liturgiewissenschaft im kontext der theologie€¦ · lateinischen modellbücher (editio typica)...
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EINFÜHRUNG IN DIE LITURGIEWISSENSCHAFT“ WINTERSEMESTER 2011/2012 – DR. ALEXANDER SABERSCHINSKY
0. Liturgiewissenschaft im Kontext der Theologie
Theologie – eine Wissenschaft
• Dass Theologie eine Wissenschaft ist, war über Jahrhunderte unbestritten. Seit dem 14. Jahrhundert ändert sich der Wissenschaftsbegriff: Wissenschaft geht empirisch vor und forscht voraussetzungslos. Theologie ist jedoch nicht voraussetzungslos, sondern die wissenschaftliche Suchbewegung wird vom Glauben angestoßen und hat die rational nicht ableitbare Offenbarung zum Gegenstand.
• Dennoch ist Theologie eine Wissenschaft. Zwar ist die Erfahrung Gottes und seine Offenbarung nicht ableitbar und kann nicht rational abschließend erfasst werden, doch kann wissenschaftlich-kritisch nach den Bedingungen der Möglichkeit der Transzendenzerfahrungen gefragt werden. Mehr noch: Es ist gerade der Glaube, der die wissenschaftliche Reflexion seinerselbst herausfordert, und zwar nach den Maßstäben des rationalen Denkens. Theologie will den Glauben verstehen, den sie voraussetzt. Augustinus: „So also wollen wir suchen: als solche, die finden werden, und so wollen wir finden: als solche, die suchen werden.“ Anselm von Canterbury: fides quaerens intellectum – der Glaube, der Einsicht sucht
• Glaube und wissenschaftliche Reflexion in der Theologie schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander.
• Die biblische Fächergruppe umfasst die Fächer jeweils der Exegese der Neuen und Alten Testaments sowie die Einleitung hierein. Diese exegetischen Fächer fragen nach der Möglichkeit des Verstehens biblischer Texte.
• Die historische Fächergruppe beziehungsweise Kirchengesichte erforscht die Veränderung und Entwicklung des kirchlichen Lebens, beispielsweise in der Kunst (Christliche Kunst).
• Die systematische Fächergruppe setzt sich mit der inneren Logik des theologischen Denkens im Gegenüber von Bibel, kirchlichem Bekenntnis und gesellschaftlich-kulturellem Leben auseinander.
• Die praktische Fächergruppe widmet sich den unterschiedlichen kirchlichen Handlungsfeldern. Dabei ist wichtig zu beachten, dass die praktische Theologie nicht nur eine Umsetzungs- oder Anwendungslehre der übrigen theologischen Disziplinen
in die Praxis ist. Es geht vielmehr um die „Praktikabilität“ des Glaubens im Sinne einer „praktischen Verwirklichung des Glaubens in der jeweiligen Gegenwart“. Wissenschaftlich reflektiert wird die „Verwirklichbarkeit“ des Glaubens in der Praxis
Die Entstehung der Liturgiewissenschaft als theologischer Disziplin
• Die Liturgiewissenschaft zählte lange nicht zum Fächerkanon der Theologie, sondern
tritt erst die letzten Jahrhunderte in Erscheinung und erhielt auch erst seit dem Zweiten
Vatikanischen Konzil den Rang eines theologischen Hauptfaches zuerkannt (vgl. SC 16).
• Die einzigen Liturgieerklärungen aus dem christlichen Altertum sind Katechesen für die
Täuflinge. Als die Riten später komplizierter wurden und Latein nicht mehr die
Volkssprache war, bedurfte es vermehrt der Liturgieerklärungen.
• Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Liturgie setzt im Kontext der
Reformation seitens der Humanisten ein. In der Barockzeit des 17. und 18. Jahrhunderts
erreichten die Erforschung der historischen Quellen der Liturgie einen Höhepunkt. Seit
dem 18. Jahrhundert kommt es zu ersten pastoraltheologischen Ansätzen.
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Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 2
Liturgiewissenschaft im Kontext der Theologie
• Trotz dieser stark historischen Ausrichtung wurden auch innerhalb der
wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Liturgie Überlegungen angestellt,
inwieweit es sich bei der Liturgiewissenschaft um eine eigenständige Wissenschaft
handele. Die Standortbestimmung der Theologie hinsichtlich ihres Selbstverständnisses
und ihres Eigencharakters geschieht im Kontext der Theologie und im Hinblick auf die
übrigen theologischen Disziplinen.
• Der historische Zugang zur Liturgiewissenschaft führte zu einer deutlichen Zuordnung
der Liturgiewissenschaft zur Kirchengeschichte und einem Verständnis der
Liturgiewissenschaft vor allem als Liturgiegeschichte.
• Eine als Rubrizistik verstandene Liturgiewissenschaft beschreibt anhand der
Rechtsquellen der Rubriken der liturgischen Bücher und der Erlasse der
Ritenkongregation den Ablauf der Liturgie. Eine so verstandene Liturgiewissenschaft
weist eine große Nähe zum Kirchenrecht auf.
• Oftmals wird die Liturgiewissenschaft zur praktischen Theologie gerechnet und in
großer Nähe zur Pastoraltheologie gesehen. Die Pastoralliturgik fragt nach der Rolle der
Liturgie im kirchlichen Leben als einem der zentralen Handlungsfelder von Kirche, und
zwar konkret vor Ort in der Gemeinde.
• Die Liturgiewissenschaft ist jedoch vor allem ein eigenständiges Fach. Als solches ist ihr
Gegenstand die Kirche, und zwar wie sie sich im Gottesdienst als betende Kirche
darstellt. Es geht dabei nicht um die pastoraltheologische Perspektive des
Gottesdienstes als seelsorgliches Handlungsfeld, sondern um die Feier des Glaubens in
der Liturgie.
„Der Gegenstand der Liturgiewissenschaft ist kein anderer als der eine Gegenstand der
Theologie überhaupt: der Glaube. Die Besonderheit der Liturgiewissenschaft besteht
darin, daß sie den Glauben im Medium seiner gottesdienstlichen Realisierung
reflektiert.“1
„Die Liturgiewissenschaft als eigenständiges theologisches Fach kann kein anderes
Thema haben als die Theologie insgesamt: den Glauben der Kirche oder die Kirche als
glaubende. Die Besonderheit der Liturgiewissenschaft besteht darin, daß sie das
Glaubensgeschehen aus der Quelle der gottesdienstlichen Versammlung erschließt, in
denen es konkrete Gestalt annimmt. Die Liturgiewissenschaft reflektiert also mit
1 Reinhard MEßNER, Einführung in die Liturgiewissenschaft (utb 2173), Paderborn 2001, S. 21.
wissenschaftlichen Methoden den gestalteten, in Gebet und rituellen Handlungen
verleiblichten Glauben.“2
Theologische Zugänge zur Liturgiewissenschaft: systematisch, historisch, praktisch
• So wichtig und unerlässlich die Unterscheidung der einzelnen theologischen Disziplinen
sein mag, darf sie doch nicht zu der irrigen Annahme führen, die verschiedenen Fächer
der Theologie ständen beziehungslos nebeneinander. In welcher Beziehung steht die
Liturgiewissenschaft also jeweils zu den verschiedenen theologischen Disziplinen, und
was bedeutet dies jeweils für die verschiedenen Teilaspekte der Liturgiewissenschaft?
• Die systematische Liturgiewissenschaft fragt nach dem Beten der Kirche als einem ihrer
Grundvollzüge: So wie die Dogmatik nach der Martyria und die theologische Ethik nach
der Diakonia fragt die Liturgiewissenschaft nach der Leiturgia. Diese Frage kann nicht
nachgeordnet werden und gehört mit ins Zentrum der Theologie. Sie macht zugleich
den Kern der Liturgiewissenschaft aus, der keiner anderen theologischen Disziplin
zugeordnet werden kann.
• Liturgiewissenschaft ist ohne historische Forschung nicht denkbar. Da Liturgie
‚gewordene Liturgie‘ ist, sind auch die derzeitigen Formen der liturgischen Feiern nur zu
begreifen, wenn man weiß, wie sie sich entwickelt haben. Im Hinblick auf zukünftige
Entwicklungen ist es weiterhin wichtig zu verstehen, warum sie sich in einer bestimmten
Weise entwickelt haben. Drei Ansätze:
(1.) Die vergleichende Liturgiewissenschaft sucht die zugrundeliegenden Grundsätze zu
erforschen, indem sie die verschiedenen Entwicklungslinien der Liturgie vergleicht und
sich um eine Zusammenschau bemüht.
(2.) Die historisch-genetische Liturgiegeschichtsforschung zeichnet die Entstehung der
Liturgie nach und gelangt so zu einem Verständnis ihrer Struktur.
(3.) Die geistesgeschichtliche Methode untersucht die Einflüsse, die sich nicht unmittelbar in
den schriftlichen Quellen niederschlagen, aber die Liturgie beeinflussen, wie der Wandel
der Frömmigkeit oder die kirchlichen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen.
• Liturgiewissenschaft steht in enger Beziehung zur Pastoraltheologie. Diskutiert wird
jedoch: Handelt es sich um einen Bereich der Pastoraltheologie oder einen Zweig der
Liturgiewissenschaft? A. Wintersig versteht die Pastoralliturgik als dritten,
nachgeordneten, aber gleichberechtigten Bereich neben der historischen und
systematischen Liturgiewissenschaft. Hier geht es nicht um die seelsorgliche
2 R. MEßNER, Einführung, S. 26.
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Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 3
Nutzanwendung der einzelnen Gottesdienste, sondern um die Frage, welche Frucht die
Gottesdienstfeier im Leben der Gemeinde bringt.
• Weitere, aber nicht vergleichbar zentrale Facetten der Liturgiewissenschaft sind etwa das
liturgische Recht und die Liturgiespiritualität.
• Welche Akzente man auch im Einzelnen in der Liturgiewissenschaft setzen will –
generell ist zu bedenken, dass keiner verzichtbar ist. Wichtig ist darüber hinaus
aufzuweisen, wie die unterschiedlichen Zugangsweisen zur Liturgie – historisch,
systematisch, pastoral und so weiter – in der Liturgiewissenschaft als einer theologischen
Disziplin ineinander greifen.
Quellen und Arbeitsmittel
• Zwar sind schriftlichen Quellen die wichtigsten Bezugspunkte für die Erforschung des
Gottesdienstes, doch ist zu bedenken, dass Liturgie nicht nur aus Texten besteht,
sondern auch nichtsprachliche und musikalische Elemente zu berücksichtigen sind, und
zudem Liturgie nicht immer genau in der Weise gefeiert wurde, wie sie in den Büchern
festgehalten worden ist.
• Liturgische Bücher sind präskriptive Quellen, die den Soll-Zustand, nicht den Ist-
Zustand beschreiben. Wie der Gottesdienst tatsächlich ausgesehen hat, geben
deskriptive Quellen eher wieder, die wiederum oft keine Texte und Gesänge beinhalten.
• Wichtige Quellen sind:
- Kirchenordnungen: 1.-3. Jh., regeln Gemeindeleben, also präskriptiv; z.B.: Diadache bzw.
Zwölf-Apostel-Lehre, Didaskalie, Tradition Apostolica
- Peregrinatio Egeria: 4. Jh., Bericht einer Nonne über Gottesdienste in Jerusalem, also
deskriptiv
- Mystagogische Katechesen: um 400, geistliche Erläuterungen für Neugetaufte
- Sakramentare: erste liturgischen Bücher im Frühmittelalter; Gebetssammlungen für den
Vorsteher, also Rollenbücher; z.B.: Gregorianum (Papstgottesdienste im Lateran),
Hadrianum (Variante die unter Hadrian I. ins Karolingerreich gelangte), Gelasianum
(zum Gebrauch der römischen Presbyter)
- Ordines Romani: Beschreibungen des Ablaufs der Gottesdienste in Rom, sowohl
präskriptiv wie deskriptiv, Grundlage für spätere Rubriken
- Rollenbücher werden zu Büchern für die einzelnen Feiern vereinigt, Missale entsteht
beispielsweise aus Sakramentar, Lektionar und Evangeliar, Graduale; ähnlich
Entstehung des Brevier
- Pontifikale: enthält Gottesdienste, deren Leitung dem Bischof zukommt (Ordinationen,
Firmung usw.); Rituale: entsprechende Buch für Priester mit Segens- und
sakramentlichen Feiern
• Die nach dem Trienter Konzil im 16. Jahrhundert erarbeiten liturgischen Bücher
wurden – dank der neuen Möglichkeiten durch den Buchdruck – schnell rezepiert und
fanden große Verbreitung, so dass das Erscheinungsbild der römischen Liturgie seit
Beginn des 17. Jahrhunderts bis zur Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils
weitgehend einheitlich war. Die derzeit geltenden liturgischen Bücher sind die
lateinischen Modellbücher (editio typica) mit den dazugehörigen landessprachlichen
Versionen.
1. Liturgie – Feier des Glaubens
• In der Gestalt von Gottesdienst-Feiern zeigen sich Phänomene des Festes.
• Gottesdienste sind besondere Zeit-Räume, die den Alltag unterbrechen und den wahren
Sinn unseres Daseins offenbaren.
• Gottesdienste vergegenwärtigen den Anlass zum Feiern. So stärken sie die Identität der
Feier- und Erzählgemeinschaft.
• Gottesdienste heben die Zeit auf und verbinden mit Ursprung und Ziel des Lebens.
• Die Eucharistiefeier als zentrales gottesdienstliches Fest ist in ihrem Kern wesentlich
Festmahl.
2. Die Feier der Liturgie
– zwischen Privatgebet und amtlichen Ritus
• Nach der Annäherung an das Anliegen und Selbstverständnis der Liturgiewissenschaft
im ersten Kapitel ist es nahe liegend, auch ihren Gegenstand – die Liturgie – in einer
ersten Bestimmung näher zu fassen.
Bestimmungen: Bedeutung – Begriff – Merkmale
• In der Liturgiekonstitution heißt es, dass „die Liturgie der Höhepunkt [ist], dem das Tun
der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt“ (SC 10). Hier
wird der Liturgie nicht nur große Bedeutung zugeschrieben, mehr noch: Liturgie wird
als Ausgangs- und Zielpunkt in das Zentrum des Seins der Kirche gerückt. Um die
Aussage recht zu verstehen, ist der zugrundeliegende Liturgiebegriff zu klären: Es geht
nicht um die äußerliche Feier des Gottesdienstes, sondern vielmehr darum, was in der
Liturgie gegenwärtig wird – Gottes erlösendes Handeln im Pascha-Mysterium.
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Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 4
• Der Liturgie kommt ein unerreichter Rang im kirchlichen Leben zu, weil in ihr sich das
ein für alle Mal erwirkte Heilsgeschehen in Christus vergegenwärtigt. Insofern die
Liturgie das Pascha-Mysterium fortwährend repräsentiert, dem die Kirche sich selbst
verdankt, kann es in der Tat nichts Wichtigeres für die Kirche geben als die Liturgie.
Wenn Kirche Liturgie feiert, dann ist dies keine Leistung, die sie Gott gegenüber
schuldet und erbringt, sondern Christus selbst wirkt hier, in Gemeinschaft mit der
Kirche als seinem Leib.
• Zum Begriff „Liturgie“: synonym für den Begriff ‚Gottesdienst‘ verwendet; erst in der
Auseinandersetzung mit der Reformation in der Westkirche seit dem 16. Jahrhundert
rezepiert; zuvor verschiedene lateinische Ausdrücke in Gebrauch, wie cultus, mysterium,
sacramentum u.a.m. Das griechische Wort selbst ist aus dem Adjektiv lšitoj (zum
Volk gehörig) und dem Substantiv œrgon (Werk) zusammengesetzt und beschrieb zum
Wohl des Volkes geleistete Dienste und öffentliche Dienstleistungen.
• Welche Merkmale unterscheiden Liturgie von anderen kirchlichen Wirkformen und
christlichen Tätigkeiten? Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenmerkmale:
Hauptmerkmale sind verbindliche Kriterien, die im Wandel der Liturgie im Verlauf der
Zeit ihren Bestand haben. Basis dieser Hauptmerkmale der Liturgie ist der Charakter des
Feierns. Auf dieser Basis sind die drei Hauptkennzeichen der Liturgie: Auftrag, Leitung,
Ordnung. Von diesen Hauptmerkmalen sind die Nebenmerkmale des Gottesdienstes zu
unterscheiden. Sie sind keineswegs unwichtig für eine würdige Feier der Liturgie, doch
insofern sekundär, als sie einem zeitlichen Wandel unterworfen sein können und somit
veränderlich sind.
Spannungen: offiziell – universal – gegliedert
Liturgie im Spannungsfeld von offiziellem Gottesdienst mit amtskirchlicher Bestätigung und
dem Gebet Einzelner sowie dem gemeinschaftlichen Gebet
• Eine schwierige Frage ist die Abgrenzung von offizieller Liturgie der Kirche zu
außerliturgischem Beten. Fragt man nach dem Verhältnis des privaten und kirchlichen
Gebets, so ist für das frühe Christentum festzuhalten, dass das private Gebet im
Vordergrund stand, jedoch in das kirchliche Beten in der Liturgie einmündete. Nach der
konstantinischen Wende und mit der gesellschaftlichen Etablierung des Christentums
konnte die Liturgie ihrerseits auch für die Gemeinde eine Schule des Gebets werden und
auf das Gebet der einzelnen Gläubigen zurückwirken.
• Privates und liturgisches Gebet sind aufeinander verwiesen und leben voneinander:
Ohne Gebet des Einzelnen gibt es kein Gebet der Kirche, und ohne Gebet der Kirche
kann es kein christliches Gebet des Einzelnen geben. Doch bei aller Verwiesenheit
aufeinander müssen doch liturgisches und privates Beten voneinander unterschieden
werden.
• Lässt sich die Unterscheidung zwischen Liturgie und Privatgebet noch relativ einfach
vornehmen, ist dies im Hinblick auf die gemeinschaftliche Gebetsformen der
Volksfrömmigkeit schwieriger. Konkret: Sind Andachten Liturgie? Ist nur Liturgie was
in den amtlichen liturgischen Büchern steht?
• Das Direktorium über die Volksfrömmigkeit und die Liturgie der
Gottesdienstkongregation vom 17. Dezember 2001 gibt als wesentliches Kennzeichen
der Liturgie an, dass sie Feier des Pascha-Mysteriums ist. Doch dies geschieht auch,
wenn sich die Gläubigen zu einer Andacht versammeln, die womöglich sogar von einem
Priester geleitet wird. Andererseits nimmt sowohl das Konzil wie auch das Direktorium
solche Gottesdienste von der Liturgie aus. Bereits 1969 hat Heinrich Rennings im
Hinblick auf die Konzilsaussage in SC 13 festgehalten, dass die Unterscheidung
zwischen Liturgie und sacra/pia exercitia von der Sache her willkürlich erscheinen muss. „Sie hat zum Beispiel zur Folge, daß das Breviergebet eines einzelnen Priesters in einem Eisenbahnabteil ‚Liturgie‘ ist, während die öffentliche Fronleichnamsprozession mit Teilnahme eines Bischofs, vieler Kleriker und Laien, keine ‚Liturgie‘ ist, sondern ‚nur‘ ein ‚sacrum exercitium‘ einer Teilkirche! Sachlich wäre wohl der ganze Bereich des ‚öffentlich-kirchlichen gottesdienstlichen Handelns‘ einschließlich der gottesdienstlichen Versammlungen zur Feier der Sakramente, Aufgabengebiet der kritisch-normativen Liturgik, wobei es unerheblich ist, ob diese Gottesdienste in liturgischen Büchern, die von Rom, den Bischöfen oder niemand
approbiert sind oder auch nicht in liturgischen Büchern [...].“3
• Adolf Adam plädiert dafür, „die Frage, was als Liturgie, also als kirchlicher Gottesdienst,
angesehen werden darf, nicht zu eng und ängstlich an[zu]gehen“. Immer wenn eine
Gruppe in Übereinstimmung mit der Lehre der Kirche zum Hören des Wortes Gottes
und zum gemeinsamen Beten zusammenkommt, ist Christus als Hohepriester
gegenwärtig (vgl. Mt 18,20). „Darum ist auch ein solcher Gottesdienst durchströmt vom
Pascha-Mysterium und geschieht zur Verherrlichung Gottes und zum Heil derer, die ihn
feiern. Warum sollte auf ein solches gottesdienstliches Geschehen nicht die
Wesensbestimmung von Liturgie zutreffen?“ 4
Liturgie im Spannungsfeld von Universal- und Ortskirche
• Welche Berechtigung haben jeweils die zentral von Rom anerkannten liturgischen
Formen mit dem Anspruch auf weltweite Geltung einerseits und die unterschiedlichen
lokalen Ausprägungen und Besonderheiten des Gottesdienstes andererseits, und in
welchem Verhältnis stehen sie zueinander?
3 Heinrich RENNINGS, Über Ziele und Aufgaben der Liturgik, in: Concilium 5 (1969), S. 128-135, S. 133.
4 Adolf ADAM, Grundriß der Liturgie, Freiburg i.Br.–Basel–Wien 1985 , S. 17.
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Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 5
• Innerhalb der Liturgie sind verschiedene Ebenen unterscheidbar, die die Abstufung von
der Regelung der Gottesdienstfeier der Gesamtkirche bis hin zur konkreten Feier vor
Ort anzeigen. Die gleichsam oberste Ebene ist diejenige der gesamtkirchlichen Liturgie
auf weltweiter Ebene. Die Einheitlichkeit der liturgischen Regelungen auf dieser Ebene
bringt die weltweite Zusammengehörigkeit der Kirche zum Ausdruck. Doch daneben
existiert die Ebene der teilkirchlichen Liturgie. Sie betrifft markante Teilbereiche der
Gesamtkirche (Sprachgebiet, einheitliches Kulturerbe), innerhalb derer sich gemeinsame
teilkirchliche Formen der Gottesdienstfeier finden. Ortskirchliche Liturgie meint die
tatsächliche Gottesdienstfeier in bestimmten Gemeinden.
• Diese Ortskirchen sind theologisch qualifiziert und wichtig, weil sie die größere
Gemeinschaft der Gesamtkirche vor Ort repräsentieren. Einerseits ist die Ortskirche
vollgültig Kirche, andererseits ist sie es niemals losgelöst von der gesamtkirchlichen
Gemeinschaft und nur in Rückbindung an sie.
• Insofern die Einheit im Glauben entscheidend ist für die Einheit der Kirche, muss es
auch eine Einheit der Liturgie geben, die ja Feier des gemeinsamen Glaubens ist.
Allerdings ist zu klären, welchen Freiraum diese Vorgaben den jeweiligen Teilkirchen für
die Inkulturation einräumt. Das Zweite Vatikanische Konzil hat gegenüber der sehr
formalen und auf Rom zentrierte Sicht der Liturgie in seiner Liturgiekonstitution
klargestellt, dass die Gottesdienstfeier der Ortskirche mit ihrem Bischof in der Mitte
wahre Liturgie der ganzen Kirche ist (vgl. SC 41f.). Darüber hinaus wird ausdrücklich
einer „starren Einheitlichkeit der Form“ auch im Gottesdienst eine Absage erteilt. Im
Gegenteil soll das Erbe der verschiedenen Völker gepflegt werden und – sofern
vereinbar – auch Eingang in die Liturgie finden (vgl. SC 37). Den verbindlichen Rahmen
für die Anpassung bildet der römische Ritus, der im Wesentlichen einheitlich erhalten
bleiben muss, um auch der universalkirchlichen Dimension der Liturgie gerecht zu
werden. Auf diese Weise ist auch in der Liturgie das ekklesiologische
Spannungsverhältnis von Universal- und Ortskirche gewahrt, ohne es die Problematik
verkürzend in eine Richtung aufzulösen.
• Die Spannung zwischen Freiheit und Bindung, in der die gottesdienstlichen Feiern
stehen, spiegelt sich in der differenzierten Kompetenzzuweisung in liturgierechtlichen
Fragen wieder, die der Codex iuris canonici von 1983 in can. 838 im Unterschied zur
zentralistischen Sicht des can. 1257 CIC/1917 vornimmt.
• Der Apostolische Stuhl gibt für die römischen Riten die einzelnen liturgischen Bücher
als eine editio typica heraus. Die Bischofskonferenzen veranlassen eine Übersetzung in
die jeweiligen Landessprachen und nehmen die notwendigen Anpassungen vor, und
approbieren die Bücher für ihren Rechtsbereich als „auctoritates territoriales“.
Allerdings müssen diese Bücher anschließend noch in Rom von der zuständigen
Kongregation überprüft und bestätigt werden. 2001 hat es eine einschneidende
Änderung gegeben, als die Gottesdienstkongregation erklärte, dass die Zeit
Erprobungen beendet sei und die revidierten Texte zur endgültigen Approbation
vorzulegen seien.5
• Am 28. März 2001 erschien die „Fünfte Instruktion ‚zur ordnungsgemäßen Ausführung
der Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die heilige Liturgie‘ (zu Art.
36 der Konstitution)“ der Kongregation für den Gottesdienst und die
Sakramentenordnung. Die Instruktion, nach ihren programmatischen Anfangsworten
„Liturgiam authenticam“ genannt, hat den „Gebrauch der Volkssprache bei der
Herausgabe der Bücher der römischen Liturgie“ zum Gegenstand. Ihrem
Selbstverständnis nach markiert diese Instruktion einen neuen Abschnitt der liturgischen
Erneuerung. Auch wenn die Instruktion sich zur Unversehrtheit der teilkirchlichen
Traditionen bekennt, ist doch nicht zu übersehen, dass es ihr Grundanliegen ist, die
lateinischen Originaltexte zu stärken, indem eine größere Nähe der Übersetzungen zu
ihnen eingeklagt wird und sehr detaillierte Bestimmungen hierfür getroffen werden.
• Die Authentizität der Liturgie ergibt sich nach Liturgiam authenticam aus deren
Übereinstimmung mit der römischen Liturgie. Doch darf nicht übersehen werden, dass
es nicht Liturgie an und für sich gibt, sondern sie sich immer nur in der
Gottesdienstfeier einer Gemeinde konkretisiert. Hier muss ein gewisser Spielraum
möglich sein, ohne dass die reine Subjektivität das Letzte Wort haben darf. Der
entscheidende Punkt ist, dass nicht die formale Übereinstimmung die Einheit und den
Zusammenhalt der Universalkirche garantieren, sondern die Übereinstimmung im
Glaubenszeugnis, dass sich in der Feier des Glaubens unterschiedliche, wenn auch nicht
beliebige, Ausdrucksformen verschaffen kann.
Liturgie im Spannungsfeld von Vorsteher und Volk
• Heute gilt Liturgie als die Feier der ganzen Kirche als mystischen Leib Christi mit Haupt
und Gliedern, also auch des ganzen, hierarchisch gegliederten Gottesvolkes. Das aber
schließt die so genannten Laien, die ‚einfachen Gläubigen‘, als Träger der Liturgie mit
ein.
• Das hier zu Grunde liegende Kirchenverständnis ist bereits von Pius XII. in seiner
Enzyklika Mystici Corporis 1943 wieder in Erinnerung gerufen worden: Die Kirche ist
5 KONGREGATION FÜR DEN GOTTESDIENST UND DIE SAKRAMENTENORDNUNG, Der
Gebrauch der Volkssprache bei der Herausgabe der Bücher der römischen Liturgie. Liturgiam authenticam – Fünfte Instruktion „zurordnungsgemäßen Ausführung der Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die heilige Liturgie“ (zu Art. 36 der Konstitution); lateinisch - deutsch (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Bd. 154), Bonn 2001, n. 77 (S. 71).
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Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 6
der mystische Leib Christi (vgl. Kol 1,18). Auf diese Weise wird die Einheit und
Unteilbarkeit der Kirche betont. Doch zu einem Leib gehören auch Glieder. So bringt
das Bild des Leibes die Vielfalt der Kirche hinsichtlich ihrer Glieder zum Ausdruck, die
verschieden, aber doch eng miteinander verbunden sind. Ausdrücklich betont Pius XII.,
dass keineswegs allein der Klerus zu den Gliedern zählt, sondern ebenso
uneingeschränkt die Laien.
• Die Enzyklika Mediator Dei von 1947 versteht Liturgie als „den gesamten öffentlichen
Kult des Mystischen Leibes Jesu Christi dar, seines Hauptes nämlich und seiner
Glieder“.6 Die aktive Rolle der Gläubigen in der Liturgie der Eucharistie wird nun
ausführlich dargelegt.7 Ausdrücklich heißt es: „Auch die Riten und Gebete des
Eucharistischen Opfers bringen nicht weniger klar zum Ausdruck, daß die Darbringung
des Opfers durch die Priester zusammen mit dem Volke geschieht.“8
• Auch das Zweite Vatikanische Konzil stellt heraus, dass das ganze Volk Gottes, nicht
nur die Kleriker, Träger und Akteure der Liturgie sind, und zwar in Verbindung mit
Christus als ihrem Haupt.
• Damit wird klar: In der Kirche haben zwar alle die gleiche Würde, sind jedoch zugleich
nach Ämtern und Aufgaben unterschieden. Diese gegliederte Gemeinschaft der Kirche,
die sich auch in der Hierarchie ausdrückt, spiegelt sich in der Liturgie wider. Konkret: In
der Liturgie tun nicht alle das Gleiche, sondern wirken entsprechend ihres Amtes und
ihrer Aufgabe mit – unbeschadet dessen, dass alle Träger der Liturgie sind.
• Der Priester steht der Feier der Liturgie vor, doch es sind die Gebete der Gemeinde, die
er an Gott richtet. Diese Unterscheidung zwischen Laien und Priestern bei gleichzeitiger
Verwiesenheit ist in der Differenzierung zwischen allgemeinen und besonderem
Priestertum grundgelegt.
• Doch worin wird deutlich, dass auch ‚einfache Gläubige‘ Träger der Liturgie sind. Hier
sind an erster Stelle die liturgischen Dienste zu nennen, die Laien übernehmen können.
Dass Laien Träger der Liturgie sind, wird auch deutlich, wenn die „actuosa participatio“,
die tätige Teilnahme, gefordert wird. Damit ist keineswegs gemeint, dass die Gläubigen
sekundär sich dem anschließen sollen, was primär der Priester vollbringt, womit ihre
Teilnahme nur akzidentell wäre, sondern sie ist vom „Wesen der Liturgie selbst
verlangt“ (SC 14).
6 PIUS XII., Litterae Encyclicae De Sacra Liturgia. Die XX novembris MCMLVII: „Mediator Dei“ –
Rundschreiben über die Heilige Liturgie. 20. November 1947: „Mediator Dei“, Freiburg i.Br. 1948, S. 22f.
7 Vgl. PIUS XII., Mediator Dei, S. 72-77.
8 „Eucharistici quoque Sacrificii ritus ac preces haud minus clare significant atque ostendunt victimae
oblationem una cum populo a sacerdotibus fieri.“ PIUS XII., Mediator Dei, S. 76f.
3. Gottesdienst - Feier Ostergeheimnisses
Das Pascha-Mysterium im Alten Testament
• Beim Jahwisten erfolgt die kultische Erinnerung an die Befreiung durch Gott durch die
Umdeutung des apotropäischen Blutritus der Nomaden. Das Fest wird mit einem Mahl
verbunden.
• Im Deuteronomium erhält das Mahl einen Opfercharakter. Denn den Blutritus konnten
die sesshaften Stämme nicht mehr deuten.
• In der Priesterschrift wird der sühnende Charakter Blutritus bezeugt. Den Hintergrund
hierfür bildet die Situation des Exils. Ziel ist die Erneuerung des Bundes durch Jahwe.
Lesehinweis: Peter Laaf, Die Pascha-Feier Israels. Eine literarkritische und
überlieferungsgeschichtliche Studie (= Bonner Biblische Beiträge, Bd. 36), Bonn 1970.
Das christliche Pascha-Mysterium vor dem Hintergrund des Alten Testaments
• Die alttestamentlichen Lesungen der Osternacht legen das neutestamentliche Ostern
aus. Also nicht nur die neutestamentlichen Lesungen sind eine rückblickende Deutung
des AT.
• Während im AT das Pascha die Kultgemeinde Israels konstituiert, vollendet im NT
Pfingsten das Pascha; Pfingsten begründet die Entstehung der Kirche.
• Im AT ist das Pascha ein Kompendium der Heilsgeschichte: Der Auszug aus der
Gefangenschaft (Ex 12) und der Einzug ins gelobte Land (Jos 5) gehören zusammen.
• Das NT bezeugt: Das christliche Pascha nicht nur Gedächtnis des Pascha (1.
Sinnschicht), sondern auch im verheißenen Land liturgisch wiederholtes Pascha (nach
40tägiger Bußzeit analog zur Wüstenwanderung)
Lesehinweis: Georg Braulik, Überlegungen zur alttestamentlichen Ostertypologie, in: Archiv
für Liturgiewissenschaft 35/36 (1993/94), S. 1-18.
Die Feier des Paschas in der Liturgie
• Parallelen zwischen AT und NT:
* Es besteht eine von Gott gewählte Lebensgemeinschaft, die die Menschen annehmen
können.
* Erlösung wird begründet durch Gründungsereignis.
* Erlösung ist ein Transitus-Geschehen.
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Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 7
* Erlösung ist ein geschichtliches Ereignis.
* Erlösung wird in einer rituellen Abbildhandlung vergegenwärtigt.
• Das Neue des NT:
* Erlösung wird personal vermittelt in der Person Jesu (statt reines Blutritual).
* Es gibt nur eine einzige Opfergabe.
* Der Begriff „Mysterium“ bringt die Einzigartigkeit zum Ausdruck.
• Das Opfer Jesu …
* … ist in der Selbsthingabe (im Durchgang) ein „Für uns Sein“ (Kenosis).
* … ist als Hingabe Jesus ein Transparent der Hinwendung Gottes zur Welt.
* … wird in der Gedächtnisfeier vergegenwärtigt, so dass sich die Gläubigen davon
erfassen lassen können und daran Anteil erhalten.
Lesehinweis: Irmgard Pahl, Das Paschamysterium in seiner zentralen Bedeutung für die
Gestalt christlicher Liturgie, in: Liturgisches Jahrbuch 46 (1996), S. 71-93.
4. Gottesdienst – Dialog zwischen Gott und Mensch
4.1 Wort Gottes
• „Die Kirche hat die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst, weil sie,
vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des Wortes Gottes wie des Leibes Christi
ohne Unterlaß das Brot des Lebens nimmt und den Gläubigen reicht. In ihnen
zusammen mit der Heiligen Überlieferung sah sie immer und sieht sie die höchste
Richtschnur ihres Glaubens, weil sie, von Gott eingegeben und ein für alle Male
niedergeschrieben, das Wort Gottes selbst unwandelbar vermitteln und in den Worten
der Propheten und der Apostel die Stimme des Heiligen Geistes vernehmen lassen.“
(Dei verbum 21)
• „Auf dass den Gläubigen der Tisch des Gotteswortes reicher bereitet werde, soll die
Schatzkammer der Bibel weiter aufgetan werden, so dass innerhalb einer bestimmten
Anzahl von Jahren die wichtigsten Teile der Heiligen Schrift dem Volk vorgetragen
werden.“ (Sacrosanctum Concilium 51)
• „Gott, der ‘will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit
gelangen’ (1 Tim 2,4), ‘hat in früheren Zeiten vielfach und auf vielerlei Weise durch die
Propheten zu den Vätern gesprochen’ (Hebr 1,1). Als aber die Fülle der Zeiten kam,
sandte er seinen Sohn, das Wort ...“ (Sacrosanctum Concilium 51)
• „Die wunderbaren Taten, die Gott einst auf vielfältige Weise in der Heilsgeschichte
gewirkt hat, werden unter den Zeichen gottesdienstlichen Feierns geheimnisvoll, aber
wirklich gegenwärtig.“ (Pastorale Einführung in das Messlektionar 7)
• „Das Wort Gottes selbst aber, das bei der Feier der heiligen Geheimnisse verkündet
wird, gilt nicht nur der gegenwärtigen Situation; es blickt auch zurück auf die
vergangenen Dinge und schaut mit Sehnsucht und Hoffnung aus nach den kommenden,
damit unsere Herzen im Wechsel der Dinge dort verankert seien, wo die wahren
Freuden sind.“ (Pastorale Einführung in das Messlektionar 7)
• „Denn in der Liturgie spricht Gott zu seinem Volk; in ihr verkündet Christus noch
immer die Frohe Botschaft. Das Volk aber antwortet mit Gesang und Gebet.“
(Sacrosanctum Concilium 33)
4.2 „Von Gott her zum Menschen hin und vom Menschen her zu Gott hin“
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Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 8
5. Gottesdienst – Gedächtnis und Verheißung
6. Gottesdienst – Glaubensfeier unter heiligen Zeichen
Liturgie in Werden und Wandel – Einblicke in die Liturgiegeschichte • Die Liturgiegeschichte zeigt, daß die Geschichte der Liturgie nicht nur eine Geschichte
des Werdens in den ersten Jahrhunderten ist, sondern auch durchweg eine Geschichte
des Wandels. Es gibt zahlreiche Liturgiereformen über Jahrhunderte hinweg vor dem
Zweiten Vatikanischen Konzil. Neben der Erkenntnis, daß es einen Wandel in der
Liturgie gibt, hilft die Liturgiegeschichte auch zu verstehen, wie der Wandel motiviert
ist.
Die Anfänge: Die Zeit des Neuen Testaments und der Apostel
• So wie die nachösterliche Gemeinde insgesamt erst zu ihrer Identität finden mußte,
mußte sich auch erst der spezifisch christliche Gottesdienst herausbilden. Dies geschah
vor allem in Absetzung beziehungsweise durch eine neue Verhältnisbestimmung zum
jüdischen Gottesdienst.
• Einerseits brachen zumindest die Christen jüdischer Herkunft nicht sofort mit dem
ursprünglichen Kult. Andererseits zeigen sich die Differenzen und Spannungen
zwischen Judentum und Christentum. Die Christen verstanden sich anfänglich
keineswegs im Gegenüber zum Judentum, sondern gingen von der Bekehrung des
erwählten Volkes aus. Erst die jüdische Ablehnung und der Zuwachs an sogenannten
Heidenchristen lies die Christen eigene Wege gehen. Vor allem die Zerstörung des
Jerusalemer Tempels 70 n.Chr. schuf vollendete Tatsachen, die den Christen deutlich
machte, daß sich ihre Naherwartung der der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft
Christi nicht erfüllt. All dies machte es erforderlich neue und eigene Formen des
Gemeindelebens generell und des Gottesdienstes speziell zu finden.
• Grundsätzlich ist die Tatsache festzuhalten, daß sich die Christen versammelten. Der
hohe Stellenwert der gottesdienstlichen Versammlung ist geradezu ein Kennzeichen der
christlichen Gemeinde. Die Versammlung in privaten Wohnhäusern gewann an
Bedeutung.
• Die Versammlungen gestalten sich in Anlehnung an die Begegnungen mit dem
Auferstandenen, wie sie in den Evangelien und in der Apostelgeschichte berichtet
werden: Zusammenkommen, Wiedererkennen des Auferstandenen, Verkündigung
seines Wortes, Empfang seines Geistes, Brotbrechen und Mahl, Aussendung der Jünger.
Doch insgesamt läßt sich keine festgelegte Ordnung des Gottesdienstes ausmachen,
ebenso wenig wie die liturgische Funktion der einzelnen Ämter genau geklärt ist.
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Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 9
• Eine wichtige Rolle spielte in neutestamentlicher Zeit die Taufe, von der oft berichtet
wird, allerdings ohne ihren liturgischen Verlauf zu überliefern. Es geht um mehr als um
eine rituelle Waschung, wie sie etwa die Juden als Zeichen der Buße und Reinigung
praktizierten.
• Neben dem Brotbrechen und der Taufe sind noch andere Riten überliefert, die hier nur
kurz genannt seien. Verbreitet war das Auflegen der Hände, etwa damit der Neugetaufte
den Heiligen Geist empfängt (Apg 8,15-17) oder zur Heilung von Kranken (Apg
9,12.17; 28,8). Auch bei der Aussendung zu Missionsreisen wurden die Hände aufgelegt
(Apg 6,6; 13,1-3; 1 Tim 4,14; 5,22; 2 Tim 1,6). Außerdem wird die Salbung der Kranken
mit Öl erwähnt (Mk 6,13; Jak 5,14-16).
Die Grundlegung: Das zweite und dritte Jahrhundert
• Angesichts der nicht erfüllten Naherwartung der Wiederkunft Christi wurde es
unumgänglich, Institutionen zu schaffen, die für eine dauerhaftes Bestehen einer
Gemeinschaft unverzichtbar sind. So mußten beispielsweise Vorsteher für die
Gemeinde und Leitungspersonen gefunden werden, nachdem die Apostel nicht mehr
unter den Gläubigen weilten. In diesem Zusammenhang entwickelte sich auch die
Ämterstruktur weiter, was wiederum die Gottesdienstfeier beeinflußte. Neben der
äußeren Bedrohung durch die Verfolgung mußten die Christen mit dem Aufkommen
von Irrlehren auch Gefahren für den Glauben inhaltlicher Natur abwehren.
• Mit der Ablehnung durch die Juden verstärkt sich die Heidenmission. Da jedoch
einerseits das Christentum zutiefst aus den jüdischen Wurzeln und biblischen Schriften
lebt, andererseits eben diese Grundlagen den Heiden völlig unbekannt waren, bedurfte
es für sie einer intensiveren Glaubensunterweisung.
• Aus dem zweiten und dritten Jahrhundert sind mehre Quellen überliefert, die auch
Auskunft über das liturgische Leben geben:
* Die „Didache“ beziehungsweise „Zwölfapostellehre“ überliefert Informationen über
das liturgische Leben in den Jahren zwischen 80 und 130, näherhin zur Taufe, zu Fasten
und Gebet, zur Feier der Agpage und der Eucharistie.
* Der sogenannte „Clemens-Brief“ aus dem Jahr 96, ein Brief des Papstes Clemens an
die Gemeinde in Korinth, bezeugt die Aufnahme jüdischer Gebetstexte in den
christlichen Kontext.
* Um 110 entstanden sieben Briefe des Bischofs Ignatius von Antiochien. Was sich
bereits in den Pastoralbriefen abzeichnete, nämlich die oben schon erwähnte Sorge um
die Reinerhaltung des Gottesdienstes gegenüber Irrlehren, ist hier eine deutliche Sorge.
* Auskunft über den Gottesdienst erteilt auch die erste Apologie des Philosophen und
Märtyrer Justin um 150.
* Gegen Irrlehren wendet sich auch die Kirchenordnung aus der Zeit um 215, die
Hippolyt zugeschrieben wurde.
* Die Didaskalie ist ebenfalls eine Kirchenordnung aus der ersten Hälfte des dritten
Jahrhunderts, allerdings sind die Ausführungen zur Liturgie kürzer, da es vor allem um
die Amtsführung der Bischöfe geht.
• Die verfolgten Christen mußten sich im Verborgenen zu ihren Gottesdiensten
versammeln. Die Christen waren nicht an ein bestimmtes Gebäude gebunden, wie etwa
einen Tempel. Entscheidend ist nicht der Kultort, sondern die Versammlung.
• Wichtige Hinweise zum Gottesdienst finden sich in der Apologie des Justin. Hier wird
auch der Aufbau der Eucharistiefeier, der sich im wesentlich erhalten hat,
wiedergegeben.
• Neben der Eucharistie spricht die Apologie des Justin auch über die Taufe. Besonders
ausführlich informiert hierüber jedoch die Traditio apostolica. In der frühen Kirche war
vor der Taufe eine mehrjährige Vorbereitungszeit, das sogenannte Katechumenat,
üblich.
• In apostolischer Zeit war von Sündenvergebung nur in Zusammenhang mit der Taufe
die Rede gewesen. Doch im dritten Jahrhundert stellte sich verschärft die Frage, wie mit
den Sünden nach der Taufe umzugehen sei.
• Die Christen nutzten das Jahrgedächtnis der Märtyrer dazu, ihren Glauben an die
Auferstehung auszudrücken.
• Insgesamt kann man für die Zeit des zweiten und dritten Jahrhunderts feststellen, daß
fast alle liturgischen Einrichtungen im Wesentlichen schon grundgelegt waren. Die
christlichen Gemeinden hatten sich vom Judentum gelöst, ohne mit dem
alttestamentlichen Erbe zu brechen. Zugleich fließen neue, nichtjüdische
Kulthandlungen ein, wie die Beispiele der Taufsalbungen und der Jahrgedächtnisse für
die Verstorbenen zeigen. Die zahlreichen Bekehrungen von Heiden führte zur
Intensivierung der christlichen Lehre und zu einer Unterweisung im Katechumenat.
Die Entfaltung: Die Liturgie der christlichen Staatsreligion
• Im Hinblick auf den Gottesdienst hatte die konstantinische Wende offensichtliche
Auswirkungen. Der Wandel zeigt sich schon allein äußerlich am Ort des Gottesdienstes:
Es war von nun an nicht mehr erforderlich, die Gottesdienste im Verborgenen zu
feiern. Mehr noch: In den großen Städten kam den Gottesdiensten des Christentums als
Staatsreligion repräsentativer Charakter zu; entsprechend wurden sie in prächtigen
Basiliken gefeiert. Die neuen räumlichen Gegebenheiten wirkten sich auch auf die
Liturgie selbst aus. Verstärkend kam hinzu, daß die Bischöfe nun im Rang der höchsten
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Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 10
Reichsbeamten standen. In der Folge fanden Elemente des kaiserlichen
Hofzeremonielles Eingang in die Liturgie.
• Die festliche Feier des Sonntagsgottesdienstes wurde dadurch gefördert, daß Konstantin
durch ein weltliches Gesetz 321 den Sonntag zum Ruhetag erklärte.
• Diese Beispiele zeigen deutlich, wie die äußere Umstände – näherhin die
Religionsfreiheit für das Christentum und seiner Förderung als Staatreligion – die
Entwicklung des Gottesdienstes beeinflußten. Was in der Zeit der Apostel grundgelegt
wurde, entfaltete sich nun. Doch die neuen Entwicklungen, die das Christentum
äußerlich begünstigten, wirkten sich nicht nur positiv aus. Durch die Privilegierung der
Kirche und ihre Erhebung zur verpflichtenden Staatsreligion strömten nun die breiten
Massen in die Kirche. Dies barg die Gefahr der Verflachung in sich.
• Je leichter das Bekenntnis zum Christentum wurde und damit vielleicht auch weniger
ernsthaft, umso wichtiger wurde das Gedächtnis der Märtyrer, also jener Zeugen, die mit
ihrem Leben ihren Glauben bekannten. Die Bedeutung der Märtyrer wurde auch im
Kirchenbau deutlich (Errichtung der Basiliken über den Gräbern; Confessio).
• Auch das Katechumenat blieb von den äußeren Entwicklungen nicht unbeeinflußt. In
der Zeit nach der Erhebung des Christentums zur Staatreligion stieg die Zahl der
erwachsenen Taufbewerber. Als die Bevölkerung des Römischen Reichs nach dem 5.
Jahrhundert jedoch zum größten Teil christlich war, wurden die Erwachsenentaufen
seltener. Das Katechumenat wurde kaum noch gebraucht und einige seiner Riten
überlebten nur als funktionslose Zeugnisse der Vergangenheit.
• Die Tendenz zur Feierlichkeit im Rahmen des repräsentativen Charakter der
Gottesdienste wurde durch eine Abwehrreaktion gegenüber der Irrlehre des Arianismus
verstärkt. Um die Bestreitung der Gottheit Christi durch den Arianismus zu
entkräftigen, wurde im Gottesdienst die Gottheit Christi nun besonders betont (Gebete
richteten sich direkt an Christus; Gegenwart des wesensgleichen Gottessohnes in der
Eucharistie). An den Reaktionen auf Irrlehren erkennt man den Zusammenhang
zwischen gelehrtem und gefeiertem Glauben, zwischen Lehre und Liturgie, zwischen lex
credendi und lex orandi erkennen.
• Allerdings sind die genannten Entwicklungen nicht in der Gesamtkirche einheitlich
verlaufen. Im Gegenteil, in der Zeit des vierten bis sechsten Jahrhunderts differenzierte
sich aufgrund der äußeren Umstände die Liturgie in verschiedene Traditionen aus. Die
große Ausbreitung des Christentums als Staatsreligion machte es notwendig, daß die
Kirche auch ihre Organisation neu strukturierte. So entstanden fünf große Patriarchate
(Rom, Alexandrien, Antiochien, Jerusalem, Konstantinopel), die nicht nur für die
Kirchenorganisation maßgeblich waren, sondern auch für die Entwicklung der Liturgie.
Denn die Kirchen einer Provinz richteten sich auch in der Feier des Gottesdienstes nach
den Traditionen ihrer jeweiligen Metropolitankirche.
• Aufgrund der Teilung des römischen Reichs in Ost- und Westrom 364 nehmen ab dem
fünften Jahrhundert die byzantinische und römische Liturgie eine je eigene Entwicklung.
• Weder innerhalb der Ostkirche noch innerhalb der Westkirche verlief die Entwicklung
einheitlich. In der Ostkirche spalteten sich nach dem Konzil von Chalcedon die Kirchen
von Ägypten und Syrien mit den Patriarchaten Antiochien, Alexandrien und Jerusalem
ab. Während Konstantinopel der griechischen Kultur verpflichtet blieb, entwickelten die
getrennten Kirchen eigene Traditionen in ihren Lokalsprachen (koptisch, syrisch,
armenisch). Den Anspruch, alleiniger Garant der Orthodoxie, also der Rechtgläubigkeit,
zu sein, erhob jedoch Konstantinopel, während die anderen Kirchen als nicht-orthodox
galten.
• Wenig im Bewußtsein ist, daß es auch in der Westkirche verschiedene Liturgiefamilien
gab und auch heute noch teilweise gibt. Von der römischen Liturgie ist die altspanische
beziehungsweise mozarabische, die altgallische, die keltische Liturgie sowie die Liturgie
von Mailand (ambrosianische Liturgie) zu unterscheiden.
Wechselseitige Beeinflussung: Liturgie im Mittelalter
• Angesichts der Langobardeneinfälle begab sich Rom bewußt unter den Schutz der
Franken und erkannten im Gegenzug deren Autorität durch Königskrönung (Pippin
III., 754) und Kaisersalbung an (Karl der Große, 800).
• Die Frankenherrscher verfolgten mit ihrem klaren Bekenntnis zum Christentum
durchaus auch ein politisches Programm. Nach dem Zerfall der Merowingerreiche
bemühten sich Pippin und Karl der Große um die Neuorganisation ihres
Herrschaftsbereiches. Dabei mußten sie unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in einem
Reich vereinen. Zu diesem Zweck sollte das Christentum dienen: Die Einheit des
Glaubens sollte die Einheit des karolingischen Reiches stützen. In der Folgezeit
verschmolzen abendländisches Christentum und karolingisches Reich im Bewußtsein zu
einer untrennbaren Einheit, die ein Teil der Identität der westlichen Kirche wurde,
mittels derer man sich nicht zuletzt von der Ostkirche absetzte. Vor diesem Hintergrund
ist auch der Umstand zu deuten, daß Pippin 754 die römische Liturgie für sein Reich
vorschreibt und Karl der Große von Papst Hadrian I. ein römisches Sakramentar
erbittet. Weniger die Sorge um die Liturgie an und für sich als um die politische Einheit
des Reiches wird die Motivation hinter den Bestrebungen gewesen sein, die römische
Liturgie im Reich einheitlich zu etablieren.
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Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 11
• Bereits im siebten Jahrhundert hat nördlich der Alpen ein Verschmelzungsprozeß
zwischen gallisch-fränkischer und römischer Liturgie stattgefunden. Das Sakramentar,
das Papst Hadrian I. an Karl den Großen auf dessen Anfrage sandte (s.o.) und letzterer
in Aachen vervielfältigen ließ, berief sich auf Papst Gregor den Großen, der als einer der
bedeutendsten Päpste galt, was wiederum dem Sakramentar Autorität als liturgisches
Muster verlieh. Allerdings diese Funktion konnte das Sakramentar kaum erfüllen, weil es
sich um das Buch für die Papstliturgie mit den verschiedenen Stationsgottesdiensten
handelte. Dies war für die fränkische Situation unzureichend, so daß Benedikt von
Aniane eine verbesserte und erweiterte Fassung des Sakramentars mit einem Anhang
erstellte. Nachdem es sich im fränkischen Reich verbreitet hatte, wurden die Vorgaben
aus dem Sakramentar römischen Ursprungs mit lokalen Traditionen vor Ort vermischt.
• Diese Mischbücher gelangten im 10. Jahrhundert nach Rom – in seiner Zeit als sich das
kirchlich-kulturelle Leben dort in einem desolaten Zustand befand. Die Bücher wurden
gerne rezipiert, da man vermeindlicherweise authentische römische Liturgie vor sich zu
haben glaubte; doch statt dessen kehrte die römische Liturgie mit gallisch-fränkischen
Elementen versetzt zurück. In dieser Form wurde sie zur Grundlage, als Papst Gregor
VII. im 11. Jahrhundert im Rahmen seiner Kirchenreform die liturgische Einheit
propagierte. Die Päpste, die ehemals die lokalen Traditionen respektierten, erhoben nun
den Anspruch auf die liturgische Kompetenz für die gesamte Kirche. Dabei verstanden
sie unter Einheit Homogenität, wie die Verdrängung von lokalen Traditionen zeigt.
• Die Liturgie jener Zeit ist entscheidend von den geistesgeschichtlichen Entwicklungen
der Gotik beeinflußt. Das Denken dieser Epoche zeichnet vor allem aus, daß nun das
Individuum verstärkt in den Blick rückt. Entsprechend gewinnen auch in der Liturgie
individualistische und subjektivistische Tendenzen Raum. So wird die Gottesdienstfeier
nicht mehr als Gemeinschaftshandlung verstanden, sondern neu entstehende
Vollmissalien ermöglichen es dem Priester die Messe als ‚Privatmesse‘ alleine zu feiern.
• Die neue Wertschätzung des Individuums schlägt sich nicht nur in einer gewissen
‚Vereinzelung‘ nieder, sondern auch in der liturgischen Spiritualität. So tritt neben die
universelle Dimension des Heilsgeschehens das individuelle Bedürfnis, sich in die
Betrachtung des Heilsereignisse zu versenken. Besonders trifft dies auf die Passion
Christi zu. Angestrebt wird eine com-passio, ein Mitleiden, mit dem Herrn, indem man
die Leiden des Schmerzenmannes nachzuempfinden sucht (devotio moderna; Mystik).
• Weniger erfreulich waren die Konsequenzen aus einer gesteigerten Vorliebe für das
Realistisch-Konkrete, die geistesgeschichtlich durchaus auf der Linie der
subjektivistischen Tendenz jener Zeit liegen und sich in der Frömmigkeit in einem
großen Schauverlangen des Heilig-Göttlichen niederschlugen.
• Fragt man nach der Verhältnisbestimmung von Liturgie und Frömmigkeit, fällt das
Urteil zwiespältig aus: Einerseits ist ein Zusammenhang zwischen Liturgie und
Frömmigkeit nicht zu leugnen, wie das Beispiel des Fronleichnamsfestes zeigt.
Andererseits haben sich Frömmigkeit und Liturgie stellenweise auseinander entwickelt
und sind trotz unmittelbarer Nachbarschaft fast beziehungslos geworden (geistliche
Kommunion, stille Messe, Klerusliturgie, Privatmesse).
Vereinheitlichung und neue Kräfte: Liturgie zwischen dem Konzil von Trient und dem Zweiten Vatikanischen Konzil
• Theodor Klauser nennt die Periode zwischen dem Konzil in Trient (1545-1563) und
dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1961-1965) „die Zeit der ehernen Einheitsliturgie
und Rubrizistik“. Damit deutet er an, daß im Gefolge des Trienter Konzils die
liturgischen Bücher für die römische Kirche vereinheitlicht wurden und Änderungen
nicht mehr vorgesehen waren. Allerdings sollte dies nicht zur Annahme verleiten, die
Liturgie wäre vierhundert Jahre lang keinerlei Einflüssen ausgesetzt gewesen.
• Die Erneuerung der Liturgie war erst Thema auf der letzten Sitzungsperiode des
Trienter Konzils. Eine Kommission erstellte eine Liste von bestehenden Mißständen.
Das Konzil selbst konnte aus Zeitgründen die Themen der Liste nicht mehr abarbeiten
und beauftragte es daher den Papst, mit Hilfe einer Sachverständigen Kommission einen
neuen Katechismus zu erstellen und alle liturgischen Bücher neu herauszugeben. Auf
diese Weise wurde die Liturgiereform eine Möglichkeit, den römischen
Kirchenleitungsanspruch eindrücklich zu dokumentieren und zu manifestieren. Daß dies
tatsächlich gelang, dazu hat der Buchdruck als neue technische Möglichkeit beigetragen,
ohne den die neu zu erarbeitenden liturgischen Bücher nicht die notwendige
Verbreitung gefunden hätten und eine einheitliche Liturgie nicht zu realisieren gewesen
wäre.
• Mit der Errichtung der Ritenkongregation unter Papst Sixtus V. 1588 beginnt der
Aufschwung der sogenannten Rubrizistik, das heißt er Rechtskunde darüber, wie die
Liturgie im formalrechtlichen Sinne richtig zu feiern ist.
• Das Konzil von Trient räumte Irrtümer über die Sakramente aus, doch hinsichtlich der
konkreten Gottesdienstfeier fällt die sehr einseitig Perspektive der liturgischen Bücher
auf: Die Liturgie wird in ihnen ganz aus dem Blickwinkel des Priesters als Vorsteher
beschrieben.
• In Frankreich, das sich in vorangegangenen Jahrhundert oft gegen eine römische
Vereinnahmung gewehrt hat, war kein massiver Widerstand zu verzeichnen, wohl auch
deshalb, weil man die Einschnitte nicht als so massiv empfand. Denn viele Diözesen
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Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 12
konnten auf eine über zweihundertjährige liturgische Eigentradition zurückblicken, so
daß sie ihre gallische Liturgie beibehalten konnten. Erst in der ersten Hälfte des 17.
Jahrhunderts besann man sich wieder stärker auf die gallischen Traditionen und forderte
bischöfliche Freiheiten in der liturgischen Gesetzgebung ein.
• Die Entwicklungen spiegeln bereits die Einflüsse der Aufklärung wider. Der Barock als
Epoche vor der Aufklärung zeichnet sich hingegen durch große Prachtentfaltung auch
in den Gottesdiensten aus. Die festlichen Barockkirchen tragen dazu ebenso bei wie der
mehrstimmige Gesang und die Instrumentalmusik. Die Aufklärung hingegen legt den
Akzent vor allem auf ein besseres Verständnis der Liturgie – auch seitens der Gläubigen.
Sie sollen verstehen, was in der Liturgie gefeiert wird. Daher ist es das Bestreben, die
Gläubigen über die ‚Liturgie‘ aufzuklären.
• Ein Ergebnis der Bemühungen der Aufklärer ist die Betsingmesse in Deutschland: Dies
ist eine Messe nach den tridentinischen Rubriken und mit den lateinischen Texten, die
der Priester still spricht. Während dessen singen oder beten die Gläubigen auf Deutsch.
Auf diese Weise versuchte man die lateinische Liturgie nach Vorgabe zu feiern und
zugleich dem Wunsch nach tätiger Teilnahme der Gläubigen entgegenzukommen,
freilich unter Inkaufnahme einer gewissen Inkonsequenz durch die Dopplung.
• Auf die Reformbemühungen der Aufklärung folgten erneute
Restaurationsbestrebungen. Auch Dom Prosper Guéranger war nicht frei von solchen
Motiven, als er die verfallene Abtei Solesmes wiederbesiedelte, um hier eine ideale,
lateinische Liturgie wiederentstehen zu lassen. Angeregt durch ihren Aufenthalt in
Solesmes gründen die Brüder Maurus und Placidus Wolter die Abtei Beuron, die
ihrerseits zu einem Zentrum Erforschung und Feier der Liturgie wurde. Von hier ging
wiederum die Gründung der Abteien Maria Laach und indirekt Kaisersberg (Mont-
César) bei Löwen aus, die bemerkenswerterweise bedeutende Zentren der Liturgischen
Bewegung im 20. Jahrhundert wurden, die – anders als die Intentionen des Gründers
von Solesmes – durchaus nicht restaurativ war. Doch diese Verbindung ist nicht zufällig:
Wenn auch die katholische Restauration – anders als die Liturgische Bewegung – vor
allem bestrebt war, die lateinische, römische Liturgie zum alleinigen Ideal zu stilisieren,
so hat sie doch zwei Grundsteine für die Liturgische Bewegung gelegt: die Besinnung
auf das Studium und die Erforschung der Quellen der Liturgie und die Übersetzung des
römischen Meßbuches, deren bekannteste die des Beuroner Benediktiners Anselm
Schott ist. Diese Volksmeßbücher waren ein erster und sehr wirksamer Schritt zu einem
besseren Verständnis und intensiveren Mitfeier der Liturgie.
Liturgische Bewegung und Liturgiereform des Zweiten Vatik. Konzils
• Der Liturgischen Bewegung geht es um mehr, als um eine äußere Umgestaltung der
Liturgie. Zunächst geht es um die Erneuerung des kirchlichen Lebens durch die
Liturgie; in einem zweiten Schritt kann daraus der Wunsch auch nach einer Erneuerung
der Liturgie resultieren.
• Das „Mechelner Ereignis“ gilt als Geburtsstunde der klassischen Liturgischen
Bewegung: Der belgische Benediktiner Lambert Beaudin aus der Abtei Kaisersberg
forderte auf dem Katholikentag der Erzdiözese Mecheln 1909, „die Liturgie zu
demokratisieren“, also zu einer Sache des ganzen Volkes zu machen, um den einfachen
Gläubigen die spirituellen Reichtümer der Liturgie nicht vorzuenthalten.
• In Deutschland wurden diese Anliegen vor allem durch die Abtei Maria Laach und
deren Abt Ildefons Herwegen (seit 1913) gefördert. Dabei wand man sich zunächst an
Akademiker. 1921 wurde erstmals in Maria Laach die sogenannte Krypta-Messe gefeiert:
Der Priester zelebrierte versus populum, während die Gläubigen um den Altar herum
standen und lateinisch antworteten. Doch die Liturgische Bewegung erfaßte bald weitere
Kreise. Vor allem Romano Guardini sprach die studierende Jugend an, die sich im Bund
„Quickborn“ unter seiner Leitung auf der Burg Rothenfels zusammenfand. Von
besonders großer Breitenwirkung war die volksliturgische Arbeit von Pius Parsch, einem
Chorherrn aus Klosterneuburg.
• Von den 40er Jahren spricht man als der „Krise der Liturgischen Bewegung“. Allerdings
ist diese Krise als ein Übergang von privaten Initiativen zu kirchenamtlichen
Maßnahmen zu verstehen ist. 1950 erscheint die deutsche „Collectio rituum“, und 1951
wurde durch ein Dekret Pius XII. die Osternacht wiederhergestellt.
• Am 25. Januar 1959 beruft Papst Johannes XXIII. das Zweite Vatikanische Konzil ein.
Das erste Schema, das beraten wurde, ist das über die Liturgie. Die in der Konstitution
getroffenen Aussagen zum Wesen und zur Bedeutung der Liturgie müssen im Hinblick
auf die damaligen Verhältnisse als revolutionär gelten, die entscheidende
Weichenstellung für nachkonziliare Liturgiereform beinhalten. Im ersten Abschnitt der
Liturgiekonstitution wird als das Ziel genannt, „das christliche Leben unter den
Gläubigen mehr und mehr zu vertiefen“ (SC 1). Grundaussagen:
* Die Liturgie hat für die Kirche höchste Bedeutung. Sie ist „der Höhepunkt, dem das
Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt“ (SC 10).
* Weil alle Christen aus dieser Quelle schöpfen sollen, ist die „volle, bewußte und tätige
Teilnahme an den liturgischen Feiern“ wichtig (SC 14).
* Damit die Erneuerung des Glaubens aus der Liturgie gelingen kann, ist liturgische
Bildung wichtig (SC 15-19).
* Aus all dem ergibt sich, daß auch die Liturgie selbst erneuert werden muß (vgl. SC 21-40).