mel bochner über sein frühwerk

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174 MEL BOCHNER: AUSGEWäHLTE TEXTE MEL BOCHNER Working Drawings and Other Visible Things on Paper Not Necessarily Meant to Be Viewed as Art

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Kurztexte von Mel Bochner über ausgewählte Arbeiten der 1960er-Jahre.

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Page 1: Mel Bochner über sein Frühwerk

174 M e l B o c h n e r : a u s g e w ä h l t e t e x t e

M e l B o c h n e r

Working Drawings and Other Visible Things on Paper Not Necessarily Meant to Be Viewed as Art

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zu erhalten. Da kaum erkennbar war, dass die schon vorhandenen Seiten von Künstlern stammten, lud ich weitere ›Kopfarbeiter‹ ein, ihre Arbeitsstudien beizusteuern: einen Komponisten, einen Architekten, einen Biologen, einen Mathematiker, einen Chore o-graphen, einen Ingenieur. Weil die 100 Seiten immer noch nicht erreicht waren, nahm ich eine Ausgabe des Scientific American und fotokopierte verschiedene Seiten mit Schaubildern, Tabellen und Listen – ein ironischer Hinweis auf die damalige Kritik am Mini-malismus als »technologische Kunst«. Um die Ausstellung an einem bestimmten Ort zu verankern, kopierte ich einen Grundriss der sva-Galerie mit Maßangaben auf das Deckblatt. Als abschlie-ßenden Akt der Selbstreferenzialität fotokopierte ich die Betriebs-anleitung des Kopierers selbst. Ich kaufte vier schwarze Standard-Ringbücher mit drei Ringen und ordnete die Einträge in alphabe-tischer Reihenfolge von A (Andre) bis X (Xerox) ein. Meine letzte Entscheidung war, jedes Buch auf einem eigenen Ständer zu präsentieren, also vier pseudominimalistische Skulpturen in einer Reihe in der ansonsten leeren Galerie.

Mein Ziel war es, die Erfahrung des Betrachters in die eines Lesers zu verwandeln. Aber die Höhe der Ständer war mit knapp 80 cm absichtlich so gewählt, dass es äußerst unbequem war, die Bücher im Stehen zu lesen und durchzusehen. Wenn der Leser mit einem Buch fertig war und zum zweiten ging, stellte ihn die einsetzende Erkenntnis, dass sie identisch waren, vor die Wahl, aufzuhören oder weiterzumachen. Dieser Moment des Zögerns warf eine noch verblüffendere Frage auf: War der Sinn im einzel-nen Buch enthalten oder in der Ausstellung an sich?

Vor der Eröffnung gab ich den Künstlern ihre Originale zurück und erklärte ihnen, was ich vorhatte. Niemand war dagegen, Judd allerdings meldete einen gewissen Zweifel an, weil ich die Aus-stellung »meine Arbeit« nannte. Aber für mich war diese Bezeich-nung die unvermeidliche Folge der Entscheidungen, die ich im Lauf der Arbeitsschritte getroffen hatte. An einem bestimmten Punkt hatte ich begriffen, dass es bei Working Drawings nicht nur um eine neue Objektart (das Buch) und ein neues Konzept der Arbeit (die Ausstellung) ging, sondern um eine radikale Neudefi-nition des Autors.

1997

Im Herbst des Jahres 1966 lud die Direktorin der Galerie der School of Visual Arts mich, einen jungen Kunstgeschichtsdozen-ten dieses Instituts, ein, eine Weihnachtsausstellung mit Zeich-nungen zeitgenössischer Künstler zu kuratieren. Meine erste Idee war, eine Ausstellung zum Thema »Arbeitsstudien« zu organisie-ren. Anders als die Skizze, der Entwurf für eine endgültige bild-liche Form, ist die Arbeitsstudie ein Ort privater Spekulationen, eine Momentaufnahme des Geistes bei der Arbeit. Sie ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und oft nicht entzifferbar, sie existiert unterhalb des Mindestanspruchs an ein ›Kunstwerk‹.

Ich nahm Kontakt zu Künstlern auf, deren Kunst ich mochte; manche kannte ich persönlich, andere nicht. Alle Künstler wurden gebeten, eine Gruppe von vier oder fünf Zeichnungen nach den genannten Kriterien auszuwählen. Alle, die ich fragte, sagten zu.

Als ich das Material beisammen hatte – es reichte von willkürlichen Kritzeleien auf Papierfetzen bis hin zu Donald Judds Rechnung für die Herstellung einer Plastik –, präsentierte ich es der Direktorin der Galerie. Sie war keineswegs begeistert. »Ich hatte erwartet, dass Sie mir gerahmte Zeichnungen bringen. Wir haben kein Geld, um diese Sachen zu rahmen. Und außerdem … was ist das überhaupt für ein Zeug?« Da Arbeitsstudien nicht als autographische Objekte behandelt werden wollen, schlug ich vor, sie zu fotografieren und die Abzüge ungerahmt auf die Wand zu pinnen. »Wir haben auch kein Geld für Fotografien«, war ihre Antwort.

Damals untersuchte ich in Arbeiten wie 36 Photographs and 12 Diagrams die Eigenart der Fotografie, Objekte zu distanzieren, indem sie sie zu Darstellungen macht. Dieser Gedankengang brachte mich auf die Idee, die Arbeitsstudien als Reproduktionen zu zeigen. Die einfachste und billigste Form der Reproduktion war die Xerokopie, 1966 eine relativ neue Technik. Die Hoch-schule hatte gerade einen Kopierer angeschafft, mit dem ich alle Zeichnungen fotokopieren konnte. Das Gerät verkleinerte oder vergrößerte jede Zeichnung auf die gleiche Papiergröße von 8½ × 11 Zoll (216 × 279 mm) und wandelte sie in Seiten um. Ange-sichts der nun gleichgemachten Informationen hatte es keinen Sinn mehr, sie an die Wand zu pinnen. Der Vorgang hatte sie bereits in ein Buch umgeformt. Marshall McLuhan, der zu dieser Zeit viel gelesen und diskutiert wurde, hatte geschrieben: »Der Kopierer macht jeden zum Verleger.« Warum sie also nicht »verlegen«, also mehr als eine Kopie machen? Ich beschloss, vier Kopien anzufertigen, weil die Vier, die erste Nicht-Primzahl, auf die Unendlichkeit der Zahlen hinweist und im weiteren Sinne auch auf die Unendlichkeit der Vervielfältigung.

Aber die Zeichnungen reichten nicht, um ein Buch zu füllen. Ich fand, dass mindestens 100 Seiten erforderlich seien, um das Interesse eines Betrachters für einen gewissen Zeitraum aufrecht

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Misunderstandings (A Theory of Photography) (1967–70)

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Im Jahr 1967 hatte Fotografie in einer Galerie für zeitgenössische Kunst nichts verloren. Es war so gut wie unmöglich, einen Kunst-händler dazu zu bewegen, irgendetwas Fotografisches anzusehen, geschweige denn auszustellen. Ein Händler sagte mir sogar, nie-mand werde meine Arbeiten jemals zeigen, solange ich die Bilder nicht »auf Leinwand siebdrucken« würde. Fotografie galt als Feind aller Werte der späten Moderne … und das, wie sich heraus-stellte, ganz zu Recht.

Das Projekt, aus dem Misunderstandings (A Theory of Photo-graphy) wurde, begann als zufällige Sammlung von Zitaten. Die um die Mitte der 1960er Jahre erhältliche Literatur über Foto-grafie enthielt nur wenige gründliche Überlegungen zu den foto-grafischen Themen, die mich beschäftigten: Objektivität versus Subjektivität, Literalismus versus Piktorialismus, die Phänomeno-logie der Fotografie (die vielschichtige Beziehung zwischen Abzug und Negativ, die physikalische Zusammen setzung des Abzugs selbst, systemische Verzerrungen wie die Parallaxe) und der Gegensatz zwischen einander ausschließenden Repräsentativsys-temen (Perspektive, Kachelung, Architektur zeichnungen, natur-wissenschaftliche und mathematische Schematisierung, Anamor-phose). Statt dessen baute alles auf formaler Analyse oder naivem Realismus auf, also praktisch auf Tautologien oder auf Selbst-widersprüchen (Walter Benjamins und Roland Barthes’ Texte zur Fotografie waren noch nicht übersetzt).

1970 bat mich Marian Goodman von der Multiples Gallery (wie sie damals hieß) um einen Beitrag zu der Kassette Artists and Photographs. Ich entschied mich, eine Auswahl von Zitaten beizusteuern, die zusammengenommen die Unmöglichkeit einer »Theorie« der Fotografie suggerieren würden (oder auch nicht).

Ich wählte sechs Zitate aus der früheren Sammlung und fügte drei unechte Zitate hinzu, die ich mir ausdachte (und welche welche waren, habe ich nie verraten). Ziel dieser Fälschung war es, jede Möglichkeit von Textgläubigkeit zu unterlaufen und den Zweifel von einem subjektiven Gefühl auf eine objektive Grund-lage zu stellen. Die ›Grundlosigkeit‹ der Zitate wurde zur Ent-sprechung der ›Grundlosigkeit‹ der Fotografie selbst und lenkte die Aufmerksamkeit auf die Künstlichkeit eines jeden Bezugs-rahmens. Damit wollte ich die Grundprämisse der Praxis des Minimalismus, Frank Stellas Formel »Was du siehst ist was du siehst«, angreifen.

Das zehnte »Missverständnis« ist eine negative Reproduktion des originalen Polaroidfotos meiner Arbeit Actual Size: Hand von 1968. Auch das ist eine Fälschung, weil jedes Polaroidfoto (zumindest 1968) ein Positiv war. Es gab keine Negative.

Die Entscheidung, mit faksimilierten Handschriften zu arbei-ten, traf ich, um die Trennung zwischen Handgemachtem und mechanisch Angefertigtem weiter zu verwischen. Und da es keine Erzählung gab, wählte ich die Form loser Blätter in einem Umschlag, um so jede Andeutung eines Anfangs, eines Mittelteils oder eines Endes (jedenfalls in dieser Reihenfolge) zu unterlaufen.

2000