mit der kamera forschen

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Mit der Kamera forschen Einblick in eine wenig bekannte ethnografische Methode Wenn über Ergebnisse der Jugendforschung in den Medien berichtet wird, erfährt das Publikum eher über Gewalt und Skandal denn über die Wünsche von Jugendlichen nach kultureller Selbstbildung, nach Partizipation und Veränderung. Und auch die Forschung selbst muss sich der kritischen Nachfrage stellen, ob und wie sie ihren Blick für das oft performative, spontane und assoziative Agieren von Ju- gendlichen öffnet, ohne zu normieren. Im Rahmen eines Euromediterranen Forschungsprojektes zu Partizipation und kulturell-ästheti- schen Praxen Jugendlicher 1 wurden in der deutschen Teilstudie u.a. kamera-ethnografische Sequenzen gedreht. Anhand eines Beispiels möchte ich die Erhebungs- und Auswertungserfahrungen in sechs Arbeitsschritten veranschaulichen, um zu zeigen, wie Forschende die Reflexion ihrer eigenen Perspektivität mit einbeziehen können. Wenn Partizipation sich nicht einfach an- hand vordefinierter Handlungen messen las- sen kann, sondern anhand komplexer jugend- kultureller Praxen in ihrer Bedeutung für die Jugendlichen selbst rekonstruiert werden soll, benötigt man einen ganzen Korb voller Me- thoden: Wir, die Forscherinnen, führten ex- plorierende Gespräche, narrativ-biografische Interviews mit Einzelnen und Gruppen, teil- nehmende und auch kamera-ethnografische Beobachtungen durch. Wir verknüpften Ele- mente der klassischen ethnografischen Feld- forschung und rekonstruktiv hermeneutischer Methoden mit dem von Bina Elisabeth Mohn als „Dichtes Zeigen“ (Mohn 2008) konzipier- ten Ansatz. Eine ethnografische Methode kommt selten alleine „Dichte Beschreibungen“ (Geertz, 1973/2002) bieten ganz be- sondere Möglichkeiten, die Dynamik und Multimedialität im Ausdruck von Jugendlichen in sozialwissenschaftliche Forschung einzubeziehen. Um deren Aktionen in hybriden Symbolisie- rungssystemen – Kleidung, Gesten, Musik, Tanz, Graffiti und Performances vielfältiger Art – als für sie sinnvolle Ausdrucks- weisen zu verstehen, benötigten wir als Forschende ständige Re- flexion und Korrektur im Team und in verschiedenen, am eth- nografischen Erfahrungs- und Erkenntnisprozess orientierten La- bors. Kamera-ethnografische Aufzeichnungen bieten besonders gute Ausgangspunkte für vertiefendes Beschreiben. Die Erfah- rung der „Selbstbefremdung“ kann trainiert werden. Das Mate- rial kann immer wieder neu und im Austausch mit dem Team be- fragt, verschiedene Interpretationsvarianten ausgearbeitet und mit weiteren Beobachtungen verglichen werden. Wie aber ist es mög- lich, als Forschende bei der Aufnahme solcher Filmsequenzen „den eigenen Sinngenerierungsmotor abzukühlen“ (Mohn 2002, 63)? Drehen ohne schon zu wissen „Kamera-Ethnographie ist eine Forschungsmethode, bei der es nicht um nachträgliches Verfilmen zuvor erarbeiteter Inhalte geht, sondern um die Gestaltung der ethno grafischen Verstehenspro- zesse und Beschreibungsversuche durch Kameragebrauch und Vi- deoschnitt.“ (Mohn 2008: 61) Ähnlich wie bei der teilnehmen- den Beobachtung erfordert dies von den Forschenden, selbst in die Szenerie mit einzusteigen. Auch hier muss man hinter der Ka- mera seinen Blick befremden. Es gilt, Blickachsen zu finden, die dem Gesehenen nicht bereits im Vorgang Bedeutung zuschreiben. Und dennoch müssen gleichzeitig Entscheidungen getroffen wer- den: Von wo aus und wohin blickend können sinnvolle Blickspu- ren mit der Kamera angelegt werden? „Die Blickschneise durch den Dschungel des komplexen Geschehens wird bei der Kamera- Ethnographie zum Dreh- und Angelpunkt eines selektiven, Bilder produzierenden Hinschauens.“ (Mohn 2008: 62) Feldbeispiel: Ein Jugendclub im Umland von Berlin Als Orte unserer ethnografischen Studien wählten wir neben städ- tischen Jugendszenen und -einrichtungen Jugendclubs auf dem Land, in denen die Förderung demokratischer Beteiligung im Gemeinwesen und die Bereitstellung weitestgehend selbstbestimmbarer Strukturen für die Jugendlichen besonders stark betont werden. Die Spielräume zur Gestaltung - jenseits gewaltförmiger und menschenverachtender Abstract / Das Wichtigste in Kürze Videografisches Beobachten in der Praxis der Jugendarbeit und in der Jugendforschung braucht Methode. Am konkreten Beispiel wird eine ethnographische Herangehensweise in sechs Schritten vorgestellt. Das Vorgehen wurde aus verschiedenen Elementen der Kameraethnographie und der dokumentarischen Methode entwickelt. Forschung zu Partizipation kann so die Perspektive der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die mit ihren kritischen und kreativen Impulsen Zugang fordern und Teilhabe leben, ins Zentrum stellen. Keywords / Stichworte Videographie, Kamera-Etnographie, Jugendforschung, Jugenkulturen, Jugendkulturarbeit, Partizipation Ulrike Hemberger *19?54 Professorin für Sozia- le Kultur- und Medienar- beit und an der Alice-Sa- lomon-Hochschule Ber- lin, Medienpädagogin und Filmautorin. Lehr- und Forschungsschwer- punkte: Kultur, Ästhe- tik, Medien, transkul- turelle Entwicklung, Kamera-Ethnografie. hemberger@ ash-berlin.eu 35 Sozial Extra 11|12 2013: 35-38 DOI 10.1007/s12054-013-1094-y Praxis aktuell Ethnografie

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Page 1: Mit der Kamera forschen

Mit der Kamera forschenEinblick in eine wenig bekannte ethnografische Methode

Wenn über Ergebnisse der Jugendforschung in den Medien berichtet wird, erfährt das Publikum eher über Gewalt und Skandal denn über die Wünsche von Jugendlichen nach kultureller Selbstbildung, nach Partizipation und Veränderung. Und auch die Forschung selbst muss sich der kritischen Nachfrage stellen, ob und wie sie ihren Blick für das oft performative, spontane und assoziative Agieren von Ju-gendlichen ö�net, ohne zu normieren. Im Rahmen eines Euromediterranen Forschungsprojektes zu Partizipation und kulturell-ästheti-schen Praxen Jugendlicher1 wurden in der deutschen Teilstudie u.a. kamera-ethnogra�sche Sequenzen gedreht. Anhand eines Beispiels möchte ich die Erhebungs- und Auswertungserfahrungen in sechs Arbeitsschritten veranschaulichen, um zu zeigen, wie Forschende die Re�exion ihrer eigenen Perspektivität mit einbeziehen können.

Wenn Partizipation sich nicht einfach an-hand vorde�nierter Handlungen messen las-sen kann, sondern anhand komplexer jugend-kultureller Praxen in ihrer Bedeutung für die Jugendlichen selbst rekonstruiert werden soll, benötigt man einen ganzen Korb voller Me-thoden: Wir, die Forscherinnen, führten ex-plorierende Gespräche, narrativ-biogra�sche Interviews mit Einzelnen und Gruppen, teil-nehmende und auch kamera-ethnogra�sche Beobachtungen durch. Wir verknüpften Ele-mente der klassischen ethnogra�schen Feld-forschung und rekonstruktiv hermeneutischer Methoden mit dem von Bina Elisabeth Mohn als „Dichtes Zeigen“ (Mohn 2008) konzipier-ten Ansatz.

Eine ethnografische Methode kommt selten alleine„Dichte Beschreibungen“ (Geertz, 1973/2002) bieten ganz be-

sondere Möglichkeiten, die Dynamik und Multimedialität im Ausdruck von Jugendlichen in sozialwissenschaftliche Forschung einzubeziehen. Um deren Aktionen in hybriden Symbolisie-rungssystemen – Kleidung, Gesten, Musik, Tanz, Gra�ti und Performances vielfältiger Art – als für sie sinnvolle Ausdrucks-weisen zu verstehen, benötigten wir als Forschende ständige Re-�exion und Korrektur im Team und in verschiedenen, am eth-nogra�schen Erfahrungs- und Erkenntnisprozess orientierten La-bors. Kamera-ethnogra�sche Aufzeichnungen bieten besonders gute Ausgangspunkte für vertiefendes Beschreiben. Die Erfah-rung der „Selbstbefremdung“ kann trainiert werden. Das Mate-

rial kann immer wieder neu und im Austausch mit dem Team be-fragt, verschiedene Interpretationsvarianten ausgearbeitet und mit weiteren Beobachtungen verglichen werden. Wie aber ist es mög-lich, als Forschende bei der Aufnahme solcher Filmsequenzen „den eigenen Sinngenerierungsmotor abzukühlen“ (Mohn 2002, 63)?

Drehen ohne schon zu wissen„Kamera-Ethnographie ist eine Forschungsmethode, bei der es

nicht um nachträgliches Ver�lmen zuvor erarbeiteter Inhalte geht, sondern um die Gestaltung der ethno gra�schen Verstehenspro-zesse und Beschreibungsversuche durch Kameragebrauch und Vi-deoschnitt.“ (Mohn 2008: 61) Ähnlich wie bei der teilnehmen-den Beobachtung erfordert dies von den Forschenden, selbst in die Szenerie mit einzusteigen. Auch hier muss man hinter der Ka-mera seinen Blick befremden. Es gilt, Blickachsen zu �nden, die dem Gesehenen nicht bereits im Vorgang Bedeutung zuschreiben. Und dennoch müssen gleichzeitig Entscheidungen getro�en wer-den: Von wo aus und wohin blickend können sinnvolle Blickspu-ren mit der Kamera angelegt werden? „Die Blickschneise durch den Dschungel des komplexen Geschehens wird bei der Kamera-Ethnographie zum Dreh- und Angelpunkt eines selektiven, Bilder produzierenden Hinschauens.“ (Mohn 2008: 62)

Feldbeispiel: Ein Jugendclub im Umland von BerlinAls Orte unserer ethnogra�schen Studien wählten wir neben städ-

tischen Jugendszenen und -einrichtungen Jugendclubs auf dem Land, in denen die Förderung demokratischer Beteiligung im Gemeinwesen und die Bereitstellung weitestgehend selbstbestimmbarer Strukturen für die Jugendlichen besonders stark betont werden. Die Spielräume zur Gestaltung - jenseits gewaltförmiger und menschenverachtender

Abstract / Das Wichtigste in Kürze Videogra�sches Beobachten in der Praxis der Jugendarbeit und in der Jugendforschung braucht Methode. Am konkreten Beispiel wird eine ethnographische Herangehensweise in sechs Schritten vorgestellt. Das Vorgehen wurde aus verschiedenen Elementen der Kameraethnographie und der dokumentarischen Methode entwickelt. Forschung zu Partizipation kann so die Perspektive der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die mit ihren kritischen und kreativen Impulsen Zugang fordern und Teilhabe leben, ins Zentrum stellen.

Keywords / Stichworte Videographie, Kamera-Etnographie, Jugendforschung, Jugenkulturen, Jugendkulturarbeit, Partizipation

Ulrike Hemberger *19?54

Professorin für Sozia-le Kultur- und Medienar-beit und an der Alice-Sa-lomon-Hochschule Ber-lin, Medienpädagogin und Filmautorin. Lehr- und Forschungsschwer-punkte: Kultur, Ästhe-tik, Medien, transkul-turelle Entwicklung, Kamera-Ethnografie.

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Orientierungen - schienen in diesen Jugendclubs weit o�en. Hier be-obachteten wir im Lauf von zwei Jahren einige der von den Jugend-lichen eigenständig organisierten Veranstaltungen, eine Sitzblockade als Demonstration gegen einen angekündigten Aufmarsch von Neona-zis im Ort, aber auch den ganz gewöhnlichen Cluballtag und zahlrei-che Plena, auf denen die Jugendlichen über das gesamte Clubgesche-hen im Konsensprinzip selbst entscheiden. Gegen Ende dieser Studi-en führten wir Gruppeninterviews durch.

Kamera-ethnografische Beobachtungen bei einer StreetparadeJedes Jahr im Hochsommer präsentieren die Clubmitglieder sich

zusammen mit anderen Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Bevölkerung des Städtchens. In diesem Jahr sind es 38 Grad, der heißeste Tag des Jahres. Die Organisatorinnen sammeln sich um ihre drei, phantasie- und humorvoll mit Transparenten, Bildern und Objekten geschmückten Pritschenwagen am Tre�punkt in der Nähe des Bahnhofs. Die Gruppe, die bei lauter, abwechslungs-reicher Musik auf den Start der Parade wartet, ist recht klein, es sind vielleicht 40 bis 50 Leute. Das aufgenommene Material zeigt insgesamt 80 Minuten der drei Stunden dauernden Aktion. Ich drehte alleine und ohne Stativ meist längere fokussierte Einstel-lungen. Während des Umzuges wechselte ich häu�g die Blickach-sen, so dass die kontinuierlich aufgezeichneten Handlungsverläufe in diesem Teil meiner Beobachtungen wesentlich kürzer aus�elen.

Der erste Arbeitsschritt: „Blickschneisen“ finden, die Kamera ein- und ausschaltenIch hatte mich als mit Kamera ausgerüstete Teilnehmerin an der

Parade mitten aus der tanzenden Gruppe heraus auf die Suche nach „Blickschneisen“ gemacht. Meine Wahl �el schnell auf den Wech-sel zwischen der Sicht auf die agierenden Jugendlichen um mich herum und der Perspektive aus dem Zug heraus auf die Zuschau-er, die vom Straßenrand aus, hinter Gartenzäunen und aus Fens-

tern das Geschehen betrachteten. Allerdings suchte ich auf ande-re Weise, als es in der bspw. fernsehjournalistischen Konvention üblich ist, nach Blickmöglichkeiten, in denen die Kamera etwas verweilen konnte. Nur wenn in der Aufzeichnung den Handlun-gen und Interaktionen die Zeit gelassen wird, die sie benötigen, um „sich abspielen“ zu können, lassen sich diese im Nachhinein auch dicht beschreiben. Mit der Entscheidung, die Position der Teilnehmerin fast wäh-

rend des gesamten Zuges nicht zu verlassen, versuchte ich, das Geschehen aus dem gleichen Blickwinkel wie die Jugendlichen zu sehen und auch die Dynamik, die sich im Zug akustisch und per-formativ entwickelte, in meiner Beobachtungsarbeit aufzugrei-fen. Dennoch waren die Jugendlichen, als wir ihnen diese Se-quenz später vorführten, verblü�t über die O�-Shots, mit denen ich die Gegenblicke des Publikums aufgenommen hatte. Diese, von mir durch die Kamera mit dem Zoom vergrößert und im Ausschnitt fokussiert, hatten die Jugendlichen selbst, zumindest bewusst, während des Umzugs überhaupt nicht wahrgenommen. Auch Leute aus dem Club waren mit Kameras unterwegs, sie aber dokumentierten vor allem den Umzug und wählten hierfür meist Perspektiven von außerhalb auf die Parade. So lässt sich meine Blickposition wohl am ehesten als die einer annähernd Beteilig-ten beschreiben, irgendwo zwischen „fast drin“ und „etwas von außen“ und es ist dem Material anzusehen, dass mich meine For-scherhaltung deutlich von allen anderen Akteuren unterschied. Da eine zeitlich durchgängige Aufzeichnung von Aktion und Re-

aktion mit nur einer Kamera aus der gewählten Perspektive in ei-ner solchen Aufnahmesituation nicht umsetzbar ist, ist für diesen Teil meiner Beobachtungen eine dichte Beschreibung tatsächli-cher Interaktionsverläufe nicht möglich. Interessant ist hier viel-mehr die Beschreibung der Vielfalt an Haltungen und Gesten, mit denen BewohnerInnen des Städtchens auf den Zug reagierten. So lässt sich trotz Unterbrechungen anhand dieser Aufzeich-

nung eine detailreiche und di�erenzierte Beschreibung ganz un-

Auszüge aus dem Beobachtungsprotokoll: Streetparade

… Die OrganisatorInnen sammeln sich um ihre drei phanta-sie- und humorvoll mit Transparenten, Bildern und witzigen Objekten geschmückten Pritschenwagen am Tre�punkt in der Nähe des Bahnhofs. Sprüche sind zu lesen wie „Vielleicht gibt es bessere ZEITEN, aber diese ist die UNSERE“, „Nur Kom-munismus ist schöner – Faulheit, Luxus, Sonnenbrand“, aber auch „Keine Stimme den Nazis“ oder „Feste feiern ohne Nazis“. Die 21jährige Kelly ist au�ällig gestylt in einer Mischung aus

Punk und Girlie. Alles an ihr, bis hin zum gerüschten Sonnen-schirmchen, ist in grellem Grün und Schwarz gehalten. Sie be-grüßt herzlich und mit großer Umarmung Stefanie, ebenfalls 21 Jahre alt. Sie hingegen ist völlig unau�ällig gekleidet. …... Stefanie, die auf einen der Wagen geklettert ist, hält ei-

ne Rede. Darin stellt sie die Straßenparade in einen inhaltli-

chen Zusammenhang zu früheren Aktionen dieses Sommers, bei denen ein breites Bündnis aus Organisationen, Clubs und Personen der gesamten Region erfolgreich gegen mehrere Auf-märsche einer rechtsgerichteten Organisation demonstriert hat-ten. Zum Ende gibt Stefanie wieder, welche Au�agen ihr durch die Polizei für den Umzug mitgeteilt wurden. Dabei wird auch deutlich, dass sie zuvor mit einem anderen Clubmitglied, Hol-le, entschieden hatte, die Route wegen der Hitze zu ändern. In der längsten Sequenz begleitet die Kamera die Jugendli-

chen und jungen Erwachsenen während des Verlaufs der Pa-rade durch verschiedene Ortsteile der Kleinstadt. Sie tanzen, machen Jonglage, singen zur lauten, stilistisch vielfältigen Mu-sik mit, bespritzen sich aus Spielzeugpistolen mit Wasser, tol-len herum und lachen viel. …

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terschiedlicher performativer Akte der Beteiligten, also sowohl der Akteure des Umzugs als auch seiner BetrachterInnen erarbei-ten. Auf der Basis weiterer kamera-ethnogra�scher Materialien 2wären auf diese Weise Skripte und Szenarios herauszuarbeiten, mit deren Hilfe die „Au�ührungen“ der Jugendlichen als Versuche der Herstellung eines spezi�schen sozialen Interaktionsraumes in ihrer Gemeinde genauer „entzi�ert“ werden können.

Zweiter Arbeitsschritt: Die Materialmasse durch-schauenDie Auswertung des gedrehten Materials erfolgte in mehreren Schrit-

ten. Nach dem ersten Sichten wurden spontane Eindrücke gesammelt mit dem Ziel, für die unterschiedlichen Lesarten des Materials in der Forschergruppe zu sensibilisieren. Zunächst suchten wir nach atmo-sphärisch und interaktiv dichten Szenen. Um unsere eigene Aufmerk-samkeitssteuerung mit beschreiben zu können, sahen wir uns danach scheinbar unscheinbare Szenen bewusst nochmals an. Hier �el auf, dass unser erstes Interesse deutlich durch solche Handlungsverläufe, aber auch bildliche und akustische Darstellungen geweckt wurden, die besondere Kontraste aufwiesen, z.B. im Gespräch zwischen Stefanie, der Anmelderin der Streetparade, und dem Einsatzleiter der Polizei.

Dritter Arbeitsschritt: Sorgfältiges Sehen und Hören, Zerlegen, Wiederholen und AufschreibenHier einige Auszüge aus der dichten Beschreibung der Sequenz:…

Fünf Polizisten tragen dunkle Kurzarm-T-Shirts, schwarze Westen mit der groß auf dem Rücken aufgebrachten Aufschrift „POLIZEI“ und olivgrüne Hosen. Sie füllen als durch Aussehen und Positionie-rung erkennbar zusammengehörige Gruppe den größeren und zen-

tralen Teil des Bildes aus. Mit ihren leicht ausgestellten Beinen und indem alle ihre Hände auf Höhe der Gürtellinie halten, scheinen sie gemeinsam „Raum zu greifen“. Die Oberkörper sind aufgerichtet. Im rechten Bilddrittel steht Stefanie in weißem Trägershirt. Stefa-nie steht mit deutlichem Abstand, die Hände in den Hosentaschen, etwas in sich zusammengesunken, den Kopf nach unten auf den Bo-den gerichtet, seitlich neben dem Polizisten, so dass dieser seinen Kopf nach rechts drehen muss (siehe Kasten) ... .

Vierter Schritt: Eine der möglichen InterpretationenStefanie wirkt in ihrer gesamten Ausstrahlung, Körperhaltung,

Gestik und Mimik sehr auf Distanz bedacht. Sie ist die Zuhören-de, welche die Belehrungen durch den Polizisten über sich erge-hen lässt. Sie scheint das Ritual zu kennen und passt sich den Spiel-regeln an. Ihre seitliche Position verhindert, dass sie in direkten

Transkription und Beschreibung der Szene: Stefanie im Gespräch mit der Polizei

… Der Polizist erklärt Stefanie, der Anmelderin und damit Verantwortlichen für den Umzug, ihre Aufgaben. Er spricht dabei schnell mit lauter Stimme, in kurzen Sätzen. Er macht keine Pausen zwischen den Gedankengängen und begleitet in jedem Augenblick seine Aussagen mit schnellen, abgesetzten Handbewegungen. Er unterstreicht seine Verneinung mit dem Zeige�nger und zeigt damit in Richtung Versammlung hinter der Kamera und auf Stefanie.P: „Wir halten uns zurück, wenn ich sage, da sind Glas�aschen

oder dies und jenes, dann würde ich meinen Verbindungsleu-ten sagen: Ein�uss nehmen! Und Sie nehmen dann Ein�uss bit-te, dass dann alles in Ruhe abläuft. Denn nicht nur der Einzel-ne kriegt was, wenn mit der Versammlung irgendwas ist, son-dern Sie auch.“ Während er begleitet von dynamischen Bewegungen spricht,

blickt er Stefanie direkt und unverwandt an. Stefanie schaut auf den Boden, tritt von einem Bein auf das andere. Sie sagt mehr-fach „Ja“ und nickt häu�g. Darauf reagiert der Polizist nicht er-kennbar. Als er eine kurze Atempause macht, beginnt Stepha-nie zu sprechen.

S.: „Ja, … genau, … wenn da ein Verstoß ist, bin ich An-sprechpartner. Und wir haben dafür Ordner, wenn irgendwas ist, dann sprechen wir unsere Ordner an.“Schnell übernimmt der Polizist wieder die Gesprächsführung,

wobei er weiter gestikuliert und den Blick einige male kurz von Stefanie weg ins Weite gleiten lässt.P.: „Genau so ist es Und da wollen wir uns auch raushalten.

Wir sehn zu, dass - wie gesagt - die Versammlung friedlich auch durchkommt.“Stefanie antwortet bestätigend - leise, Wortlaut unverständ-

lich.P.: „Und wir sehen zu auf der Strecke, dass da keiner… Und

wenn – wie gesagt – einer mal stören sollte, … nicht… verbal kann man ja was machen, nur nicht aktiv werden! Das machen wir. O.K.? Na dann, viel Spaß!“ Stefanie nickt und antwortet bestätigendS.: „Kein Problem!“ Sie lächelt.Währenddessen zieht der Polizist die rechte Augenbraue kurz

hoch und lächelt. Dann wendet er seinen Blick auf einen Punkt außerhalb des Bildausschnittes und anschließend zur Kamera.

Ulrike Hemberger: Streetparade

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Blickkontakt mit ihrem Gesprächspartner gehen muss. Gleich-zeitig zeigt ihre Körpersprache, dass sie sich dabei nicht auf glei-cher Augenhöhe fühlt. Dies durchbricht sie, wenn sie ihre Funk-tion klar benennt und deutlich betont, dass sie selbstverständlich ihre Verantwortung übernehmen und die gesamte Gruppe des Jugendclubs dies selbst gemeinsam regeln würde. Damit behaup-tet sie sich und ihre Gruppe als eigenständig und handlungsfähig.

Fünfter Schritt: Analyse des Materials im KontextAuch einige der weniger au�älligen Szenen beschrieben und in-

terpretierten wir auf diese Weise, z.B. die, in der Stefanie mit ei-nem anderen Clubmitglied wegen der Hitze die Änderung der Route des Umzugs beschließt... Aus der Interpretation dieser Sze-ne und auf dem Hintergrund weiterer Beobachtungen fällt auf, wie aufeinander eingespielt die jungen Erwachsenen sind und in welcher Geschwindigkeit mit nonverbalen Mitteln Konsens herge-stellt werden kann. Zur Erklärung lassen sich verschiedene bereits zuvor beobachtete Aspekte der Gruppenpraxis heranziehen: Die Clubmitglieder sind es in ihrem Alltag gewohnt, ständig alle mög-lichen Entscheidungen gemeinsam auszuhandeln und kennen sich daher in ihren jeweiligen individuellen Denk- und Argumentati-onsweisen sehr gut. Das gibt ihnen Sicherheit und Selbstvertrauen. Die jungen Erwachsenen führen häu�g selbstverantwortlich auch

größere Veranstaltungen - Schülerpartys, Musikveranstaltungen, politische Aktionen u.a. - durch, in denen sie mit unvorhergesehe-nen Ereignissen, mit Störungen und zeitweise auch mit problema-tischen, manchmal gewaltförmigen Verhaltensweisen konfrontiert sind. Deshalb organisieren sie regelmäßig Trainings zur Durch-führung von Ordnerdiensten und zu Deeskalationsstrategien.Dies führte uns schließlich, nach einer Vielzahl solcher Arbeitsschrit-

te entlang einer gesättigten Menge an Beobachtetem, Videogra�er-tem, Erfragtem und Erzähltem zu Schlussfolgerungen in Bezug auf unsere Forschungsfrage, den Wünschen und Aktivitätspotenzialen zur sozialen, kulturellen und politischen Partizipation der Jugendli-chen und jungen Erwachsenen des von uns untersuchten Clubs.

Sechster Arbeitsschritt: Antworten - Samenkapseln für neue FragenAuch kritische Situationen handhaben zu können, verleiht den

jungen Erwachsenen Sicherheit. Es bedeutet auf der einen Sei-te ganz real, sich verteidigen zu können, andererseits wirkt diese Praxis aber auch symbolisch in Selbstwirksamkeits- und Anerken-nungserfahrungen. Der Fluss, der entsteht, wenn man als einge-spieltes Team Hand in Hand arbeitet, führt zu Befriedigung und stärkt das Wir-Gefühl der Gruppe.Wir könnten daraus rückschließen, dass die Au�ührungen der

künstlerisch-ästhetischen Vorlieben und Praxen der Jugendlichen einhergehen mit einem immer wieder praktizierten Einüben und P�egen von Selbstachtung. Sie zeigen sich den Erwachsenen, die sich selbst als Mehrheit und als Mitte der Gesellschaft de�nieren, als An-dere mit eigenen Vorlieben, mit anderem Musikgeschmack und mit teils ungewöhnlicher Kleidung. Ebenso dazu gehört aber auch die

selbst gelebte Vielfalt in ihrer Jugendkultur. Sie führen vor, dass es keine für alle geltenden Dresscodes geben muss, und man sich den-noch zusammen wohl fühlen kann. Auf diese Weise zelebrieren die jungen Erwachsenen ihren Slogan „Seid bunt, seid laut, seid antifa-schistisch“ nicht nur als Parole, sondern auch in ihrem Handeln. Da-mit beziehen sie gleichzeitig Position als Mitverantwortliche für ein demokratisches Zusammenleben in ihrer Gemeinde.Anerkennung und Respekt wollen sie für sich als Personen glei-

chermaßen erfahren wie auch für ihr Engagement, wobei sie sich gegen ein funktionalisierendes Verständnis von Anerkennung als Belohnung für Leistung wenden. Die jungen Erwachsenen möch-ten als Individuen in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit wahrgenom-men werden und sie möchten an der gemeinschaftlichen Gestal-tung ihrer Lebenswelt gleichberechtigt teilhaben. Mit ihren Akti-onen und Ausdrucksformen fordern sie vehement und auf sinnlich erfahrbare, ganzheitliche Weise genau das Recht ein, beides zu-gleich zu sein: Individuelle Person und Gruppenwesen.Eine der Folgefragen ist, wann und wie es den jungen Erwach-

senen und Jugendlichen gelingt, sich in Nachbarschaft und Ge-sellschaft tatsächlich Gehör zu verscha�en und die Abschottungs-mechanismen zwischen Generationen und Gruppierungen in der Gemeinde zu durchbrechen. Daraus lassen sich Formen von Par-tizipation quali�ziert beschreiben und für die Praxisentwicklung sozialer Jugendkulturarbeit fruchtbar machen.

∑1. Der Titel des Projektes ist: Jugendforschung in Deutschland – Frankreich – Marokko – Tunesien. Soziale, kulturelle und politische Partizipationschancen Jugendlicher im eurome-diterranen Vergleich. Die beteiligten Forschrinnen der deutschen Teilstudie sind Prof. Dr. Elke Josties und Claudia Engelmann.

2. Da sehr arbeits- und zeitaufwändig, konnten diese vertiefenden kamera-ethnogra�schen Studien im Rahmen des EUROMED-Forschungsprojektes aufgrund knapper Ressourcen nicht durchgeführt werden.

Literatur

BOHNSACK, RALF (2009). „Qualitative Bild- und Videointerpretation. Die dokumentarische Methode.“ Opladen & Farmington Hills: Barbara Budrich

GEERTZ, CLIFFORD (1973 / 2002). “Thick description: Toward an interpretive theory of culture. In: Interpretation of Culture. Selected Essays.” (In deutscher Übersetzung: „Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme.“ Frankfurt a.M. Erstverö�entlichung 1973)

MOHN, BINA ELISABETH (2002). Filming Culture. Spielarten des Dokumentierens nach der Repräsentationskrise. Stuttgart: Lucius & Lucius

MOHN, BINA ELISABETH (2008): „Die Kunst des dichten Zeigens“. In: B. Binder, D. Neuland-Kitzerow und K. Noack (Hrsg.), Kunst und Ethnographie: Zum Verhältnis von visueller Kultur und ethnographischem Arbeiten. Berliner Blätter 46 (S. 61-72), LIT Verlag

MOHN, BINA ELISABETH (2011). „Methodologie des forschenden Blicks. Die vier Spielarten des Dokumentierens beim ethnographischen Forschen“. In: P. Cloos und M. Schulz (Hrsg.), Kindliches Tun beobachten und dokumentieren (S. 79-98). Weinheim: Juventa

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