinem Kleinen, und verdammt noch mal, jetzt erst kam die Information am rich-
tigen Ort an. Der Kleine begann sich zu regen. Und Rudi griff mit der Hand nach
Mila, um sie auf sich zu ziehen, und er tastete sich durch dichte Locken – wo kom-
men die plötzlich her ? – und dann hörte er genau in diesem Moment Milas Stimme
aus dem anderen Zimmer und er heulte auf und schoss hoch und der Pudel jaulte
und rollte auf den Boden und der Aschenbecher lag schon in Rudis Hand und im
nächsten Moment traf er den Kopf des Pudels – und der brach lautlos zusammen.
Mila aber stürzte mit einem Handtuch um ihre Brust ins Zimmer und begriff nicht
sofort, sie stand da und starrte den Hund an, und dann kniete sie sich hin und
versuchte ihn hochzunehmen, aber der Hund war schlaff und tot, definitiv tot, und
dann sah sie den Aschenbecher und nahm ihn in die Hand und begann herumzu-
schreien, zu schreien, als hätte sie den Verstand verloren. Mörder, schrie sie, du
ekliger Mörder, und Rudi schrie, er hat an mir geleckt, warum hat er das getan?,
und sie begann hysterisch zu lachen, Lord hat dich geleckt, er soll dich geleckt
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haben!, und er trat an sie heran und versuchte sie zu umarmen, aber sie war völlig
außer sich, du Mörder, du hast meinen Lord getötet!, und sie riss sich aus seinen
Armen und holte aus und traf ihn direkt mit dem Aschenbecher an der Stirn, und
er versuchte nicht einmal sich zu schützen, sie war einfach zu schnell …
Und dann – statt anzufangen, bis zehn zu zählen, tief einzuatmen, eins, zwei,
drei, um dann über die Situation nachzudenken, nichts dergleichen – holte er weit
aus und traf mit seiner Faust ihr Gesicht. Adrenalin wütete in ihm, hundertprozen-
tiges Adrenalin, die reinste Aggression, Tinte in den Augen, und dann schlug er
drauflos, was das Zeug hielt, wie damals, als er den Typen verprügelt hatte, man
hatte sie kaum voneinander lösen können, so hatte es wenigstens in der Anzeige
geheißen, er konnte sich an nichts erinnern, und die Bullen hatten ihn gleich in die
Klinik geschleppt, Strafanzeige und Zwangstherapie und so weiter, aber das ist
eine alte Geschichte.
Jetzt war er nüchtern, tot-nüchtern, aber wieder war überall Blut, und sie rann-
te schreiend ins Treppenhaus und schrie, Mörder!, Mörder!, und das nächste, wor-
an er sich erinnert, waren die Bullen, Scheiße, schon wieder Bullen, er saß auf dem
Bett und hielt sich einen Lappen vor die Stirn, und Mila hörte nicht auf zu hysteri-
sieren, und die Bullen waren mies gelaunt, solche Szenen sahen sie einfach zu oft,
neu war vielleicht der tote Hund: Schon in Ordnung, ziehen Sie sich an, wir bespre-
chen alles Weitere auf der Wache.
Und jetzt sitzt er hier, und seine fürchterlichen Kopfschmerzen sind das Letzte,
was ihm zur Zeit Sorgen macht. Er sitzt und denkt darüber nach, was er den Bullen
sagen soll. Was soll er sagen, wenn sie ihn fragen, warum er den Pudel getötet und
dann noch dem Frauchen des Pudels die Nase gebrochen hat? Er hat ihr bestimmt
die Nase gebrochen. Ein solcher Schlag – mein Gott, gut, dass er sie nicht umge-
bracht hat. Das mit der Nase, das kann er noch leicht erklären, das werden sie
schon verstehen, so etwas passiert in dieser Stadt alle paar Minuten, hat er mal
irgendwo gelesen, aber das mit dem Pudel ist ziemlich idiotisch. Wie soll er dem
Bullen erklären, warum er diese Schwuchtel von einem Pudel getötet hat? Er wird
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die Wahrheit sagen müssen, sonst werden sie am Ende noch denken, dass er ein
Irrer sei, der durch die Gegend latscht und Hunde tötet. Gut, er wird also die Wahr-
heit sagen. Wissen Sie, ich bin eingenickt, und dieser Hund hat die Situation aus-
genutzt und hat angefangen … Ach Scheiße, der wird sich vor Lachen in die Hose
machen, der Scheißbulle wird sich vor Lachen in die Hose machen!
Und was hat dann dieser Hund wann gemacht?
Er wird sich hundertprozentig vor Lachen in die Hose machen, und dann wird
er noch die ganze Scheißwache zusammentrommeln, damit sich alle diese Pudel-
geschichte anhören können.
Und wenn sie dann noch mitkriegen, dass er Mitglied im Club der Ex-Alkoholi-
ker ist und dass man ihn schon mal in die Zwangstherapie gesteckt hat ... das wird
die Krönung. Für die ist dann ganz egal, dass er seit Monaten trocken ist. Wirklich
keinen Tropfen! Auch ein Ex-Alkoholiker ist nur ein Alkoholiker, werden sie sagen.
Und was kann er dann noch antworten, wenn auch die Psychologen in der Abtei-
lung für Alkoholismus das Gleiche sagen. Sie sind ein Ex-Alkoholiker, das sagen sie
zu einem. Das, was unsereiner als Lebensstil betrachtet, betrachten die da als
Krankheit. Alkoholismus ist eine Krankheit, sagen sie einem dort. Und sie erklären
einem auch, warum der Alkoholismus eine Krankheit ist. Man begreift das nicht
unbedingt alles, aber man begreift doch, dass es eine üble Krankheit ist. Schlimmer
als Tripper oder Tuberkulose, sogar schlimmer als Krebs. Niemand erwartet von
Menschen, die wegen dieser Krankheiten behandelt werden, dass sie sich selbst als
Ex-Tripperkranke, Ex-Tuberkulosekranke oder Ex-Tumorkranke bezeichnen. Von
uns erwartet man das. Unsereiner hat das Recht verwirkt, sich wie ein gesunder
Mensch zu fühlen. Ganz egal, ob man schon lange nicht mehr trinkt. Ob man seit
Jahren nichts Konkretes hintergekippt hat. Keinen Tropfen. Das ist so ein beschis-
sener Therapierter. Nicht ein Geheilter, nein, ein Therapierter. Das ist ein Dauerzu-
stand. Man kann das nicht mehr abschütteln. Man trägt das ein Leben lang mit sich
herum. Wie seine Hautfarbe. Oder seine Nationalität. Oder seine sexuelle Orientie-
rung. Sie zwingen einen, sich ständig daran zu erinnern, diese beschissenen Nazis.
Für die Bullen wird es noch weniger bedeuten, dass er regelmäßig zu den
Treffen des Clubs der therapierten Alkoholiker (CTA) geht. Denen sind die summits
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der therapierten Alkoholiker schnurzegal. Und ob Rudi regelmäßig zu diesen Tref-
fen geht oder nicht. Am Anfang handelte es sich dabei um Erpressung. Ohne einen
Ausweis des CTA konnte man in keine Therapie gehen, und in die Therapie muss-
te er, um seine Stelle nicht zu verlieren. Und er musste diese Stelle behalten, denn
in dieser Welt gibt es immer weniger Orte, an denen Menschen wie er gebraucht
werden. Eine reine, schamlose, beschissene Erpressung. Das gefiel ihm überhaupt
nicht, aber so waren eben die Spielregeln. Immer lauern irgendwelche Spielregeln
im Hintergrund, immer wird man an den Eiern festgehalten. Vom Leben? Ja, so
kann man es auch sagen. Und all das brachte ihn ständig zum Kochen. Der Club-
präsident, der auf diesen Treffen die süßlichen Briefe seiner Tochter verlas, oder
die Frau, die begeistert Gedanken bejubelte wie zum Beispiel: „Ich habe begriffen,
dass Alkohol mein Leben ruiniert hat.“ Oder: „Alkohol ist die Waffe des Teufels!“
Lauter solche Gedanken. Aber Rudi hatte keine Wahl, er brauchte die Stempel in
seinem Ausweis. Schließlich war er ja nicht zum Vergnügen da. Und diese Men-
schen dort, die waren völlig kaputt. So ein Elend. Und so genossen sie ihr Unglück.
Und es war alles so normal für sie. Und er war kurz davor, sich zu besaufen, um
derartige Séancen überleben zu können. Es fehlte nur sehr wenig, dass er wieder
mit dem Saufen angefangen hätte, aber dann atmete er tief ein, zählte bis zehn und
sagte zu sich selbst: OK, da kannst du nichts machen. Pass dich an oder geh drauf.
Und er passte sich an. Das ist Intelligenz, nicht wahr. Und dann begannen diese
Séancen ihm wirklich zu gefallen. Es schien so, als würde das Ganze therapeutisch
sehr gut für ihn sein. Dass er wirklich hörte, was diese Leute da erzählten. Wäh-
rend er den Geschichten über kaputte Familien, kaputte Karrieren und andere
Dinge, denen man nachtrauerte, zuhörte, verspürte er Erleichterung. Erleichterung
darüber, dass er nicht der einzige kaputte Mensch in dieser kaputten Welt war. Er
spürte Zugehörigkeit.
Und als dann noch eines Abends Mila auftauchte ... Sie sah überhaupt nicht
aus wie eine Alkoholikerin. Sie hielt sich gerade und aufrecht. Ihr Schritt war
elastisch. Sie schaute einem direkt in die Augen. Man dachte, dass sie sich in der
Tür vertan habe, als sie an jenem Abend in den Club kam. Dass sie eigentlich zum
Fitnesstraining im Saal am Ende des Flures wollte. Irgendjemand sagte ihr, dass
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der Fitnessraum am Ende des Flures sei. Es stellte sich aber heraus, dass sie sich
nicht in der Tür geirrt hatte. Dass sie hier richtig war. Mehr als das. Alle wurden
irgendwie lebhafter, seitdem Mila aufgekreuzt war. Die ganze Verzweiflung, all die
verfehlten Leben und all die vertanen Chancen, all das begann auf einmal weiche-
re Umrisse zu bekommen. Einen Sinn. Alle begannen plötzlich daran zu glauben,
dass sie die Chance nutzen konnten, die sich ihnen bot. Sie begannen an etwas zu
glauben. Zu glauben, Mann! Diese Frau war wirklich heilbringend, ein echter Jesus.
Dass ausgerechnet mir so was passiert, denkt Rudi. Und das gerade jetzt, wo
sich sonst alles so positiv entwickelt. Mensch, was für ein Pech. Wäre es jemand
anderes, dann wäre alles in Ordnung. Ein bisschen Sex, ein Abendessen, danach
Fernsehen, vielleicht einen Film aus der Videothek … aber so … der reinste Peckin-
pah, als hätte Peckinpah die ganze Nacht über Regie geführt.
Es sitzt da und wartet, dass die Tür sich öffnet.
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Der Kellner stellte zwei Gläser Glühwein auf den Tisch.
Das wurde auch Zeit, verdammt noch mal, sagte Luka. Wir warten schon seit
Stunden.
Und die Nelken?, fragte Jajo. Wo sind die Nelken?
Du wirst es überleben, sagte der Kellner. Wir haben keine.
Siehst du, Jajo wandte sich an Luka, in was für Zeiten wir leben? Anderswo
kannst du Suppe aus den Flossen eines Hais bestellen, der – sagen wir mal – in den
Gewässern von San Cristobal gefangen wurde, und du bekommst sie ganz selbst-
verständlich. Aber wenn du hier Nelken erwähnst, greifen sie sofort nach der Mo-
torsäge, und ehe du es dich versiehst, geht’s ums Überleben.
Komm mir jetzt bloß nicht schräg, sagte der Kellner. Wer redet hier von Motor-
sägen? Es ging um Nelken, das hat nichts mit Motorsägen zu tun.
Richtig, sagte Luka, aber die haben was mit Glühwein zu tun. Ich will jetzt nicht
über die scheußliche Tatsache diskutieren, dass ihr den Wein gar nicht kocht, son-
dern ihn in der Kaffeemaschine eindampfen lasst, aber auch ein solcher sogenann-
ter Glühwein ist ohne Nelken wie ein Mann ohne Kopf. Es ist dir überlassen, womit
du einem Gast, der Nelken erwähnt, den Kopf abschneidest. Aber wenn ich dich so
anschaue, würde ich sagen, dass eine Motorsäge am besten zu dir passt.
Na so was, sagte der Kellner, kehrte zur Theke zurück und schlug die Zeitung auf.
Luka und Jajo wärmten ihre Finger an den Gläsern und blickten aus dem
Fenster des Cafés. Der Platz war leer, es schneite, und die Straßenlampen gingen
gerade an. Die Szene, die sich ihnen darbot, ähnelte einem schlecht vergrößerten
Schwarzweißfoto.
Der kann viel erzählen, murmelte Jajo, der weiter an seine Nelken dachte.
Diese Kellner. Ich fress’ einen Besen, wenn die nicht alle glauben, dass sie im Leben
zu kurz gekommen sind, dass sie eigentlich etwas Besseres verdient haben, zum
Beispiel Formel-1-Fahrer zu sein, Filmstar oder schlimmstenfalls Staatspräsident,
und dass sie nur deshalb das sind, was sie sind, weil sich die ganze Welt aus rein-
ster Bosheit gegen sie verschworen hat. Pfui. Ich träume von dem Tag, an dem ich
dieses Viertel verlassen kann.
Warum? Was fehlt diesem Viertel denn?
Nelken zum Beispiel.
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Ich weiß nicht recht, sagte Luka, aber ich mag dieses Viertel. Es ist nicht das
schönste, aber – wie soll ich sagen – es ist irgendwie rund, wie ein Kieselstein. Du
kannst nichts dazutun oder wegnehmen, ohne dieses unschöne Rundsein zu zer-
stören.
Wie kommst du jetzt auf Kieselsteine, wenn hier alles völlig quadratisch ist?
Es geht nicht um die Form, sondern um die Idee des Kieselsteins, sagte Luka.
Wenn es zum Beispiel in diesem Wein zufällig Nelken geben würde, dann wäre er
ein mehr oder weniger gut geratener Kieselstein. Ganz zu schweigen vom St. Gal-
lener Rezept für Pigmentwein – acht Teile Rotwein, je ein Teil Wasser und Honig,
dazu noch Zimt, Ingwer, Nelken, Safran und Lavendelwurzel, dann alles gut gemah-
len und durchgekocht. Das ist ein wahrer Kieselstein.
Klar doch, Jajo schlürfte den Glühwein ohne Nelken, die Cevapcici in der
Grillbude an der Brücke sind auch so ein Kieselstein.
Luka ignorierte Jajos Ironie.
Kennst du diese Zeichnung, fragte er, auf der die Erde wie eine runde, flache
Scheibe dargestellt ist und der Himmel wie eine Sphäre, an die man Mond, Sterne
und Sonne geklebt hat?
Wer kennt diese Zeichnung nicht?
Also, da steckt dieser Frater – oder was auch immer das ist – seinen Kopf
durch die Sphäre und glotzt in das Weltall, auf irgendwelche spitzen Gipfel, Wol-
ken, Räder …
Was hat das alles mit diesem Viertel zu tun?, fragte Jajo.
Du kapierst es nicht, sagte Luka. Es geht darum, dass man über das Weltall und
über die Dinge, die uns nichts angehen, sehr viel weiß – viel zu viel, würde ich
sagen. Die Menschen haben zu lange in die Ferne geglotzt, die Planeten und die
Galaxien gezählt, die Entfernungen zwischen ihnen berechnet, auch die Lichtge-
schwindigkeit haben sie berechnet, und was weiß ich noch alles, und dabei sind
sie blind für das Nahe geworden. Was weiß man über unser Viertel? Beinahe
nichts. Weder über unseres noch über irgendeins der anderen Betonviertel auf der
Erdkugel. Hier gibt es keine antiken Ruinen, keine Renaissance, kein Barock,
nichts von all dem ganzen Scheiß, nur Beton und Menschenfleisch, über das wir
auch nichts wissen. Was wissen wir über unsere Nachbarn? Nichts. Wir wissen
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nicht mal ihre Namen, und wir können uns kaum ihre Gesichter merken. Was
wissen wir über die da?, er zeigte auf das Mädchen, das sich wie eine Seiltänzerin
an ihrem Regenschirm festhielt, rutschend die Straße überquerte und im Wirbel
der Schneeflocken verschwand.
Das ist wirklich ekelhaft, so ohne Nelken, sagte Jajo und ging hinaus.
Er kam mit einer Flasche Rotwein und einer Plastiktüte zurück.
Hier, er schüttete den Inhalt der Tüte auf die Theke, hier habt ihr Honig, Nel-
ken, Zimt, Safran. Ingwer und Lavendelwurzel hatten sie nicht. Jetzt brau uns bitte
einen, wie es sich gehört. Wie ging das noch?, er wandte sich an Luka.
Hast du einen Mörser?, fragte Luka den Kellner.
Der Kellner schüttelte den Kopf.
Macht nichts, die Gewürze kannst du auch auf der Theke zerkleinern, einen
Holzhammer wirst du doch wohl haben?
Du weißt doch, dass wir keine Küche haben, sagte der Kellner.
Na gut, dann zerquetsch sie mit einem Glas. Und eine Kochplatte?
Eine Kochplatte habe ich.
Einen Topf?
Nein.
Jajo stürzte aus dem Café und kam mit einem Topf zurück.
Brauchst du noch irgendwas?, fragte er.
Das Rezept, sagte der Kellner.
Zerquetsch von all dem ein bisschen, hau es in den Wein, dann ein wenig Was-
ser und Honig dazu und aufkochen lassen, sagte Luka.
Jajo warf sich zufrieden auf einen Stuhl, holte seinen Tabakbeutel aus der Ta-
sche, drehte eine Zigarette und steckte sie sich an.
Ey, nicht da, sagte der Kellner, der Teil da ist für Nichtraucher, geht auf die
andere Seite.
Du kannst mich mal, sagte Jajo und nahm einen Zug. Die Kids fixen auf deinem
Klo, der Boden ist voll von Spritzen und Blut, und du machst hier Terz wegen einer
Zigarette. Übrigens, er wandte sich an Luka, sie ist Vegetarierin.
Vegetarierin?, fragte Luka.
Ja, Vegetarierin.
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Wer ist Vegetarierin?
Der da bestimmt nicht, Jaro zeigte auf den Kellner. Das Mädchen von vorhin.
Wie kommst du jetzt auf sie?
Du hast doch davon gesprochen, dass wir nichts von den Menschen in diesem
Viertel wissen.
Und woher weißt du, dass sie Vegetarierin ist?
Einfach so, ich weiß es eben.
Du hast im Laden gefragt, und sie haben es dir gesagt?
Nein, ich war mit ihr zusammen, sagte Jajo. Im vergangenen Herbst ist sie in
unser Viertel gezogen, sie arbeitet in einem Verlag, als Sekretärin …
Und sie ist Vegetarierin.
Genauer gesagt, Ultra-Vegetarierin, eine Fundamentalistin, sagte Jajo.
Eine Fundamentalistin?
Du kennst das doch, kein Fisch, kein Huhn, überhaupt kein Fleisch, gar nichts.
Na und?, sagte Luka.
Nichts. Es ging mich nichts an, was und wie sie gegessen hat, sagte Jajo, aber
es ging mich sehr wohl an, wie sie gevögelt hat.
Richtig so, sagte Luka.
Natürlich ist das richtig so, sagte Jajo, aber die war so versessen, dass sie nicht
mal normal vögeln wollte. Nichts, kein Dödel, keine Finger, keine Zunge, verstehst
du, er nahm einen letzten Zug, hustete und drückte die Zigarettenkippe im Aschen-
becher aus.
Du erzählst Stuss, sagte Luka, solche Vegetarier gibt’s doch gar nicht.
Das hab ich auch gedacht, sagte Jajo.
Du meinst also, ihr habt überhaupt nicht gevögelt?
Genauso ist es. Sie betrachtet die Penetration als Fleischkonsum, verstehst du?
Was für’n Scheiß, sagte Luka.
Wie lange muss das kochen?, fragte der Kellner.
Das reicht, sagte Luka, bring den Topf her.
Sie gossen sich Wein ein und tranken eine Zeit lang, ohne etwas zu sagen. Der
Schnee fiel immer dichter.
Nicht schlecht, sagte endlich Jajo, wo hast du das Rezept her?
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Hab ich irgendwo gelesen … Aber sag mal, wie sah dann euer Sex aus, ganz
ohne ... äh ... wie soll ich sagen – jeglichen Kontakt?
Wie stellst du es dir denn vor, wie es aussah?, Jajo winkte ab. Nach gar nichts.
Sie hatte immer irgendwelche Ersatzscheiße in der Hinterhand, eine Gurke, eine
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Zucchini, eine Aubergine und was nicht alles. Ich habe einen ganzen beschissenen
Gemüsegarten in sie reingeschoben, nur nicht meinen Pimmel.
Und was war mit Dildos, wäre es nicht einfacher mit einem Dildo gewesen als
mit einer Zucchini?, fragte Luka.
Ich weiß nicht, ob es mit einem Dildo einfacher gewesen wäre, aber sicher
normaler. Nur hasste sie künstliche Materialien, sie wollte ausschließlich Früchte
der Natur.
Also hast du nur schuften müssen, konstatierte Luka.
Ich habe nur geschuftet, sagte Jajo.
Und wie seid ihr auseinandergegangen?
Jajo seufzte tief auf.
Einmal habe ich die Aubergine ausgehöhlt, weißt du, damit sie dem Original
näherkam. Sie war dadurch elastischer, und ich konnte leichter damit hantieren.
Und dann habe ich sie reingeschoben und gedreht und gedreht, ich habe gearbeitet
wie eine Ferrari-Nockenwelle … Und sie ist heiß geworden wie verrückt, sie ist
völlig abgehoben. Was die alles von sich gegeben hat, was sie für Geräusche ge-
macht hat … und dann bin ich verdammt noch mal auch abgehoben und habe
meinem Pimmel in die Aubergine geschoben. Das heißt, so weit wie er reingepasst
hat. Der reinste Reinfall, wie sich herausstellte. Sie bekam einen Nervenzusam-
menbruch und hat mich rausgeschmissen. So war das …
Wirklich eine traurige Geschichte, sagte Luka.
Wie man’s nimmt, sagte Jajo.
Man kann ihr zumindest nicht vorwerfen, dass sie inkonsequent war.
Das kann man wirklich nicht.
Dann schwiegen sie wieder eine Zeit lang und tranken Wein.
Es ist mir doch lieber, dass sie mich rausgeschmissen hat, sagte Jajo.
Luka sah ihn fragend an.
Na ja, sagte Jajo, stell dir mal ein Wesen von einem entfernten Stern vor, das
seinen Kopf durch die Sphäre schiebt, von der anderen Seite, und uns beobachtet.
Kannst du dir ausmalen, was so ein Wesen sich denken würde, wenn es mich dabei
gesehen hätte, wie ich die Aubergine in die Frau schiebe und dann meinen Pimmel
in die Aubergine?
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