markgräfler scheibenfeuer

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go...“ mit weit ausholendem kräftigen Schwung auf die Scheibenbank geschlagen. In hohem Leuchtbogen fliegen die glühenden Scheiben weit durch die frühe Nacht, be- gleitet von anfeuernden Rufen, die Weinberge abwärts und verzischen im Restschnee oder aufgeweichten Matsch (Ab- bildung auf S. 92 links). Anfangsgeschwindigkeit und Startimpuls Ziel dieses Treibens ist es natürlich, dass die Scheiben mög- lichst lange in der Luft bleiben und weit fliegen. Schibi-Schi- bo-Jugendmeister erreichen Flugzeiten von rund 6 Sekun- den, Erwachsenenmeister über 10 Sekunden, den freien Fall am Hang eingerechnet. Die Flugweite lässt sich nur grob schätzen. Flugzeit und Weite werden positiv beeinflusst durch eine große Masse m (großes Gewicht F g ) und eine hohe Startgeschwindigkeit v Start , entsprechend einem gro- ßen Anfangs- oder Startimpuls I Start = m · v Start . Negativ, al- so bremsend, wirkt ein großer Luftwiderstand F W . Wenn sich die Scheibe durch selbsterzeugten Auftrieb F A zusätz- lich in die Höhe zieht, umso besser. Damit entsteht ein Optimierungsproblem. Die Scheibe sollte so gestaltet sein und so abgeschlagen werden, dass m und v Start und gegebenenfalls auch F A möglichst groß sind, F W aber möglichst klein ist. Wie haben das unsere Altvor- deren unter einen Hut gekriegt? Bis zum Aufklatschen des Steckens auf die Holzbank wird die Scheibe durch den Armschwung beschleunigt, an- schließend durch den Luftwiderstand verzögert. Wenn sie von der schräg aufwärts gerichteten Scheibenbank abfliegt, bekommt sie als Antrieb einen Impuls mit, der durch den tangential zur Flugbahn und gegen die Flugrichtung ge- richteten Luftwiderstand F W langsam aufgezehrt wird. Au- ßerdem ist sie immer der konstanten Gewichtskraft F g unterworfen. Es resultiert eine ballistische Bahn unter Luft- widerstandseinfluss nach Art einer Kanonenkugel (Abbil- dung 1). Sobald der Startimpuls ganz aufgebraucht ist, fällt die Scheibe unter Wirkung der Erdbeschleunigung senk- recht herab, und zwar mit konstanter Geschwindigkeit, wenn F W = –F G geworden ist. Geschieht das über einem Steilhang, so ist diese Fallstrecke beeindruckend lang. Die Bahn wird dann ungefähr so aussehen wie in Abbildung 1 skizziert. Die hier gezeigten Aufnahmen zeigen, dass die Bahnen in etwa der theoretischen Überlegung entsprechen. Wenn man aber Einzelaufnahmen genauer ansieht bemerkt man, dass die Scheibe steiler abhebt als die Scheibenbank ange- Aerodynamische Aspekte eines alten Brauchs Markgräfler Scheibenfeuer WERNER NACHTIGALL Im Markgräfler Land gibt es den alten Brauch des Scheiben- schlagens, bei dem glühende Holzscheiben mit Hilfe von Stecken von Berghängen ins Tal geschleudert werden. Aero- dynamische Untersuchungen decken eine Reihe von physika- lischen Gesetzen auf, die dem Scheibenflug zugrunde liegen. 92 Phys. Unserer Zeit 2/2013 (44) © 2013 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim DOI: 10.1002/piuz.201301323 A m Samstag nach Fasnacht“, schreibt Christian Preussler in seinem Buch über das Nördliche Markgräflerland, „fahren die Buben mit Traktor und Anhänger durchs Dorf und singen den Spruch: »Holz am Döldele – Holz am Döl- dele – isch e guete Frau im Huus – git sie au e Welle uus«“ [1]. Es geht ums Sammeln von Altholz. Am Sonntag werden dann Holzpyramiden aufgeschichtet, „innen die Rebwellen, außen die Balken und Scheibenbänke, das sind unter 40° aufgestellte Bretter“. Die Scheibenbänke weisen zum Tal und ragen schräg nach oben. In die schon heruntergebrannten, doch noch sehr hei- ßen Feuer legen die jungen Leute kleine, polygonal zuge- schnittene oder leicht rechteckige Buchenholzscheiben. Sie besitzen eine Kantenlänge von 7 bis 8 cm, sind in der Mit- te 1,5 bis 2 cm dick und wiegen rund 30 g. Mit einem Zen- tralloch werden sie auf das geschnitzte Ende eines langen Stabes aufgesteckt und an das Feuer gehalten, so dass sie zu- mindest auf der Oberseite zu brennen anfangen. Dann wer- den sie unter Sprüchen wie „Schibi, Schibo, die Schiibe soll Online-Ausgabe unter: wileyonlinelibrary.com Mehrfach belichtete Aufnahme von einem Scheibenstart a). Aufnahme b) zeigt eine steilere Abflugbahn im Vergleich zur Anstellung der Scheibenbank sowie Schrau- bendrehungen der Scheibe (Fotos: A. Anlicker). a) b)

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Page 1: Markgräfler Scheibenfeuer

go...“ mit weit ausholendem kräftigen Schwung auf dieScheibenbank geschlagen. In hohem Leuchtbogen fliegendie glühenden Scheiben weit durch die frühe Nacht, be-gleitet von anfeuernden Rufen, die Weinberge abwärts undverzischen im Restschnee oder aufgeweichten Matsch (Ab-bildung auf S. 92 links).

Anfangsgeschwindigkeit und StartimpulsZiel dieses Treibens ist es natürlich, dass die Scheiben mög-lichst lange in der Luft bleiben und weit fliegen. Schibi-Schi-bo-Jugendmeister erreichen Flugzeiten von rund 6 Sekun-den, Erwachsenenmeister über 10 Sekunden, den freien Fallam Hang eingerechnet. Die Flugweite lässt sich nur grobschätzen. Flugzeit und Weite werden positiv beeinflusstdurch eine große Masse m (großes Gewicht Fg) und einehohe Startgeschwindigkeit vStart, entsprechend einem gro-ßen Anfangs- oder Startimpuls IStart = m · vStart. Negativ, al-so bremsend, wirkt ein großer Luftwiderstand FW. Wennsich die Scheibe durch selbsterzeugten Auftrieb FA zusätz-lich in die Höhe zieht, umso besser.

Damit entsteht ein Optimierungsproblem. Die Scheibesollte so gestaltet sein und so abgeschlagen werden, dass mund vStart und gegebenenfalls auch FA möglichst groß sind,FW aber möglichst klein ist. Wie haben das unsere Altvor-deren unter einen Hut gekriegt?

Bis zum Aufklatschen des Steckens auf die Holzbankwird die Scheibe durch den Armschwung beschleunigt, an-schließend durch den Luftwiderstand verzögert. Wenn sievon der schräg aufwärts gerichteten Scheibenbank abfliegt,bekommt sie als Antrieb einen Impuls mit, der durch dentangential zur Flugbahn und gegen die Flugrichtung ge-richteten Luftwiderstand FW langsam aufgezehrt wird. Au-ßerdem ist sie immer der konstanten Gewichtskraft Fg

unterworfen. Es resultiert eine ballistische Bahn unter Luft-widerstandseinfluss nach Art einer Kanonenkugel (Abbil-dung 1). Sobald der Startimpuls ganz aufgebraucht ist, fälltdie Scheibe unter Wirkung der Erdbeschleunigung senk-recht herab, und zwar mit konstanter Geschwindigkeit,wenn FW = –FG geworden ist. Geschieht das über einemSteilhang, so ist diese Fallstrecke beeindruckend lang. DieBahn wird dann ungefähr so aussehen wie in Abbildung 1skizziert.

Die hier gezeigten Aufnahmen zeigen, dass die Bahnenin etwa der theoretischen Überlegung entsprechen. Wennman aber Einzelaufnahmen genauer ansieht bemerkt man,dass die Scheibe steiler abhebt als die Scheibenbank ange-

Aerodynamische Aspekte eines alten Brauchs

Markgräfler ScheibenfeuerWERNER NACHTIGALL

Im Markgräfler Land gibt es den alten Brauch des Scheiben-schlagens, bei dem glühende Holzscheiben mit Hilfe von Stecken von Berghängen ins Tal geschleudert werden. Aero -dynamische Untersuchungen decken eine Reihe von physika -lischen Gesetzen auf, die dem Scheibenflug zugrunde liegen.

92 Phys. Unserer Zeit 2/2013 (44) © 2013 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

DOI: 10.1002/ piuz.201301323

Am Samstag nach Fasnacht“, schreibt Christian Preusslerin seinem Buch über das Nördliche Markgräflerland,

„fahren die Buben mit Traktor und Anhänger durchs Dorfund singen den Spruch: »Holz am Döldele – Holz am Döl-dele – isch e guete Frau im Huus – git sie au e Welle uus«“[1]. Es geht ums Sammeln von Altholz. Am Sonntag werdendann Holzpyramiden aufgeschichtet, „innen die Rebwellen,außen die Balken und Scheibenbänke, das sind unter 40°aufgestellte Bretter“. Die Scheibenbänke weisen zum Talund ragen schräg nach oben.

In die schon heruntergebrannten, doch noch sehr hei-ßen Feuer legen die jungen Leute kleine, polygonal zuge-schnittene oder leicht rechteckige Buchenholzscheiben. Siebesitzen eine Kantenlänge von 7 bis 8 cm, sind in der Mit-te 1,5 bis 2 cm dick und wiegen rund 30 g. Mit einem Zen-tralloch werden sie auf das geschnitzte Ende eines langenStabes aufgesteckt und an das Feuer gehalten, so dass sie zu-mindest auf der Oberseite zu brennen anfangen. Dann wer-den sie unter Sprüchen wie „Schibi, Schibo, die Schiibe soll

Online-Ausgabe unter:wileyonlinelibrary.com

Mehrfach belichtete Aufnahme von einem Scheibenstart a). Aufnahme b) zeigt einesteilere Abflugbahn im Vergleich zur Anstellung der Scheibenbank sowie Schrau-bendrehungen der Scheibe (Fotos: A. Anlicker).

a) b)

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einem Anstellwinkel α > 0 gegen die Bahn verkippt ist, ei-ne gewisse Auftriebskraft FA senkrecht zur Bahnrichtung.Als Anstellwinkel α bezeichnet man den Winkel zwischender Anströmungsrichtung (hier also der momentanen Flug-bahn) und der Tangente an die Unterseite (Druckseite) desbewegten Körpers. Außerdem resultiert aus dem Anfangs-schwung eine in Bahnrichtung wirkende Schub- oder Vor-triebskraft FV. Sie ist entgegengesetzt gleich der gegen dieBahnrichtung wirkenden Luftwiderstandkraft FW. In dieserDarstellung sind Momente und die durch sie bedingten Rotationen nicht berücksichtigt.

Betrachten wir nun die Scheiben etwas näher. Sie wer-den nacheinander aus einem Buchenholz-Balken abgetrenntund auf der späteren Oberseite schräg angeschnitten, mansagt auch abgefast (Abbildung 2a, Mitte und rechts). DieUnterseite bleibt eben. In Seitenansicht gesehen haben siealso eine angenähert gewölbte Ober- und eine ebene Un-terseite (Abbildung 2b, links). Damit entsprechen sie ehereinem Tragflügelprofil als einer ebenen Platte. Ein solchesProfil erzeugt nun wegen seiner stärker gewölbten Ober-seite einen deutlich größeren Auftrieb FA als die ebene Plat-te und einen davon nicht allzu sehr unterschiedlichen Wi-derstand FW. Seine Gleitzahl ε = FA/FW ist damit deutlich grö-ßer (besser) als bei der ebenen Platte. Die von derScheibenbank weggeschleuderte Platte wird also nicht nurdurch ihren schräg aufwärts gerichteten Anfangsimpuls aufihrer Bahn bewegt, sondern infolge der Anströmung untereinem Anstellwinkel α > 0 auch durch selbst erzeugten Auf-trieb hochgezogen. Würde die abgefaste Platte ähnlich ei-nem Tragflügel wirken, wäre der letztere Effekt besondersgroß.

Das Auftreten einer aerodynamischen Auftriebskraft er-klärt den Anfangsabschnitt der Flugbahn, die meist steileransteigt als man es nach der Schräganstellung der Schei-benbank vermuten möchte. Eine solche Bahn könnte manals ballistische Bahn unter Luftwiderstands- und Auftriebs-einfluss bezeichnen. Durch den selbst erzeugten Auftriebsteigt die Scheibe vergleichsweise höher.

Unsere Altvorderen haben diese aerodynamischen Zu-sammenhänge offensichtlich schon vor vielen Jahrhunder-ten durch Versuch und Irrtum zum Tragen gebracht. Da-

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stellt ist. Das weist auf eine zusätzliche Auftriebskraft hin.Doch zunächst die Startkenngrößen.

Wie groß ist die Startgeschwindigkeit vStart beim Ver-lassen der Scheibenbank? Eigene Untersuchungen ergabeneinen statistischen Mittelwert von 15,1 m/s ± 5,1 m/s (± 34 %, n = 5) oder 54,4 km/h. Die höchste gemesseneStartgeschwindigkeit betrug 23,4 m/s (84,2 km/h). Das ent-spricht respektablen 30 % der maximalen Startgeschwin-digkeit eines Golfballs oder 7 % der Schallgeschwindigkeit.Der Scheibenimpuls erreicht beim Start immerhin 0,69 Nsund damit 20 % des maximal zulässigen Golfballimpulsesvon 3,43 Ns.

Luftkräfte und FlugstabilitätWelche weiteren Kräfte wirken auf eine solche Scheibewährend des Fluges? Nehmen wir an, dass der Steigflug mitkonstanter Geschwindigkeit abläuft. Für einen kurzen Bahn-abschnitt kann man diese Annahme machen, mit der sichdie Kräfteverhältnisse deutlich vereinfachen. Auf die Schei-be wirkt dann in jedem Augenblick die gleiche Gewichts-kraft Fg sowie für den Fall, dass sie als flacher Körper unter

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Wirkende Widerstands- und Gewichtskräfte auf der Schuss-bahn.

Abb. 2 Scheiben in der Aufsicht a) und Kantenansicht b) einer rechteckigen Scheibenfeuer-Scheibe, einer dünnen Scheibe sowieeiner dicken Scheibe. Letztere sind in der Aufsicht geometrisch gleich der Originalscheibe.

a) b)

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durch ist es ihnen gelungen, die Scheibe während ihresFlugs unter einen bestimmten, nicht zu großen Anstellwin-kel gegen die Bahn stabil einzustellen, statt dass sie Purzel-bäume schlägt. Damit konnten sie bei günstiger Kombina-tion Flugbahn und Flugzeit verlängern.

Im RauchkanalDieses aerodynamische Verhalten habe ich in einem Rauch-kanal getestet, indem ich die Originalscheiben von Abbil-dung 2 unter Anstellwinkeln 0°< α < 90° angeströmt habe.Allerdings lässt sich die Strömung mit Rauch nur bei klei-nen Geschwindigkeiten sichtbar machen. Von α = 0° (Ab-bildung 3a) bis zu etwa α = 15° war die Strömung einiger-maßen anliegend. Hier wird Auftrieb erzeugt, was manschon an der schräg nach hinten und unten gerichtetenRauchfahne erkennt (Abbildung 3b). Darüber hinaus wardie Strömung ab 45° bereits weitgehend abgerissen (Abbil-

dung 3c); die Scheibe erzeugt hier ganz überwiegend Wi-derstand. Bei einer 2 cm dicken, nicht abgefasten Pressspan-Scheibe gleichen Grundrisses (Abbildung 2b, rechts) signa-lisierte die Umströmung deutlich kleineren Auftrieb undstark vergrößerten Widerstand.

Fazit: Um den Auftriebseffekt wirken zu lassen, darf dieScheibe also nicht zu dick und muss abgefast sein, währendder Anstellwinkel nicht allzu groß werden darf.

Weiter habe ich die Originalscheibe im Vergleich mit ei-ner dünnen, flachen Scheibe gleichen Grundrisses (Abbil-dung 2b, Mitte) und mit der genannten dicken Scheibe miteiner improvisierten Waageneinrichtung untersucht. Mit ihrkann man unter Anströmung mit einem kräftigen Laborge-bläse Auftrieb FA und Widerstand FW als Funktion des An-stellwinkels α messen. Abbildung 4 zeigt einige Ergebnissein Kennlinien-Darstellungen, die zunächst kurz charakteri-siert werden sollen. Hier werden die Kräfte F selbst vergli-

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Abb. 3 Rauchkanal-Aufnahmen bei einer Anströmgeschwindigkeit von 2,3 m/s (8,3 km/h), Reynoldszahl Re = 1,7 · 104. Anströmung von links; Anstellwinkel a) α = 0°, b) 15° und c) 45°.

a) b) c)

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Kennlinien zur Luftkraftmessung bei konstanter Anström geschwindigkeit von 34 m/s (122 km/h); Reynoldszahl Re = 2,5 · 105.Gezeigt sind die Auftriebs- und Widerstandspolaren sowie die Gleitzahl in Abhängigkeit vom Anstellwinkel α.

a) b) c)

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chen, nicht die in der Aerodynamik üblichen Beiwerte cF.Der Grund liegt darin, dass mit der improvisierten Mess-einrichtung im Gegensatz zur technischen Messvorschriftnur eine Strömungs-Teilbeaufschlagung des Körpers mög-lich ist; er steht nicht in einer homogenen Umströmung.Doch sind die Versuchsbedingungen bei allen Messungenkonstant, so dass ein Vergleich der Kräfte selbst möglichist.

Die Auftriebspolaren FA(α) in Abbildung 4a und Wider-standspolaren FW(α) in Abbildung 4b zeigen den Gang derbeiden Luftkraftkomponenten Auftrieb FA und WiderstandFW mit dem Anstellwinkel α. Bei einer ebenen Platte wärezu erwarten, dass der Auftrieb bei α = 0° und α = 90° gleichNull ist und dazwischen (etwa bei α = 10°) ein Maximumaufweist. Der Widerstand wird dagegen nirgendwo gleichNull. Er weist bei α = 0° ein Minimum und bei α = 90° einMaximum auf und nimmt dazwischen einen sinusförmigenVerlauf an. In Abbildung 4c ist die Gleitzahl-Anstellwinkel-Kennlinie ε (α) = (FA/FW)(α) aufgetragen. Aus ihr liest manab, bei welchem Anstellwinkel das best mögliche Auftriebs-Widerstands-Verhältnis auftritt.

Otto Lilienthal hat als erster diese beiden Messkennli-nien zu einer einzigen zusammengeführt. Seinem Vorschlagentspricht hier die Abhängigkeit des Auftriebs FA vom Wi-derstand FW mit Parameter α (Abbildung 5). Diese Lilienthal-Polare wird mit Recht als „aerodynamische Visitenkarte“bezeichnet [2], denn an ihr lässt sich alles ablesen, was manfür eine Beurteilung braucht.

VersuchsergebnisseAus dem Vergleich solcher Kennlinien lässt sich eine Fülleströmungsmechanischer Information entnehmen. Hier sei-en lediglich vier Ergebnisse diskutiert.

1) Die Originalscheibe und die ihr entsprechende dün-ne und dicke ebene Scheibe entwickeln Auftrieb. Die An-nahme eines „aerodynamischen Bahnanteils“ ist also be-rechtigt.

2) Die schrägen Abfasungen auf der Scheibenoberseiteverbessern im Bereich 10° < α < 70° nicht den tragflügel-bedingten Auftrieb. Hier ist der Auftrieb sogar kleiner als beider dünnen, flachen Scheibe, nicht größer, wie es für einTragflügelprofil zu erwarten gewesen wäre. Allerdings ist erbei –10° < α < 10°, also bis in den negativen Anstellwinkel-bereich hinein, deutlich größer. Dort ist die Originalschei-be also besser, was bedeutet, dass sie auch noch aerodyna-misch funktioniert, wenn sie sehr flach oder ganz leicht ne-gativ zur Bahn angestellt abgeschlagen wird (Abbildung 4a).Ähnliche Anstellwinkel erfährt im Übrigen auch ein Diskuszu Beginn seiner Flugbahn.

3) Die dicke Scheibe entwickelt bis α = 35° viel weni-ger Auftrieb (Abbildung 4a) und sehr viel mehr Widerstand(Abbildung 4b und drastische Rechtsverschiebung der Po-lare in Abbildung 5) gegenüber der Originalscheibe. DieAbfasungen, mit denen man aus einer dicken Scheibe eineOriginalscheibe herstellen kann, behalten die große Schei-bendicke nur im Zentrum als Lochverlängerung zur besse-

ren Stockführung. Ansonsten erhöhen sie günstigerweiseden Auftrieb und verringern ebenfalls günstigerweise denWiderstand.

Abfasungen sind also von grundlegender Bedeutung füreinen guten Scheibenflug. Sie sind beileibe nicht Zierwerk,sondern sozusagen „funktionelles Brauchtum“.

4) Wenn man davon ausgeht, dass der Auftrieb mög-lichst groß und der Widerstand möglichst klein sein sollen,sollte das vom Anstellwinkel abhängige Verhältnis ε (α) =(FA/FW)(α) möglichst groß sein. Abbildung 4c zeigt, dassdessen Maximum für die Originalscheibe und die flacheScheibe bei 10° bis 16° liegt, wie aus den Beobachtungenund den Rauchkanalaufnahmen (Abbildung 3b) schon zuvermuten war. Dort ist der Auftrieb immerhin 1,6- bis 1,7-mal höher als der Widerstand. Die dicke Scheibe fällt ganzaus dem Rahmen. Ihr Maximum ist nur gut halb so groß,ihr Widerstand ist immer größer als der Auftrieb und liegtweit hinten bei 35°. Vom Standpunkt eines möglichst gro-ßen Startimpulses aus besehen hätte die dicke Scheibe Vor-teile, da sie eine größere Masse aufweist; vom aerodynami-schen Standpunkt aber hat sie gravierende Nachteile. Dasist ein weiterer Hinweis auf die ganz besondere Bedeutungder Abfasungen auf der Oberseite. Vielleicht ist man darauferst gekommen, als die viel einfacher herzustellenden, kon-stant dicken Scheiben nicht so recht funktionierten.

Bei den Messungen im Labor wird die Scheibe unter ei-nem gewählten Anstellwinkel fest eingestellt und kann sichnicht verdrehen oder verkippen. Anders im freien Flug. Hierkann das Ganze nur funktionieren, wenn die Scheibe durchMomentengleichgewicht eine stabile Flughaltung und damitauch eine stabil bleibende Anstellung zur Bahn einnimmt.Ein Flugzeug kann sich durch Trimmung und durch das Hö-

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Abhängigkeit des Auftriebs FA vom Widerstand FW mit Parameter α.

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henleitwerk am Schwanz der Gefahr entziehen, Purzelbäu-me zu schlagen. Bei der Scheibe wird die nötige Kippsta-bilität dadurch erreicht, dass sie kreiselartig rasch rotiert,wie das auch ein Diskus tut. Auch Frisbee-Flugscheiben, de-nen man beim Abschleudern von Hand zusätzlich zumSchubimpuls noch einen Drehimpuls mitgeben muss, sta-bilisieren sich nach diesem Prinzip. Wie aber kommt dieScheibe in Rotation, und wie rasch rotiert sie letztlich?

Beim Aufschlag auf die Scheibenbank kommt die Schei-be zunächst mit ihrer Schmalkante auf und dreht sich, wäh-rend sie dem Brett entlanggeschlagen wird, wie ein Rad,das sich dann in Bewegungsrichtung ablöst. Aufnahmenvon Alexander Anlicker vom Neuenburger Scheibenfeuer2011 zeigen, dass beim Auftreffen massiv die Funken flie-gen und die Scheibe nach dem Ablösen anfangs auchSchraubendrehungen ausführt (Abbildung auf S. 92, rechts)– wobei im Übrigen auch die Glut angefacht und damit dieLeuchtspur verstärkt wird.

Aus den Größenverhältnissen und Drehspuren dieserAufnahmen kann man abschätzen, dass sich die Scheiben an-fangs pro Meter Flugstrecke etwa 3,5-mal drehen. Mit derStartgeschwindigkeit von 23 m/s würde das bedeuten, dasssie sich anfangs 80-mal pro Sekunde oder 4800 Umdre-hungen pro Minute ausführt. Das ist durchaus hoch undstabilisiert die Scheibe diskusartig.

So steckt in diesem altehrwürdigen Brauch doch auchein Gutteil Physik, der man ein wenig nachspüren kann. Ih-re Faszination büßen die Scheibenfeuer dadurch ja nichtein.

DanksagungAlexander Anlicker danke ich für die Genehmigung zum Abdruckseiner Fotos und Alfred Wisser für die Tafelzusammenstellung derAbbildungen.

ZusammenfassungDas Markgräfler Brauchtum des Scheibenschlagens zur Fas-nachtszeit ist nicht nur ein traditionelles Spektakel; es lässtsich auch physikalisch untermauern. Wie hoch sind Startge-schwindigkeit und Startimpuls der Scheibe? Wie wirkt sie alsFlugkörper und wie stabilisiert sie ihren Flug? Strömungs -mechanische Messungen an Originalscheiben geben darü-ber Auskunft.

StichworteScheibenschlagen, Aerodynamik, Gleitzahl, Anstellwinkel,Auftriebspolare, Widerstandspolare, Lilienthal-Polare.

Literatur[1] C. Preussler, Rebland am Blauen-Wege im nördlichen Markgräfler-

land. 2. Aufl., S. 81, Schillinger, Freiburg 1998.[2] F. Dubs, Aerodynamik der reinen Unterschallströmung, 6. Aufl.,

Birkhäuser, Basel 1990.

Der AutorWerner Nachtigall, geb. 1934, gilt als einer der Väterder Bionik in Deutschland. Er hat u.a. Biologie undPhysik studiert und die ForschungsschwerpunkteTechnische Biologie und Bionik vertreten. Bis 2002war er Professor und Direktor des ZoologischenInstituts der Universität des Saarlandes, 1990 war erMitbegründer der Gesellschaft für TechnischeBiologie und Bionik, bis 2003 erster Vorsitzender.Mit seinen Münchener und Saarbrücker Arbeitsgrup-pen hat er zahlreiche Untersuchungen überbiologische Strömungs mechanik veröffentlicht,insbesondere über den Tierflug.

AnschriftProf. Werner Nachtigall, Höhenweg 169, D-66133 Saarbrücken. [email protected]

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