mittwoch, 11. juli 2018 73. jahrgang/nr. 159 bundesausgabe ...trios. einer hieß carsten...

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STANDPUNKT Verschenkte Chance Sebastian Bähr über das Ende des NSU-Verfahrens Nach fünf Jahren findet der Mammutprozess zu den NSU- Verbrechen sein Ende. Ungeachtet der Urteile gegen Zschäpe und die vier Mitangeklagten lässt sich festhalten: Hintergründe der ras- sistischen Mordserie konnten in dem Verfahren kaum aufgeklärt werden. Viele mutmaßliche Mit- täter aus dem Unterstützungs- netzwerk, aber auch womöglich involvierte Staatsbedienstete blei- ben unbehelligt. Die Forderung der Opferangehörigen nach einer umfassenden Durchleuchtung des NSU-Komplexes wurde ignoriert. Eine Auseinandersetzung mit ins- titutionellem Rassismus haben Polizei und Justiz umgangen. Das Scheitern der Aufarbeitung hat verschiedene Gründe. Ein of- fensichtlicher ist das dreiste Ver- halten des Verfassungsschutzes. Entweder schwiegen seine Mitar- beiter oder sie logen. Alles, was die Behörden taten, war auf eine Verhinderung der Aufklärung ausgerichtet. Ein weiterer Grund ist das fehlende Engagement der Bundesanwaltschaft. Anstatt den NSU-Komplex in seiner Tiefe zu durchdringen, gab man sich mit der Spitze des Eisbergs zufrieden. Der Fokus lag von Anfang an nur auf den fünf Angeklagten, alles darüber hinaus wurde abgebügelt. Mit dem Verfahren hat die deutsche Justiz die Chance zur Aufklärung und auch zur Schaf- fung von Gerechtigkeit ver- schenkt. Die Zivilgesellschaft muss nun weiter Druck ausüben, damit die offenen Fragen nicht unter den Tisch fallen und die restlichen Verantwortlichen zur Rechen- schaft gezogen werden. Einen Schlussstrich darf es nicht geben. UNTEN LINKS Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat geurteilt, dass sich die Zeugen Jehovas an Daten- schutzbestimmungen halten müssen. Das ist einleuchtend, da sie bei Hausbesuchen Daten er- heben. Allerdings bezieht sich das Urteil auf einen älteren Fall in Finnland; die neuen EU-Regeln sind noch nicht berücksichtigt. Nach den finnischen Regeln durften Daten nicht länger als notwendig gespeichert werden, also längstens bis zum Übertritt in die Glaubensgemeinschaft. Be- reits vor dem Hausbesuch sollte die Einwilligung der Betroffenen eingeholt werden, etwa durch ei- nen Hausbesuch. Nach den neuen Regelungen haben die Bürger der EU das Recht, Daten über Daten- sammlung, Datennutzung und Beschwerdestellen der Zeugen Jehovas einzuholen. Da diese Daten ebenfalls den Richtlinien unterliegen, sind die Bürger auf- gefordert, entsprechende Einwil- ligungen bei den Zeugen Jehovas einzuholen. Zum Beispiel durch Hausbesuche. rst Happy End in Thailand Alle Jungen aus Höhle gerettet Mae Sai. Nach 17 Tagen in einer dunklen Höhle sind alle zwölf Spieler einer thailändi- schen Fußball-Jugendmannschaft und ihr Trainer gerettet. Dies teilte die thailändische Marine mit. Die letzten fünf Eingeschlosse- nen wurden am Dienstag von Spezialtau- chern in einem hochgefährlichen Einsatz über Stunden hinweg ins Freie gebracht. Nach ers- ten Angaben der Ärzte haben die Geretteten die lange Zeit des Zitterns und Bangens ver- hältnismäßig gut überstanden. Das glückli- che Ende des Höhlendramas grenzt für viele an ein Wunder. Auch Experten hatten es kaum für möglich gehalten, das Team des Fußball- vereins »Wildschweine« aus ihrem Zufluchts- ort in vier Kilometern Tiefe sicher nach drau- ßen zu bringen. Der Weg zurück ans Licht dauerte jeweils mehrere Stunden. Große Teile der Höhle wa- ren überflutet. Keines der Kinder hatte Er- fahrung im Tauchen, weshalb sie von den Pro- fis begleitet werden mussten. Manche Stellen in der Tropfsteinhöhle Tham Luang-Khun Nam Nang Non waren so eng, dass auch die Kinder kaum durchpassten. Der letzte von insgesamt drei höchst ge- fährlichen Einsätzen hatte um 10.08 Uhr Ortszeit begonnen. Zuvor hatte es die ganze Nacht über wieder heftig geregnet. Als Ziel gab Provinzgouverneur Narongsak Osotta- nakorn aus, bis zum Abend alle Eingeschlos- senen herauszuholen – was dann innerhalb von etwa acht Stunden auch tatsächlich ge- lang. dpa/nd ISSN 0323-3375 »Da setzt die Kunst keine Grenzen« Horst Seehofer präsentiert seinen Plan gegen Migration und zeigt sich unbeeindruckt von Kritik Nach mehrwöchiger Verschie- bung und ebenso langem Streit mit der CDU um ein Detail des Papiers stellte Bundesinnenmi- nister Seehofer am Dienstag sei- nen Plan zur Migration vor. Von Uwe Kalbe Er würde nichts anders machen als in den letzten Wochen des Streits mit der Kanzlerin, bekannte Horst Seehofer am Dienstag. Der Bun- desinnenminister und CSU-Vor- sitzende ließ keinen Zweifel da- ran, dass er sich trotz aller Kritik an seiner Konfrontation am Ende bestätigt sieht. Das zeigt sich auch daran, dass mit der SPD ausge- handelte Änderungen zu den um- strittenen »Transitzentren« an der Grenze zu Österreich in Seeho- fers Masterplan nicht auftauchen. Darüber gebe es ein eigenes Pa- pier zwischen Union und SPD, sagte Seehofer. Dies hier sei der Vorschlag des Bundesinnenmi- nisters. Man müsse zu seinen Überzeugungen stehen, »sonst dreht man sich schneller als ein Ventilator«. Und auf die Frage, wie oft ein Minister mit Rücktritt dro- hen könne, ohne sich lächerlich zu machen, meinte er: »Da setzt die Kunst keine Grenzen.« Ziel des Masterplans sei eine Asylwende, so der Minister. »Er- folgreiche Integration kann nur gelingen mit einer Begrenzung von Zuwanderung. Das ist die Kernbotschaft des Koalitionsver- trages«, so heißt es wörtlich in dem Papier. Deutschland bleibe ein weltof- fenes Land, »das Schutzbedürfti- gen auch Schutz gewährt«, er- klärte der Minister. Aber das Prin- zip der Ordnung solle einen neu- en Stellenwert erhalten. Als Re- geln zur Herstellung der Ord- nung, die Seehofer vorschwebt, werden unter anderen genannt: die Pflicht zur aktiven Mitwir- kung von Asylantragstellern – am Verfahren wie bei der Feststel- lung ihrer Identität. Einer festge- stellten Pflicht zur Ausreise müs- se die tatsächliche Ausreise fol- gen. Es soll keine »Zuwanderung in unsere Sozialsysteme« geben. »Deswegen muss die Ausgabe von Sachleistungen gegenüber Geld- leistungen Vorrang haben.« Integration wird nur Menschen in Aussicht gestellt, die eine »Blei- beperspektive« in Deutschland ha- ben, »nicht auf alle, die gekom- men sind«. Sie beziehe sich »auf unsere Werteordnung, die den Zu- sammenhalt der Gesellschaft aus- macht«. Integration erfordere Mit- wirkung, die künftig »noch ent- schlossener« eingefordert werde. In Aussicht gestellt ist ein Ge- setz zur Arbeitsmigration, das auch im Koalitionsvertrag verab- redet wurde, aber auf Wunsch der SPD nunmehr noch in diesem Jahr auf den Weg gebracht werden soll. Bis zum Jahresende, so Seehofer, könnte der Gesetzentwurf fertig- gestellt sein. Ziel sei es, den Masterplan in dieser Legislaturperiode umzuset- zen, sagte Seehofer. Er ließ aller- dings offen, was zuerst erreicht sein werde – dies oder das Ende seiner Amtszeit. »Ich weiß noch nicht, was eher kommt.« Insbe- sondere über die bis zuletzt um- strittene Rückführung von Flücht- lingen, für deren Asylverfahren andere EU-Länder zuständig sind, hängt vom Entgegenkommen die- ser Länder ab. Seehofer ist die Ver- handlung über entsprechende Ab- kommen aufgetragen, noch in die- ser Woche treffen sich die EU-In- nenminister in Innsbruck. Zufrie- den stellte Seehofer fest, dass mit der SPD bereits Einigung über die geplanten AnKER-Zentren er- reicht sei. Eine Verteilung der Flüchtlinge auf Städte und Ge- meinden soll erst erfolgen, wenn in den Zentren der Schutzstatus festgestellt wurde. Auch darüber, dass der Bund die Länder bei der Abschiebung von Flüchtlingen un- terstützen solle, herrscht in der Koalition offenbar Einigkeit. Und auch darüber, dass weitere »si- chere Herkunftsstaaten« definiert werden. Seiten 6 und 8 } Lesen Sie heute im Ratgeber Neu bei Sparkassen: Echtzeitüberweisungen Mühevoller Weg der Mieter durch Instanzen Was berechtigt zur Reisepreisminderung? »Dieser Masterplan ist ein Bestandteil der Asylwende für Deutschland.« Horst Seehofer Mittwoch, 11. Juli 2018 73. Jahrgang/Nr. 159 Bundesausgabe 1,90 € www.neues-deutschland.de Steuervermeidungshelfer Die vier großen Wirtschaftsprüfer haben erheblichen Einfluss in Brüssel. Seite 16 Kaum Hoffnung auf Gerechtigkeit Oberlandesgericht München spricht Urteil im NSU-Prozess / Aufklärung der rassistischen Morde bleibt lückenhaft Berlin. An diesem Mittwoch soll der Prozess ge- gen Unterstützer der rechtsradikalen Terror- zelle NSU enden, die jahrelang in der Bundes- republik unbehelligt Anschläge verüben, Ban- ken überfallen und zehn Menschen ermorden konnte. Der Mordserie fielen neun Migranten und die Polizistin Michèle Kiesewetter zum Op- fer. Nun will das Oberlandesgericht München ein Urteil gegen die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe und die vier mitangeklagten mut- maßlichen Terrorhelfer Ralf Wohlleben, André E., Carsten S. und Holger G. sprechen. Die Hinterbliebenen der Opfer hatten beim Beginn des Prozesses vor fünf Jahren erklärt, sie erhofften sich von dem Verfahren Gerech- tigkeit. Doch die wird es nicht geben, wenn nicht alle Fragen zum NSU-Komplex geklärt sind. Noch immer gibt es viele Lücken. Die Auf- klärung wurde von den sogenannten Sicher- heitsbehörden immer wieder behindert. Gam- ze Kubasik, die Tochter des in Dortmund er- mordeten Mehmet Kubasik, erklärte am Diens- tag in München, die Mörder hätten Unterstüt- zer vor Ort gehabt. »Ich möchte, dass alle Hel- fer, die man kennt, angeklagt werden«, for- derte Gamze Kubasik. Rechtsanwalt Sebastian Scharmer, der Ku- basik im NSU-Prozess vor dem Münchner Ober- landesgericht vertritt, bezeichnete die These vom »abgeschotteten, isolierten NSU-Trio«, das allein für alle zehn Morde verantwortlich sein solle, als »Mythos«. Helfer und möglicherweise weitere Mittäter »laufen auch heute noch frei herum«, vermutete Scharmer. Der Prozess umfasste 437 Verhandlungsta- ge. Die Bundesanwaltschaft fordert für Zschä- pe lebenslange Haft und sieht die Hauptange- klagte als Mittäterin der fast durchweg rassis- tisch motivierten Morde und Anschläge von den Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die sich nach einem missglückten Banküberfall das Leben genommen hatten. Die Verteidiger Zschäpes halten deren Tat- beteiligung für nicht bewiesen und plädieren für eine Haftstrafe wegen Brandstiftung. Ihre Vertrauensanwälte halten zudem eine Bestra- fung wegen Beihilfe zu Raubüberfällen für an- gemessen. Agenturen/nd Seiten 2 bis 5 Enver Simsek, ermordet 2000 Abdurrahim Özüdogru, ermordet 2001 Süleyman Tasköprü, ermordet 2001 Habil Kilic, ermordet 2001 Michèle Kiesewetter, ermordet 2007 Mehmet Turgut, ermordet 2004 Ismail Yasar, ermordet 2005 Theodoros Boulgarides, ermordet 2005 Mehmet Kubasik, ermordet 2006 Halit Yozgat, ermordet 2006 Fotos: dpa Alles gar nicht so schlimm Die WM-Prognose war negativ, doch viele Ängste blieben unbegründet. Seite 20 Was von G20 bleibt Linksradikale sehen die Proteste trotz allem als Erfolg. Seite 18 Foto: dpa/Axel Heimken

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  • STANDPUNKT

    VerschenkteChanceSebastian Bähr über das Ende desNSU-Verfahrens

    Nach fünf Jahren findet derMammutprozess zu den NSU-Verbrechen sein Ende. Ungeachtetder Urteile gegen Zschäpe und dievier Mitangeklagten lässt sichfesthalten: Hintergründe der ras-sistischen Mordserie konnten indem Verfahren kaum aufgeklärtwerden. Viele mutmaßliche Mit-täter aus dem Unterstützungs-netzwerk, aber auch womöglichinvolvierte Staatsbedienstete blei-ben unbehelligt. Die Forderungder Opferangehörigen nach einerumfassenden Durchleuchtung desNSU-Komplexes wurde ignoriert.Eine Auseinandersetzung mit ins-titutionellem Rassismus habenPolizei und Justiz umgangen.Das Scheitern der Aufarbeitung

    hat verschiedene Gründe. Ein of-fensichtlicher ist das dreiste Ver-halten des Verfassungsschutzes.Entweder schwiegen seine Mitar-beiter oder sie logen. Alles, wasdie Behörden taten, war auf eineVerhinderung der Aufklärungausgerichtet. Ein weiterer Grundist das fehlende Engagement derBundesanwaltschaft. Anstatt denNSU-Komplex in seiner Tiefe zudurchdringen, gab man sich mitder Spitze des Eisbergs zufrieden.Der Fokus lag von Anfang an nurauf den fünf Angeklagten, allesdarüber hinaus wurde abgebügelt.Mit dem Verfahren hat die

    deutsche Justiz die Chance zurAufklärung und auch zur Schaf-fung von Gerechtigkeit ver-schenkt. Die Zivilgesellschaft mussnun weiter Druck ausüben, damitdie offenen Fragen nicht unterden Tisch fallen und die restlichenVerantwortlichen zur Rechen-schaft gezogen werden. EinenSchlussstrich darf es nicht geben.

    UNTEN LINKS

    Der Europäische Gerichtshof(EuGH) hat geurteilt, dass sichdie Zeugen Jehovas an Daten-schutzbestimmungen haltenmüssen. Das ist einleuchtend, dasie bei Hausbesuchen Daten er-heben. Allerdings bezieht sich dasUrteil auf einen älteren Fall inFinnland; die neuen EU-Regelnsind noch nicht berücksichtigt.Nach den finnischen Regelndurften Daten nicht länger alsnotwendig gespeichert werden,also längstens bis zum Übertritt indie Glaubensgemeinschaft. Be-reits vor dem Hausbesuch solltedie Einwilligung der Betroffeneneingeholt werden, etwa durch ei-nen Hausbesuch. Nach den neuenRegelungen haben die Bürger derEU das Recht, Daten über Daten-sammlung, Datennutzung undBeschwerdestellen der ZeugenJehovas einzuholen. Da dieseDaten ebenfalls den Richtlinienunterliegen, sind die Bürger auf-gefordert, entsprechende Einwil-ligungen bei den Zeugen Jehovaseinzuholen. Zum Beispiel durchHausbesuche. rst

    Happy End inThailandAlle Jungen aus Höhle gerettet

    Mae Sai. Nach 17 Tagen in einer dunklenHöhle sind alle zwölf Spieler einer thailändi-schen Fußball-Jugendmannschaft und ihrTrainer gerettet. Dies teilte die thailändischeMarine mit. Die letzten fünf Eingeschlosse-nen wurden am Dienstag von Spezialtau-chern in einem hochgefährlichen Einsatz überStunden hinweg ins Freie gebracht. Nach ers-ten Angaben der Ärzte haben die Gerettetendie lange Zeit des Zitterns und Bangens ver-hältnismäßig gut überstanden. Das glückli-che Ende des Höhlendramas grenzt für vielean einWunder. Auch Experten hatten es kaumfür möglich gehalten, das Team des Fußball-vereins »Wildschweine« aus ihrem Zufluchts-ort in vier Kilometern Tiefe sicher nach drau-ßen zu bringen.Der Weg zurück ans Licht dauerte jeweils

    mehrere Stunden. Große Teile der Höhle wa-ren überflutet. Keines der Kinder hatte Er-fahrung im Tauchen, weshalb sie von den Pro-fis begleitet werden mussten. Manche Stellenin der Tropfsteinhöhle Tham Luang-KhunNam Nang Non waren so eng, dass auch dieKinder kaum durchpassten.Der letzte von insgesamt drei höchst ge-

    fährlichen Einsätzen hatte um 10.08 UhrOrtszeit begonnen. Zuvor hatte es die ganzeNacht über wieder heftig geregnet. Als Zielgab Provinzgouverneur Narongsak Osotta-nakorn aus, bis zum Abend alle Eingeschlos-senen herauszuholen – was dann innerhalbvon etwa acht Stunden auch tatsächlich ge-lang. dpa/nd

    ISSN 0323-3375

    »Da setzt die Kunst keine Grenzen«Horst Seehofer präsentiert seinen Plan gegen Migration und zeigt sich unbeeindruckt von Kritik

    Nach mehrwöchiger Verschie-bung und ebenso langem Streitmit der CDU um ein Detail desPapiers stellte Bundesinnenmi-nister Seehofer am Dienstag sei-nen Plan zur Migration vor.

    Von Uwe Kalbe

    Erwürde nichts andersmachen alsin den letzten Wochen des Streitsmit der Kanzlerin, bekannte HorstSeehofer am Dienstag. Der Bun-desinnenminister und CSU-Vor-sitzende ließ keinen Zweifel da-ran, dass er sich trotz aller Kritikan seiner Konfrontation am Endebestätigt sieht. Das zeigt sich auchdaran, dass mit der SPD ausge-handelte Änderungen zu den um-strittenen »Transitzentren« an derGrenze zu Österreich in Seeho-fers Masterplan nicht auftauchen.Darüber gebe es ein eigenes Pa-pier zwischen Union und SPD,sagte Seehofer. Dies hier sei derVorschlag des Bundesinnenmi-nisters. Man müsse zu seinenÜberzeugungen stehen, »sonstdreht man sich schneller als einVentilator«. Und auf die Frage,wieoft ein Minister mit Rücktritt dro-hen könne, ohne sich lächerlich zumachen, meinte er: »Da setzt dieKunst keine Grenzen.«

    Ziel des Masterplans sei eineAsylwende, so der Minister. »Er-folgreiche Integration kann nurgelingen mit einer Begrenzungvon Zuwanderung. Das ist dieKernbotschaft des Koalitionsver-trages«, so heißt es wörtlich indem Papier.Deutschland bleibe ein weltof-

    fenes Land, »das Schutzbedürfti-gen auch Schutz gewährt«, er-klärte der Minister. Aber das Prin-

    zip der Ordnung solle einen neu-en Stellenwert erhalten. Als Re-geln zur Herstellung der Ord-nung, die Seehofer vorschwebt,werden unter anderen genannt:die Pflicht zur aktiven Mitwir-kung von Asylantragstellern – amVerfahren wie bei der Feststel-lung ihrer Identität. Einer festge-stellten Pflicht zur Ausreise müs-se die tatsächliche Ausreise fol-gen. Es soll keine »Zuwanderung

    in unsere Sozialsysteme« geben.»Deswegen muss die Ausgabe vonSachleistungen gegenüber Geld-leistungen Vorrang haben.«Integration wird nur Menschen

    in Aussicht gestellt, die eine »Blei-beperspektive« in Deutschland ha-ben, »nicht auf alle, die gekom-men sind«. Sie beziehe sich »aufunsere Werteordnung, die den Zu-sammenhalt der Gesellschaft aus-macht«. Integration erfordere Mit-wirkung, die künftig »noch ent-schlossener« eingefordert werde.In Aussicht gestellt ist ein Ge-

    setz zur Arbeitsmigration, dasauch im Koalitionsvertrag verab-redet wurde, aber auf Wunsch derSPD nunmehr noch in diesem Jahrauf denWeg gebrachtwerden soll.Bis zum Jahresende, so Seehofer,könnte der Gesetzentwurf fertig-gestellt sein.Ziel sei es, den Masterplan in

    dieser Legislaturperiode umzuset-zen, sagte Seehofer. Er ließ aller-dings offen, was zuerst erreichtsein werde – dies oder das Endeseiner Amtszeit. »Ich weiß nochnicht, was eher kommt.« Insbe-sondere über die bis zuletzt um-strittene Rückführung von Flücht-lingen, für deren Asylverfahrenandere EU-Länder zuständig sind,hängt vom Entgegenkommen die-

    ser Länder ab. Seehofer ist die Ver-handlung über entsprechende Ab-kommen aufgetragen, noch in die-ser Woche treffen sich die EU-In-nenminister in Innsbruck. Zufrie-den stellte Seehofer fest, dass mitder SPD bereits Einigung über diegeplanten AnKER-Zentren er-reicht sei. Eine Verteilung derFlüchtlinge auf Städte und Ge-meinden soll erst erfolgen, wennin den Zentren der Schutzstatusfestgestellt wurde. Auch darüber,dass der Bund die Länder bei derAbschiebung von Flüchtlingen un-terstützen solle, herrscht in derKoalition offenbar Einigkeit. Undauch darüber, dass weitere »si-chere Herkunftsstaaten« definiertwerden. Seiten 6 und 8

    } Lesen Sie heuteim RatgeberNeu bei Sparkassen:Echtzeitüberweisungen

    Mühevoller Weg derMieter durch Instanzen

    Was berechtigt zurReisepreisminderung?

    »Dieser Masterplanist ein Bestandteilder Asylwende fürDeutschland.«Horst Seehofer

    Mittwoch, 11. Juli 2018 73. Jahrgang/Nr. 159 Bundesausgabe 1,90 € www.neues-deutschland.de

    SteuervermeidungshelferDie vier großen Wirtschaftsprüfer habenerheblichen Einfluss in Brüssel. Seite 16

    Kaum Hoffnung auf GerechtigkeitOberlandesgericht München spricht Urteil im NSU-Prozess / Aufklärung der rassistischen Morde bleibt lückenhaft

    Berlin. An diesem Mittwoch soll der Prozess ge-gen Unterstützer der rechtsradikalen Terror-zelle NSU enden, die jahrelang in der Bundes-republik unbehelligt Anschläge verüben, Ban-ken überfallen und zehn Menschen ermordenkonnte. Der Mordserie fielen neun Migrantenund die Polizistin Michèle Kiesewetter zum Op-fer.Nunwill dasOberlandesgerichtMünchen einUrteil gegen die mutmaßliche RechtsterroristinBeate Zschäpe und die vier mitangeklagten mut-maßlichen Terrorhelfer Ralf Wohlleben, AndréE., Carsten S. und Holger G. sprechen.

    Die Hinterbliebenen der Opfer hatten beimBeginn des Prozesses vor fünf Jahren erklärt,sie erhofften sich von dem Verfahren Gerech-tigkeit. Doch die wird es nicht geben, wennnicht alle Fragen zum NSU-Komplex geklärtsind. Noch immer gibt es viele Lücken. Die Auf-klärung wurde von den sogenannten Sicher-heitsbehörden immer wieder behindert. Gam-ze Kubasik, die Tochter des in Dortmund er-mordeten Mehmet Kubasik, erklärte am Diens-tag in München, die Mörder hätten Unterstüt-zer vor Ort gehabt. »Ich möchte, dass alle Hel-

    fer, die man kennt, angeklagt werden«, for-derte Gamze Kubasik.Rechtsanwalt Sebastian Scharmer, der Ku-

    basik im NSU-Prozess vor demMünchner Ober-landesgericht vertritt, bezeichnete die Thesevom »abgeschotteten, isolierten NSU-Trio«, dasallein für alle zehn Morde verantwortlich seinsolle, als »Mythos«. Helfer und möglicherweiseweitere Mittäter »laufen auch heute noch freiherum«, vermutete Scharmer.Der Prozess umfasste 437 Verhandlungsta-

    ge. Die Bundesanwaltschaft fordert für Zschä-

    pe lebenslange Haft und sieht die Hauptange-klagte als Mittäterin der fast durchweg rassis-tischmotiviertenMorde und Anschläge von denRechtsterroristen Uwe Mundlos und UweBöhnhardt, die sich nach einem missglücktenBanküberfall das Leben genommen hatten.Die Verteidiger Zschäpes halten deren Tat-

    beteiligung für nicht bewiesen und plädierenfür eine Haftstrafe wegen Brandstiftung. IhreVertrauensanwälte halten zudem eine Bestra-fung wegen Beihilfe zu Raubüberfällen für an-gemessen. Agenturen/nd Seiten 2 bis 5

    Enver Simsek, ermordet 2000 Abdurrahim Özüdogru, ermordet 2001 Süleyman Tasköprü, ermordet 2001 Habil Kilic, ermordet 2001 Michèle Kiesewetter, ermordet 2007

    Mehmet Turgut, ermordet 2004 Ismail Yasar, ermordet 2005 Theodoros Boulgarides, ermordet 2005 Mehmet Kubasik, ermordet 2006 Halit Yozgat, ermordet 2006 Fotos: dpa

    Alles gar nicht so schlimmDie WM-Prognose war negativ, doch vieleÄngste blieben unbegründet. Seite 20

    Was von G20 bleibtLinksradikale sehen die Protestetrotz allem als Erfolg. Seite 18Foto: dpa/Axel Heimken

  • 2 Tagesthema NSU Mittwoch, 11. Juli 2018 u neues deutschland*

    Nach fünf Jahren endetder NSU-Prozess inMünchen mit denUrteilen gegen die fünfAngeklagten. Von einerumfassenden Aufklärungdes gesamten Falls kannallerdings nicht die Redesein – zu viele Fragenblieben unbeantwortet,Verstrickungenunbeleuchtet.

    Ein Prozess, kein SchlussstrichDie versprochene Aufklärung des NSU-Komplexes ist ausgebliebenDer NSU-Prozess endet. Nachdemdie meisten Angeklagten in der ver-gangenen Woche die Chance zumletzten Wort nutzten, werden amheutigen Mittwoch die Urteile ge-sprochen.

    Von René Heilig

    Wie immer die Urteile in Münchenausfallen, zehn Menschen starben,wurden ihren Liebsten und Freundenentrissen. Zahlreiche sind verletzt anKörper und Seele. Der Rechtsstaatund die zu seinem Schutz bestehen-den Organe erlitten einen herbenVertrauensverlust. Was angeblichnach den Erfahrungen der Nazidik-tatur unmöglich war, geschah. Einebewaffnete, zu allem entschlossenerechtsextreme Terrororganisationkonnte bundesweit und jahrelangschwerste Verbrechen begehen. Sieverfügte über ein dichtes Netzwerkvon Unterstützern und Sympathisan-ten. Die völlig unzureichende Auf-klärung der Verbrechen tat ein Übri-ges, um der Demokratie Schaden zu-zufügen. Auch mit einem notwendi-gen Abstand wird der große Prozessin München inhaltlich nicht als Mei-lenstein der Rechtsgeschichte zuwerten sein.Das erste Opfer des Nationalsozi-

    alistischen Untergrundes (NSU) starbam11. September 2000, das letzte am25. April 2007: Acht Männer – EnverŞimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Sü-leyman Taşköprü, Habil Kılıç, Meh-met Turgut, İsmail Yaşar, MehmetKubaşık, Halit Yozgat – hatten türki-sche Wurzeln. Einer – TheodorosBoulgarides- stammte aus Griechen-land. Eine junge Polizistin – MichèleKiesewetter – wurde in HeilbronnOpfer der rechtsextremistischen Ter-ror-Gruppierung. Die Ermittler tapp-ten jahrelang im Dunkel, sie vermu-teten Streitigkeiten im Drogenmilieuund ermittelten im familiären Um-feld. Dass es rassistische Motive gab,kam ihnen nicht in den Sinn. Schließ-lich bekannte sich niemand zu denTaten. Medien berichteten leichtfer-tig von »Döner-Morden«. Auch bei derAufklärung von mehreren Bomben-anschlägen sowie einer Reihe vonBanküberfällen kamen die Ermittlertrotz Bildung von speziellen Ermitt-lungsgruppen nicht voran.

    Erst viereinhalb Jahre nach dem(vermutlich) letzten Mord des NSUkam man unerwartet den Hinter-gründen der Verbrechen näher. Am4. November 2011 scheiterte einBanküberfall in Eisenach. Bei derFahndung stieß man auf ein Wohn-mobil, darin lagen zwei Leichen. UweBöhnhardt und Uwe Mundlos, diemutmaßlichen Bankräuber, hattensich angeblich selbst gerichtet. Raschergaben sich Spuren zum Polizisten-mord in Heilbronn, auf DVD bekann-ten sich die beiden jungen Männer zueiner bis dahin für die Ermittler un-bekannten rechtsextremistischenTerror-Gruppe namens Nationalsozi-alistischer Untergrund und zu derenzumeist rassistisch motiviertenMordtaten. Ebenfalls am 4. Novem-ber explodierte ein Mehrfamilien-haus in Zwickau. Die Freundin vonBöhnhardt und Mundlos, BeateZschäpe, versuchte die Spuren in dergemeinsamen Wohnung zu vernich-ten. 13 Jahre nachdem die drei alsBombenbauer verdächtigten JenaerNeonazis in den Untergrund gegan-genen waren, steckte Zschäpe »Paul-chen-Panther«-Bekenner-Videos ineinen Briefkasten, irrte durchs Land,um sich dann am 8. November 2011der Polizei in ihrer Thüringer Hei-matstadt zu stellen. Viele in Deutsch-land und jenseits der Grenzen stan-den unter Schock. Wie konnte esmöglich sein, dass der NSU so langeso ungestört eine tödliche Blutspurdurch Deutschland ziehen konnte?Der Prozess gegen Zschäpe und

    vier Helfer des Trios dauerte über fünfJahre. An über 430 zum Teil quälendineffizienten Verhandlungstagenwurden über 600 Zeugen gehört. Fa-zit: Man kam den Antworten auf

    zahlreiche unbeantwortete Fragen –wenn überhaupt – nur minimal nä-her. Schon weil in der von der Bun-desanwaltschaft vertretenen Anklageso getan wird, als sei der NSU nur ei-ne radikale Kleinstgruppe ideolo-gisch Verblendeter. Auch die weit-räumigen Ermittlungen der für dieAufklärung der Verbrechen zustän-digen Behörden und die zum Teil in-tensiven Nachforschungen von zwölfparlamentarischen Untersuchungs-ausschüssen lösten nicht ein, was dieBundeskanzlerin auf der Gedenkfeierfür die Opfer im Februar 2012 ver-sprochen hatte. Man wolle, so Ange-la Merkel, »alles tun, um die Mordedes rechtsextremen Trios aufzuklä-ren, die Helfershelfer und Hinter-männer aufzudecken und alle Täterihrer gerechten Strafe zuzuführen«.Bis heute bleiben wesentliche Fra-

    gen zum NSU und generell zur ge-walttätigen rechtsextremistischenSzene in Deutschland und ihrer in-ternationalen Verflechtung unbeant-wortet. Laut glaubwürdigen Statisti-ken sind Rechtsextreme hierzulandefür mindestens 200 Morde seit 1990verantwortlich. Sicher ist: ZahlreicheMitschuldige an den Taten des NSUbleiben unbehelligt. Derzeit laufenzwar noch Ermittlungsverfahren ge-gen neun Verdächtige, doch da dienicht wegen Beihilfe zum Mord ge-führt werden, ist eine Verjährunggreifbar. Geschont werden auch jeneSicherheitsbehörden, Staatsanwalt-schaften und Geheimdienste, die beider Aufklärung der NSU-Verbrechenversagt haben oder sie bewusst hin-tertrieben.Die anfangs spürbare höhere Sen-

    sibilität gegenüber rechtsextremisti-schem Terror, die sich unter ande-

    rem im NPD-Verbotsantrag zeigte, istlängst verebbt. Fremdenhass und dieRelativierung von Nazi-Ungeist ge-hören seit dem politischen Kraftzu-wachs der AfD zum politischen All-tag in Deutschland. Von einemrechtsstaatlichen Lernprozess bei dendeutschen Geheimdienst- und Si-cherheitsbehörden kann keine Redesein. Sie mauern weiter, halten mitRegierungsunterstützung Dokumen-te selbst vor zuständigen Volksver-tretern geheim. Der Verfassungs-schutz und Polizeibehörden hattenüber 30 »Vertrauensleute« im Um-feld des NSU-Trios platziert. Einigedieser vom Staat bezahlten Zuträgerwaren den drei Untergetauchten so-gar direkt behilflich. Doch das allesführte weder zur Verhinderung dergrausamen Verbrechen noch kamman so der Aufklärung näher. Trotzgegenteiliger Beteuerungen nachdem Auffliegen des NSU wurde dieArbeit der Dienste nicht transparen-ter und die parlamentarische Kon-trolle nicht besser. Kaum Schlussfol-gerungen gab es auch im Bereich derweithin von Nachfragen unbehelligtgebliebenen Staatsanwaltschaften.Das zeigt sich unter anderem an de-ren »Unlust«, mysteriöse Todesfällebei V-Leuten und mutmaßlichen aus-sagewilligen Zeugen auszuleuchten.Sicher ist, der NSU war nicht – wie

    oft behauptet – ein einmaliges Phä-nomen. Vergleichbare Gruppierun-gen sind nachgewachsen, wie ein imMärz beendeter Prozess gegen die so-genannte Gruppe Freital belegt. Siehatte sich zusammengeschlossen, umAnschläge auf Flüchtlingsheime undpolitische Gegner zu begehen. Nurdank glücklicher Umstände gab esdabei diesmal noch keine Toten.

    Der ProzessAm 6. Mai 2013 begann vor der Oberlandesgericht das »Straf-verfahren gegen Beate Z. u. a. wegen Verdachts der Bildungeiner terroristischen Vereinigung u.a. (NSU)«. Angeklagt sindzehn Morde. Sie ereigneten sich in München (2001, 2005),Nürnberg (2000, 2001. 2005), Hamburg (2001), Rostock(2004), Dortmund (2006) Kassel (2006) und Heilbronn(2007). Die drei Bombenanschläge wurden in Nürnberg(1999) und Köln (2001, 2004) verübt. Die angeklagten 15Banküberfälle fanden in Chemnitz, Stralsund, Arnstadt und

    Eisenach statt. Die Verhandlung war in München angesetzt, dafünf der NSU-Morde in Bayern verübt wurden und das dortigeOberlandesgericht (OLG) über einen Staatsschutzsenat ver-fügt. Dieser 6. Senat des OLG besteht aus fünf Richtern. Diefünf Angeklagten wurden von 14 Verteidigern beraten, dieBundesanwaltschaft ist mit drei Anklagevertretern beteiligt.Ihre Anklageschrift hat 488 Seiten. 91 Nebenkläger wurdenvon 58 Anwälten vertreten. Es gab 437 Verhandlungstage andenen 263 Beweis- und 46 Befangenheitsanträge. hei

    Die blutigeSpur des NSUMorde, Sprengstoffanschläge,Raubüberfälle: Der NSU hat eineblutige Spur der Gewalt durchDeutschland gezogen:

    Januar 1998: Nach einer Razziain ihrer Bombenwerkstatt in Jenatauchen Uwe Mundlos, UweBöhnhardt und Beate Zschäpe un-ter.

    September 2000: Die Mordseriebeginnt: Mundlos und Böhnhardterschießen den türkischen Blu-menhändler Enver Simsek inNürnberg.

    Dezember 2000/Januar 2001:Kurz vor Weihnachten deponie-ren die Täter eine Christstollen-dose mit einem eingebautenSprengsatz in einem Lebensmit-telgeschäft einer iranischstämmi-gen Familie in Köln. Die Tochteröffnet die Dose einige Wochenspäter, wird schwer verletzt.

    Juni 2001: Der Türke Abdurra-him Özüdogru wird in seiner Än-derungsschneiderei in Nürnbergerschossen. Sein Landsmann Sü-leyman Tasköprü stirbt in Ham-burg.

    August 2001: Mord an dem Ge-müsehändler Habil Kilic in Mün-chen.

    Februar 2004: In Rostock wirdder Imbiss-Verkäufer MehmetTurgut erschossen.

    Juni 2004: Eine Nagelbombe ex-plodiert in der Kölner Keupstra-ße. Mehr als 20 Menschen wer-den verletzt, einige lebensgefähr-lich.

    Juni 2005: Mord an dem Imbiss-Inhaber Ismail Yasar in Nürnberg.Wenige Tage später wird der Grie-che Theodoros Boulgarides in sei-nem Münchner Schlüsseldiensterschossen.

    April 2006: In Dortmund wird dertürkischstämmige KioskbetreiberMehmet Kubasik erschossen. ZweiTage später treffen tödlicheSchüsse Halit Yozgat in seinemKasseler Internet-Café.

    April 2007: Die Täter erschießenin Heilbronn die Polizistin Miché-le Kiesewetter. Ihr Kollege wirdschwer verletzt.

    November 2011: Sparkassen-Überfall in Eisenach. Böhnhardtund Mundlos verstecken sich ineinem Wohnmobil. Den Ermitt-lern zufolge erschießen sie sich, alsdie Polizei sie entdeckt. Zschäpezündet die gemeinsame Woh-nung in Zwickau an, kurz daraufstellt sie sich in Jena.

    Juni 2012: Es wird bekannt, dassbeim Verfassungsschutz Aktenvernichtet wurden, nachdem dieTerrorgruppe aufgeflogen war.Wegen der schweren Ermittlungs-pannen räumt der Präsident desBundesamtes für Verfassungs-schutz, Heinz Fromm, im Juli sei-nen Posten.

    November 2012: Die Bundesan-waltschaft erhebt Anklage gegenZschäpe.

    Mai 2013: Unter strengsten Si-cherheitsvorkehrungen und vonweltweitem Medieninteresse be-gleitet, beginnt in München derProzess gegen die mutmaßlicheNSU-Terroristin Zschäpe und vierMitangeklagte. dpa/nd

    Die Angeklagte Beate Zschäpe (2.v.r.) zwischen ihren Anwälten Wolfgang Stahl (l), Anja Sturm (2.v.l.) und Wolfgang Heer (r). Foto: dpa/Peter Kneffel

    Die anfangs spürbarehöhere Sensibilitätgegenüber rechtsextre-mistischem Terror, diesich unter anderem imNPD-Verbotsantragzeigte, ist längst verebbt.Fremdenhass und dieRelativierung von Nazi-Ungeist gehören seit dempolitischen Kraftzuwachsder AfD zum politischenAlltag in Deutschland.

  • u neues deutschland Mittwoch, 11. Juli 2018 NSU Tagesthema 3*

    Einer von vielenWie der deutsche Staat Verbrecher als V-Leute schütztMindestens sieben angebliche Si-cherheitsbehörden führten über 30V-Leute im Umfeld des NSU-Kern-trios. Einer hieß Carsten Szcze-panski, alias »Piatto«.

    Von René Heilig

    Der Neonazi ist jetzt 48 Jahre alt. Erstammt aus Berlin und ist wegenMordversuchs verurteilt worden. ImMai 1992 hatte er als Anführer ei-nes Neonazi-Rudels einen Lehrer ausNigeria verfolgt. Man schlug denMann zusammen. Als der Versuch,ihn als »Kohle« anzuzünden, fehl-schlug, wollte man den Hilflosen er-tränken. Dass das Opfer schwer ver-letzt überlebte, ist Zufall. Kein Zu-fall ist es, dass der Verfassungs-schutz sowie andere Dienste solchevon Rassismus geleitete kriminelleGestaltenwie Carsten Szczepanski inihren Dienst nahmen und bis heutevor dem Gesetz schützen.Während der sogenannten Wen-

    de hatte Szczepanski in der Noch-DDR eine neonazistische Ku-Klux-Klan-Gruppierung aufgebaut. 1991,bei einem Treffen mit den US-Klan-Chef Dennis Mahon im Berliner Um-land, brannte ein Kreuz. Vor lau-fenden TV-Kameras. Im selben Jahrfand die Polizei bei einer Durchsu-chung in Szczepanskis WohnungMaterial zum Bombenbau. Die Bun-desanwaltschaft leitete gut zweiMonate später ein Verfahren wegenBildung einer terroristischen Verei-nigung ein. Am 22. Februar 1992wurde der untergetauchte Szcze-panski festgenommen. Einen Tagspäter war er wieder frei. Danachbefragte ihn das Bundeskriminal-amt drei Tage lang. Man kann nurvermuten, dass hier die Grundlagenfür sein Doppelleben als militanterNeonazi und staatlicher Zuträgerbegann. Es wäre ein leichtes für dasBundesamt für Verfassungsschutz zuverneinen, dass Szczepanski »sein«Mann war.Es gibt mehrere Indizien sowie

    zwei Passagen in Briefen des ehe-maligen Brandenburger Verfas-sungsschutzchefs, Wolfgang Pfaff, indenen er, ein einstiger Bundesan-walt, von »Kontakten Szczepanskiszu Verfassungsschutzbehörden« und»zu Sicherheitsbehörden« spricht.Doch obwohl mehrere parlamenta-rische UntersuchungsausschüsseAuskunft verlangten, schweigt dasAmt. Vielleicht, weil es in diesem Fallausnahmsweise nicht beteiligt war?Die engen Beziehungen Szczepans-kis zu Rechtsextremisten in den USAließen ja auch Interessen eines Aus-landsnachrichtendienstes für mög-lich erscheinen.Wie dem auch sei, der rechtsext-

    reme Totschläger und Bombenbast-ler hat als Zeuge im NSU-Prozess er-klärt, bereits 1991 Informant für ei-ne Behörde gewesen zu sein. Das al-lerdings würde bedeuten, dass erden Mordversuch an dem nigeria-nischen Asylsuchenden unternom-men hat, als er bereits in Staats-diensten stand. Das macht nachvoll-ziehbar, wieso Ermittlungsverfah-ren gegen Szczepanski so lange lie-gen gelassen wurden, bis sie ver-jährt waren. Sogar das Terrorismus-verfahren der Bundesanwaltschaftwurde im September 1992 einge-

    stellt. Als Ende 1992 der Prozesswegen des Angriffs auf den nigeri-anischen Lehrer begann, war Szcze-panski nicht einmal Beschuldigter.Als sich das nicht mehr vermeiden

    ließ, lautete der Vorwurf lediglich»gefährliche Körperverletzung«. Esdauerte über ein Jahr bis die An-klage auf »versuchten Mord« plä-dierte und so das Landgericht

    Frankfurt an der Oder eine Strafevon acht Jahren Haft verhängtekonnte.Es ist wahrscheinlich, dass Szcze-

    panskis bisheriger Dienst den zu

    »heiß« geworden V-Mann entsorgte.Aus der Haft heraus bot sich Szcze-panski dem Brandenburger Verfas-sungsschutz als Informant an. Fort-an hatte der Gefangene mit dem Ge-heimdienstdecknamen »Piatto« eineäußerst zuvorkommende Gefäng-nisleitung im Brandenburger Knast,zwei neue V-Mann-Führer aus Pots-dam. Einer davon heißt GordianMeyer-Plath und ist heute Präsidentdes Landesverfassungsschutzes vonSachsen. Der äußerlich so feineMann war sich nicht zu fein, mit demschmierigen Knast-Nazi ein vertrau-liches Du-Verhältnis zu pflegen.Insgesamt rechnete der Dienst für

    seine Quelle »Piatto« zwischen 1994und dem Auffliegen im Jahr 2000rund 50 000 Mark Prämien ab. Hin-zu kommen Zuwendungen samt Be-wirtungen. Das war im Vergleich zuanderen Spitzeln durchaus preis-

    wert. Wichtiger jedoch war: Der Ge-heimdienst sorgte dafür, dass »Pi-atto« weiter für Nazi-Magazineschreiben konnte und bald schonausreichend Freigang hatte, um sichmit seinen Nazifreunden direkt zutreffen. Gern übernahmen die Agen-ten dabei notwendige Fahrdienste.Vorzugsweise nach Chemnitz, woSzczepanski im »Sonnentanz«-Sze-neladen von Michael und AntjeProbst jobbte. Beide gehörten zumengeren Umfeld des NSU. In Chem-nitz bekam der V-Mann dann auchKontakt zu »Blood&Honour-Kreisenund erfuhr, dass für die Unterge-tauchten späteren NSU-Killer Waf-fen beschafft werden sollten.Das so inhaltsschwer absolvierte

    »Praktikum« wurde als Pluspunktaufgeführt, als es um eine vorzeitigeHaftentlassung von »Piatto« ging.Der Geheimdienst umging zustän-dige Stellen und half dabei, dieRichterin, die über Szczepanskis So-zialprognose zu befinden hatte, überden Tisch zu ziehen. Im Dezember1999 war für Szczepanski dann »Tagder Befreiung«.Noch nach dem Auffliegen des

    NSU im November 2011 rühmte sichder Brandenburger Verfassungs-schutz »Piatto« habe »als bundes-weit einzige Informationsquelle«weiterführende Hinweise auf denVerbleib dreier flüchtiger Neonazisaus Thüringen gegeben. Und wasfolgte daraus? Nichts! So wie inzahlreichen anderen Momenten, indenen Geheimdienst- und Polizei-behörden dem NSU-Mördertrio ganznah gewesen sind.

    Die Rolle des Verfassungsschutzes im NSU-Skandal war Thema zahlreicher Demonstrationen. Foto: dpa/Ralf Hirschberger

    Während der soge-nannten Wende hatteSzczepanski in derNoch-DDR eineneonazistische Ku-Klux-Klan-Gruppierungaufgebaut. 1991, beieinem Treffen mit demUS-Klan-Chef DennisMahon im BerlinerUmland, brannte einKreuz. Vor laufendenTV-Kameras.

    Die fünf Angeklagten im NSU-ProzessIm NSU-Prozess sitzen die Haupt-angeklagte Beate Zschäpe und viermutmaßliche Helfer und Unterstüt-zer des Nationalsozialistischen Un-tergrunds auf der Anklagebank:

    Beate Zschäpe sollte nach dem Plä-doyer der Anklage zu lebenslangerHaft mit anschließender Sicherungs-verwahrung verurteilt werden. DieBundesanwaltschaft wirft ihr Mittä-terschaft an allenNSU-Verbrechen vor.Das sind neun rassistisch motivierteMorde der »Ceska«-Serie, der Mord ander Polizistin Michéle Kiesewetter,zwei Sprengstoffanschläge mit vielenVerletzten und mehr als ein DutzendRaubüberfälle. Zschäpe will von denMorden und Anschlägen ihrer beidenFreunde Uwe Mundlos und Uwe

    Böhnhardt immer erst im Nachhineinerfahren haben. Gestanden hat sie da-gegen, 2011 die letzte Wohnung desTrios in Zwickau in Brand gesteckt zuhaben. Die Anklage wertet dies auchals versuchten Mord an einer Nach-barin und zwei Handwerkern. Zschä-pes Altverteidiger sehen darin ledig-lich eine einfache Brandstiftung, ihreVertrauensanwälte immerhin eine be-sonders schwere Brandstiftung.Zschäpe sitzt seit November 2011 un-unterbrochen in Untersuchungshaft.Zschäpes Vertrauensanwälte forderneine Haftstrafe von unter zehn Jah-ren, wegen der Brandstiftung und we-gen Beihilfe zu mehreren Raubüber-fällen. Ihre ursprünglichen Verteidi-ger wollen die sofortige Freilassung,weil die zu erwartende Strafe für die

    Brandlegung mit der mehr als sechs-jährigen Untersuchungshaft bereitsabgegolten sei.

    Ralf Wohlleben sitzt ebenfalls in Un-tersuchungshaft. Die Bundesanwalt-schaft wirft dem ehemaligen NPD-Funktionär vor, die Mordwaffe vomTyp »Ceska« organisiert zu haben –und er habe gewusst, wofür Mundlosund Böhnhardt sie benutzen wollten.Wohlleben bestreitet das. Er habedem eigentlichen Überbringer derWaffe nur auf Nachfrage einen Tippgegeben. Die Anklage hat für Wohl-leben zwölf Jahre Haft wegen Bei-hilfe zum Mord in neun Fällen ge-fordert. Seine Verteidiger bezeichne-ten ihn als unschuldig und fordertenFreispruch.

    Carsten S. ist als Überbringer derWaf-fe ebenfalls wegen Beihilfe zum Mordin neun Fällen angeklagt. Er händigtedie »Ceska« in einem Chemnitzer Ab-bruchhaus an Böhnhardt und Mund-los aus, die zu der Zeit mit Zschäpeim Untergrund lebten. Kurz nach demAuffliegen des NSU wurde er festge-nommen und gestand umfassend. Da-bei belastete er Wohlleben: Der habeihm den Auftrag zum Kauf und Über-bringen der Waffe erteilt. Bundesan-walt Herbert Diemer hat für S. eine Ju-gendstrafe von drei Jahren gefordert– positiv wertete er dessen Aufklä-rungshilfe und dessen eigenes Schuld-eingeständnis. Die Verteidiger forderneinen Freispruch – S. habe nichts vonden geplanten Morden des NSU ge-wusst. Mehrere Angehörige von NSU-

    Opfern erkannten im Prozess die Reuevon S. an – und haben ihm nach ei-genem Bekunden verziehen. S. befin-det sich auf freiem Fuß. Er gilt als ge-fährdet und befindet sich in einemZeugenschutzprogramm.

    André E. hat auch nach Aussage vonZschäpe bis zum Schluss Kontakt zudem im Untergrund lebenden Triogehalten. E. half Zschäpe bei ihrerkurzen Flucht nach dem Tod ihrerFreunde Mundlos und Böhnhardt. ImProzess schwieg er konsequent. DieBundesanwaltschaft hat zwölf JahreHaft für E. gefordert, unter anderemwegen Beihilfe zum versuchtenMord:E. hat nach Überzeugung der Anklä-ger einst einWohnmobil gemietet,mitdem die Täter für einen Bombenan-

    schlag nach Köln fuhren. Zudem ha-be er bei der Tarnung des NSU-Triosim Untergrund geholfen. Kurz nachdem Plädoyer Mitte September erließdas Gericht Haftbefehl gegen E., derzuvor auf freiem Fuß war. Seine Ver-teidiger fordern einen Freispruch vonsämtlichen Anklagevorwürfen.

    Holger G., bislang auf freiem Fuß, hatzugegeben, dem NSU-Trio einmal eineWaffe übergeben und den Unterge-tauchten mit falschen Papieren gehol-fen zu haben. Die Bundesanwaltschafthat deshalb fünf Jahre Haft wegen Un-terstützung einer terroristischen Ver-einigung gefordert. Die Verteidigerplädierten dagegen auf eine Strafe von»unter zwei Jahren«, stellten aber kei-nen konkreten Strafantrag. dpa/nd

  • 4 Tagesthema NSU Mittwoch, 11. Juli 2018 u neues deutschland*

    »Für mich ist der NSU nicht vorbei«Die thüringische Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss über den NSU-Komplex und die Rolle der BehördenAm Mittwoch wird das Urteil gegenBeate Zschäpe und vier der mut-maßlichen NSU-Unterstützer ge-sprochen. Ist danach das KapitelNSU abgeschlossen?Das Kapitel NSU ist danach definitivnicht abgeschlossen und es darf auchnicht abgeschlossen sein. Wenn manmit dem Prozessende auch ein Endeder Aufklärung des NSU-Komplexesverbindet, würde das bedeuten, dassmögliche Mittäter ungestraft davon-kommen. Und das betrifft nicht nurNeonazis. Auch Sicherheitsbehördenhaben durch Nichtagieren, durchVerschleiern unddurchVertuschen zuden Morden beigetragen.

    Der Prozess konnte also den NSU-Komplex nicht aufklären?DieNebenklage-Anwälte habendurchmehrere Beweisanträge versucht, dasUnterstützernetzwerk und die Ver-wicklung der Sicherheitsbehörden zuthematisieren. Allerdings ist einGroßteil der Beweisanträge abge-lehnt worden. Das Gericht hatte sichauf die These der Anklageschrift ge-stützt: nach dieser bestand der NSUaus drei Personen und vier haben ihmgeholfen. Im Laufe der vergangenenfünf Jahre ist dabei deutlich gewor-den, dass es weitaus mehr Unter-stützer gegeben hat.

    Von wie vielen Unterstützern ge-hen Sie bundesweit aus?Ich würde von 100 bis 200 Personenausgehen. Deren Hilfe umfasst bei-spielsweise finanzielle Unterstützungam Anfang des Untertauchens. Aberda sind definitiv auch Personen da-

    bei, die die Drei in der späteren Zeitunterstützt haben, möglicherweisesogar bei der Auswahl der Tatorte undder Opfer.

    Warum hielt die Bundesanwalt-schaft trotz Indizien für ein Netz-werk an der These des Trios fest?Die einzige Erklärung, die ich habe,ist, dass man den Prozess nur an derAnklageschrift ausgerichtet hat, wel-che von einem isolierten Terrortrio,das von wenigen Personen Unterstüt-zung erhielt, ausgeht. Zumindest diefünf Personen, die man vor Gerichtstellen konnte, wollte man wohlrechtssicher verurteilen. Dass man da-rüber die entscheidenden Fragen –auch die der Angehörigen – ignoriert,hatte bei der Formulierung der An-klageschrift 2012/13 keine Rolle ge-spielt.

    Wie bewerten Sie das Verhalten derSicherheitsbehörden im Prozess?Angela Merkel hatte 2012 verspro-chen, dass es eine Aufklärung geben

    wird und dass diese transparent undumfassend ist. Genau das haben dieSicherheitsbehörden – zuallererst derVerfassungsschutz der Länder wieauch des Bundes – hintertrieben. Siehaben verhindert, dass es eine um-fassende Aufklärung geben kann.

    Geht es dem Verfassungsschutz nurum seinen Quellenschutz?Es wird nach außen immer verbreitet,dass es nur um den Quellenschutzgeht. Es ist auch definitiv so, dass Ver-fassungsschutzbehörden den Quel-lenschutz vor den Opferschutz stel-len. Allerdings ist das für mich keinausreichendes Argument, um die Auf-klärung so massiv zu verhindern. Ander Stelle können wir alle nur speku-lieren, was die weiteren Gründe seinkönnten. Möglicherweise wussten dieBehörden mehr, als über die bisheri-gen Akten bekannt ist, möglicherwei-se hatten sie bisher unbekannte In-formationen zum Untertauchen desNSU, zu seinem Aufenthalt, zu seinenUnterstützern.

    Von wie vielen V-Leuten im Umfelddes NSU kann man grob ausgehen?Aus den Untersuchungsausschüssen,durch investigative Journalisten undantifaschistische Gruppen ist dasAusmaß der V-Leute im NSU-Kom-plex offensichtlich geworden. Zwi-schen 35-45 V-Leute agierten imUmfeld oder gar direkt am Kerntriodes NSU. Eingeschlossen ist bei derRechnung sowohl die Zeit vor demUntertauchen als auch im Unter-grund.

    Welche Rolle spielte die Nebenkla-ge für die Aufarbeitung?Ohne die Nebenklage hätte es vieleFragen, die den Angehörigen wichtigsind, im Prozess gar nicht gegeben.Die Nebenklage hat in dieser Hin-sicht eine Wahnsinnsarbeit geleistet,auch wenn ihre Beweisanträge im-mer wieder zurückgewiesen wurden.Den Angehörigen, die im Prozess ge-sprochen hatten, wurde auch inten-siv zugehört. Das führte jedoch nichtdazu, dass ihre Worte im weiterenVerlauf noch eine Rolle gespielt hät-ten. Auf einer emotionalen Ebenenahm man sie wahr, Konsequenzenwurden jedoch unterbunden.

    Zum Schluss des Verfahrens hatteZschäpe behauptet, sich von denNSU-Verbrechen zu distanzieren.Wie wirkte das auf Sie?Für mich war das keine Distanzie-rung – und alle, die ihr das abge-nommen haben, fallen auf sie he-rein. Wenn man ihre Worte in eineIdeologie der extrem rechten Szeneeinordnet, hatte sie am Ende nichts

    anderes gesagt als »meine Ehre heißtTreue«. Sie hat null dazu beigetra-gen, in irgendeiner Form die Auf-klärung voranzutreiben oder denAngehörigen Respekt zu erweisen,indem sie ihnen zumindest Teile ih-rer Fragen beantwortet.

    Welche Rückschlüsse müssen Anti-faschisten aus dem NSU-Komplexziehen?Die erste Konsequenz ist, dass manSicherheitsbehörden nicht vertraut.Jede Aktivität von ihnen ist zu hin-terfragen. Die zweite Konsequenzheißt anzuerkennen, dass wir als an-tifaschistische, antirassistische Be-wegung bezüglich der NSU-Mordekomplett versagt haben. Darausmussfolgen, dass wir uns öffnen und dieZusammenarbeit mit migrantischenGruppen suchen. Dafür ist es not-wendig, dass wir von unserem elitä-ren weißen Ross herunterkommenund uns selbst sowie unsere Struk-turen hinterfragen. Das ist bis heutenur in Teilen der Linken der Fall. DieDritte Konsequenz: Antifaschismusbleibt weiterhin notwendig, wir dür-fen angesichts der gesellschaftlichenVerhältnisse nicht einknicken.

    Welche Gefahr geht derzeit vonneonazistischen Terroristen aus?Für mich ist der NSU nicht vorbei.Welchen Namen er jetzt trägt, spieltfür mich nur eine nachgeordnete Rol-le. Das was der NSU getan hat, ma-chen jetzt andere Gruppen und Ein-zelpersonen, haben andere vor ihmgemacht, werden andere nach ihmmachen.

    Katharina König-Preuss ist Vertre-terin der Linksfraktion im ThüringerNSU-Untersuchungsausschuss. Da-rüber hinaus ist sie auch Fraktions-Sprecherin für Antifaschismus. Nacheigener Aussage stand König-Preussbereits als Jugendliche in den 1990-er Jahren in Jena dem Trio Mundlos,Böhnhardt und Zschäpe gegenüber.Mit der Abgeordneten sprachSebastian Bähr.Foto: dpa/Bernd Settnik

    Gras wächst auf dem Grundstück des mittlerweile abgerissenen Dopelhauses in der Frühlingsstraße in Zwickau, wo das NSU-Kerntrio lebte. Foto: dpa/Hendrik Schmidt

    Aktivist*innengehen auf dieStraßeDemonstrationen undStraßenumbenennungen

    Von Niklas Franzen

    Wenn am Mittwoch das Urteil ge-gen Beate Zschäpe und vier Mit-angeklagte gesprochen wird, solldie Arbeit erst richtig losgehen. »Al-le Hoffnungen, die in den Prozessgelegt wurden, sind enttäuschtworden.Deshalb kanndasEndedesProzesses nur den erneuten Beginndes Kampfes um Aufklärung desNSU-Komplexes bedeuten«, soAntje Weerstand, Sprecherin vomBündnis »Irgendwo in Deutsch-land« gegenüber »nd». Seit meh-reren Monaten mobilisieren Akti-vist*innen zu Demonstrationen amTag der Urteilsverkündung. AmMittwoch soll in München, wo derProzess stattfindet, eine bundes-weite Demonstration starten. Dochauch in vielen anderen Städten sindProteste geplant. Die Forderung:»Kein Schlussstrich. NSU-Komplexaufklären.«»Den NSU gibt es noch«, meint

    Rob Seedorf, Mitorganisator derDemonstration in Berlin. Recher-chen zeigen, dass der NSU auf eingroßes Netzwerk zurückgreifenkonnte. Eine große Zahl der Un-terstützer*innen der Terrorgruppesind weiterhin auf freiem Fuß undmilitante Nazistrukturen bestehenvielerorts ungestört weiter. Weers-tand meint: »Es wuchert fort, waszur Zeit des NSU entstand.« DerNSU gründete sich in einem Klimades gesellschaftlichen Rassismus.»Die Terrorgruppe stärkte ihreÜberzeugung, das Land im Sinneder Mehrheit mit Gewalt zu ver-ändern, aus dem Zuspruch zu denrassistischen Pogromen der 1990erJahre wie in Hoyerswerda oderLichtenhagen.«, meint Seedorf.»Nicht erst seit den Pogromen vonHeidenau und Freital sehen wirwieder solche Entwicklungen.«Für die Aktivist*innen müsse es

    auch darum gehen, aus Fehlern derVergangenheit zu lernen. Nach denNSU-Morden gingen Angehörigeder Mordopfer unter dem Motto»Kein 10. Opfer!« in Dortmund undKassel auf die Straße. Linke Grup-pen beteiligten sich nicht an denSchweigemärschen und ignorier-tenviel zu langdieForderungendermigrantischen Angehörigen. »Dasist schockierend und hätte so nichtpassieren dürfen«, meint Weers-tand. »Man ließ sich von der me-dialen Debatte genauso wie dierestliche Gesellschaft beeinflussenund ignorierte die rassistische Mo-tivation der Mordserie. Die Linkemuss sich auch mit ihrem eigenemRassismus auseinandersetzen.«Während sich das Bündnis »Kein

    Schlussstrich!« auf die bundeswei-ten Demonstrationen vorbereitet,haben Aktivist*innen der Interven-tionistischen Linken (IL) einen Tagvor Urteilsverkündung in mehr als20 Städten rund 200 Straßen nachden Opfern des NSU umbenannt.»Wir wollen mit der Aktion die Op-fer in denMittelpunkt rücken«, sagtFrankGerber. Bei vielen Straßen seidies sowieso »längst überfällig« ge-wesen, da sie NS-belastete Namengehabt hätten. Außerdem seien dieUmbenennungen auch eine Forde-rung der Angehörigen der NSU-Opfer gewesen. Zwar wurden in ei-nigen Städten bereits Straßen nachNSU-Opfern umbenannt, aller-dings sei dies erst nach massivemProtest geschehen. Und in Ham-burg war nicht etwa die Schützen-straße umbenannt worden, wo Sü-leyman Taşköprü ermordet wurde,sondern eine nahe gelegene Gassein einem Industriegebiet, »wo nie-mand vorbeikommt«. Gerbermeint: »Das ist eine Farce.«

    nsuprozess.net/blog

    100 000 Euro für ein MenschenlebenDie Thüringer Landesregierung bringt einen Entschädigungsfonds auf den Weg, von dem Angehörige der NSU-Opfer profitieren sollen

    Der Erfurter Landtag hat im ver-gangenen Jahr die Entschädigungvon Hinterbliebenen der NSU-Op-fer beschlossen. Nun gibt es kon-krete Vorgaben, wie das Geld ver-teilt werden soll.

    Von Sebastian Haak, Erfurt

    Um das Leid derer wenigstens etwaszu mildern, die durch die Verbrechender rechtsradikalen Terrorzelle »Na-tionalsozialistischer Untergrund«Angehörige verloren haben oder ver-letzt worden sind, will der FreistaatThüringen in den nächsten Monateninsgesamt mehr als eine Million Euroals Entschädigung auszahlen. Die da-für notwendige Richtlinie sei inzwi-schen vom Kabinett der Landesre-gierung gebilligt worden, sagt Thü-ringens Justizminister Dieter Lauin-ger (Grüne). Sein Ressort war mit derErarbeitung der Richtlinie beauftragtworden. Die geplante Verteilung derGelder sei bereits mit den Angehöri-gen und ihren Vertretern besprochenworden. »Wir wollten es einfach undunbürokratisch machen. Ich denke,

    das ist eine gute Lösung, die wir dagefunden haben«, sagt Lauinger.Gerade jetzt, da der NSU-Prozess

    in München unmittelbar vor seinemEnde steht, sei es ein deutliches Sig-nal an die Hinterbliebenen der NSU-Opfer und die Verletzten, dass Thü-ringen die Zahlungen endgültig aufden Weg bringe, sagt Lauinger. AmMittwoch soll im NSU-Prozess dasUrteil fallen.Dem NSU werden unter anderem

    zehn Morde sowie mehrere Spreng-stoffattentate und Banküberfälle zurLast gelegt. Das Terrortrio aus BeateZschäpe, Uwe Mundlos und UweBöhnhardt war in Jena aufgewach-sen und hatte sich dort radikalisiert.1998 waren sie in den Untergrundgegangen, 2011 waren sie nach ei-nem gescheiterten Bankraub in Eise-nach aufgeflogen. Auch aus dieserKonstellation hatten Vertreter desFreistaates in den vergangenen Jah-ren immer wieder eine besondere Be-deutung Thüringens nicht nur bei derAufklärung der NSU-Verbrechen her-geleitet, sondern auch betont, dasLand habe den Hinterbliebenen der

    NSU-Opfer und allen anderen, diedurch die Terroristen geschädigtwurden, gegenüber eine besondereVerantwortung.Nach Angaben Lauingers soll die

    Familie jedes Menschen, der vomNSU ermordet worden ist, vom Frei-staat 100 000 Euro erhalten. Gebe es

    innerhalb der Familie keine Einigkeitdarüber, wem das Geld zustehe, gel-te die gesetzliche Erbfolge, sagt Lau-inger. Bei zehn Mordopfern werde al-so eine Million Euro gebraucht. Zu-sätzlich sollten alle, die durch dieVerbrechen des NSU verletzt wordensind, 3000, 10 000 oder 20 000 Euroerhalten; je nach der Schwere ihrer

    Verletzung. Insgesamt stehen nacheinem Beschluss des Landtages ausdem vergangenen September 1,5Millionen Euro bereit, um Hinterblie-bene und Verletzte zu entschädigen.Lauinger ist überzeugt davon, dass

    diese Summe ausreichen wird, auchwenn derzeit nicht abschließend klarsei, wie viele Verletzte ihre Entschä-digung beantragen würden. Die Ob-frau der LINKEN im Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss, KatharinaKönig-Preuss, sagt, sie gehe von 60bis 100 Menschen aus, die Anspruchauf die Verletzten-Entschädigunghätten. Sollten die 1,5 Millionen Eu-ro nicht vollständig gebraucht wer-den, um Zahlungen an die Hinter-bliebenen oder Verletzten zu leisten,werde mit dem übrigen Geld ein Här-tefall-Fonds für sie eingerichtet, sagtLauinger.König-Preuss, die als eine der en-

    gagiertesten NSU-Aufklärerinnenbundesweit gilt, begrüßt die nun vor-liegende Richtlinie. »Mit den Bestim-mungen zur Entschädigung der Op-fer und deren Hinterbliebenen leistetThüringen einen wichtigen Beitrag

    zur Anerkennung der eigenen Ver-antwortung an den menschenverach-tenden und rassistischen Mord- undTerrortaten des NSU«, sagt sie.Gleichzeitig mahnt die Landtags-

    abgeordnete, die Entschädigungsre-gelungen seien nur ein Schritt, umderThüringer Verantwortung für die Ta-ten des Terrortrios gerecht zu wer-den. »Als nächstes erwarte ich von derLandesregierung konkrete Schrittezur Umsetzung des Landtagsbe-schlusses zur Errichtung einer Stättezur Erinnerung und Mahnung unterEinbeziehung der Opferangehörigenund Betroffenen.« Seit Jahren wird inThüringen darüber diskutiert, wo undwie an die Opfer des NSU würdig er-innert werden kann.Nach Angaben einer Sprecherin

    der Thüringer Staatskanzlei steht in-zwischen zwar fest, dass eine solcheErinnerungsstätte in Erfurt errichtetwerden soll. Wo genau im Stadtge-biet und in welcher Form ist ihren An-gaben nach allerdings noch immerunklar. Auch für eine Einweihungdieses Mahnmals gibt es noch keinenabsehbaren Termin.

    Nach Angaben derThüringer Staatskanz-lei steht inzwischenfest, dass eine Erinne-rungsstätte in Erfurterrichtet werden soll.

  • Die Wunden bluten nochAngehörige der NSU-Opfer und Initiativen üben scharfe Kritik an Prozess und Behörden

    Für die Hinterbliebenen und Be-troffenen ist mit dem Prozess-Endein München das Kapitel NSU nochlange nicht abgeschlossen.

    Von Rudolf Stumberger, München

    »Ich hatte viel Hoffnung in den Pro-zess, doch die fünf Jahre waren eineEnttäuschung«, so Gamze Kubaşık,die Tochter des am 4. April 2006 inDortmund ermordeten MehmetKubaşık, am Dienstag in München.Einen Tag vor der Urteilsverkündungim NSU-Prozess gingen Angehörigeder Mordopfer, ihre Rechtsanwälteund antirassistische Initiativen auf ei-ner Pressekonferenz mit der Prozess-führung, der Bundesstaatsanwalt-schaft und den Behörden hart ins Ge-richt. »Die Fragen konnte man unsnicht verbieten, Antworten haben wirnicht bekommen«, so RechtsanwaltSebastian Scharmer. Im Mittelpunktder Kritik stand dabei die Verengungder Anklage auf wenige Beschuldig-te, das Leugnen von neonazistischenNetzwerken und die Blockadepolitikvon Verfassungsschützern. MehrereInitiativen kündigten für den heuti-gen Mittwoch Aktionen und De-monstrationen zur Urteilsverkün-dung an.Rechtsanwalt Scharmer, der Gam-

    ze Kubaşık als Nebenklägerin imNSU-Prozess vertrat, räumte bei der Pres-sekonferenz mit »drei Mythen« rundum das Gerichtsverfahren auf. Nein,der NSU sei kein Trio, sondern ein

    Netzwerk gewesen, der Rest der Tä-ter und Unterstützer laufe noch freiherum. Die Theorie der Dreiergruppesei eine bequeme Entschuldigung desGerichts gewesen. Mythos Nummerzwei: Dass Fragen nach den Hinter-männern und Unterstützern nicht zuden Aufgaben des Münchner Ge-richts gehörten, also nur die konkre-te Schuld der Angeklagten zu be-handeln sei. Scharmer: Die Behaup-tung, die Bundesstaatsanwaltschafthabe quasi jeden Stein für die Auf-klärung der Morde umgedreht, sei»schlicht falsch«. Mythos Nummerdrei betreffe die Verfassungsschutz-behörden. Diese hätten nichts zurAufklärung beigetragen, im Gegen-teil. Man habe vor Gericht vielmehreinen »Gedächtnisschredder« desVerfassungsschutzes erlebt. DerRechtsanwalt forderte ein sofortiges»Vernichtungsmoratorium«, damitnach Ende des Prozesses in den Be-hörden nicht die Aktenvernichterheiß liefen.Auch Abdulkerim Şimşek, Sohn

    des am 9. September 2000 in Nürn-berg erschossenen Enver Şimşek,zeigte sich vom Prozess enttäuscht:»Es kommt mir so vor, als sei allesumsonst gewesen.« Die Frage, wa-rum die Mörder ausgerechnet seinenVater ausgesucht hätten, bleibe un-beantwortet. Er sei sich sicher, dasses weitere Täter gegeben habe, diefrei herumliefen.Wie sehr die diskriminierenden

    Ermittlungen der Polizei (Verdäch-

    tigung von Angehörigen) und dasLeugnen von nazistischen Netzwer-ken sowie die Verstrickung von V-Leuten des Verfassungsschutzes ihrVertrauen in Demokratie und Justizzerstört haben, machten zwei Über-lebendende des Nagelbombenan-schlags in der Kölner Keupstraßedeutlich. Kemal G. sagte: »So langees bleibt, wie es ist, werden unsereWunden keine Narben bekommenund weiterbluten.« Ohne dass dieHintergründe der NSU-Morde auf-geklärt würden, bleibe Demokratienur ein Wort. Asif S. beklagte, dass

    man von Politikern »keinen einzigenTag« Unterstützung erhalten habe,dabei hätte man sich doch nur Wor-te gegen den Rassismus gewünscht.Sein Rechtsanwalt Alexander Hoff-mann sprach vom Kölner Anschlagals einem »Botschaftsverbrechen«,das die Bundesrepublik veränderthabe. Der Münchner Prozess habedie Anklage auf einige Angeklagteverengt und den »institutionellenRassismus« ausgeklammert. Dasverlorengegangene Vertrauen wie-der herzustellen, sei eine »gesamt-gesellschaftliche Aufgabe«.

    Vor den Statements der Angehö-rigen und ihrer Rechtsanwälte hat-ten Vertreter mehrere Initiativen ih-re Haltung zum Prozessende klar-gemacht. »Nach fünf Jahren Jahr-hundert-Prozess gibt es mehr Fra-gen als Antworten«, so Patrycja Ko-walska, Sprecherin der Kampagne»Kein Schlussstrich«. Dieses Bünd-nis »gegen Naziterror und Rassis-mus« hat für den heutigen Mittwochvor dem Münchner Oberlandesge-richt an der Nymphenburger Straßeeine ganztägige Kundgebung undeine Demonstration organisiert. Ko-walska: »Wir werden vor dem Ge-richt präsent sein.« Die Kundgebungder bundesweiten Kampagne be-ginnt um acht Uhr und dauert denganzen Tag über an. Dabei wird esRedebeiträge von mehreren Initia-tiven und Angehörigen von NSU-Opfern geben, zudem wird die An-klageschrift des Tribunals »NSU-Komplex auflösen« verlesen undVertreter der Nebenklage werdendas Urteil kommentieren. Für 18 Uhrist eine Demonstration von derNymphenburger Straße zum baye-rischen Innenministerium nahe demOdeonsplatz geplant.Caro Keller von »NSU-Watch«, ei-

    ne Initiative, die sich die Beobach-tung des Strafprozesses zur Aufgabegemacht hat, sagte, »ein andererProzess wäre möglich gewesen«. Dadie Neonazi-Netzwerke nicht aufge-klärt wurden, bestehe weiter die Ge-fahr von rechtem Terror. Ähnlich

    Ayse Gülec von der »Initiative 6. Ap-ril« (Mord an Halit Yozgat 2006 inKassel): »Das Ende des NSU-Prozes-ses ist nicht das Ende der Nazi-Strukturen.« Initiativen wie Ange-hörige sind sich einig, dass nach demUrteil die Aufklärung über die NSU-Verbrechen unter öffentlichemDruck weitergehen müsse.

    Ayse Gülec von der Iniative 6. April am Dienstag in München Foto: dpa/Peter Kneffel

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    Umkämpfte ErinnerungskulturDas Gedenken an die Opfer des NSU wurde und wird den Betroffenen oft nicht leicht gemacht. Beispiel KeupstraßeIn der Kölner Keupstraße ringenAnwohner und Betroffene des Na-gelbombenanschlags um die Plat-zierung eines Mahnmals, das aucheine aktive Begegnungsstätte wer-den soll.

    Von Dennis Pesch, Köln

    Mit dem Ende des NSU-Prozessschließt vorläufig ein Kapitel derdeutschen Justizgeschichte. In Nord-rhein-Westfalen verübte das Netz-werk einen Mord und zwei Spreng-stoffanschläge. Am 9. Juni 2004 ließdie rechtsterroristische Gruppe eineNagelbombe vor einem Friseursalonvon türkischen Inhabern hochgehen.22 Menschen wurden dabei verletzt,vier davon schwer. Seit der Selbst-enttarnung des NSU 2011 wurde inder Kölner Keupstraße für ein Mahn-mal geworben. Der Kampf um eine Er-innerungsstätte an die Taten des NSU,die rassistischen Ermittlungen und dieBerichterstattung gegen die Opfer desAnschlages, wird hier wortwörtlichum jeden Zentimeter geführt. SeitFebruar 2014 steht fest, dass am Ein-gang zur Keupstraße, wo heute einehemaliger Güterbahnhof steht, einMahnmal entstehen soll. Das Vorha-ben wird derzeit aber von den Eigen-tümern des Grundstückes blockiert. Essollen zwei fünfstöckige Hochhäusergebaut werden.Vor allem die Größe des Mahn-

    mals ist Eigentümervertreter BerndOdenthal ein Dorn im Auge. DerKünstler Ulf Aminde, der das Mahn-mal entworfen hat, will die Boden-platte des attackierten Hauses in Ori-ginalgröße, parallel auf die Ecke amEingangderKeupstraße kopieren. Vonder Stadt Köln und den Vertretern derKeupstraße wurde der Vorschlag ineinem Wettbewerb einstimmig ange-nommen. »Wenn hier ein Haus ange-griffen wird, dann bauen wir einfachein zweites«, ist dieMessage, die deut-lich machen soll, wie sich die Betrof-fenen und Anwohner der Keupstraßedas Gedenken vorstellen. An der Bo-denplatte soll dafür WLAN ange-bracht, über eine App den Besucherndie Wände angezeigt werden, die ausFilmen bestehen und sich mit demNSU-Komplex oder Alltagsrassismusbeschäftigen. An der Gestaltung derWände sollen alle Besucher und An-wohner teilhaben können. Das Mahn-mal soll so »ein Ort der Begegnung«für unterschiedliche Menschen in derGesellschaft werden und rassistischeRessentiments abbauen.

    Das Mahnmal soll auch dazu auf-rufen, über den NSU hinaus zu den-ken und die Gesellschaft kritisch zuhinterfragen. Mitat Özdemir von der»Initiative Keupstraße ist überall« istvon dem Vorschlag begeistert. »Ich

    erträume mir, dass da ein Platz fürmeine Enkel und Urenkel ist, an demsie sich mit vielen Menschen treffenund informieren«, erklärt er. So wich-tig Özdemir die Erinnerung an denAnschlag findet, so wichtig findet er

    auch zu thematisieren, was danachpassierte. 2006 versuchte er als Vor-sitzender der Interessensgemeint-schaft Keupstraße (IG Keupstraße)mit Nachbarn, Vereinen und der Po-litik Kontakt aufzunehmen. »Wir wa-

    ren am Boden und hatten Angst vorweiteren Bomben«, sagt er. Sein Ver-trauen in die Gesellschaft war weg:»Niemand wollte aufnehmen, was wirim Herzen tragen. Das war über sie-ben Jahre lang wie die Hölle.« Auch

    das spiele in der gesellschaftlichen Er-innerung eine große Rolle. Es dürfenicht nur um die Taten des NSU ge-hen, sondern auch um das Leben derBetroffenen und Angehörigen.Der Bau des Mahnmals liegt je-

    doch auf unbestimmte Zeit auf Eis. Solange bis sich die Stadt Köln, die Ver-treter der Keupstraße und die Eigen-tümer des Grundstückes einigen. Ineinem Werkstattverfahren der StadtKöln wurde 2014 über die architek-tonische Umsetzung der neuen Ge-bäude entschieden, in die auch mög-liche Standorte für das Mahnmal ein-flossen. Özdemir wünscht sich, dassdieBodenplatte direkt amEingangderKeupstraße eingelassen wird. »Wirhaben uns für das Mahnmal an die-sem Ort entschieden, weil es zu-kunftsorientiert ist und dort ein öf-fentlicher Platz entstehen würde, derdie Besucher in die Straße einlädt«,erklärt er.Die Eigentümer des Grundstückes

    lehnen das ab. Zwar stünden sie demgrundsätzlichen Vorhaben positiv ge-genüber, in das Verfahren zur Fin-dung des Mahnmals sei man abernicht eingebunden gewesen. »Wirsind Anfang 2017, bei der Vorstel-lung des Ergebnisses und des Stand-orts, vor vollendete Tatsachen ge-stellt worden«, sagt Odenthal. Das be-streiten sowohl Özdemir als auchAminde. Spätestens seit dem Werk-stattverfahren seien die möglichenStandorte klar gewesen, sagen sie.Die derzeit wahrscheinlichste Lö-

    sung von der Kölner Stadtverwaltungsieht vor, dass die Fassade der Neu-bauten um fünf Meter zurück ge-schoben wird. Das Mahnmal soll dannin einem Weg zwischen den neuenGebäuden eingesetzt, aber bis zurKeupstraße vorgezogen werden. Zu-frieden ist damit allerdings niemand.Meral Sahin, die Vorsitzende der IGKeupstraße, war ebenfalls am Pro-zess zur Findung des Mahnmals be-teiligt, steht in engem Kontakt mitAminde. Siewill durchsetzen, dass dasMahnmal weiterhin an die Ecke amEingang zur Keupstraße kommt: »Aufdem Boulevard wird es nur eine Be-tonplatte sein, deren Funktion kaumersichtlich und die dem Anspruch desMahnmals nicht gerecht wird.« DieVertreter der Keupstraße befürchten,dass es sonst nicht zum Ort der ge-sellschaftlichen Begegnung wird. Dersei in Amindes Vorschlag immenswichtig, um den Opfern des NSU-Komplexes ein Stück mehr Gerech-tigkeit zuzuführen.

    Viele Tatorte, schwieriges Gedenken Foto: Reuters/Staff

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