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Michael Brocke Franz Rosenzweig und Gerhard Gershom Scholem 1 Franz Rosenzweig (1886-1929) und Gerhard Gershom Scholem (1897-1982) haben wenige Briefe miteinander gewechselt und sind einander dreimal begegnet – 1921, 1922 und 1927. Auf den ersten Blick eine flüchtig zu nennende Bekanntschaft. Scholem selbst bezeichnete sich 1935 als einen an Rosenzweig „knapp Vorübergegangenen“. 2 Gemessen an der Beziehung Rosenzweigs zu Buber oder an der Freundschaft Scholems mit Benjamin also nur eine Begegnung am Rande? Wenn dem so wäre, muß es als übertrieben erscheinen, von einer gescheiterten Beziehung zu sprechen. Eben dies aber: die Beziehung Rosenzweig-Scholem und ihr Scheitern ist Gegenstand der folgenden Darlegungen. Die Intensität der Begegnung beider beginnt zu erahnen, wer auf die besondere Schärfe aufmerksam wird, mit welcher jeder den anderen beurteilt – Urteile von einer Heftigkeit, die angesichts des frühen Todes Rosenzweigs überraschen müssen. Bei näherem Hinsehen erweisen sich die Beziehungen zwischen Rosenzweig und Scholem als weitausgeworfen und engmaschig: Wer ihre Namen in Verbindung bringt, der nennt auch Martin Buber, Walter Benjamin, Rudolf Hallo, Ernst Simon. Die Beziehungen zeigen sich so vielgestaltig, daß ich ihr Netz raffen muß, um eine überschaubare Darstellung zu geben. Sie ist nicht allein deswegen vorläufig und unvollständig. Aber auch wenn aus den Nachlässen neue Dokumente bekannt werden – insbesondere aus demjenigen Scholems, der derzeit erschlossen wird –, dürfte dennoch der Kern der Auseinandersetzung heute greifbar zutage liegen. Meine Darstellung sieht die Begegnung unter der Perspektive ihres Scheiterns, eines nur scheinbar persönlich-privaten, das einzubinden und aufzuheben ist in eine Problematik, die die Sphäre des nur Individuellen übersteigt in die des Scheiterns des deutschen Judentums, des (so Scholem) „Deutschjudentums“. Da beide, Rosenzweig wie auch Scholem, zu den größten unter den deutschen Juden/jüdischen Deutschen zählen, läßt ihr äußerst problemgeladenes Verhältnis zueinander auch Aufschluß erwarten über die geistigen Spannungsfelder, in denen sich junge Juden zur Zeit der Weimarer Republik bewegt haben. 1 Gegenüber dem Vortrag leicht überarbeitete und mit Anmerkungen versehene Fassung. Ich danke Edna Brocke, Julie Kirchberg und Herbert Jochum für Anregungen und Kritik. 2 Brief an Edith Rosenzweig, 29. 5. 1935, LBI New York. Franz Rosenzweig Papers AR 3005/E I 17. 1

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Michael Brocke

Franz Rosenzweig und Gerhard Gershom Scholem1

Franz Rosenzweig (1886-1929) und Gerhard Gershom Scholem (1897-1982)

haben wenige Briefe miteinander gewechselt und sind einander dreimal

begegnet – 1921, 1922 und 1927. Auf den ersten Blick eine flüchtig zu nennende

Bekanntschaft. Scholem selbst bezeichnete sich 1935 als einen an Rosenzweig

„knapp Vorübergegangenen“.2 Gemessen an der Beziehung Rosenzweigs zu

Buber oder an der Freundschaft Scholems mit Benjamin also nur eine

Begegnung am Rande? Wenn dem so wäre, muß es als übertrieben erscheinen,

von einer gescheiterten Beziehung zu sprechen. Eben dies aber: die Beziehung

Rosenzweig-Scholem und ihr Scheitern ist Gegenstand der folgenden

Darlegungen. Die Intensität der Begegnung beider beginnt zu erahnen, wer auf

die besondere Schärfe aufmerksam wird, mit welcher jeder den anderen

beurteilt – Urteile von einer Heftigkeit, die angesichts des frühen Todes

Rosenzweigs überraschen müssen. Bei näherem Hinsehen erweisen sich die

Beziehungen zwischen Rosenzweig und Scholem als weitausgeworfen und

engmaschig: Wer ihre Namen in Verbindung bringt, der nennt auch Martin

Buber, Walter Benjamin, Rudolf Hallo, Ernst Simon. Die Beziehungen zeigen

sich so vielgestaltig, daß ich ihr Netz raffen muß, um eine überschaubare

Darstellung zu geben. Sie ist nicht allein deswegen vorläufig und unvollständig.

Aber auch wenn aus den Nachlässen neue Dokumente bekannt werden –

insbesondere aus demjenigen Scholems, der derzeit erschlossen wird –, dürfte

dennoch der Kern der Auseinandersetzung heute greifbar zutage liegen.

Meine Darstellung sieht die Begegnung unter der Perspektive ihres Scheiterns,

eines nur scheinbar persönlich-privaten, das einzubinden und aufzuheben ist in

eine Problematik, die die Sphäre des nur Individuellen übersteigt in die des

Scheiterns des deutschen Judentums, des (so Scholem) „Deutschjudentums“.

Da beide, Rosenzweig wie auch Scholem, zu den größten unter den deutschen

Juden/jüdischen Deutschen zählen, läßt ihr äußerst problemgeladenes

Verhältnis zueinander auch Aufschluß erwarten über die geistigen

Spannungsfelder, in denen sich junge Juden zur Zeit der Weimarer Republik

bewegt haben.

1 Gegenüber dem Vortrag leicht überarbeitete und mit Anmerkungen versehene Fassung. Ich danke Edna Brocke, Julie Kirchberg und Herbert Jochum für Anregungen und Kritik.

2 Brief an Edith Rosenzweig, 29. 5. 1935, LBI New York. Franz Rosenzweig Papers AR 3005/E I 17.

1

Zunächst mögen einige biographische Bemerkungen den Verlauf der Beziehung

Rosenzweig-Scholem skizzieren. Dabei hebe ich drei jüngere Menschen hervor,

die in beider Einflußsphäre traten. Im Hauptteil konzentriere ich mich auf den

Konflikt zwischen Rosenzweig und Scholem hinsichtlich der Übersetzung

hebräischer Quellen in die deutsche Sprache und hinsichtlich der Bedeutung

des Hebräischen. Es wird zu zeigen sein, daß dieser Sprachzwist jener

intensiven Auseinandersetzung mit der Sprache, der deutschen Sprache zumal,

wie sie sich in der deutschen und deutschsprachigen Judenheit dargestellt hat,

eine funkelnde Facette hinzufügt.

Gerhard Scholem stammt aus dem aufstrebenden kleinen und mittleren

jüdischen Bürgertum Berlins; sein Vater führt eine gutgehende Druckerei. Die

vier Söhne, in Scholems Erinnerungen Von Berlin nach Jerusalem

charakterisiert, sind höchst unterschiedliche Naturen. Das Verhältnis des

Jüngsten zum Vater ist schwierig und stets spannungsvoll: Der junge Gerhard

will und muß einen eigenen Weg einschlagen. Nach Studien der Mathematik,

Philosophie, Orientalistik und Judaistik promoviert er 1922 in München und

wandert im September 1923 nach Palästina aus.

Franz Rosenzweig hingegen entstammt dem jüdischen Großbürgertum des

hessischen Kassel. Kindheit und Jugend sind von konventionell großzügiger,

gutbürgerlicher Bildung geprägt. Franz ist einziges Kind; auch er hat

Schwierigkeiten mit dem Vater, wenngleich er nicht das Haus verläßt, auch

nicht hinausgeworfen wird wie Scholem. Er studiert zunächst Medizin, dann

Philosophie und Geschichte und schreibt eine philosophische Dissertation

(Hegel und der Staat). Anders als Scholem nimmt er am Krieg teil. Das Angebot

F. Meineckes, sich zu habilitieren, lehnt er ab. Nach dem Buch seines Lebens,

dem Stern der Erlösung, will er sich dem Judentum widmen, sich ganz den

lebendigen Menschen und ihren – nicht gelehrten – Fragen zuwenden. Die

Gründung des Freien Jüdischen Lehrhauses 1920 in Frankfurt ist die daraus

erwachsende Konsequenz.

Beide Jugendliche sind revoltés gegen das deutschverbürgte

assimiliert/assimilatorische Judentum, das sich in ihren Elternhäusern

verkörpert und darstellt. Sie hingegen, keineswegs vom Antisemitismus

angestoßen, suchen danach, wie diesem Judentum neue Inhalte zu vermitteln

und ein neues Eigenleben einzugeben seien. Diese Erneuerung kommt, für

beide, nur aus den alten jüdischen Quellen. So treffen sie beide sehr eindeutige

Lebensentscheidungen. Rosenzweig hat jedoch einen längeren Weg dahin

zurückzulegen als der Jüngere. Er muß sich zunächst intensiv mit dem

Christentum auseinandersetzen, das ihm nicht nur allerorten in Kultur und

2

Bildung übermächtig entgegentritt, sondern ihm auch persönlich in nicht

wenigen konvertierten Freunden und Verwandten begegnet — etwa in

Rosenstock und Ehrenberg.3 Die jüdischen Begegnungen, die Scholem in Berlin

selbst hat, findet Rosenzweig erst als Soldat auf dem Balkan, in Warschau und

im Lazarett. Rosenzweig, 1913 entschlossen das Christentum zurückweisend,

entscheidet sich bewußt für sein Judentum – ein Jude-Sein nichtzionistischer

Ausprägung, das jedoch stets sehr am Zionismus interessiert und von einer

wachsenden Achtung und Sympathie für die Zionisten und das, was sie zu tun

bemüht sind, gekennzeichnet ist.4

Scholems Weg zur „Schicksalswahl“ ist weitaus kürzer und darum kaum näher

zu beschreiben, darum eindeutiger wirkend und radikaler: Er wird schon mit

vierzehn Jahren Zionist, ist mit 25 Gelehrter in Jerusalem und ragt dort 60

Jahre als Begründer und noch immer bedeutendster Forscher eines eigenen

Wissenschaftszweiges, der Erforschung der jüdischen Mystik und Esoterik,

hervor. Damit erlangt er für die Wissenschaft des Judentums eine Bedeutung,

die derjenigen der Brüder Grimm für die Erforschung der deutschen Sprache

durchaus vergleichbar ist.

Unabhängig von der ganz unterschiedlichen Länge der Wegstrecken und von

dem bleibenden Altersunterschied erreichen Rosenzweig und Scholem etwa zur

gleichen Zeit einen annähernd vergleichbaren Kenntnisstand und ein vertieft

eigenständiges Eindringen in „ihr“ Judentum. Beide sind klare, scharfe Denker

und Autoren. Beide auch schroffe, beherrschende Persönlichkeiten –

ebensowohl autoritativ als autoritär. Als Rosenzweig stirbt, ist Scholem gerade

32 Jahre alt; Rosenzweig bleibt der Ältere.

Es entsprach sowohl Rosenzweigs als Scholems Berufung, Quellen aus dem

Hebräischen zu übersetzen. Übersetzungen machen in beider Lebenswerken

einen sehr wichtigen5 Bestandteil aus. Übersetzungen, die, aus der eigenen

3 Rudolf Ehrenberg (1884-1969); Eugen Rosenstock (-Huessy) (1888-1973). getauft 1905; Hans Ehrenberg (1893-1958), getauft 1909 (1911?).

4 Über die Haltung zum Zionismus siehe zuletzt Ehud Luz, Zionism and Messianism in the Thought of Franz Rosenzweig (hebräisch), Jerusalem Studies in Jewish Thought 2, 1982/83. S. 472-489. Luz sieht für 1914 bis 1922 eine negative Haltung, ab 1922 steigende Sympathie für den Zionismus. Da er aber die Lehrhausgründung fälschlich erst 1922 (statt Mitte 1920) ansetzt, könnte auch die Periodisierung „ab 1922“ anfechtbar sein. Auch liefert die von Luz noch nicht herangezogene neue Ausgabe der Briefe und Tagebücher weiteres Material zur Beantwortung der Frage; vgl. etwa S. 646. 707, 729, 749, 774. 801. 846f.. 873f., 908. 942, 960, 964, 986, 1007, 1120, 1152, 1228.

5 Für Rosenzweig wichtiger als für Scholem: „Das Übersetzen ist seit '20 mein produktiver, und also sich entwickelnder Teil. Tischdank und Freitagabend, Jehuda Halevi und Bibel sind drei Etappen. Daher bin ich heut vom Tischdank so weit, oder noch weiter wie ich 1920 beim Erscheinen des Hegel von jenem war...“ Brief Nr. 1169. an Buber vom 29. 7. 27, S. 1169. Die Übersetzungstätigkeit Scholems beschränkt sich auf die Jahre 1915-35. das Gewicht liegt auf den Jahren bis 1924.

3

Kultur und Geschichte erwachsen, Erneuerung zum Ziel haben. In jeder dieser

Gemeinsamkeiten nun findet sich das entschiedenste Auseinandertreten, in

jeder ist der Konflikt von vornherein grundgelegt.

1917 liest Rosenzweig eine der ersten Polemiken Scholems, gerichtet gegen die

Übersetzungen Alexander Eliasbergs aus dem Jiddischen. Der Kritik stimmt er

von Herzen zu: „In der jüdischen Rundschau steht ein Feuilleton von Gerhard

Scholem gegen die Eliasbergschen Übersetzungen aus dem Jüdischen, das

genau das in – glänzende – Worte brachte, was mir ohne daß ich schon jüdisch

kann, aus den Übersetzungen selbst schon ärgerlich aufgefallen war.“6 1918 trifft

er im Lazarett auf einen jungen russischen Juden, Mawrik Kahn, der in der

zionistischen Jugendbewegung mit Gerhard Scholem in Berührung gekommen

war und nun Rosenzweig auf einen (polemischen) offenen Brief Scholems

hinweist. Rosenzweig antwortet: „Lieber Herr Kahn, Scholems Artikel habe ich

inzwischen schon erwischt und gelesen; ich glaube, wenn ich ihn gelesen hätte,

ohne von ihm selber schon durch Sie zu wissen, hätte mir der Artikel keinen

Eindruck gemacht. Denn es ist eben schließlich - wenn man es nicht anders

weiß — doch nur Literatur, und wer gegen Literaten schreibt, ist selber einer.

Aber da ich von ihm wußte, so konnte ich den Artikel als ein Dokument

nehmen, ... Es kommt eben wirklich alles und alles nur und nur auf das Tun an.

Die schönsten Beschimpfungen aller, die anders meinen, bleiben nur Kritik.

Einem Artikel gegenüber ... behält jeder Organisator einer zionistischen

Ortsgruppe, jeder Führer im Blauweiß recht. ... Erst beim Positiven fängt es an,

– ganz einerlei, was dieses sein Positives ist.“7

Im Oktober 1919 fragt er Kahn: „Haben Sie im Juden neulich Scholems

Übersetzung eines Piut gesehen? hat er mehr davon? ich wäre froh, wenn ich sie

einmal zu sehen kriegen könnte ...“8

Scholem seinerseits kennt Rosenzweig nur aus dessen an Hermann Cohen

gerichteten Aufruf zur Reform der Wissenschaft des Judentums und des

6 Brief Nr. 354, an die Eltern, 9. 2. 17, S. 348. G. Scholem. Zum Problem der Übesetzung aus dem Jidischen. Auch eine Buchbesprechung, Jüdische Rundschau 22, 12. 1. 17; dort auch Brief von Eliasberg und Replik von Scholem. Alexander Eliasbergs zahlreiche Übersetzungen werden auch heute noch mangels besserer nachgedruckt.

7 Brief Nr. 592, 26. 2. 19, S. 624 ff. G. Scholem, Abschied. Offener Brief an Herrn Dr. Siegfried Bernfeld und gegen die Leser dieser Zeitschrift. Jerubbaal 1. 1918/19. S. 125-130. Ich verdanke den Hinweis hierauf Prof. Gert Mattenklott. Marburg-Berlin.

8 Brief Nr. 613, 27. 10. 19. S. 651; G. Scholem. Ein mittelalterliches Klagelied |des R. Meir von Rothenburg über die Talmudverbrennung Paris 1242], Der Jude 4, 1919/20, S. 283-286. Vgl. damit die Übersetzung von E. Baneth, MGWJ 73, 1929, S. 295-302. Scholem war damals mit Studien zu einem Buch über Klage und Klagelied beschäftigt. Seine genannte Übersetzung nennt er 1977 eine „mir noch heute liebe“ (Scholem 1977, S. 147).

4

jüdischen Erziehungs- und Bildungswesens mit dem Titel Zeit ists.. (Ps 119,

126). Gedanken über das jüdische Bildungsproblem des Augenblicks.9

Erst 1920/21 wird der persönliche Kontakt hergestellt: Rudolf Hallo, ein zehn

Jahre jüngerer Kasseler Freund Rosenzweigs, studiert zusammen mit Scholem

in München. Hallo bringt Scholem den soeben (Anfang 1921) erschienenen

Stern der Erlösung, und Rosenzweig ergreift die Initiative, indem er dem

Sprachsachverständigen und Übersetzer Scholem seine ersten

„hausliturgischen“ Übersetzungen10 zusendet. Scholems Dank wird ausführlich

erwidert: „Lieber Herr Scholem, es war keine bloße Höflichkeit, daß ich Ihnen

das Büchlein schickte. Mir war ein Aufsatz, ich glaube: in der Jüdischen

Rundschau, in guter Erinnerung geblieben, ... das war mir so ganz aus der Seele

geredet, daß ich nun, als mir Rudolf Hallo Ihren Namen nannte, die Gelegenheit

benutzte, und ich bin froh, daß ich es getan habe. Denn Ihr Brief ist in allem, in

der Zustimmung wie in der Ablehnung, so ganz zutreffend, daß ich, handelte es

sich dabei nur um die Frage nach dem Wert meiner Übersetzung, Ihnen freilich

kaum etwas zu erwidern haben würde. Aber, es liegt da noch etwas

Prinzipielleres, ... Und ich glaube, wir müssen uns gerade über dieses

Prinzipielle – nein in diesem Prinzipiellen verständigen.“

Im Mai 1921 stattet Scholem Rosenzweig einen Besuch ab, worüber dieser an

Hallo berichtet:

„Scholem – es waren anderthalb tolle Tage ... Du kämpfst mit ihm, ich habe

gleich die Waffen gestreckt und habe von und bei ihm gelernt ... Für ihn ist sein

Judentum nur Kloster. Da hält er seine geistlichen Übungen drin ab und

kümmert sich trotz aller Randbemerkungen nicht um die Menschen ... Um

diesen Preis der Verklostertheit oder Vereinsiedeltheit hat er sich dann freilich

erkauft, was wir uns verdienen werden: man muß ihm glauben, ungefragt ... Er

ist vielleicht der einzige schon wirklich Heimgekehrte, den es gibt. Aber er ist

allein heimgekehrt.“11 Rosenzweigs Wunsch, Scholem möchte sich mit seinen

Übersetzungen befassen, sie kritisch durchsehen, scheint zu einem Briefwechsel

Ende 1921 geführt zu haben, in dem sie Übersetzungen miteinander tauschen –

u. a. die eines und desselben Liedes zum Ausgang des Sabbats. Rosenzweig

schließt seinen Brief, wie er ihn begonnen hatte, mit der Frage: „Wann werden

Sie wohl in die Frankfurt-Wiesbadener Gegend kommen? ... Sie wissen, daß ich

immer bereit bin von Ihnen zu lernen. Das will ja auch nicht viel heißen, denn es

9 Verlag der Jüdischen Monatshefte, Ende 1917; 2. Auflage im Frühjahr 1918, in: Kleinere Schriften. Berlin 1937, S. 56-78. Siehe Scholem 1982. S. 137; 171; vgl. mit Rosenzweig, Brief Nr. 1070, an Bertha Badt-Strauß, 6. 1. 26, S. 1078.

10 „Der Tischdank“, Berlin 1920 (Jüdische Bücherei 22); siehe auch Brief Nr. 653. an G. Scholem. 10. 3. 21, S. 698 ff, aus dem im folgenden zitiert wird.

11 Brief Nr. 659. 12. 5. 21, S. 704.

5

kostet mich gar nichts. Während umgekehrt es Sie stets ein Stück

Selbstentäußerung (oder wenigstens aus Sichheraustreten) kosten würde, wenn

Sie von mir etwas haben wollen. Zum Teil ist das ja einfach der

Altersunterschied. Aber vor allem die verschiedene Schicksalswahl ...“12

Einer der meistzitierten Briefe Rosenzweigs an Hallo vom „Gesetz“ und den

Möglichkeiten, ihm gemäß zu leben handelnd, sucht dabei auch Rudolf Hallos

Kritik an seinen Gebetsübersetzungen Punkt für Punkt zu beantworten. Gegen

Schluß des Briefs, nachdem er über Toraerfüllung, über den einen oder die

vielen jüdischen Wege, die Übersetzungen und anderes mehr geschrieben hat,

resümiert Rosenzweig: „Lieber Rudi, ich glaube die Schuld an diesem langen

theoretischen Brief ... trägt der böse Scholem. Warum disputierst du? Über das

was man tut, läßt sich nicht disputieren. Am wenigsten mit einem Nihilisten wie

Scholem. Der Nihilist behält immer recht. Wenn einer mit dem Ärmel alle

Figuren vom Schachbrett hinunterwischt, so hat er mich freilich gehindert, die

Partie zu gewinnen. ... Wir haben nicht Nichts, wie Scholem dem zionistischen

Dogma zuliebe möchte, aber auch nicht Alles, wie du, verstört von Scholems kalt

dir zugeschleudertem „Nichts“, es nun am liebsten bei mir fändest, sondern

beide nur Etwas, wirklich und wahrhaftig nur etwas. Halten wir uns daran, und

spielen wir unser Spiel mit denen, die schon gelernt haben, mit den Fingern und

nicht mit dem Ärmel zu spielen. Vielleicht wird auch Scholem es noch lernen.“13

Wenige Tage nach diesem Brief an Hallo besucht Scholem Rosenzweig zum

zweitenmal. Ein nächtelanges Gespräch wächst sich zu einer extremen

Auseinandersetzung aus, die in Scholems Sicht in einem tiefen, „völligen

Zerwürfnis“ endet. Im Gegensatz zu Rosenzweig, dessen Reaktionen nur

indirekt zu erfahren sind14, hat sich Scholem mehrfach direkt zu diesem

12 Brief Nr. 698, 6. 1. 22, S. 740 ff.13 Brief Nr. 719, 27. 3. 22, S. 761-768. Diese Passagen sind Scholem erst mit der

Veröffentlichung der „Briefe“ 1935 zu Augen gekommen. In Scholem 1977 heißt es S. 178: „Was ich nicht wußte, war, daß er mich für einen Nihilisten hielt.“ Diese Reaktion ohne näheren Kontext scheint der Grund für die Ausführungen von David Biale, Gershom Scholem. Kabbalah and Counter-History, Cambridge/Mass-London 1979, S. 98 zu sein, der meint, daß Rosenzweigs Verständnis von Tradition enger als das Scholems gewesen sei und daß Rosenzweig den Unterschied zwischen Nihilismus und Scholems religiösem Anarchismus mißverstanden habe. S. 251, Anm. 79, bringt er Rosenzweigs Nihilismus-Äußerung mit der von Hans-Joachim Schoeps, Ja-Nein-Und trotzdem. Erinnerungen-Begegnungen-Erfahrungen. Mainz 1974, S. 54f.. zusammen. Der Kontext zumindest der Äußerung Rosenzweigs fordert aber Berücksichtigung, er gibt nichts für Biale S. 98 her. Vgl. dazu etwa im hier zitierten Brief an Hallo die Stelle über den einen und die vielen jüdischen Wege, S. 763 f.

14 Vgl. W. Benjamin, Briefe, hrsg. von G. Scholem und Th. W. Adorno, Frankfurt/Main 1966, Band 1, S. 296, über seinen Besuch bei Rosenzweig im Dezember 1922: „... brachte er das Gespräch mit ziemlicher Vehemenz auf Dich. Differenzen Eurer letzten Auseinandersetzung scheint er nicht verwunden zu haben und Dich als feindliche Instanz anzusehen.“ Ferner Edith Rosenzweig an Ernst Simon, 22. 5. 35: „Franz hatte 1922 Scholems Angriffen mit einer

6

Zusammenstoß geäußert. Dennoch wissen wir nicht, was im einzelnen dieses

Zerwürfnis, „nach dem jeder Kontakt aufhörte“ (Scholem 1982), „worauf wenig

später Rosenzweig krank wurde“ (Scholem 1973/74), hervorgerufen hat.

Scholem, der so oft genau das wiederzugeben wußte, was er in einer bestimmten

Situation mit Walter Benjamin etwa diskutiert hatte15, sagt hier nie mehr, als

daß er Rosenzweig attackiert, „seine deutsch-jüdische Harmonie“ angegriffen

habe, und das „nicht gerade sanft“, und deshalb „in eine der stürmischsten und

irreparabelsten Auseinandersetzungen“ seiner Jugend geraten sei.16

Wenn die frühen Äußerungen Scholems (bis ca. 1936) über Rosenzweig sich auf

den Stern der Erlösung beziehen, so gruppiert sich seine späte Kritik um jenen

Zusammenstoß, so daß es erlaubt ist, die Scholemschen Erinnerungen an dieses

Ereignis später im Detail zu betrachten, um sich von dort her seiner Alterskritik

an Rosenzweig zu vergewissern.

Im Sommer 1923 lehrt Scholem – vor seiner Auswanderung – am Frankfurter

Lehrhaus, ohne daß der nun ans Bett gefesselte Rosenzweig ihn in jenen

Sommermonaten wieder gesehen hätte. Dieser notiert: „... kursorische

Raschilektüre zum Exodus (Erich Fromm mit fünf Teilnehmern). Sohar

chadasch (sieben Wochenstunden, zehn Teilnehmer), den hält Scholem, der

über den Sommer hier ist, und machts, wie immer mit unflätigem Benehmen

aber ebenfalls wie immer, glänzend. Er liest ... außerdem auch Daniel, und mit

einigen natürlich Agnon. Ich bin sehr zufrieden, daß dieser andre Pol des

Lehrhauses jetzt auch sichtbar geworden ist; erst damit ist es, was es sein soll.“17

Im Dezember 1926 beteiligt sich Scholem auf Einladung Bubers an einer Mappe

mit vierzig handschriftlichen Beiträgen, die dem stummen und gelähmten

Rosenzeig zum 40. Geburtstag von Freunden und Bekannten überreicht wird18

gradezu großartigen Geduld standgehalten; Franz war ja schon krank, der Sprache nicht mehr voll mächtig, jedenfalls nicht so, daß er dem rasend schnellen Diskutieren Scholems gewachsen war, der das gar nicht zu merken schien ... Franz hat mir später gesagt, daß er es ihm nicht übel genommen hätte ...“ (siehe Anm. 2). Vgl. auch Rosenzweig an Buber Nr. 1091, Mai 1926, S. 1094: „... Er [Scholem] projiziert nämlich sein schlechtes Gewissen gegen mich in mich rein und meint ich sei ihm böse.“ Zur Verschlechterung der Sprachfähigkeit im Jahr 1922 vgl. seine sämtlich an Gertrud Oppenheim gerichteten Briefe vom 14. 3. 22, S. 757; 27. 3., S. 761; 10. 4., S. 772 f.; 27. 5., S. 789; 6. 6., S. 792; 30. 10., S. 841.

15 Siehe G. Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt/Main 1975, S. 9 und passim, und das Nachwort von R. Tiedemann in: G. Scholem, Walter Benjamin und sein Engel, Frankfurt/Main 1983, S. 217.

16 Die Zitate sind entnommen sowohl der deutschen (1977) als der hebräischen (1982) Version der Erinnerungen „Von Berlin nach Jerusalem", deutsch siehe S. 177-179; hebräisch S. 164 f; siehe auch das hebräische Interview von 1973/74, S. 28 f.

17 Brief Nr. 863 an Joseph Prager, 30. 5. 23, S. 906 f. Die Bemerkung zum Benehmen Scholems löste 1935 den kleinen zu Anmerkung 2 und 14 zitierten Briefwechsel zwischen E. Simon-Edith Rosenzweig-G. Scholem aus, da sich Scholem von diesem Urteil, das nicht auf Rosenzweigs unmittelbarem Eindruck beruhte, gekränkt fühlte.

18 Siehe Briefe, S. 1118, Anmerkung; und Brief Nr. 1163, an Eugen Mayer, 26. 6. 27, S. 1163.

7

(Text siehe Anhang I). Bei seiner ersten Europareise im Sommer 1927 besucht

Scholem auf die durch Ernst Simon vermittelte Einladung hin Rosenzweig

zweimal und berichtet ihm von seinen Handschriftenfunden in den

Bibliotheken.19 Die letzte, knappe Korrespondenz datiert von 1928/29.20 Im

Januar 1930 hält Scholem die Gedenkrede auf Rosenzweig an der Hebräischen

Universität.21 Dort gedenkt er Rosenzweigs auch 1936 zu dessen 50. Geburtstag:

„... eine Gedenkfeier, bei der wir, vier Redner hoch, und ich als letzter und

wildester, uns in eine Kritik des großen Mannes und seines Opus eingelassen

haben.“22 In der Zwischenzeit verfaßte Scholem einen Aufsatz zum Erscheinen

der zweiten Auflage des Stern, 1931.23

Erst im hohen Alter, in der Rückschau auf das eigene Leben, äußert sich

Scholem wieder mehrfach über Rosenzweig, so in einem hebräischen Interview

1973/74, in der deutschen Fassung seiner nur bis 1925 reichenden

Erinnerungen Von Berlin nach Jerusalem (1977), von der auch die englisch-

amerikanische Übersetzung gefertigt ist, sowie schließlich weit ausführlicher

und abweichend davon in der fast auf doppelten Umfang angewachsenen

hebräischen Version Mi-Berlin lirushalajim, die 1982 kurz nach seinem Tod

erscheint. Schärfe und Ambivalenz der Haltung Scholems Rosenzweig

gegenüber haben stark zugenommen; auch sind seine hebräischen Äußerungen

ausführlicher, unverblümt kritischer und (selbst-)entblößender geworden.

Ungenauigkeiten in der Sache wie auch eine stärkere Hervorhebung der eigenen

Person fallen dabei ins Auge.24

Hatte Rosenzweig brieflich einmal von Scholems „Verklostertheit“ gesprochen,

in welcher er seine „geistlichen Übungen“ abhalte, so wirft nun Scholem

Rosenzweig den „seltsam kirchlichen Aspekt“ seines „protestantisch-

pietistischen“ Judentums vor, einen traditionellen, liturgischen Lebens- und

Jahresrhythmus. Zweitens und vor allem aber kritisiert Scholem jene

„Synthese“, jenes „Ideal“ des Deutsch-Jüdischen, und er geht dabei so weit,

symmetrisierend zu behaupten, es sei nicht nur bei ihm, sondern auch bei

Rosenzweig eine „Obsession“ gewesen, eine „positive“ bei Rosenzweig, der viel

19 Scholem 1977, S. 179; Scholem 1982, S. 165 f; Scholem 1973/74, S. 29.20 Siehe Brief Nr. 1236, an G. Scholem, 9. 4. 29, S. 1209.21 Franz Rosenzweig und sein Buch Stern der Erlösung, Gedenkworte ... am 30. Tag nach

seinem Tod, Jerusalem 1930 (hebräisch); auch in: Franz Rosenzweig. Ein Buch des Gedenkens, Berlin 1930, S. 51-56 (teilweise); wiederabgedruckt in Scholem 1975, S. 407-425 (Nur hebräisch oder französisch, nicht in deutsch oder englisch greifbar.).

22 Walter Benjamin – Gershom Scholem, Briefwechsel 1933-1940, hrsg. von Scholem, Frankfurt/Main 1980, Brief Nr. 88, 29. 12. 36, S. 231.

23 Zur Neuausgabe des „Stern der Erlösung“; wiederabgedruckt in G. Scholem, Judaica, Frankfurt/Main 1963, S. 226-234.

24 Siehe etwa die Darstellung Scholem 1973/74, S. 28 f.; „Als sich Rosenzweig für das Judentum zu interessieren begann, hörte er von meiner Existenz ...“.

8

„radikaler“ und „fanatischer“ gewesen sei als er selbst.25 Diese Behauptung einer

deutsch-jüdischen Radikalität Rosenzweigs wird zu prüfen sein: Rosenzweigs

Radikalität war nicht diametral der Scholems entgegengesetzt.

Zunächst muß die Beziehung Scholem-Rosenzweig auch im Licht ihres

gemeinsamen Bekanntenkreises gesehen werden. Bei der Entstehung und bei

der Belastung ihrer Begegnung haben die Beziehungen beider zu mehreren

jüngeren Menschen – gemeinsame Bekannte, Freunde – eine große Rolle

gespielt. Mawrik Kahn (1900- ?), Rudolf Hallo (1896-1933) und Ernst Simon

(geb. 1899) lassen vor dem Hintergrund der Rosenzweigschen Korrespondenz

eine Beziehungsstruktur erkennen, die die Begegnung Rosenzweig-Scholem

belasten mußte und belastet hat, bewußt und unbewußt, und das über

Rosenzweigs Lebzeiten hinaus. Am Beginn stehen Kontakt und Briefwechsel mit

dem jungen russischen Juden Kahn, über dessen späteres Leben man nichts

mehr weiß.26 Rosenzweigs Briefen an Kahn ist zu entnehmen, daß er den noch

Unsicheren zu führen sucht, ihm das jüdische Tun – gleich welches – anrät, um

ihm zur Tat und damit zu sich selbst zu verhelfen, weg von „Literatur“ und

„Literaten“, weg vom „Erlebnis“, aber auch vom Disput in der zionistischen

Jugendbewegung darüber. Ist es zuviel behauptet, wenn man sagt, daß

Rosenzweig Kahn dem Einfluß des „nur“ kritisierenden Gerhard Scholem zu

entziehen suchte, um ihn von zionistischer Theorie und Wortgefechten zum Tun

– sei es chassidisch, sei es zionistisch oder nichtzionistisch – zu bringen?

Weit wichtiger, weil ins Zentrum der Rosenzweigschen Existenz und seiner

Sicht des jungen Scholem reichend, ist die Vernetzung Rosenzweig-Hallo-

Scholem. Als Kasseler Freund Rosenzweigs und Münchner Kommilitone

Scholems stellt Hallo27 den persönlichen Kontakt her. Aus Rosenzweigs Briefen

erfährt er, und mit ihm (soweit veröffentlicht) der Leser, wie jener Scholem

erlebt, bewundert und ihn ebenso scharfsichtig wie scharfzüngig kritisiert,

gewiß nicht abstrakt, sondern stets in Beziehung auf Hallo und sich selbst.28

Unsicherheit und „Schwerblütigkeit“ Hallos, der sich mit 19 Jahren „aus

25 So Scholem 1973/74, S. 28-30. In den deutschen Erinnerungen (Scholem 1977) ist dagegen nur zu lesen: „Er suchte das deutsche Judentum von innen her zu, ich weiß nicht, ob ich sagen soll: reformieren oder revolutionieren; ich setzte keine Hoffnungen mehr auf das als Deutschjudentum bekannte Amalgam und erwartete die Erneuerung des Judentums nur von seiner Wiedergeburt im Lande Israel ...“ (S. 178).

26 In den Erinnerungen Scholems und andernorts fungiert er als erster „Vermittler“ zwischen den beiden, was durch den 1979 veröffentlichten Brief Rosenzweigs von 1917 zu Scholems Polemik hinfällig geworden ist.

27 Über ihn siehe Brief Nr. 798, an Buber, 19. 8. 22, S. 809 ff.; Nr. 804, an Buber, 27. 8. 22, S. 819; Nr. 936, an G. Oppenheim, 9. 6. 24, S. 969; Nr. 954, an M. Rosenstock-Hüssy, 16. 9. 24, S. 987. Siehe auch Horst Keller in G. Schweikhart (Hrsg.), Rudolf Hallo. Schriften zur Kunstgeschichte in Kassel, Kassel 1983, S. 11-29 und 705-709.

28 Brief Nr. 648, 25. 2. 21, S. 694; Nr. 659, 12. 5. 21, S. 704; Nr. 719, 27. 3. 1922, S. 761-768.

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unbefriedigtem Suchen“ (Rosenzweig) hatte taufen lassen, und „in dessen

jüdische Entwicklung“ Rosenzweig „ohne, ja gegen“ seinen „Willen

entscheidend eingegriffen“ hatte, machen den „Heimkehrer“ Rosenzweig zu

einer sehr wichtigen Bezugsperson für jenen – eine Tatsache, deren sich

Rosenzweig allmählich bewußt wird – und veranlassen Rosenzweig dazu, den

Einfluß Scholems bald als schädlich zu beurteilen. Man muß von einem Ringen

zwischen Rosenzweig und Scholem um Hallo sprechen. Dem „Alles oder

Nichts“, mit dem Scholem Zionismus und „Deutschjudentum“ ge-

geneinandersetzt und welchen Anspruch auch die Orthodoxie erhebt, sucht

Rosenzweig sein „Etwas“ entgegenzustellen, ein Etwas, das die Idealisten des

Alles und des Nichts vom Tisch wischen möchten. Darum auch will Rosenzweig

Hallo, dessen Judentum er mehrfach als „zu schwer“, als „zu feierlich“ und

damit „gehemmt“, „zu schwerblütig“ bezeichnet, Martin Buber sehr ans Herz

legen: „Denn Sie sind jetzt mehr als ich ... der Mensch, den er für die

Vergewisserung seines Judentums braucht ... Er braucht nicht die Heimkehrer

wie mich ... grade weil er selber es ist; er braucht den ehrfürchtigen Apikoros'

(,Ketzer'), grade den ... Er ist noch jung. Und jeder Mensch braucht zwei

Lehrer.“29

„Das Etwas ist uns gegeben. Im Etwas haben wir uns einzurichten. Ich sage

nicht, daß dieses mein Etwas musterhaft für irgend einen andern ist. Musterhaft

aber ist, daß ich den Mut habe ... in meinem Etwas zu leben ... Ich fange ja nur

an ... Ich hoffe und weiß, daß auch andre anfangen. ... Ich, wir, alle die nicht

„Alles oder Nichts“ sagen, wir unternehmen heut von neuem, was der jüdische

Liberalismus vor hundert Jahren unternommen hat und woran er gescheitert

ist. Er ist gescheitert, weil er erst Grundsätze aufstellen wollte und danach

handeln ... Wir fangen mit den Handlungen an.“30

Der Vorrang des Tuns – gleich welches – ist auch hier hervorgekehrt und die

Ungeduld mit dem Disputieren darüber dementsprechend drängend. Handle im

Etwas und handle zusammen mit mir, wenn Du's willst, aber handle! – so lautet

der eindringliche Appell Rosenzweigs an Hallo.

Die Veröffentlichung der zitierten Briefe im Jahre 1935 hat Scholems Sicht von

Rosenzweig zweifellos verdunkelt und langfristig auch auf das Bild seiner

Beziehung zu Rosenzweig zurückgewirkt: „Heute weiß ich, daß das, was sich bei

meinem zweiten Besuch bei ihm ereignete, geschehen mußte, wenn er sich

dieses Bild von mir machte.“31

29 Brief Nr. 798, 19. 8. 22, S. 811.30 Brief Nr. 719, 27. 3. 1922, S. 762.31 Scholem 1982, S. 165.

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Ernst Simon, als 21jähriger Student ans Lehrhaus geholt, zugleich Redakteur an

Bubers Zeitschrift Der Jude, steht bis heute ein wenig im Schatten jener drei –

Buber, Rosenzweig, Scholem. Fast 13 Jahre jünger als Rosenzweig und ein Jahr

jünger als Scholem, stand er Rosenzweig zwar weniger nahe, als es Hallo für

einige Jahre tat, blieb aber fast acht Jahre hindurch Rosenzweigs verläßlicher

Mitarbeiter, und auf seine Initiative ging zum Beispiel auch die Einrichtung

eines Gottesdienst-Minjan im Krankenzimmer Rosenzweigs zurück.

Rosenzweigs Einfluß auf Simon, direkt und indirekt über Buber, ist zweifellos

beachtlich. Ende 1922 schließt Simon in Berlin Bekanntschaft und lebenslange

Freundschaft mit Scholem. Ganz gewiß geht Rosenzweig nicht gegen diese

Freundschaft an; er registriert aber mit seismographischer Empfindlichkeit jede

Einflußnahme Scholems auf Simons geistige Selbständigkeit. Bitter klingt es,

wenn Rosenzweig diesen Einfluß hinsichtlich des Lehrhauses und seines „freien

Fragecharakters“ (im Sommer 1923!) als negativ und ablehnend erfaßt und zu

bekämpfen sucht: „... hat mir E. Simon gestern abend mündlich die

Scholemismen seines Briefes noch derart unterstrichen, daß ich nun wirklich

entschlossen bin, soweit es bei mir steht, das Lehrhaus auf jeden Fall zu

erhalten. Dem Geist, der stets verneint, räume ich das Feld nicht. Dawke!“32

Später, nach Scholems Alijah, heißt es nurmehr mokant: „Ernst Simon ist

vorläufig auch begeistert, aber Jerusalem ist ja viele Posttage entfernt.“33 Die

Irritation Rosenzweigs ist mit Händen greifbar, wo immer wirkliche oder

vermutete Einflußnahmen Scholems auf diese so unterschiedlichen

Beziehungen zu Hallo und Simon einwirken – und dies ungeachtet der

aufrichtigen Bewunderung für Scholems Sprach- und Sachkenntnis und

ungeachtet seines Wunsches, von Scholem zu lernen und „Einzelkritik“ an

seinen ihm so äußerst wichtigen Übersetzungen aus dem Hebräischen zu

erhalten.

Was sind die Gründe für das Interesse der beiden Männer aneinander – von der

gemeinsamen jüdischen Intensität abgesehen? Scholem, der Zionist, war von

Rosenzweig als einem nicht leicht einzuordnenden Nichtzionisten und von

dessen denkerischer Kraft beeindruckt. Scholems Entweder-Oder, in

Rosenzweigs Wort sein Alles oder Nichts, sah sich von der wirklichen oder

vermeintlichen „Harmlosigkeit“ Rosenzweigs „gegenüber dem Problem

Deutschtum und Judentum“ (Rosenzweig 1923) bzw. der „deutsch-jüdischen

Harmonie", die Rosenzweig „zu schaffen suchte“ (Scholem 1973/74),

32 Brief Nr. 871, an Buber, 29. 7. 23, S. 916 und siehe ebenda Nr. 872, an R. Stahl.33 Brief Nr. 1062, an Buber, 29. 12. 25 und Martin Buber Archives Jerusalem, Ms. var 350/d.

Die zahlreich neu veröffentlichten Briefe an E. Simon zeugen von einem regen Austausch. Vgl. auch Brief Nr. 954, 16. 9. 24, S. 987.

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herausgefordert. Rosenzweig aber streckte gleich die Waffen, um von dem

anderen zu lernen. Von 1917 an hatte er ja mehr Interesse und Lernbegier an

Scholems Sprach- und Übersetzerkompetenz, an seinem „Tun“ also, gezeigt, als

an seinem Zionismus. Dieses spezifische Interesse allein ließ ihn initiativ

werden und den Kontakt zu Scholem suchen. Da Scholem aber sehr bald – und

konsequent auch weiterhin – Prinzipien und „Indikationen“ des

Rosenzweigschen Übersetzens ablehnt, verweigert er auch „Einzelkritik“ daran,

– was Rosenzweig notiert, als habe er die Vergeblichkeit seines Wunsches und

den Grund dafür noch nicht begriffen.34

Die gegenseitige Anziehung war somit recht unterschiedlichen Ursprungs. Die

Interessen treffen nur kurzfristig zusammen in der sich als gemeinsam

erweisenden Arbeit an jüdischen Quellen und ihrer Neugewinnung, auch

Übersetzung. Hier gibt es eine Koinzidenz, die es leicht macht, das sich darin

manifestierende entschiedene Auseinandertreten der beiden zu erfassen:

Unabhängig voneinander haben Rosenzweig und Scholem nicht nur nah

verwandte Textsorten, sondern zum Teil auch dieselben Texte übersetzt.35

Angesichts der schieren Fülle in Frage kommender Literatur kann die Fast-

Gleichzeitigkeit ihrer judaistisch-hebraistischen Entwicklung diese eigenartige

Übereinstimmung in der Textwahl nicht erklären. Ihr Übersetzen steht, wie zu

zeigen sein wird, jedoch unter entgegengesetzten Vorzeichen: Verständigung

oder gar Zusammenarbeit waren unmöglich. Als Beispiel dafür mögen ihre

Übersetzungen eines volkstümlichen Liedes zum Sabbatausgang, HaMawdil,

dienen (Texte siehe Anhang II).

Scholem ist in der wörtlichen Wiedergabe genauer, zeigt aber Schwächen in

Reim und Rhythmus, auch überschreitet er die Silbenzahl des Originals.

Rosenzweig geht freier mit der Vorlage um, hält sich aber streng an ihre

Silbenzahl; statt „Nacht“ setzt er „Nächten“, das stets einem Singular

kontrastiert und zudem dem hebräischen Hang zu ausschwingender

34 Brief Nr. 887, an Buber, S. 926 f. (Der Brief wird von den Hrsg. auf „Ende 1923“ datiert, da aber von Fritz (Shlomo Dov) Goitein und Scholem als in Frankfurt anwesend die Rede ist, die beide gemeinsam im September 1923 Alijah machten, muß der Brief früheren Datums sein.)

35 Abgesehen von den frühen Versuchen Scholems mit biblischen Büchern, ist zu nennen das „HaMawdil“: „Lied zum Sabbatausgang“, Der Jude 7, 1923, S. 453, verbunden mit „Jehuda Halevi: Keroba zu Sabbath Chason“, ebenda S. 452 f. Bei Rosenzweig findet sich eine vergleichbare, aber von der liturgischen Tradition vorgegebene Zusammenstellung in der Festschrift Nobel, „Gabe Herrn Rabbiner Dr. Nobel zum 50. Geburtstag dargebracht ...“, Frankfurt 5682/November 1921, S. 102 „Ein Sabbatlied von Jehuda Halevi“, S. 105 das „HaMawdil“ (im Separatdruck S. 6 und S. 9). Rosenzweig übersetzte zwischen 1921 und 1927 wohl an einhundert Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi. Zu Brief Nr. 653, S. 698, sagt eine editorische Notiz, G. Scholem habe, wie Rosenzweig, auch das Tischgebet übersetzt. Weder die Bibliographie Scholems noch Rosenzweigs Brief Nr. 653 vom 10. 3. 21, S. 698 ff. geben aber einen Hinweis darauf.

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Vollständigkeit entgegenkommt. So wirkt seine Übersetzung trotz (oder

wegen?) ihres Einsatzes der Mittel der historischen deutschen Sprache dem

Hebräischen näher als die Scholems, dessen Text, subjektiv gesagt, christlich-

satzhafter Gebetssprache verwandter erscheint, zumindest nicht sangbar ist,

wohl auch nicht sein soll. Scholems Kritik an Rosenzweigs HaMawdil ist nur

aus Rosenzweigs Antwort darauf zu erfahren. Scholem sagt ihr nach, etwas

„hinüberzunehmen“. Darauf antwortet Rosenzweig, daß nichts

hinüberzunehmen sei: „Wohin denn? Aber hier ist es da. Und wie es hier ist,

nicht anders wollte und konnte ich es übersetzen.“36

Die Erhabenheit des Gedichts im Original ist für Rosenzweig aus Scholems

Übersetzung zu erfahren; das wirklich gesungene aber, das „meinetwegen“ von

Scholem „entartet“ genannte Lied hat er übersetzt.37 Dort das „ursprüngliche

Gedicht“, hier nur „das zersungene Liedchen“.38 Scholem übersetzt aus

philologischer Intention, will informieren, das Religionslehrerdeutsch der

vorfindlichen Übersetzungen auf seinen Platz verweisen, doch dabei nichts

„hinübernehmen“, um es an dessen Stelle zu setzen, sondern die hebräische

„Erhabenheit“ statuarisch enthüllen. Rosenzweigs Indikation ist keine

philologische oder literarische. Sie will den erhofften Sänger des Lieds in seiner

sprachlichen Mangelsituation (fehlende Hebräischkenntnisse) abholen, will ihm

das gesungene Lied deutsch geradeso vertraut machen, wie übersetztes Erbe

nur immer sangbar und vertraut gemacht werden kann. Wenn Scholems

Übersetzung unverkennbar repräsentierende ist, so sucht sich diejenige

Rosenzweigs als Übersetzung in Vergessenheit zu bringen. Dies mag nicht die

Intention des Übersetzers sein, doch wird hier durchaus auch die Gefahr eines

„Hinübernehmens“ sichtbar.

Anstoß für Rosenzweigs erste Übersetzungen (Tischdank, Häusliche Feier) ist

das praktische Bedürfnis, alle diejenigen, die noch ohne Hebräisch leben – oder

trotz Kenntnis der Sprache „den Blick für das Original“ verloren haben –, „wenn

ich sie als Gäste bei uns habe, irgendwie teilnehmen zu lassen.“

„Habe ich nun einen Gast, einen jüdischen der auch nur lesen kann - und wenn

er keinen Satz und sozusagen kein Wort versteht –, so verheimliche ich dem die

Existenz der Übersetzung. Das unverstandenste hebräische Wort gibt ihm mehr

36 Brief Nr. 698, 6. 1. 22, S. 741.37 Ebenda: „ich halte Ihre Übersetzung, bei vielleicht noch weiter zu treibender Genauigkeit, für

die Übersetzung.“ Und am 8. 8. 23 an Buber, Brief Nr. 874, S. 917: ...Übrigens getraue ich mir, das hamawdil heut auch so zu übersetzen und rhythmus- und reimgetreuer als S., aber schöner auch nicht. Die damalige Übersetzung würde ich heute viel wörtlicher fordern, aber den stillen, unerhabenen Charakter würde sie, in diesem Zusammenhang, behalten müssen.“

38 Brief Nr. 915, an Bruno Strauß. 31. 3. 24, S. 952. Bertha Badt-Strauß hatte als Reaktion auf Scholems Übersetzung ihrerseits eine eigene veröffentlicht: Der Jude 8, 1924. S. 112-115.

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als die schönste Übersetzung ... Jüdisch beten heißt: hebräisch beten ... Das ist

unsre Notlage. Aber nun freilich wir sind drin ...“39 Dies sind Gründe, die nach

Rosenzweigs Meinung Scholem nicht anerkennen kann, da für ihn es Dogma

sei, „daß das Judentum scheintot ist und erst ,drüben' wieder lebendig werden

wird. Ich ehre diese Gesinnung bei Ihnen ... der Sie sich selbst zum Opfer

bringen ... Ich ehre Ihr Opfer. Es ist vielleicht für uns alle geschehn. Aber es

wäre das wirkliche Ende, wenn Sie Nachfolger fänden. Dann würden Sie recht

behalten für den negativen Teil ihres Dogmas und der positive bliebe auch

unerfüllt.“40 Scholems Ablehnung des Rosenzweigschen Übersetzens geht

soweit, daß er es einmal geradezu als „antizionistisch“ verurteilt. Diese

Verdammung von Rosenzweigs irritierend sprachmächtiger „nur wörtlicher“

(Rosenzweig) Übersetzung von Hymnen und Gedichten des Jehuda Halevi (ca.

1070-1140)41 ist nur in einem Zitat Walter Benjamins in einem seiner Briefe an

Scholem erhalten: „Von Deinem letzten Brief stelle ich Dir hiermit folgenden

Satz bestens zurück: 'Ferner gedenke ich im ,Juden' eine Notiz über

Übertragung hebräischer Gedichte (polemisch) erscheinen zu lassen, die die

antizionistische Perspektive des Meuchelmords an der hebräischen Dichtung

unter geschichtsphilosophischen Ideologien (mit Bezug auf Rosenzweig u. a.)

aufdecken soll.' Diesen Satz erbitte ich freundlichst in etwas größerem Format

zurück.“42

Walter Benjamin hatte einige Jahre zuvor schon die ersten Übersetzungen des

Freundes Gerhard Scholem beurteilt; aus seiner Unkenntnis des Hebräischen

vielleicht in mancher Hinsicht kritischer und distanzierter als Rosenzweig.

Wiewohl es sich um biblische Texte (Hohes Lied, Klagelieder) handelte, sei die

Meinung Benjamins über diese Versuche angeführt: „Ihre Liebe zur hebräischen

Sprache kann sich im Medium der deutschen nur als Ehrfurcht vor dem Wesen

der Sprache und dem Worte überhaupt darstellen ... Das heißt aber: Ihre Arbeit

bleibt eine apologetische, weil sie die Liebe und die Verehrung eines

Gegenstandes nicht in seiner Sphäre ausdrückt. Es wäre nun prinzipiell nicht

unmöglich, daß zwei Sprachen in eine Sphäre eingehen: im Gegenteil das

konstituiert alle große Übersetzung ... Im Geiste Pindars erschloß sich Hölderlin

die gleiche Sphäre der deutschen und der griechischen Sprache: seine Liebe zu

beiden wurde eine ... Ihnen jedoch ist die deutsche Sprache nicht gleich nahe

39 Brief Nr. 719, 27. 3. 22, S. 765; Brief Nr. 653, 10. 3. 21, S. 699.40 Brief Nr. 698, 6. 1.22, S. 741.41 Nach Einzelveröffentlichungen erste Ausgabe: Sechzig Hymnen und Gedichte des Jehuda

Halevi, O. Wöhrle: Konstanz 1924; erweitert: Zweiundneunzig Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi, L. Schneider: Berlin 1927; ferner eine Auswahl daraus mit den hebräischen Originalen: Jehuda Halevi. Zionslieder, Schocken: Berlin 1933 (Schocken-Bücherei 2).

42 Benjamin, Briefe, Bd. 1, 10. 5. 24, S. 345.

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wie die hebräische und darum sind Sie nicht der berufene Übersetzer des Hohen

Lieds, während Sie es eben dem Geiste der Ehrfurcht und der Kritik verdanken,

daß Sie kein Unberufener geworden sind.“43 Und 1918 heißt es bei Benjamin:

„Auch diese Übersetzungen ... haben was ihre Relation zum Deutschen angeht

letzten Endes den Charakter von Studien. Es handelt sich bei Ihren

Übersetzungen offenbar nicht darum, einen Text für das Deutsche gleichsam zu

retten, sondern eher darum ihn regelrecht auf das Deutsche zu beziehen. Sie

empfangen in dieser Hinsicht von der deutschen Sprache keine Eingebung.“44

Jene Jahre waren für Gerhard Scholem eine Zeit, in der er sich als zwischen

seinen beiden Sprachen stehend empfand. In einer erst kürzlich hebräisch

publizierten Tagebuchnotiz (Bern 1919) heißt es: „... so gaben wir die Sprache

unserer Kindheit auf und begannen die Sprache unserer Jugend zu erlernen, die

Sprache unendlichen Widerhalls. Und wir erkannten: es gibt keinen Weg außer

der hebräischen Sprache. Der Fluß der Rede versiegte, als das Stammeln der

alten Worte begann, ein Stammeln voll Ehrfurcht vor Worten, mit deren Kraft

wir uns erneuern ...“45 Ähnlich, wenngleich nüchterner, scheint Scholem in

seinem ersten Brief formuliert zu haben, in welchem er es ablehnt, Rosenzweigs

hausliturgische Übersetzungen einer Kritik en detail zu würdigen. Am 6. 1. 1922

schrieb Rosenzweig an Scholem: „(Was Sie zu Ende Ihres Briefs schreiben: daß

Sie kein Deutsch mehr und noch kein Hebräisch können, das ist schon im

Frühjahr meine Formel für Sie gewesen.)“46, und 1921 hatte Rosenzweig in

anderem Zusammenhang so über Scholem geurteilt: „... und kümmert sich im

Grunde ... nicht um die Menschen. Infolgedessen ist er sprachlos geworden. Er

hat nur die Gebärde der Bewunderung oder der Ablehnung, wirklich nur die

Gebärde ...“47

Dies ist ein verletzendes Urteil, umso mehr, als Scholem in seinem Beitrag für

die Rosenzweig zum 40. Geburtstag zugedachte Mappe ein Bekenntnis über

unsere Sprache, das Hebräische im Land Israel, ablegen sollte: „Ohne zu

wissen, was er fünf Jahre zuvor über mich geschrieben hatte, als Mensch ohne

Sprache, schrieb ich Bekenntnis über unsere Sprache.“48 Dieser bisher

unveröffentlichte Text formuliert die Erwartung einer durch und in der Sprache

hereinbrechenden Apokalypse, ist ein Bekenntnis, wie es der gleichzeitigen

Rosen-zweigschen Sicht von der dem Hebräischen innewohnenden Kraft nicht

krasser entgegengesetzt sein könnte.

43 Ebenda 17. 7. 17, S. 141 f.44 Ebenda 30. 3. 18, S. 179-185. hier S. 182.45 Moznajim (Tel Aviv) 57, 5-6, Okt.-Nov. 1983, S. 10-11 (aus dem Hebräischen rückübersetzt).46 Brief Nr. 698, S. 741.47 Brief Nr. 659, an R. Hallo, 12. 5. 21, S. 704.48 Scholem 1982, S. 165.

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Rosenzweig schrieb 1925 einen Aufsatz: Neuhebräisch? Anläßlich der

Übersetzung von Spinozas Ethik. Trotz der darin gegen die ideologischen

Voraussetzungen des Übersetzers J. Klatzkin gerichteten Spitze darf dieser

Essay hier mit Scholems Text zusammengebracht werden. Bei Rosenzweig heißt

es: „... Die Wahrheit, daß das Hebräische die heilige Sprache des heiligen Volkes

ist, und die Unwahrheit, daß es die gesprochene Sprache eines Volks wie alle

Völker sei, scheinen unversöhnlich. Aber die jüdische Wirklichkeit läßt die

beiden, jene Wahrheit und diese Unwahrheit, aufeinander angewiesen sein.

Jene Wahrheit will nicht von einem Munde ausgesprochen werden, der sie nur

ausspricht, um sich vor jeglichem Tun, sowohl dem Tun der Wahrheit wie dem

Tun der Unwahrheit, zu drücken. Und diese Unwahrheit kann im Munde eines,

der sie tut, wirklich tut, unversehens zu jener Wahrheit werden ... Hier wird ein

Heiliges, das allem Profanen den Rücken kehren möchte, profanisiert, und die

Profanität des ersten Tags eilt dem siebten zu, der sie heiligen wird. Die

Heiligkeit des Hebräischen hat nie Heiligkeit in jenem genauen, aber eben im

Jüdischen überwundenen Sinne der Abgeschlossenheit bedeutet. Stets ... sind

ihr, der heiligen, der Sprache Gottes, aus der gesprochenen, den gesprochenen

Sprachen des Menschen Kräfte der Erneuerung zugeströmt ... Das Hebräische

war trotz seiner Heiligkeit nie bildnishaft erstarrt, sondern ist immer lebendig

geblieben ... Der Unterschied dieser Lebendigkeit von der einer

profanlebendigen Sprache ist nur, daß hier nichts, was einmal aufgenommen

wurde, verloren gehen kann; ... Was sie sich einmal wirklich einverleibt hat,

scheidet sie nie wieder aus. Sie wächst nicht wie ein Organismus, sondern wie

ein Hort – ... Man kann einen Roman von Thomas Mann lesen, ohne deshalb

auch den originalen Simplicius Simplicissimus oder gar das Nibelungenlied, ...

nachher in irgendeiner ihrer eigentümlichen Wendungen besser zu verstehen;

man kann aber, ich will gar nicht einmal sagen: Klatzkins Spinoza, sondern nur

ein hebräisches Zeitungsblatt, nicht lesen, ohne davon etwas für das sprachliche

Verständnis Ibn Esrascher Kommentare, talmudischer Diskussion, biblischen

Urlauts zu profitieren.“

Schließlich nennt Rosenzweig ein Beispiel, das die „verjüdischende“ Kraft49 des

Hebräischen belegen soll: „Vor mir liegt ein zionistisches Bilderbuch mit

Landschaften aus Palästina und zweisprachigem Text. Das Vorwort

ursprünglich deutsch geschrieben, schildert die palästinensische Landschaft

und macht dabei ... folgende himmlisch begehrockte Respektvisite: ,Ist es ein

Zufall, daß in dieser Landschaft der Prophetismus erstand? Daß der Mensch

49 Vgl. Brief Nr. 992, an Buber, 25. 1. 25, S. 1021: „Ich war neulich paff, daß Sie noch den alten Zionistenglauben an die verjüdischende Kraft des Hebräischen haben. Ist das nur ein Rudiment oder haben Sie es neuerlich mal wieder durchgedacht?“

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hier wie am Sinai die ausschließende Einheit Gottes erkannte und das eine, was

dem Menschen nottut, sittlich, das heißt gerecht zu sein?'

Aus diesem ... Satz hat der hebräische Übersetzer folgendes gemacht: ,Ist es ein

Zufall, daß dieses Hochland zur Lagerstatt der Prophetie wurde? daß hier wie

am Sinai sich dem Menschen offenbarte der Eine Gott und ihm 'gesagt ward,

was gut ist, und was Er von ihm fordert: Recht tun und Güte lieben?' Aus

gebildetem Gewäsch ist in der Übersetzung, die nicht ihrem allfälligen Können,

sondern dem gesetzmäßigen Müssen der Sprache folgte, das einfache Wort der

Wahrheit geworden.“50

Unzweifelhaft ist Scholem ähnlich überzeugt davon, daß es notwendig sei, das

Hebräische so zu sprechen, wie es einmal ist, und daß die Sprache sich so

entwickeln werde, wie sie es mit der ihr eigenen Notwendigkeit muß, daß also

dem Hebräischen eine besondere Kraft eigne. Doch die Wirkung dieser Kraft

beurteilt er völlig anders als der ihr ruhig vertrauende Rosenzweig: „Dies Land

ist ein Vulkan: Es beherbergt die Sprache. Man spricht hier von vielen Dingen,

an denen wir scheitern können ... Was ist es mit der 'Aktualisierung' des

Hebräischen? Muß nicht dieser Abgrund einer heiligen Sprache, die in unsere

Kinder gesenkt wird, wieder aufbrechen? ... Man glaubt die Sprache verweltlicht

zu haben. Aber das ist ja nicht wahr ... Es ist schlechthin unmöglich, die zum

Bersten gefüllten Worte zu entleeren, es sei denn um den Preis der Sprache

selbst ... Überliefern wir aber unseren Kindern die Sprache, ... machen wir ... die

Sprache der alten Bücher lebendig in ihnen, so daß sie sich an ihnen neu

offenbaren kann – muß dann nicht die religiöse Gewalt dieser Sprache eines

Tages ausbrechen? ... Sprache ist Namen. Im Namen ist die Macht der Sprache

beschlossen, ist ihr Abgrund versigelt. Es steht nicht mehr in unsrer Hand, die

alten Namen tagtäglich zu beschwören, ohne ihre Potenzen wachzurufen ... Gott

wird in einer Sprache, in der er tausendfach in unser Leben zurückbeschworen

wird, nicht stumm bleiben. Diese unausbleibliche Revolution der Sprache aber,

in der die Stimme vernommen wird, ist der einzige Gegenstand, von dem in

diesem Lande nicht gesprochen wird, denn die, die die hebräische Sprache zum

Leben wieder aufriefen, glaubten nicht an das Gericht, das sie damit über uns

beschworen.“51 Das Rosenzweigsche „Aber hier ist es da“ gilt nicht länger mehr.

50 Kleinere Schriften. Berlin 1937, S. 220-227. hier S. 222, 223 f.. 227.51 „Bekenntnis über unsere Sprache", Ms., LBI New York. Franz Rosenzweig Papers AR 3002/B

II 35. Siehe den Text im Anhang I (Ich danke Frau Fanja Scholem, Herrn Raphael Rosenzweig und dem LBI New York für die Erlaubnis, das Ms. zu veröffentlichen). Er gibt auch eine Antwort Scholems auf die Bitte W. Benjamins, Briefe. Bd. I. S. 379-384. hier 382 f.: „...Nicht ganz bis ins einzelne durchsichtig ist mir Deine Bemerkung über die 'scheintot' tradierte Sprache, die im Munde der neuen Generation als lebendiges und verwandeltes Hebräisch sich gegen die Sprechenden zu kehren droht. Vielleicht ist es Dir möglich, ein weiteres Wort dazu zu sagen.“

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Andere Abgründe als die der Sprache sind seither aufgerissen. Es gibt heute

weder „Deutschjudentum“ noch deutsche Judenheit. Waren darum

Rosenzweigs Bemühungen um Reformierung oder Revolutionierung, um den

„Tikkun“ an den Wurzeln (Scholem 1977/82) von innen her, umsonst, hinfällig,

nur wenige Jahre nach seinem Tod? Hätte so Scholems Gewißheit, allein in

Palästina/Israel werde die Erneuerung des Judentums möglich sein, sich – auf

nicht zu antizipierende Weise – bestätigt, und wäre damit Rosenzweigs Arbeit

zu einer ephemeren Episode reduziert? Wollte man sich der Antwort bei

Scholem vergewissern, fände man sie bei ihm nicht. Und wer sich auf Scholems

letztes öffentliches Wort über Rosenzweig berufen wollte: „... lebendiges

Denkmal einer Biografie ganz wie ein Symbol, in dem die Größe und die

Katastrophe (churban) des Judentums Deutschlands eingefaltet sind“, hat doch

im Kontext auch dieses zu lesen: „... ich erwartete die Erneuerung des

Judentums einzig mit seinem Wiedererstehen im Lande Israel (und meine Leser

werden mich zurecht fragen, ob ich an dieser Erwartung auch heute festhalte,

nach sechzig Jahren, und ich weiß darauf keine Antwort angesichts all des

Geschehenen, nur Hoffnung habe ich, doch sagte schon der Weise: ,Hingezogne

Erwartung macht das Herz krank ...')“52 Noch 1973/74 kritisierte Scholem

Rosenzweig unter zwei Aspekten scharf. Zum einen hinsichtlich der „deutsch-

jüdischen Synthese“ bzw. „Harmonie“, zum anderen wegen der „protestantisch-

pietistischen Kirchlichkeit“ seines Judentums: „Ich denke, daß es eine Krise der

Geburt oder eine Krise des Untergangs geben wird, das hängt von der Zukunft

ab. Die Richtung Rosenzweigs aber – die einer Festigung der Tradition in einer

Form, die ich kirchlich nenne, – ist weit von dem, was sich im Land als Zentrum

der Erneuerung des Judentums herausbildet.“53

Es besagt nicht viel, wenn man heute darüber sehr anderer Meinung sein kann.

Scholems Wendung an seine Leser in der letzten Fassung der Erinnerungen an

jenen Zusammenstoß 60 Jahre früher gibt Resignation preis, nicht aber jene

Genugtuung, die doch vor dem Hintergrund der abgetanen Hoffnung

Rosenzweigs möglich und zu erwarten gewesen wäre.

Rosenzweigs Stern der Erlösung ist ins Hebräische übersetzt, seinem Wunsch

gemäß und durchaus zur Zufriedenheit auch Scholems.54 Scholem hat wieder

52 Beide Zitate Scholem 1982, S. 166 und S. 164 (Der zitierte Weise: Proverbia 13,12: „...aber ein Lebensbaum ists, wenns kommt was man wünschte.“).

53 Scholem 1973/74, S. 29-30. In Scholem 1977 und 1982 fehlt der Vorwurf eines protestantisch-pietistischen etc. Judentums, der bei Scholem übrigens auch anderen gilt, so etwa Hans-Joachim Schoeps und Eduard Strauß.

54 Buber hatte 1930 Scholem als Übersetzer des „Stern der Erlösung“ ins Hebräische vorgeschlagen. Scholem vom 10. 4. 30, in Bubers Briefwechsel, hält eine wirkliche Übersetzung für ausgeschlossen — „glückliche aber gefahrvolle Ehe mit dem deutschen Sprachgeist“, „dämonische(r) Glanz dieser Sprachverbindung“. Vgl. damit Rosenzweigs Brief

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und wieder deutsch geschrieben, hat kaum weniger Bücher deutsch als

hebräisch veröffentlicht, hat Deutschland besucht, hier gearbeitet. Rosenzweig

bot und bietet etwas wie ein Lebensmodell für die westliche Diaspora. Scholems

unerschütterlichsolidarischer Zionismus hat Schocks erleiden müssen - „Abstieg

um des Aufstiegs willen?“, wie er noch 1973/74 hoffte.

Mag die persönliche Beziehung zwischen Scholem und Rosenzweig als

gescheitert bezeichnet werden, ihr Gegenüber und Gegeneinander bleibt von

exemplarischem Rang für die Situation bewußt jüdischer Juden in der

Weimarer Republik und für die wenigen Alternativen, die ihnen offenstanden –

Franz Rosenzweigs Neubeginn im „Etwas“ oder der Idealismus des Alles oder

Nichts, das „Deutschjudentum“ oder der Zionismus Gershom Scholems. Gewalt

beendet keine Geschichte, darum ist ihrer beider Konflikt nicht erledigt und

nicht gelöst. Wo und wann immer sich Juden deutscher Sprache – und

vielleicht nicht allein deutscher Sprache – vor das Problem ihrer Quellen und

ihrer Identität gestellt sehen, sind die Bemühungen Rosenzweigs nicht einfach

vergangen und steht der Hoffnung Scholems die Erfüllung noch aus. Jenes

letzte Wort Scholems wird auch auf ihn selbst abgewandelt werden dürfen:

Lebendige Denkmale – sie beide, Rosenzweig und Scholem, wie Symbole, denen

die Größe und der „churban“ des Judentums Deutschlands eingeschrieben sind.

an Scholem Nr. 653, 10. 3. 21, S. 700: „... [im 'Stern'] ist mir grade an den entscheidenden Stellen erlaubt worden, deutsch zu sprechen. Grade um dieser Stellen willen und grade von diesen Stellen aus wird dies Buch einmal ... hebräisch sprechen lernen und lehren.“ Und vgl. Benjamins Kritik vom 17. 7. 17, Briefe, Bd. 1, S. 142.

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Verzeichnis der Abkürzungen

Brief(e): Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk, Gesammelte Schriften I: Briefe und

Tagebücher, hrsg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann unter

Mitwirkung von Bernhard Casper, 2 Bde., den Haag 1979.

LBI: Leo Baeck Institute.

MGWJ: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums.

Scholem 1973/74: 'Im Gershom Scholem. ... Ssichot ... choref 5734, in: Scholem 1975: S.

11-54.

Scholem 1975: Explications and Implications. Writings on Jewish Heritance and Renaissance

(hebräisch: Dewarim bego), Tel Aviv.

Scholem 1977: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen, Frankfurt/Main. Scholem

1982: MiBerlin llrushalajim, Tel Aviv.

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Anhang I

Bekenntnis über unsere Sprache

An Franz Rosenzweig

Dies Land ist ein Vulkan: Es beherbergt die Sprache. Man spricht hier von

vielen Dingen, an denen wir scheitern können, man spricht heute mehr als je

von den Arabern. Aber unheimlicher als das arabische Volk steht eine andere

Drohung vor uns, die das zionistische Unterfangen mit Notwendigkeit

heraufbeschworen hat: Was ist es mit der „Aktualisierung“ des Hebräischen?

Muß nicht dieser Abgrund einer heiligen Sprache, die in unsere Kinder gesenkt

wird, wieder aufbrechen? Freilich, man weiß nicht, was man tut. Man glaubt die

Sprache verweltlicht zu haben. Aber das ist ja nicht wahr, die Verweltlichung

der Sprache ist ja nur eine façon de parler, eine Phrase. Es ist schlechthin

unmöglich, die zum Bersten erfüllten Worte zu entleeren, es sei denn um den

Preis der Sprache selbst. Das gespenstische Volapük, das wir hier auf der Gasse

sprechen, bezeichnet genau jene ausdrucklose Sprachwelt, in der die

„Säkularisierung“ der Sprache möglich, allein möglich werden konnte.

Überliefern wir aber unseren Kindern die Sprache, die uns überliefert worden

ist, machen wir, das Geschlecht des Übergangs, die Sprache der alten Bücher

lebendig in ihnen, so daß sie sich an ihnen neu offenbaren kann – muß denn

dann nicht die religiöse Gewalt dieser Sprache eines Tages ausbrechen? Und

welches Geschlecht wird dieser Ausbruch finden? Wir leben ja in dieser Sprache

über einem Abgrund, fast alle mit der Sicherheit des Blinden, aber werden wir

nicht, wir oder die nach uns kommen, hineinstürzen, wenn wir sehen werden.

Und niemand weiß, ob das Opfer Einzelner, die in diesem Abgrund zugrunde

gehen werden, genügen wird, um ihn zu schließen. Die Schöpfer der neuen

Sprachbewegung glaubten blind, bis zur Verbohrtheit, an die Wunderkraft der

Sprache, und das war ihr Glück. Kein Sehender hätte den dämonischen Mut

aufgebracht, eine Sprache da zu beleben, wo nur ein Esperanto entstehen

konnte. Jene gingen, und gehen noch heute, gebannt über den Abgrund, er

schwieg, und sie haben ihn, die alten Namen und Sigel, weitergegeben an die

Jugend. Nun graust es uns manchmal, wenn aus einer gedankenlosen Rede des

Sprechers ein Wort der Religion uns erschrickt. Unheilsschwer ist dies

Hebräisch: in seinem jetzigen Zustand kann und wird es nicht bleiben, unsere

Kinder haben keine andere Sprache mehr und es [ist] nur wahr zu sagen, daß sie

und allein sie die Begegnung werden bezahlen müssen, die wir ihnen, ohne zu

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fragen, ohne uns selbst zu fragen, verschafft haben werden. Wenn die Sprache

sich gegen ihre Sprecher wenden wird – auf Minuten tut sie es schon in

unserem Leben, und das sind schwer vergeßliche Minuten, in denen sich die

Vermessenheit unseres Unterfangens uns offenbart – werden wir dann eine

Jugend haben, die im Aufstand einer heiligen Sprache bestehen können wird?

Sprache ist Namen. Im Namen ist die Macht der Sprache beschlossen, ist ihr

Abgrund versigelt. Es steht nicht mehr in unserer Hand, die alten Namen

tagtäglich zu beschwören, ohne ihre Potenzen wachzurufen. Sie werden

erscheinen, denn wir haben sie ja freilich mit großer Gewalt beschworen. Wir

freilich sprechen in Rudimenten, wir freilich sprechen eine gespenstische

Sprache: in unseren Sätzen gehen die Namen um, in Schriften und Zeitungen

spielt der oder jener mit ihnen, und lügt sich oder Gott vor, es habe nichts zu

bedeuten und oft springt aus der gespenstischen Schande unserer Sprache die

Kraft des Heiligen hervor. Denn die Namen haben ihr Leben und hätten sie es

nicht, wehe unseren Kindern, die hoffnungslos der Leere ausgeliefert werden.

Jedes Wort, das nicht eben neu geschaffen wird, sondern aus dem „guten alten“

Schatz entnommen wird, ist zum Bersten voll. Ein Geschlecht, das die

fruchtbarste unserer heutigen Traditionen: unsere Sprache, übernimmt, kann

nicht und mag es auch tausendfach wollen, ohne Tradition leben. Jener

Moment, wo sich die in der Sprache gelagerte Macht entfalten wird, wo das

„Gesprochene“ der Inhalt der Sprache, wieder Gestalt annehmen wird, wird jene

heilige Tradition wieder als entscheidendes Zeichen vor unser Volk stellen, vor

dem es nur die Wahl haben wird: sich zu beugen oder unterzugehen. Gott wird

in einer Sprache, in der er tausendfach in unser Leben zurückbeschworen wird,

nicht stumm bleiben. Diese unausbleibliche Revolution der Sprache aber, in der

die Stimme vernommen wird, ist der einzige Gegenstand, von dem in diesem

Lande nicht gesprochen wird, denn die, die die hebräische Sprache zum Leben

wieder aufriefen, glaubten nicht an das Gericht, das sie damit über uns

beschworen. Möge uns dann nicht der Leichtsinn, der uns auf diesem

apokalyptischen Weg geleitet, zum Verderb werden.

Jerusalem, den 7. Teweth 5687

Gerhard Scholem

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Anhang II

(Franz Rosenzweig: HaMawdil)

Ja Du scheidest Welt und Weih.

Unsre Sünden Du verzeih!

Same uns und Silbers sei

Viel wie Stern' in Nächten.

Tag ist schon hinabgegangen.

Gott nach Dir trag ich Verlangen.

Wächter sprich zu meinem Bangen,

Morgen künd aus Nächten.

Bergefest steht deine Treu,

Neige dich zu meiner Reu,

Laß mein Herze werden neu,

Neu wie Tag aus Nächten.

Sieh, es sank dein Brandaltar,

Ruhlos durch die Welt ich fahr,

Kummerschwer und freudebar

Seufz ich in den Nächten.

Höre meines Flehens Laut,

Tu mir auf, eh Morgen graut.

Schau, schon ist mein Haar betaut,

Locke feucht von Nächten.

Auf erschein Herr, hoch und groß,

Sieh mich flehen, mach mich los.

Dämmerdunkels grauer Schoß

Hüllt mich ein in Nächten.

Rufen laß mich nicht vergebens,

Weise mir den Weg des Lebens,

Gönn dem Armen des Erhebens

Wonn in Tag aus Nächten.

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Taue meine Taten rein,

Daß nicht meine Dränger schrein,

Wo der Gott sei, der mir mein

Lied eingab in Nächten.

Ton sind wir in Deinen Händen,

Woll uns drum Vergebung spenden.

Tag soll Tag des Kunde senden,

Kunde Nacht den Nächten.

(Gerhard Scholem: HaMawdil)

Ein Lied zu Sabbatausgang

Der scheidet zwischen Heiligem und Profanem

Er möge unserer Sünden sich erbarmen

Er mehre wie den Sand unser Vermögen ∙ unsern Samen

Und wie die Sterne in der Nacht.

Der Tag hat sich gewandt wie Palmenschatten

Ich rufe zu Gott ∙ der es für mich bedacht

Er spricht ∙ der stehet auf der Wacht

Es kommt Morgen und auch Nacht.

Deine Gerechtigkeit wie der Tabor steht

Ja ∙ über meine Sünden gehe hinweg

Wie über ein Gestern ∙ das vergeht

Und eine Wache in der Nacht.

Entschwunden ist die Zeit meiner Gebete

Ach daß ich Ruhe hätte

In meinem Stöhnen bin ich müde worden

Ich weine jede Nacht.

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Meine Stimme werde nicht verworfen

O laß mir die erhabene Pforte offen

Denn mein Haupt ist voll von Tropfen

Meine Locken vom Tau der Nacht.

Erhabner ∙ Furchtbarer ∙ sei geneigt

Ich flehe ∙ gib Erlösung noch heut

Am Abend ∙ in der Dunkelheit

In der Finsternis der Nacht.

Ich rufe dich ∙ Gott ∙ zu meiner Hilfe an

Den Weg des Lebens mache mir bekannt

Erhebe mich aus dürftigem Stand

Vom Tage bis zur Nacht.

Reinige meiner Taten Schmutz

Daß man nicht spreche ∙ mir zum Trotz

Wo denn der Gott sei ∙ der mich schuf

Der Hymnen schenkt bei Nacht.

Wir sind ja in deiner Hand wie Lehm

Vergib denn leichten und schweren Fehl

So wird von Tag zu Tag eine Kunde gehn

Und von Nacht zu Nacht.

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