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Nardis 1 Nardis A uch wenn dieses Stück Miles Davis zugeschrieben wird, so ist es – zumindest aus harmonischer Sicht – eindeutig von Bill Evans beeinflusst (Miles hat es selbst nie aufgenommen!). Zwischen beiden Musikern gab es eine intensive Zusammenarbeit, die sich natürlich auch in kompositorischer Hinsicht niedergeschlagen hat. Hier ist das Leadsheet: Formal haben wir es wieder mit dem altbekannten, 32-taktigen AABA-Schema zu tun. Dafür ist „Nardis“ (vermutlich 1958 entstanden) aus harmonischer Sicht eine für die dama- lige Zeit ungewöhnliche und wegweisende Komposition. Ein # als Vorzeichen deutet auf E-Moll (Äolisch). Andererseits tendiert die Akkordfolge – besonders wegen der Anfangswendung E-7/Fmaj7 (I-7/bIImaj7) – stark nach E-Phry- gisch. Vergegenwärtigen wir uns deshalb noch einmal die dazugehörige diatonische Funk- tionsreihe:

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Nardis

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Nardis

Auch wenn dieses Stück Miles Davis zugeschrieben wird, so ist es – zumindest aus harmonischer Sicht – eindeutig von Bill Evans beeinfl usst (Miles hat es selbst nie auf genommen!). Zwischen beiden Musikern gab es eine intensive Zusammenarbeit,

die sich natürlich auch in kompositorischer Hinsicht niedergeschlagen hat. Hier ist das Leadsheet:

Formal haben wir es wieder mit dem altbekannten, 32-taktigen AABA-Schema zu tun. Dafür ist „Nardis“ (vermutlich 1958 entstanden) aus harmonischer Sicht eine für die dama-lige Zeit unge wöhnliche und wegweisende Komposition.

Ein # als Vorzeichen deutet auf E-Moll (Äolisch). Andererseits tendiert die Akkordfolge – besonders wegen der Anfangswendung E-7/Fmaj7 (I-7/bIImaj7) – stark nach E-Phry-gisch. Vergegenwärtigen wir uns deshalb noch einmal die dazugehörige diatonische Funk-tionsreihe:

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Die neue Jazzharmonielehre

Geht man von diesen Voraussetzungen aus, dann ist der A-Teil fast vollständig in E-Phry-gisch analysierbar:

B7 und Emaj7 erweitern den ansonsten phrygischen Rahmen, durchbrechen also die Modalität, nicht aber die Tonalität (E) und werden folglich als Modal-Interchange-Funk-tionen interpretiert (B7 aus Harmonisch Moll und Emaj7 aus Ionisch). Auch der B-Teil ist schnell analysiert:

Dass „Nardis“ ein in erster Linie phrygisches Stück ist, wird durch einen Umstand bestä-tigt, den wir auch bei anderen Stücken aus der modalen Frühzeit fi nden. So sehr ich bemüht bin, alle Kirchentonleitern als eigenständige Klangkomplexe vorzustellen, so sehr bin ich mir bewusst, dass wir sie zuerst als Verschiebungen einer Durtonleiter ken nen gelernt haben. Und da wir zudem die leidige Angewohnheit haben, beson ders gern in C-Dur zu denken, ist es nur logisch, dass ein Trompeter wie Miles Davis, der sich seine Akkord ver-bindungen auf dem für ihn unge wohnten Klavier zusammensuchen muss, die ersten moda-len Gehversuche in eben den Kirchentonleitern macht, die sich aus C-Dur ableiten und auf den weißen Tasten spielen lassen. Und so schreibt er ein dorisches Stück zuerst in D („So What“), ein phrygisches Stück in E („Nardis“).

Und damit wären wir mit der Analyse auch schon fertig. Alles klar? So schlüssig das Ganze klingt – es ist leider nicht mehr als theoretisches Gefasel! Hier habt ihr ein gutes Bei-spiel für eine typische „Papieranalyse“, die nicht durch das Gehör abgestützt ist. Wenn ihr nämlich die Originalaufnahme anhört, stoßt ihr in Takt 3 und 4 des A-Teils auf eine kurze Nebenstimme, die fast alle bisherigen Überlegungen über den Haufen wirft:

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Versucht die folgenden Gedankengänge nachzuvollziehen: Während die Linie anfänglich noch chromatisch verläuft (wegen der Haupttöne 13 und b13 kann man bei B7 auf eine „halbierte“ Dominante schließen), bezieht sich der zweite Takt mit F# = #4/#11 eindeutig auf C-Lydisch. Das Tonmaterial von Cmaj7 wirkt in den nächsten Klang hinein. Entsprechend ist A-7 dorisch und nicht äolisch (C-Lydisch = A-Dorisch; F# = 13). Damit verschiebt sich aber das gesamte modale Bezugssystem. Da der Ton F# ein solches Gewicht hat, wird er auch die Tonika E-7 beeinfl ussen. Sie muss äolisch sein (F# = 2/9 spricht gegen E-Phrygisch). Das Vorzeichen (1#) ist also korrekt gewählt.

Schauen wir uns dazu den ersten A-Teil des Solos von Bill Evans an (auf „Spring Leaves“):

Dieser Ausschnitt belegt, dass Bill Evans tatsächlich E-Äolisch und nicht E-Phrygisch als zentralen Sound empfi ndet (das penetrant verwendete F# lässt daran keinen Zweifel). Ich möchte euch diese Passage aber noch aus einem zweiten Grund zeigen: Interessant ist, dass die charakteristischen Akkorde (Fmaj7 und Emaj7) zumindest in diesem A-Teil gar nicht angespielt werden (weder in der linken noch in der rechten Hand). Bill Evans reduziert die Changes auf Elementarfunktionen in E-Moll (siehe Begleitung). Ein Solo muss also nicht bis ins letzte Detail dem harmonischen Grundgerüst des Themas entsprechen. Die Freiheit, belie big zu reharmonisieren, also die Akkordfolge ad hoc zu verändern (zu erset zen, zu erwei tern oder – wie hier – zu vereinfachen), ist gängige Improvisationspraxis.

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Die neue Jazzharmonielehre

In gewisser Weise folgt Bill Evans aber dennoch dem Modal-Interchange-Gedanken, indem er trotz des moll-tonalen Zentrums B7 recht willkürlich mal Mixolydisch(b13) (Takt 3), mal HM5/Alteriert (Takt 6), mal HTGT (Takt 8) auffasst. Er ist sich also selbst nicht ganz schlüs sig, wie der B7 zu interpretieren ist – als V7 in E-Moll oder E-Dur. Schön ist übri gens auch das Spiel mit dem Rhythmus. Die über den Taktstrich schwappenden Vier tel-triolen verwischen alle Schwerpunkte und verleihen der Phrase eine schwebende Qualität.

Kehren wir zur Akkordfolge von „Nardis“ zurück. Die Funktionsanalyse bleibt in E-Äolisch zwar dieselbe wie in E-Phrygisch, die Skalenzuordnung natürlich nicht:

Jetzt sind Fmaj7 (bIImaj7 aus Phrygisch), B7 (V7 aus Harmonisch Moll) und Emaj7 (Imaj7 aus Ionisch) Modal-Interchange-Funktionen.

Auch der B-Teil sieht jetzt ganz anders aus (es ist sinnvoll, die Analyse nicht nur auf E-Moll sondern auch auf die Durparallele G-Dur zu beziehen):

Cmaj7 wäre in E-Äolisch eigentlich Lydisch. Berücksichtigt man aber die vorausgegangene Akkordverbindung (Fmaj7/D-7/G7) und den darin enthaltenen Ton F, dann ist C-Ionisch die schlüssigere Wahl. Und dennoch ist Cmaj7 ganz eindeutig eine IV. Stufe. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es genau diese Stelle war, an der mir erstmals klar wurde, dass das Stück tatsächlich in E-Äolisch und nicht in E-Phrygisch steht. Modale Kom positionen bewegen sich vorwiegend in einer Skala – Improvisationen werden al so rela tiv diatonisch sein. Das Solo von Bill Evans spricht aber zum Teil eine andere Spra che. Im B-Teil spürt man ganz deutlich, wie die Linien von einer modalen zu einer funk tionalen Denkweise umschalten. Während sie im A-Teil und am Beginn des B-Teils eher fl ächig, schwebend und auch rhythmisch offen wirken, also linear-horizontal gespielt werden, ändert sich bei D-7/G7/Cmaj7 das Improvisationskonzept. Plötzlich hört man all das, was man von typischen Bebop-Linien über funktionale Akkordfolgen gewohnt ist: chro matische Umspielungen von Akkordtönen, alteriertes Tonmaterial, extreme Achtelbewegung etc. – also vertikal-har-mo nisch konzipierte Phrasen. Wenn die Passage also nicht modal gespielt wird, spricht das zusätz lich für E-Äolisch – denn in E-Moll bzw. G-Dur lassen sich die Changes funktional deuten.

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Die Analyse von „Nardis“ soll zeigen, dass es manchmal Kleinigkeiten sind (z. B. eine schein bar unbedeutende Nebenstimme), die unser Klangempfi nden und damit die Inter-pretation einer ganzen Komposition beeinfl ussen. Kratzt also nicht nur an der Ober fl äche des Leadsheets, sondern grabt euch auch in die tieferen Schichten der dazu gehörigen Aufnahme.

Zum Schluss möchte ich noch auf die ungewöhnliche Färbung des Themas im A-Teil eingehen. Reduziert man die Melodie auf ihre zentralen (charakteristischen) Töne, dann kommt eine recht seltsame Skala zum Vorschein (hier abwärts notiert, um die Querverbindung zum Thema zu verdeutlichen):

Im Englischen wird diese Tonfolge „Double Harmonic Major“ genannt – in Anlehnung an die beiden übermäßigen Sekundschritte, die an Harmonisch Moll erinnern (daher „double harmonic“) sowie die große Terz (daher „major“). Melodien, denen diese Skala zugrunde liegt, haben einen stark orientalischen Einschlag.

Es wäre zu überlegen, ob man bei „Nardis“ nicht versuchen sollte, den gesamten A-Teil mit diesem Sound zu spielen. In der Praxis wird aber – wie die Improvisationen von Bill Evans beweisen – recht brav d.h. traditionell über die Akkordfolge gespielt (entsprechend der oben besprochenen Skalenanalyse).

Logischerweise muss es ein Pendant zu Double Harmonic Major geben – „Double Harmonic Minor“:

Diese Skala heißt hierzulande „Zigeuner Moll“. Ich möchte mit diesen beiden Ska len-bei spielen daran erinnern, dass Jazzmusiker immer wieder in anderen Musik kultu ren nach Inspi ration gesucht haben. Gerade im Zusammenhang mit modalen Konzepten sind Kom po sitionen, die mit außereuropäischen Tonleiterformen experimentieren, gar nicht so selten.