muskel-skelett-erkrankungen: bedeutung von bewegungsmangel und sportlicher aktivität
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Public Health Forum 21 Heft 79 (2013)http://journals.elsevier.de/pubhef
Muskel-Skelett-Erkrankungen: Bedeutung vonBewegungsmangel und sportlicher Aktivit€at
Thomas Wessinghage und Arne Morsch
Medikamentose Therapien sind zwar
einerseits bei der Behandlung vieler
Erkrankungen notwendig und erfolg-
reich. Gerade jedoch bei den unser
Krankenkassensystem so belastenden
zivilisatorisch bedingten Gesund-
heitsproblemen, wie z.B. Ubergewicht
und Adipositas, Diabetes mellitus Typ
2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und
insbesondere den Muskel-Skelett-
Erkrankungen (MSE), kaschieren sie
ganz nebenbei die eigentlichen
Ursachen.
Studien zeigen, dass MSE die welt-
weit fuhrende Ursache von chroni-
schen Schmerzen, korperlichen Funk-
tionseinschrankungen und eines allge-
meinen Verlustes an Lebensqualitat
sind (Robert-Koch-Institut, 2006). So
spielt hinsichtlich des Auftretens der
in diesem Zusammenhang besonders
relevanten Ruckenschmerzen und Ru-
ckenerkrankungen der zunehmende
Mangel an korperlicher Aktivitat die
wichtigste Rolle. Denn weitaus selte-
ner als vermutet sind schwerwiegende
Veranderungen oder Erkrankungen
der Wirbelsaule fur diese Schmerzen
verantwortlich. Zumeist handelt es
sich um so genannte unspezifische
Ruckenschmerzen, deren eigentliche
Ursache nicht genau diagnostizierbar
ist und fur die ein vielfaltiges Ursa-
chengeflecht (Bewegungsmangel,
Stress, haufiges Sitzen etc.) verant-
wortlich gemacht wird. Bewegungs-
mangel betrifft ca. 80% der Bevolke-
rung uber 30 Jahre und ist Studien
zufolge als unabhangiger Risikofaktor
weltweit fur eine hohe Krankheitslast
und viele Todesfalle verantwortlich
(WHO, 2006). Ein Mangel an korper-
licher Aktivitat ist eines der zentralen
Gesundheitsprobleme des dritten
Jahrtausends weltweit, das auch
Deutschland in erheblichem Maße
betrifft.
Neben einer hohen individuellen
Krankheitslast und der Belastung des
solidarisch finanzierten Gesundheits-
systems verursachenMSE durch Fehl-
zeiten am Arbeitsplatz in Deutschland
auch einen hohen unternehmerischen
und volkswirtschaftlichen Schaden.
Laut den Gesundheitsberichten der
Krankenkassen gehen rund ein Viertel
aller Arbeitsunfahigkeitstage auf ihr
Konto, fuhrend sind Ruckenschmer-
zen (Bodeker et al., 2011). Des Weite-
ren sind sie fur etwa 15% der Fruh-
berentungen verantwortlich (Suga,
2010). Die wirtschaftlichen Folgen
umfassten 1998 rund 30 Mrd. Euro
pro Jahr (Muller und Bohm, 2009).
Aufgrund veranderter gesellschaftli-
cher und demografischer Rahmenbe-
dingungen und eines drohenden Fach-
kraftemangels wird sich die Gesund-
heit der Mitarbeiter in Zukunft immer
mehr zu einem entscheidenden Faktor
fur Produktivitat und Wettbewerbsfa-
higkeit entwickeln. Betrachtet man
die Entwicklung von MSE im Alters-
verlauf, so lasst sich hier mit zuneh-
mendem Alter eine deutliche Zunah-
me erkennen.
Verschiedene Studien liefern hinrei-
chende Befunde, dass zwischen dem
Ausmaß an korperlicher Aktivitat so-
wie korperlicher Fitness und dem
(Nicht-)Auftreten zahlreicher chroni-
scher Erkrankungen eine enge Bezie-
hung besteht (vgl. stellvertretend
Muster und Zielinski, 2006; Myers
et al., 2004; Paffenberger et al.,
1993). Gerade epidemiologisch
besonders relevante Storungen und
Schmerzen im Bereich des Bewe-
gungsapparates sind durch eine regel-
maßige gezielte korperliche Aktivitat
positiv zu beeinflussen. Als Gesund-
heits-Minimaldosis empfiehlt z.B. das
American College of Sports Medicine
(ACSM, 2006) eine tagliche korper-
liche Aktivitat von mindestens 30 Mi-
nuten mit mittlerer Intensitat. Entspre-
chende Empfehlungen werden in den
hoch industrialisierten Landern ledig-
lich von ca. 10-20% der erwachsenen
Bevolkerung erreicht. Dabei wird kor-
perliche Aktivitat definiert als jegliche
durch die Skelettmuskulatur hervor-
gebrachte Bewegung, die zu einem
substanziellen Anstieg des Energie-
verbrauchs uber den Ruhewert hinaus
fuhrt (vgl. Samitz und Mensink,
2002). Diese weit gefasste Definition
geht uber die rein sportliche Kompo-
nente hinaus und subsumiert Tatigkei-
ten mit Berufsbezug bzw. im Haushalt
und taglichen Leben, korperliche Frei-
zeitbetatigungen sowie korperliches
Training.
Die Integration von Bewegung in den
Alltag (ofter kurze Strecken zu Fuß
zurucklegen, Treppe statt Aufzug nut-
zen) ist besser als Nichtstun, struktu-
rierte Bewegungs- und Trainingspro-
gramme haben allerdings weitaus bes-
sere Effekte, insbesondere dann, wenn
schon gewisse Probleme mit dem Be-
wegungssystem vorhanden sind. Un-
ter korperlichem Training versteht
man eine zielorientierte, wiederholt
durchgefuhrte Aktivitat mit einer an-
gemessenen Intensitat, die auf funk-
tionelle Anpassungserscheinungen im
Sinne einer Leistungsverbesserung
abzielt. Gerade bei Ruckenschmerzen
21.e1
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weisen Studien auf den engen Zusam-
menhang zwischen korperlicher Fit-
ness und dem Auftreten von Schmer-
zen hin. Danach sind Maßnahmen zur
Vorbeugung von Ruckenschmerzen
insbesondere dann Erfolg verspre-
chend, wenn sie mit einem hohen Ak-
tivitatsteil durchgefuhrt werden, um
die gesundheitsbezogene Fitness zu
verbessern und einer Dekonditionie-
rung entgegenzuwirken (Ruckentrai-
ning statt Ruckenschule). Ein zielge-
richtetes und regelmaßig durchgefuhr-
tes Training kann somit als zentraler
Schutzfaktor fur die Ruckengesund-
heit angesehen werden (Hildebrand
et al., 2005).
Auch wenn sich korperliche Aktivitat
im Alltag mit moderater Intensitat po-
sitiv auf die Gesundheit auswirkt, so
ist ein zielgerichtetes Training hin-
sichtlich der Aufwand-Nutzen-Bilanz
ungleich vorteilhafter (ACSM, 2011).
21.e2
Geht es darum, konkrete Handlungs-
plane fur ein Training zu entwickeln,
verfugen Fitness- undGesundheitsstu-
dios uber eine ausgezeichnete Infra-
struktur hinsichtlich Raumlichkeiten
und Geraten etc. wie auch uber quali-
fiziertes Fachpersonal. Ein individuell
ausgerichtetes, gerategestutztes Kraft-
training zur Vorbeugung von MSE
kann nirgends besser durchgefuhrt
werden als in einer Fitness- und Ge-
sundheitsanlage. Um die Robustheit
des Bewegungssystems zu steigern,
scheinen derartige Trainingsangebote
auch aus gesundheitlicher Sicht be-
sonders wertvoll. Wer gerne an der
frischen Luft trainiert, um je nach
Jahreszeit die Abwehrkrafte zu star-
ken und/oder zusatzlich Sonne zu tan-
ken, kann diese Indoor-Aktivitaten im
Bereich Krafttraining durch Joggen,
Walken oder andere Ausdauersportar-
ten draußen erganzen.
Abschließend sei festgestellt: Eigen-
verantwortung fur die eigene Gesund-
heit zu ubernehmen heißt immer auch,
eigenverantwortlich zu handeln. Hin-
sichtlich der Pravention von MSE
konnen individuelle Trainingsinter-
ventionen in Fitness- und Gesund-
heitseinrichtungen als wesentlicher
Baustein angesehen werden.
Der korrespondierende Autor erklart, dasskein Interessenkonflikt vorliegt.
Literatur siehe Literatur zum Schwerpunkt-thema.http://journals.elsevier.de/pubhef/literatur
http://dx.doi.org/10.1016/j.phf.2013.03.020
Prof. Dr. Thomas WessinghageDeutsche Hochschule fur Pravention undGesundheitsmanagementHermann Neuberger SportschuleGebaude 366123 [email protected]
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Einleitung
Muskel-Skelett-Erkrankungen gehoren in Deutschland zu den fuhrenden Krankheitsbildern. Neben einer individuellen
Krankheitslast verursachen sie hohe Belastungen fur das Gesundheitssystem sowie hohe Fehlzeiten am Arbeitsplatz. Mit
ausschlaggebend ist ein zunehmender Bewegungsmangel, der weltweit bereits 80% der Bevolkerung uber 30 betrifft. Bei
der Pravention von Muskel-Skelett-Erkrankungen konnen Trainingsinterventionen in Fitness- und Gesundheitseinrich-
tungen eine wesentliche Rolle spielen.
Summary
Musculo-skeletal disorders are belong the leading diseases in Germany. A burden not just to the sufferers but also a
tremendous strain on the national healthcare system and employers because of high absenteeism. One key factor can be
found in the increased levels of physical inactivity which affects 80% of the population aged 30 years and above. Exercise
interventions in fitness and health clubs can play a key role in the prevention of musculo-skeletal disorders.
Schlusselworter:
Muskel-Skelett-System = Musculoskeletal system, Bewegungsmangel = physical inactivity, korperliche Aktivitat =
physical activity, Fitnesstraining = fitness training, Eigenverantwortung = personal responsibility
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21.e3