mädchen und jungen im mathematikunterricht

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281 Dissertationen/Habilitationen Sylvia Jahnke-Klein Mädchen und Jungen im Mathematikunterricht Dissertation zur Erlangung des Grades einer Doktorin der Philosophie im Fachbereich Pädagogik der earl von Ossietzky Universität Oldenburg Erstgutachter: Prof. Dr. Hilbert Meyer (Universität Oldenburg, Fachbereich Pädago- gik) Zweitgutachterin: Prof. Dr. /rene Pieper-Seier (Universität Oldenburg, Fachbereich Mathematik) Datum der Disputation: 13. Dezember 2000 Als Forschungsdesiderate gelten im Kontext "Frauen und Mathematik" vorn Differenz- ansatz geleitete Untersuchungen darüber, ob es geschlechtstypische Präferenzen (bzgl. der Inhalte, der Unterrichtsmethoden, der Unterrichtskultur usw.) im Mathematikunter- richt gibt. In einer sehr offen gehaltenen qualitativen Studie, die vor allem explorativen Charakter haben sollte, wurde der Frage möglicher geschlechtstypischer Präferenzen im Mathematikunterricht nachgegangen. Dabei zeigten sich deutliche Unterschiede zwi- schen Mädchen und Jungen im Bereich der bevorzugten Unterrichtskultur. Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert: Der erste Teil enthält eine Einführung in die neuere Koedukationsdebatte mit einern Überblick über wichtige internationale Untersuchungsergebnisse zur Repräsentanz von Frauen im mathematischen, naturwissenschaftlichen und technischen Bereich und zu den Leistungen und Begabungen der Geschlechter. Darüber hinaus erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit dem derzeitigen - grundsätzlich reformbedürftigen -Mathematikunterricht. Im zweiten Teil der Arbeit wird die durchgeführte Pilotstudie beschrieben: Mit Hilfe von offenen, zu freien Stellungnahmen ermunternden Fragebögen wurden 415 SchülerInnen (212 w, 203 m) der Klassenstufen 5 bis 13 mehrfach im Laufe eines Schuljahres zum erteilten Mathematikunterricht befragt (insges. 2043 Fragebögen). Der Fokus lag dabei auf "gelungenem" Unterricht. Die befragten Mädchen und Jungen äußerten in ihren Fragebögen eine ganze Reihe von gemeinsamen Bedürfnissen, unterschieden sich aber in der jeweils bevorzugten Unterrichtskultur: Die Mädchen lehnten jeglichen Zeitdruck ab und wünschten sich sehr ausführliche Erklärungen, wollten beliebig oft nachfragen dürfen und möglichst lange bei einern Thema bleiben. Alle diese Wünsche zielten auf ein gründliches und langsames Vorgehen im Unterricht. Darüber hinaus wünschten sie sich bildlich gesprochen "Haltegriffe" zum Festhalten: Sie wollten intensiv üben, legten großen Wert auf die Kontrolle der Ergebnisse, wünschten sich Schemata, Merksätze und Regeln und wollten sich gegenseitig den Unterrichtsstoff erklären. Ein Teil der Jungen schloss sich den Forderungen der Mädchen (in etwas abgeschwächter Form) an. Ein anderer Teil der Jungen baute dazu eine klare Gegenposition auf: Diese Jungen störte das langsame Vorankommen im Unterricht; sie wünschten sich weniger ausführliche Erklärungen und wollten einen schnelleren Themenwechsel und nicht so viele Aufgaben vom gleichen Typ, stattdessen wollten sie herausgefordert werden durch komplexere (JMD 23 (2002) H. 3/4, S. 281-282)

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Page 1: Mädchen und Jungen im Mathematikunterricht

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Dissertationen/Habilitationen

Sylvia Jahnke-Klein

Mädchen und Jungen im Mathematikunterricht

Dissertation zur Erlangung des Grades einer Doktorin der Philosophie im Fachbereich Pädagogik der earl von Ossietzky Universität Oldenburg

Erstgutachter: Prof. Dr. Hilbert Meyer (Universität Oldenburg, Fachbereich Pädago­gik) Zweitgutachterin: Prof. Dr. /rene Pieper-Seier (Universität Oldenburg, Fachbereich Mathematik) Datum der Disputation: 13. Dezember 2000

Als Forschungsdesiderate gelten im Kontext "Frauen und Mathematik" vorn Differenz­ansatz geleitete Untersuchungen darüber, ob es geschlechtstypische Präferenzen (bzgl. der Inhalte, der Unterrichtsmethoden, der Unterrichtskultur usw.) im Mathematikunter­richt gibt. In einer sehr offen gehaltenen qualitativen Studie, die vor allem explorativen Charakter haben sollte, wurde der Frage möglicher geschlechtstypischer Präferenzen im Mathematikunterricht nachgegangen. Dabei zeigten sich deutliche Unterschiede zwi­schen Mädchen und Jungen im Bereich der bevorzugten Unterrichtskultur.

Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert: Der erste Teil enthält eine Einführung in die neuere Koedukationsdebatte mit einern Überblick über wichtige internationale Untersuchungsergebnisse zur Repräsentanz von Frauen im mathematischen, naturwissenschaftlichen und technischen Bereich und zu den Leistungen und Begabungen der Geschlechter. Darüber hinaus erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit dem derzeitigen - grundsätzlich reformbedürftigen -Mathematikunterricht.

Im zweiten Teil der Arbeit wird die durchgeführte Pilotstudie beschrieben: Mit Hilfe von offenen, zu freien Stellungnahmen ermunternden Fragebögen wurden 415 SchülerInnen (212 w, 203 m) der Klassenstufen 5 bis 13 mehrfach im Laufe eines Schuljahres zum erteilten Mathematikunterricht befragt (insges. 2043 Fragebögen). Der Fokus lag dabei auf "gelungenem" Unterricht. Die befragten Mädchen und Jungen äußerten in ihren Fragebögen eine ganze Reihe von gemeinsamen Bedürfnissen, unterschieden sich aber in der jeweils bevorzugten Unterrichtskultur: Die Mädchen lehnten jeglichen Zeitdruck ab und wünschten sich sehr ausführliche Erklärungen, wollten beliebig oft nachfragen dürfen und möglichst lange bei einern Thema bleiben. Alle diese Wünsche zielten auf ein gründliches und langsames Vorgehen im Unterricht. Darüber hinaus wünschten sie sich bildlich gesprochen "Haltegriffe" zum Festhalten: Sie wollten intensiv üben, legten großen Wert auf die Kontrolle der Ergebnisse, wünschten sich Schemata, Merksätze und Regeln und wollten sich gegenseitig den Unterrichtsstoff erklären. Ein Teil der Jungen schloss sich den Forderungen der Mädchen (in etwas abgeschwächter Form) an. Ein anderer Teil der Jungen baute dazu eine klare Gegenposition auf: Diese Jungen störte das langsame Vorankommen im Unterricht; sie wünschten sich weniger ausführliche Erklärungen und wollten einen schnelleren Themenwechsel und nicht so viele Aufgaben vom gleichen Typ, stattdessen wollten sie herausgefordert werden durch komplexere

(JMD 23 (2002) H. 3/4, S. 281-282)

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Aufgaben. Die eine Beschleunigung des Unterrichtstempos fordernden Jungen trugen ihre Wünsche so massiv und dringlich vor, dass der Eindruck entstand, diese Gruppe sei viel größer. Bei oberflächlicher Betrachtung konnte der Eindruck entstehen, die Jungen seien mit dem Mathematikunterricht unterfordert. Die Forderungen der Mädchen er­weckten dagegen bei oberflächlicher Betrachtung einen Eindruck der Unsicherheit, der leicht als Inkompetenz gewertet werden kann. Sie waren damit am Konstruktionsprozess des Bildes von "Weiblichkeit" hinsichtlich Mathematik aktiv beteiligt. Vorurteile wer­den also nicht nur von den Lehrpersonen in den Unterricht hineingetragen, sondern ent­stehen auch im Unterricht.

Mögliche Erklärungen für das Verhalten der Mädchen liegen u.a. in der Annahme eines - mit der Zuschreibung der Mathematik zum männlichen Geschlecht in Zusammenhang stehenden - fehlenden Vertrauens in die eigene mathematische Kompetenz und eines Bedürfnisses nach Genauigkeit und Gründlichkeit im Verstehen mathematischer Zu­sammenhänge (das möglicherweise auf einen prädikativen Denkstil zurückgeführt wer­den kann).

Im dritten Teil der Arbeit wurden - ausgehend von den eigenen und den referierten fremden empirischen Befunden und auf der Basis eines modernen Bildungsverständnis­ses, wie es von Wagenschein, Klafki, Heymann u. a. formuliert worden ist - die Grund­lagen einer Konzeption für mädchen- und jungengerechten Mathematikunterricht entwi­ckelt. "Sinnstiftender Mathematikunterricht für Mädchen und Jungen" versucht ein ganzheitliches Bild von Mathematik zu zeichnen, ersetzt die bisherige Monokultur des Unterrichts durch methodische Vielfalt und verlangt eine sinnstiftende Unterrichtskultur. Darüber hinaus sind Maßnahmen zur Steigerung der Selbstwirksamkeitserwartungen der Mädchen und zur sozialen Jungenförderung vorgesehen.

Die Arbeit ist wie folgt erschienen: Sylvia Jahnke-Klein (2001): Sinnstiftender Mathematikunterricht für Mädchen und Jun­gen. (Grundlagen der Schulpädagogik, Bd. 39) Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren (280 S., ISBN 3-89676-433-0)

Dr. Sylvia Jahnke-Klein Gymnasium Bad Zwischenahn-Edewecht Humboldtstr. 1 26160 Bad Zwischenahn

priv.: Loyerender Weg 59 261250ldenburg