netz geist wille teil 1 und 2

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  • 7/23/2019 Netz Geist Wille Teil 1 Und 2

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    1/2 Der freie Wille im NetzJrg Friedrich 14.01.2015Gegenwart und Zukunft der vernetzten VernunftDas Anhufen von Unmengen unserer persnlichen Daten ber unser Tun und Lassen irgendwo auf Servern von Behrden und Unternehmen macht uns Sorgen. Wir haben Angst, durchschaubar, klassifizierbar und manipulierbar zu werden. Manipulierbarkeit heit, dass wir irgendwann nicht mehr nach unserem eigenen Willen Handeln sondern, vielleicht sogar ohne es berhaupt zu ahnen, dem Willen fremder Mchte willenlos folgen.Zudem knnte es sein, dass diese Mchte, gesttzt auf jene ungeheuren Datenmengen, dieDeutungshoheit ber unseren Willen erlangen. Dann wren wir selbst nicht mehr diejenigen, die wssten, was wir wollen. Stattdessen wrden die Datensammler und -analysierer mit Sicherheit sagen, was unser Wille ist. Sie wssten, was wir wollen, vielleicht, um unserem Willen zu dienen, vielleicht aber auch, um zu verhindern, dasswir unsrem bsen Willen folgen knnen.Was ist der freie Wille?

    Der Wille, zumal der "Freie Wille" ist in die Defensive geraten. Nicht erst, seit die Neurobiologie meint, nachweisen zu knnen, dass das Gehirn schon eine Entscheidung ber die Auswahl einer von zwei Optionen getroffen hat, bevor das Ich selbst etwas davon wei, haftet dem Willen der Ruf an, etwas Unntiges oder sogar Unerwnschtes zu sein. Schon in meinen Kindertagen wurde ich darauf hingewiesen, dass dasWollen etwas Unerhrtes ist. "Ich will ein Eis!" Das auszusprechen war ungehrig, "ich mchte gern" oder "ich mchte bitte", das hatte ein wohl erzogenes Kind zu sagen. Nietzsches "Wille zur Macht" geistert als Phrase durch die politischen Komment

    are der Gegenwart, machtwillige Politiker sind uns suspekt, auch wenn wir sie heimlich bewundern.

    Andererseits ntigt uns der Wille Respekt ab. Wenn Menschen einen Ironman-Triathlon absolvieren oder einen Ozean durchschwimmen, dann sagen wir, dass nur ein "eiserner Wille" das mglich gemacht hat. Dem Willen werden heilende Krfte zugeschrieben, etwa, wenn wir sagen, dass jemand eine schwere Krankheit aufgrund seines starken Willens berstanden habe.

    Wir haben also offenbar ein ambivalentes Verhltnis zum Willen. Offensichtlich istjedenfalls, dass er aber im Alltag nichts zu suchen hat, dort haben wir den Willen dem Funktionieren, der Ratio oder der Taktik unterzuordnen. Und das gilt nicht nur fr den alltglichen Umgang mit Freunden, Kollegen, Verwandten. Fhrungskrfte u

    d Politiker, die wir beobachten und deren Verhalten wir diskutieren, werden fr ihren starken Willen, der sie durchsetzungsfhig und mchtig macht, zwar bewundert, aber er macht sie nicht sympathisch.

    In der Dichtung vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte begegnet uns der Wille als etwas groes, als eine bewundernswerte Eigenschaft. Hlderlin schreibt vom groen Willen, der durch die Liebe niedergezwungen wird, und von der Freiheit des Menschen aufzubrechen, wohin er will. In Schillers Balladen vollbringen willensstarkeMenschen Unglaubliches, aber sie knnen, wie der Taucher, auch scheitern.

    Der Wille erscheint als etwas, das dem Handeln groe Ziele setzt, aber auch als etwas, das an den Widerstnden der Welt und des Lebens scheitern kann. Der Wille isteine Sache der Freiheit und des Aufbruchs. Freier Wille bedeutet eigentlich, da

    ss der Mensch frei zum Aufbruch ist, hin zu dem, was ihm sein Wille als Ziel setzt.

    Es ist ganz offensichtlich, dass die Experimente der Neurowissenschaftler mit dem Willen gar nichts zu tun haben. Trotzdem sollte uns die Diskussion um den freien Willen, den die Forscher ausgelst haben, zu denken geben. Denn was sagt es berunsere Zeit und unsere Kultur, dass wir berhaupt bereit waren, die Ergebnisse derNeuro-Experimente als Gefahr fr den Willen anzusehen? Welche Degeneration des Begriffs vom Willen muss dem Voraus gegangen sein?

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    Unsere Gesellschaft scheint ohne den Willen auszukommen, statt unserem Willen zufolgen, sollen wir unsere Funktion erfllen, einen Nutzen maximieren und dafr dienotwendigen Schritte ausfhren. So sieht das Handeln der vernetzten Vernunft aus,in dem jeder Einzelne eben ein funktionierendes Bindeglied im Netz, ein Rad im Getriebe ist. Da kommt es auf den Willen des Einzelnen nicht an, im Gegenteil, erstrt. Allenfalls kann der Wille in den Dienst dieses Funktionierens gestellt werden. Deshalb versuchen wir auch, jede Regung des freien Willens mit Ntzlichkeitserwgungen zu rechtfertigen. Ich jogge nicht, weil ich einen Marathon schaffen will, sondern weil ich im Interesse von Arbeit und Gesellschaft fit bleiben muss.

    Aber am Ende zhlt der groe Wille. Stolz sind wir darauf, etwas Ausgefallenes zustande gebracht zu haben, auch wenn es scheinbar sinnlos ist. Es muss Kraft kosten.Widerstnde mssen berwunden werden. Rckschlge sind hinzunehmen. Es braucht einen len Atem. Das Wort Wille sollten wir ganz und gar fr das Streben nach Zielen reservieren, die nur durch eigenes Handeln und auch dann oft nur durch aktives berwinden von Widerstnden erreicht werden knnen, wobei regelmig eine gewisse Ausdauer und eharrlichkeit von Nten ist. Der Wille ist nicht das, was uns hilft, vorher bekannte und gerechtfertigte Ziele auch zu erreichen, sondern der Wille setzt selbst diese Ziele. Diese Ziele sind fr den Einzelnen gro, sie haben Bedeutung, sie gebendem ganzen Leben einen Sinn. Ziele des Willens mssen nicht fr alle und jeden bedeutend sein, was fr den einen eine groe Sache ist, kann fr jemanden anders im wahrsten Sinne bedeutungslos sein.Der Wille des Einzelnen im Netz der sozialen Beziehungen

    Trotzdem bleibt natrlich offen, ob sich der Wille rechtfertigen muss und wo er herkommt, ob ein Wille gebildet wird und ob jeder Wille akzeptabel ist. Die Akzeptanz des Willens eines Jeden wird in der sozialen Gemeinschaft ausgehandelt. Zunchst einmal ist klar, dass in einer liberal und demokratisch verfassten Gesellschaft der Wille eines jeden seine Schranken beim Willen der anderen findet. Wir akzeptieren nicht, wenn einer seinen Willen auf Kosten anderer durchsetzt.

    Das ist allerdings keine groe Einschrnkung. Wenn wir genau hinsehen, bemerken wirnmlich, dass wir im allgemeinen Dinge wollen, die auch die anderen in der Gemeinschaft groartig finden. Wille ist immer schon vernetzter Wille. Das hat zwei Grnde.

    Einerseits kommen wir auf die Ziele unseres Willens meistens durch die Beobachtung dessen, was andere machen. Ich sehe im Fernsehen, wie jemand die Eiger-Nordwa

    nd bezwingt, das ntigt mir Respekt und Bewunderung ab. Ich denke: Das will ich auch mal erleben. Dieses Gefhl, nach einer solchen Strapaze oben am Gipfel zu stehen, muss grandios sein. Also will ich auch auf den Berg. Es muss nicht der Eigersein, schon gar nicht die Nordwand. Aber es muss etwas sein, was mich im Handelnmit diesem bewundernswerten Bergsteiger verbindet.

    Andererseits ist eine starke Motivation fr das Durchhalten der Strapaze auf dem Weg zum Ziel meines Willens die Anerkennung durch andere. Ich will zur Gemeinschaft der Bergsteiger gehren, will mit ihnen Geschichten von Bergbesteigungen austauschen knnen. Und ich will meinen Freunden, die nicht auf Berge klettern, davon erzhlen, will sie mit meiner Willensstrke vielleicht auch beeindrucken, will jedenfalls, dass sie meine Begeisterung anerkennen.

    So bildet sich ein soziales Netzwerk des Willens. Wir vernetzen uns mit Menschen, die den gleichen Willen haben, die unsere Ziele teilen oder anerkennen. Auf diese Weise kann es gar nicht geschehen, dass mein Wille fr die Gemeinschaft nichtakzeptabel ist. Er wird zum gemeinschaftlich geteilten Willen. Am Ende kann es sich sogar um den Willen einer Gemeinschaft handeln, nmlich dann, wenn eine Gruppegemeinsam etwas will, und der einzelne seinen Willen dem Ziel der Gruppe anpasst.Knnen Algorithmen wissen, was ich will?

    Allerdings ist es denkbar, dass mir die Anderen Vorschriften darber machen, was i

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    ch berhaupt wollen darf. Das kann sowohl das Festsetzen meines Willens betreffen,als auch die Akzeptanz meiner Handlungen, zu denen ich mich entschliee, um meineZiele zu erreichen.

    Wenn ich einen Bergsteiger im Fernsehen bewundere und daraufhin beschliee, auch Bergsteiger werden zu wollen, mache ich mich vielleicht lcherlich: Ich habe keineErfahrung, bin vielleicht nicht sportlich genug, oder schon zu alt. Vielleicht haben andere schon gesehen, dass ich auer Atem komme, wenn ich nur das Treppenhausbenutze. Sie sagen: Das kannst du gar nicht wollen.

    Wenn ich mich dann trotzdem in die Berge aufmache und trotz des schlechten Wetters versuche, den Berg zu besteigen, wird man mich als leichtsinnig bezeichnen, wird mich nicht bewundern sondern vielleicht sogar verachten dafr, dass ich meinerSehnsucht gefolgt bin, dass ich meinen Willen nicht unter Kontrolle hatte und mich oder vielleicht sogar andere in Gefahr gebracht habe.

    Hier kommen nun Big Data und die Algorithmen ins Spiel. Sie sind nicht das Fundament, sondern die Konsequenz der vernetzten Vernunft. Schon in der Beurteilung meiner Sportlichkeit, meines Alters und meiner gegenwrtigen Fhigkeiten kommt die Idee zum Ausdruck, dass man berechnen knnte, ob mein Wille vernnftig ist. Dass man sozusagen objektiv ermitteln knnte, was ich wollen sollte und drfte.

    Nicht nur den mchtigen Unternehmen und Behrden, auch uns selbst werden bald nichtnur nahezu unbegrenzte Speicherkapazitten zur Verfgung stehen, sondern auch Softwa

    relsungen auf Supercomputern, die in der Lage sind, die angehuften Datenmengen rasend schnell zu analysieren, zu kategorisieren und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Sie knnen und werden uns untersttzen, Urteile zu treffen, Entscheidungen frHandlungen herbeizufhren, die wir bisher unserer menschlichen Kreativitt und Intuition anvertraut haben.

    Aber kann ein Algorithmus, der Datenberge analysiert, mir Vorschriften bezglich meines Willens machen? Machen wir uns einmal bewusst, welchen Anteil dessen, waswir tun, wir tatschlich per Smartphone den groen Datensammlern mitteilen. Oft wirdbehauptet, wir bermitteln fast alles von uns an irgendwelche Big-Data-Algorithmen. Es mag auch Leute geben, die mit Krperfunktionsmessern ausgestattet joggen, dabei ihre Laufstrecke aufzeichnen, Mails lesen und im Internet Einkufe erledigen.Aber selbst die schaffen nicht mehr als einen Bruchteil dessen, was wichtig ist,

    in die Cloud zu bermitteln. All das, was ich im Vorbeilaufen sehe, der Freund, dem sie zuwinken, die Frau, der ich nachschaue. Und vor allem, das alles, was ihnen whrend des Laufens durch den Kopf geht, bleibt den Algorithmen verborgen. Dasssie den Sonnenaufgang bewundern oder dass sie eine Blume am Wegesrand gar nichtwahrnehmen, dass sie sich tglich ber den Duft aus einem Caf freuen, an dem sie vorbeikommen.

    Mark Twain sagte, jeder Mensch sei wie ein Mond, der den Anderen nur immer eineSeite zuwendet und die andere vor ihnen verbirgt. So verbergen wir auch ganz selbstverstndlich ganz Wesentliches von uns vor den Algorithmen. Wollen sie vom Sichtbaren auf das Unsichtbare schlieen, haben sie das gleiche Problem wie ein guterBekannter, der meint, mich zu kennen: Sie mssen raten, und sie wissen nie, wie weit sie daneben liegen.

    Nun ntzt es uns vielleicht wenig, wenn wir uns selbst ber die Grenzen des Wissensder Algorithmen vllig im Klaren sind, gleichzeitig aber andere ihre Entscheidungen, die uns selbst betreffen, auf den Analysen und Ergebnissen der Big-Data-Verfahren aufbauen. Was hilft es, wenn Big Data uns in Wahrheit nicht kennt, aber dieBehrden uns nach der Analyse der abgeschpften Daten als Terroristen klassifizieren?

    Es steht vllig auer Frage, dass diese Gefahr ein guter Grund ist, den Datensammlern jeder Couleur kritisch gegenber zu stehen und ein Klima zu erzeugen, das den Al

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    gorithmen prinzipiell misstraut. Voraussetzung fr das Funktionieren dieser Mechanismen ist ja, dass ihre Nutzer tatschlich glauben, dass ihre Algorithmen im Wesentlichen richtig liegen. Wiederum ist also notwendig, dass das Ergebnis der Berechnungen der Grocomputer nicht nur als richtig, sondern als Wahrheit genommen wird, dass also in der Gesellschaft insgesamt ein Konsens darber besteht, dass man durch Datensammlung und algorithmische Analyse nicht nur etwas Zutreffendes, sondern auch etwas Wahres ber einen Menschen herausfinden knnte. Wenn wir alle dem rational-logischen Kalkl misstrauen wrden, dann wrden auch Politiker und Geheimdienstchefs diesem Kalkl misstrauen, denn sie sind wie wir Bewohner einer gemeinsamen Kultur, sie teilen unsere Grundberzeugungen.

    Wir greifen also viel zu kurz, wenn wir uns nur damit beschftigen, wem unsere Daten gehren und was damit gemacht werden darf. Wenn wir bei dieser Frage stehen bleiben, dann haben wir schon zugestanden, dass mit diesem Wissen irgendetwas Wesentliches ber uns in Erfahrung zu bringen wre. Es kommt darauf an, diesen Konsens fragwrdig zu machen, zu erkennen, dass der Wille des Menschen nicht algorithmisch verstehbar und vorhersehbar ist.

    2/2 Ist das Netz ein "erweiterter Geist"?Jrg Friedrich 04.02.2015Gegenwart und Zukunft der vernetzten Vernunft - Teil 2Im ersten Teil dieser Serie ging es um den freien Willen und um die Frage, ob ein Netzwerk besser wissen kann als jeder einzelne Mensch, was der Wille dieses Einzelnen ist, was er sein kann oder sein sollte (Teil 1: Der freie Wille im Netz.

    Der Wille des Einzelnen ist immer schon vernetzt mit den Anderen, denn ich finde meine Ziele, indem ich andere beobachte und dabei herausfinde, was fr mich selbst ein groes Ziel wre, das ich erreichen will. Zudem ist das groe Ziel eben immer in der Gemeinschaft gro, meine Willenskraft verschafft mir Anerkennung und bindetmich in eine Gemeinschaft ein.

    Andererseits droht aus dieser Vernetzung des Willens auch Gefahr: Durch das Netzwerk akzeptiere ich, was vernnftig ist, also auch, was ich mir vernnftigerweise zum Ziel setzen kann. Wenn ich etwas will, was ich nach Meinung der vernetzten Gemeinschaft gar nicht erreichen kann, dann werde ich mit diesem Willen auch nichtakzeptiert. Manche sagen, dass ich das gar nicht wirklich will, andere verurteilen mich vielleicht als leichtsinnig oder rcksichtslos. Das Netzwerk schreibt mirmeinen Willen vor.

    Diese Gefahr wchst mit den Mglichkeiten der Online-Vernetzung mit Big Data und Faktenanalyse per Algorithmus. Wenn ich glaube, dass die Cloud-Algorithmen mich besser kennen, als ich mich selbst kenne, dann knnten die mir vorschreiben, was mein"eigentlicher Wille" ist.

    Wie ist das mglich? Wird das Netz zum Teil meines Geistes, der meinen Willen kennt und die richtigen, zu mir passenden Ziele setzt? Ist das Internet mein "erweiterter Geist"?Das Denken verlsst das Gehirn

    Die Idee des erweiterten Geistes setzt bei der Tatsache an, dass ich zum Denkenund Entscheiden oft Hilfsmittel aus meiner Umgebung bentige. Ich mache mir Notize

    n, fhre Telefonbcher, schreibe Einkaufszettel usw. Das alles entlastet mein Gehirnund hilft mir beim Denken. Man knnte sagen, dass diese ganzen externen Hilfsmittel Teil meines Denkens sind, weil sie sozusagen ins Denken einbezogen sind. So,wie eine Liedtextzeile, die ich auswendig gelernt habe, zum Denken gehrt, so gehrtdazu auch die Zeile, die ich irgendwo nachschlage und ablese.

    Dass das Internet zum Teil eines so verstandenen erweiterten Geistes wird, erleben wir heute tagtglich in alltglichen Verrichtungen. Das Smartphone ist das Kopplungsglied zwischen dem biologischen Geist im Gehirn und dem erweiterten Geist, der aus Kalender, Notizfunktion und E-Mail-Postfach, Suchmaschinen und Online-Enzy

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    klopdien besteht. Wir rufen bei Bedarf eine Unmenge von Informationen aus dem Netz in einer Przision und Zuverlssigkeit ab, die das Gehirn nicht liefern knnte, weilwir sie entweder nie gelernt haben oder weil sie lngst im Ungewissen der Erinnerung versunken sind.

    Prinzipiell ist das nichts Neues. Gut gefhrte Telefonbcher, die strukturierte Postablage, ein Kalender aus Papier, Lexika und Bcherregale leisteten in den Zeiten vor dem Internet das gleiche. Auch hier zeigt sich wieder, dass die vernetzte Vernunft nicht mit dem Internet entstanden ist, sondern dass sie sich dieses Netzwerk nur als konsequente Weiterentwicklung der Prinzipien, die die moderne Gesellschaft prgen, geschaffen hat.

    Die Anfnge der vernetzten Vernunft liegen bei den groen Enzyklopdien der Neuzeit, die das Wissen nicht zu einer bestimmten Verwendung sammelten, sondern strukturiert aufbereiten wollten. Sie beginnt bei den regelmigen Post- und Telegrafennetzen,die nicht mehr bei Bedarf Nachrichten transportierten sondern die einzelne Nachricht in einen bermittlungstakt einsortierten. Sie hat ihre Wurzeln bei Bibliotheken, die nach vorgegebenen Regeln alles sammelten, was erschien, und nicht den Vorlieben eines einzelnen Denkers folgten. All diese Netzwerke gehorchen einer gewissen Brokratie, einer technologischen Vorschrift der Vernetzung, sie bereiten das vor, was wir heute die vernetzte Vernunft nennen knnen. Ganz selbstverstndlichgehren in diese vernetzte Vernunft dann auch die standardisierten Terminkalender,Telefonbcher, Karteiksten und Notizblcke.Erweiterter Geist und vernetzte Vernunft

    Der erweiterte Geist ist also viel mehr als das, was ich mir selbst in meiner Umwelt ablege, um mein Gedchtnis zu entlasten. Die vernetzte Vernunft ist von Beginn an so etwas wie ein gemeinsamer Geist der vernetzten Menschen, die eben zumeist gar nicht auf eigene Erinnerungen, Notizen, Informationen zugreifen. Stattdessen nutzen wir Informationsstrukturen, die andere nach bestimmten Regeln geschaffen und so abgelegt haben, dass jeder sie finden kann.

    Es macht keinen Unterschied, ob es mein eigenes Telefonbuch ist, das zum Teil meines erweiterten Geistes wird, oder das eines Freundes, ob es das gelbe Buch imSchrank ist, welches die Telekom mir immer noch Jahr fr Jahr ins Haus liefert. Esist auch egal, ob es das "Globale Adressbuch" des Unternehmens ist, in dem icharbeite, ob es die Telefonauskunft oder eine Webseite zur Personensuche ist. Sie

    alle gehren zu meinem erweiterten Geist, und indem ich ebenfalls meine Daten indiese Systeme einspeise, gehrt meine Erinnerung, mein ausgelagertes Gedchtnis, ebenfalls zum erweiterten Geist der anderen, wird zum Teil der vernetzten Vernunft.

    Allerdings reicht es nicht, ein Smartphone benutzen zu knnen, um die vernetzte Vernunft in den Dienst des eigenen Geistes stellen zu knnen. Ich muss eine Menge zuvor gelernt haben, damit das vernetzte Gedchtnis oder das Gedchtnis des Netzes tatschlich zum Teil meines erweiterten Geistes werden kann. Zum ersten muss ich dieKulturtechnik des Suchens beherrschen, und das ist mehr als die Fhigkeit, in einSuchmaschinenfenster Begriffe eingeben zu knnen. Zu dieser Kulturtechnik gehrt, die passenden Begriffe in der richtigen Zusammenstellung zu kennen. Zudem muss ichin der Lage sein, aus Suchergebnissen Ideen fr weitere Suchen abzuleiten. Schlielich muss ich die Ergebnisse hinsichtlich ihrer Zuverlssigkeit und Relevanz beurte

    ilen knnen. Das sind Fhigkeiten die jeder von uns durch die Praxis mehr oder weniger gut erlernt. In Lehrplnen findet sich diese Kulturtechnik, die so wichtig wieSchreiben und Rechnen geworden ist, bislang nur selten.

    Aber ich muss nicht nur suchen knnen, ich muss meine Frage, die zur Suche wird, berhaupt erst einmal formulieren knnen. Dazu muss in meinem ganz privaten, nicht erweiterten Geist etwas vorhanden sein, was mich zum Suchen veranlasst, ein winziges Informationsfragment, welches mir die Hoffnung oder sogar die Gewissheit gibt, dass es da drauen im erweiterten Geist der vernetzten Vernunft etwas gibt, wasaus diesem kleinen Teil eine komplette Information macht. Ich muss einen Namen k

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    ennen, ein Teil eines Satzes. Wenn mir an dieser Stelle als Vergleich etwa das Sandkorn in den Sinn kommt, das Bastian Balthasar Bux in der Mitte der Unendlichen Geschichte in der Hand hlt und aus dem er dann die ganze Welt wieder entstehenlassen kann, dann muss ich diese Geschichte einmal gelesen haben. Die Namen derPersonen und den genauen Text, kann ich aus dem erweiterten Geist abrufen, egal,ob dieser aus meiner eigenen Bchersammlung besteht oder aus den digitalisiertenBuchbestnden des Internets. Aber ohne die ganz private Erinnerung an dieses Buchntzt mir die Existenz der physischen Bibliothek ebenso wenig wie die Datenbankender Suchmaschinen.Der erweiterte Geist entscheidet

    Aber zum Geist gehrt ja wesentlich mehr als das Gedchtnis, das sich irgendwelche Informationen merkt und bei Bedarf bereitstellen kann. Zum Geist gehrt ja vor allem das Denken, das Informationen verarbeitet, bewertet, verwendet, weiterentwickelt und zu Entscheidungen macht. Auch dabei kann der erweiterte Geist ttig werden.

    Wir kennen das auch schon lange, nmlich immer dann, wenn wir andere fr uns entscheiden lassen. Wir akzeptieren bestimmte Autoritten, Eltern, rzte, Experten, die unseinen Rat geben und deren Rat wir annehmen. Vernetzt Vernunft, das heit auch: Esgibt Experten, die fr mich entscheiden knnen, und es wird allgemein erwartet, dass man auf den Rat von ausgewiesenen Experten hrt. Der eigene Wille wird an die Experten delegiert. Der Berufsberater wei besser als ich selbst, welche Ausbildungzu mir passt und mit welchem Beruf ich glcklich werde.

    Voraussetzung fr diesen Verzicht auf die eigene Entscheidungsfreiheit ist, dass wir davon berzeigt sind, dass die richtige Entscheidung einerseits auf der Basis von Fakten und Verfahren gefunden werden kann, dass es aber andererseits unglaublich kompliziert ist, die Fakten zu bewerten und die richtigen Schlussfolgerungendaraus zu ziehen, sodass man dafr Entscheidungs-Experten braucht. Man knnte ja stattdessen auch mit Intuition und Bauchgefhl entscheiden, wohl wissend, dass man scheitern kann. Oft ist ja eine spontane Entscheidung, die man selbst mit gutem Gefhl getroffen hat, besser als eine, die man gegen das eigene Gefhl von anderen durch Fakten und logische Schlussfolgerungen vorgegeben bekommen hat. Nur, wenn man selbst schon so verunsichert ist, dass man dem eigenen Gefhl und der Intuitionnicht mehr traut, braucht man fr die eigenen Ziele den erweiterten Geist der vernetzten Vernunft.

    Die vernetzte Vernunft muss uns dabei nicht in Gestalt von Experten und Autoritten begegnen. Jede Checkliste in einer Zeitschrift, die mir sagt, was fr ein Typ ich bin, welcher Sport zu mir passt und was ich essen soll, ist ein Teil dieser vernetzten Vernunft, ist eine Funktion ihres erweiterten Geistes.

    Diese scheinbar objektiven Verfahren der Entscheidungsfindung treibt die vernetzte Vernunft durch Big Data und Entscheidungsalgorithmen zur Perfektion. Wir erleben derzeit die ersten Beispiele fr ihre Funktionsweise und ihre normative Macht.Zwei Beispiele: Dating-Portale und Wahl-O-Maten. Beide erwecken den Eindruck, man knne durch Faktenanalyse und durch formale Beurteilung messbarer Kriterien zueiner richtigen Entscheidung kommen, sogar etwas ber den eigenen Willen herausfinden. Wer nicht wei, welcher Partner zu ihm passt oder welcher Partei er seine Stimme geben will, der befragt einen Algorithmus, gibt ein paar Antworten auf stand

    ardisierte Fragen, bermittelt ein paar Informationen, und schon erfhrt man, woraufman sonst nur durch langwieriges Nachdenken, durch Reflexion und Ausforschung der eigenen Vorlieben und Bedrfnisse gekommen wre.

    Knnen immer bessere Algorithmen, die immer mehr Daten ber mich analysieren knnen, die immer mehr Randbedingungen und Hintergrnde berprfen knnen, mir in nchster Zukunsagen, was ich eigentlich wnsche, was ich ertrume, was ich erreichen und erleben will? Schon im ersten Teil dieser Serie waren daran Zweifel aufgekommen, denn vieles, was fr die Herausbildung meiner Wnsche und Sehnschte, die meinen Willen antreiben, wichtig ist, bleibt auch Big Data verborgen. Nur, wenn wir zu standardisier

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    ten Menschen werden, knnen standardisierte Informationen ausreichen, um standardisierte Wnsche zu ermitteln.

    Natrlich tut die vernetzte Vernunft seit langem viel dafr, dass wir uns in solcheStandards einordnen. Schnheitsideale werden vorgeblich objektiv ermittelt und publiziert, und wir wiederum tun viel dafr, um diesen Idealen zu gengen. Politische Parteien geben standardisierte, glatt geschliffene Antworten auf standardisierteFragen.

    Auf der anderen Seite richtet sich unser Wille eben immer auf das unbekannte undauergewhnliche. Wir begeistern uns nicht fr den Durchschnitt, sondern fr die Ausname, fr das Fremde, das uns fasziniert und dem wir nahe kommen wollen. Es erreichtnicht nur unseren rationalen Verstand, sondern vor allem unsere Sehnsucht, unsere intuitiven Hoffnungen. Wir knnen davon begeistert oder enttuscht sein.

    Begeisterung und Enttuschung sind aber den Algorithmen fremd, egal ob sie aus Checklisten aus Papier bestehen oder in Cloud-Services implementiert sind. Sie haben nie selbst auf einem Berg gestanden und das Gefhl der Euphorie gesprt, und sie sind selbst nie von einem Politiker enttuscht gewesen. Aus Begeisterung und Enttuschung erwchst aber die typisch menschliche Erfahrung, die uns letztlich die Fhigkeit gibt, zu beurteilen, was wir wirklich wollen, wofr sich eine Anstrengung lohnt.Und diese Form der Erfahrung ist dem erweiterten Geist der vernetzten Vernunftfremd.

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