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  • Inhalt

    Wer hat Angst vor Hilde Spiel?

    9

    Wem sagen Sie das?17

    In den Lüften Europas2S

    Das Wappen mit dem Fragezeichen

    4 1

    Kann uns zum Vaterland die Fremde werden?

    57

    Den Kuchen aufessen und ihn doch haben67

    Immer zwischen den Welten87

    Nachweise103

    Hilde Spiel —Biographische Notiz und Bibliographie

    105

    Marcel Reich-Ranicki —Biographische Notiz und Bibliographie

    II 3

    BildnachweiseI26

  • Juli 1 99 8Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

    München1965, 1991 Marcel Reich-Ranicki

    Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagbild: © Barbara Klemm, Frankfurt

    Satz: KCS GmbH, Buchholz/HamburgGesetzt aus der Garamond 10/12' (QuarkXPress 3.31)Druck und Bindung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei,

    NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

    Printed in Germany - ISBN 3-423-1253o-6

  • Marcel Reich-Ranicki

    Über Hilde Spiel

    Deutscher Taschenbuch Verlag

  • Ganz vergessener Völker MüdigkeitenKann ich nicht abtun von meinen Lidern

    Hugo von Hofmannsthal

    Ich habe mich im Grunde immer einem Wink,der von außen kam und einsichtig war, gefügt.

    Hilde Spiel

  • Für Ulrich Weinzierl

  • »Ihre Arbeiten kannte ich seit Jahren; ich las siezuweilen mit Ehrfurcht, oft mit Vergnügen, immermit Gewinn und gelegentlich — warum sollte ich esverheimlichen? — auch mit Neid.« Hilde . Spiel:Erzählerin, Kritikerin und Feuilletonistin, Überset-zerin und Reporterin, Filmautorin und Historikerin.Sie bestach mit bemerkenswerten Essays und virtuo-sen Kulturberichten, mit einer Prosa, der es nicht anEleganz und Verve fehlt. Marcel Reich-Ranicki isteiner ihrer größten Bewunderer, wenngleich seinemit tiefem Respekt verbundene Freundschaft zu ihrnie den scharfen Blick des Kritikers trübt. — Einekenntnisreiche Hommage an Hilde Spiel.

    Marcel Reich-Ranicki, Professor, Dr. h. c. mult., ge-boren 192o in Wloclawek an der Weichsel, ist in Ber-lin aufgewachsen. Er war von 196o bis 1973 ständi-ger Literaturkritiker der Wochenzeitung >Die Zeit<und leitete von 1973 bis 1988 in der >Frankfurter All-gemeinen Zeitung< die Redaktion für Literatur undliterarisches Leben. 1968/69 lehrte er an amerika-nischen Universitäten, 1971/75 Gastprofessor fürNeue Deutsche Literatur an den UniversitätenStockholm und Uppsala, seit 1974 Honorarprofes-sor in Tübingen, 1991/92 Heinrich-Heine-Gastpro-fessur an der Universität Düsseldorf. Ehrendoktorder Universitäten in Uppsala, Augsburg, Bambergund Düsseldorf.

  • dtv

  • Wer hat Angst vor Hilde Spiel?

    Liebstes Fräulein Angerer,

    »eine kurze Stellungnahme zur österreichischenLiteratur der Gegenwart« wird dringend benötigt?Nun gut, ich will mich nicht drücken. Den Ansatz zueiner »Stellungnahme« sollen Sie wenigstens erhal-ten. Aber kurz wird es nicht werden. Ich muß Ihnennämlich erst etwas erzählen.

    Das Malheur begann im September 1962 in Berlin,am Kurfürstendamm, auf der Bühne der »Komö-die«. Komisch war es trotzdem nicht, jedenfalls nichtfür mich. Denn auf dieser Bühne begegnete ich zumersten Mal Hilde Spiel. Ihre Arbeiten kannte ich seitJahren; ich las sie zuweilen mit Ehrfurcht, oft mitVergnügen, immer mit Gewinn und gelegentlich —warum sollte ich es verheimlichen? — auch mit Neid.Und ihr Buch >Welt im Widerschein< hatte ich 1961in der >Welt< so besprochen, wie es besprochen zuwerden verdient: also enthusiastisch.

    Auf einer Bühne trafen wir uns. Nein, nicht ineinem Stück traten wir auf, vielmehr nahmen wir aneiner jener mehr oder weniger improvisierten undmeist ganz amüsanten Darbietungen teil, in denenLiteraten sich selber spielen: an einer öffentlichenDiskussion, einer Podiumsdiskussion. Das seienimmer etwas unseriöse Angelegenheiten? Nun ja,gewiß, aber Sie kennen doch das sanfte Wort einesWeisen: »Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.«

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  • Apropos Schnitzler: er eben war Anlaß des durchausnicht geplanten Zusammenstoßes. Wir diskutierteneifrig über den modernen Roman. Die heutigendeutschsprachigen Schriftsteller seien meist — bedau-erte ich — nicht sonderlich unterhaltsam, es fehle dieanspruchsvolle Unterhaltungsliteratur, die es frühereinmal gegeben habe. Ich nannte einige hehre Vorbil-der — unter anderen auch Arthur Schnitzler. Da warsum mich geschehen. Denn nun bekam ich es vonHilde Spiel zu hören: Das sei geradezu ein Skandal,Schnitzler mit einem Begriff wie »Unterhaltung« zuassoziieren; man habe es doch mit einem der Größ-ten des Jahrhunderts zu tun, mit einem Schriftstellervom Range zumindest eines Thomas Mann.

    Jetzt erst begriff ich es: Ich hatte mich ahnungslosund frevelhaft erkühnt, Österreichs Nationalehreanzutasten. Die patriotische und dennoch charmanteSachwalterin Austriens ließ meine demütigen undeifrigen Beteuerungen, daß ich Schnitzler seit meinerKindheit verehre, nicht gelten. Ich versuchte zu er-klären, daß ein Roman meiner Ansicht nach unter-haltsam sein müsse und ein nicht unterhaltsamerRoman so etwas sei wie, mit Verlaub, ein stinkendesParfüm. Also etwas, was seinen Zweck nicht erfüllt.Aber, ach, alles war vergeblich. Temperamentvollund leidenschaftlich plädierte Österreichs Sachwal-terin gegen mich. Ich saß auf der Anklagebank. Undhatte Angst vor Hilde Spiel.

    Was wird hier passieren — fragte ich mich —, wenndie erzürnte Rednerin das in der »Komödie« versam-melte Volk von Berlin auffordert, mich sofort, hierauf der Bühne, für die Verunglimpfung Österreichs

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  • exemplarisch zu züchtigen? Nein, ganz so schlimmist es nicht gekommen, die Anklägerin ließ Gnadewalten.

    Anfang 1964 war ich in Wien. Inzwischen hatteich verschiedene Artikel von Hilde Spiel gelesen, mitdenen sich nun die >Frankfurter Allgemeine Zeitung<schmücken darf und die zum besten gehören, das indiesem Blatt gedruckt wird. Da wir uns diesmal nichtauf einer Bühne trafen, sondern in einem Kaffeehaus,ging es weniger dramatisch zu. Es war sehr schön.Aber plötzlich hörte ich: »Warum haben Sie noch nieüber Doderer geschrieben? Und was kennen Sieeigentlich von Doderer?« Ich wurde streng geprüft.Und sah mich wieder einmal auf der Anklagebank.

    An beide Episoden wurde ich unlängst erinnert.Denn wo immer ich Beiträge von Hilde Spiel findenkann, studiere ich sie mit gebührender Aufmerksam-keit und wachsender Sympathie, ja mit Bewunde-rung, und so las ich auch ihren Artikel in der Züri-cher >Weltwoche< vom 6. November 1964, in dem esheißt: »Trotzdem stimmt es bedenklich, daß vielebegabte Österreicher beharrliche Auslandsösterrei-cher sind und man etwa Ingeborg Bachmann, derjüngsten Trägerin des Büchnerpreises, überall inEuropa begegnen kann außer in der Hauptstadt ihresVaterlandes.« Wieder hatte ich Angst vor HildeSpiel. Obwohl es diesmal offenbar Ingeborg Bach-mann war, die auf der Anklagebank saß.

    Will etwa Hilde Spiel Österreichs schreibendeDamen in der Herrengasse auf Vordermann bringen?Hat nicht jeder das Recht, dort zu leben, wo es ihmgerade paßt? Muß sich ein Künstler, ein Schriftstel-

    II

  • ler, der im Ausland wohnt, rechtfertigen? Darf manvon ihm — und sei es auch auf die vornehmste undsubtilste Weise — Rechenschaft erwarten oder garfordern? Niemand, glaube ich, hat das Recht, denSchriftsteller zu fragen, warum er in Rom oder Ber-lin und nicht in Wien lebt — niemand, keine Organi-sation, kein Minister, kein Präsident, ja nicht einmalHilde Spiel. Sie spricht vom »Vaterland«. Das ist eingroßes, leider auch ein sehr gefährliches Wort.Gefährlich scheint es mir schon seit jenem Tag zusein, da ein Dichter, leider ein Dichter, die verlogeneZeile schrieb: »Dulce et decorum est pro patriamori.« Wer heute »Vaterland« sagt, wird morgen,vielleicht, von »vaterlandslosen Gesellen« oder von»Vaterlandsverrätern« sprechen. Nein, Hilde Spielwird es gewiß nicht tun. Aber andere Autoren?

    Und in der >Frankfurter Allgemeinen Zeitung<vom 2. Dezember 1964 finde ich eine — wie immerausgezeichnete — Korrespondenz von Hilde Spielmit dem Titel >Wien ehrt Georg Trakl

  • lich schon sehr ungeduldig. Denn Sie wollten nichteine Polemik gegen Hilde Spiel, sondern eine »Stel-lungnahme zu österreichischer Literatur der Gegen-wart«. Indes: mit dem literarischen Leben in Wien,mit der österreichischen Literatur von heute geht esmir etwas ähnlich wie eben mit Hilde Spiel. Ichachte, schätze und bewundere sie. Doch habe ichletztens etwas Angst vor ihr. Der Patriotismusbeunruhigt mich. Ich befürchte, daß es nur ein klei-ner Schritt ist, der den Patriotismus vom Nationa-lismus trennt. Und wiederum ein kleiner Schritt, dervom Nationalismus zum Chauvinismus führt.

    Übertreibe ich? Sehe ich Gespenster? Mag sein.Nur habe ich unlängst das Buch >Reaktionen< vonHerbert Eisenreich gelesen, den ich übrigens füreinen vorzüglichen und immer noch unterschätztenErzähler halte. In einem der Essays dieses Bandesmeint Eisenreich, die Literatur in Österreich habezur Zeit manche Schwächen, die auch für den Fuß-ball charakteristisch seien: »Was dem österreichi-schen Fußball neuerdings fehlt, das sind nicht dieTalente, sondern das ist das nationale Bewußtsein,das kritische Vertrauen in sich selbst.«

    Seltsam. Was mich für die österreichischen Schrift-steller der Vergangenheit wie der Gegenwart ammeisten einnimmt, das gerade scheint Eisenreich zubeanstanden. Ich liebe viele von ihnen, weil sie ebennicht mit Selbstvertrauen aufwarten, sondern mitMißtrauen, weil sie eben keine Gewißheiten, son-dern Zweifel bieten. Nationales Bewußtsein? Aberwar nicht immer schon eine der sympathischstenEigenschaften aller großen Dichter Osterreichs ihre

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  • glücklicherweise unverbesserliche Neigung zum In-ternationalen und der erfrischende Mangel an natio-nalem Bewußtsein?

    Eisenreich erklärt: »Wir sind aber fanatische Geg-ner der neuerdings in Österreich feststellbaren Ten-denz, eigene Werte preiszugeben, um sich wahllosmit solchen von scheinbar größerer Anziehungskraftzu kostümieren.« Mit jenen, liebstes Fräulein Ange-rer, die sich »wahllos ... kostümieren«, kann ichmich abfinden. Aber Fanatiker fürchte ich.

    An einer anderen Stelle der Abhandlung von Ei-senreich heißt es: »In dieser Epoche der Selbsttäu-schung das Wesen des Österreichischen treu zubewahren, erscheint uns als konkrete Aufgabe derneuen Schriftsteller-Generation, ja als das Existenz-problem der österreichischen Literatur und des na-tionalen Geistes überhaupt.« Nein, halt, um Gotteswillen, Freunde, nicht diese Töne ... Hier wird,meine ich, das Jahrhundert nicht in die Schrankengefordert, hier wird es einfach verwechselt.

    Ein anderes Symptom: ein Wiener Schriftstellerfragte mich neulich nicht ohne Stolz, ob ich mir des-sen bewußt sei, daß unter den Lektoren der bundes-republikanischen Buchverlage der Prozentsatz derÖsterreicher besonders hoch sei. Nein, ich war mirdessen nicht bewußt. Und angesichts der Produktionder meisten Verlage in der Bundesrepublik Deutsch-land scheint es mir leichtsinnig zu sein, sich diesesProzentsatzes zu rühmen. Vor allem aber: was ist dasüberhaupt für eine Fragestellung? Hat es die öster-reichische Kultur nötig, derartige Zählungen zu ver-anstalten und sich auf ihre Ergebnisse zu berufen?

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  • In der Gesellschaft für Literatur in der Herren-gasse zeigte mir Wolfgang Kraus eine Liste der öster-reichischen Schriftsteller. Es ist eine lange und statt-liche Liste. Auch Autoren, die seit dreißig Jahren imAusland leben und kaum noch in deutscher Spracheschreiben, hat man da sorgfältig registriert. Zeugt dasnicht abermals von jenem nationalen Ehrgeiz, dermir völlig überflüssig zu sein scheint? Schriftsteller,die möglicherweise — wer kann das so genau wis-sen? — nur Halb- oder Viertelösterreicher sind, wur-den von der Gesellschaft, wenn ich mich recht erin-nere, auch berücksichtigt.

    Das wäre übrigens, sollte es tatsächlich zutreffen,so übel wieder nicht. Denn es ist nicht ausgeschlos-sen, daß einer meiner Vorfahren aus dem k. u. k.Gebiet stammte. Könnten Sie sich vielleicht beiWolfgang Kraus erkundigen, ob ich unter diesenUmständen eventuell Chancen hätte, in das Ver-zeichnis aufgenommen zu werden? Das wäre sehrschön — aber dürfte ich dann noch sagen, daß ichSchriitzler sehr liebe, doch Thomas Mann für dengrößeren halte?

    Apropos Thomas Mann: ich habe noch das drin-gende Bedürfnis, Friedrich Torberg zu ärgern. Indesist dieser Brief ohnehin sehr lang geworden, alsowerde ich es bei anderer Gelegenheit ausführlich tun.So verbleibe ich

    mit einer tiefen Verbeugung und einemHandkuß

    Ihr ...

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  • Wem sagen Sie das?

    Daß es möglich ist, deutsch und dennoch klar zuschreiben, beweisen uns die Schriftsteller Öster-reichs seit über einem Jahrhundert. Die besten vonihnen liebten die Anmut mehr als den Tiefgang undhatten Charme genug, um auf die Gewichtigkeit ver-zichten zu können. Ihre Weisheit gab sich heiter, undihre Heiterkeit war bitter. Doch bemühten sie sichstets, uns diese Bitterkeit recht schmackhaft zumachen. Jedenfalls verstand man sich dort auf dieKunst, die Einsicht in die Vergänglichkeit desDaseins in bestrickend freundlicher Form zu bietenund noch aus dem Lebensüberdruß wahre Meister-werke der Liebenswürdigkeit zu schaffen.

    Denn mochten diese Schriftsteller gern vor derWirklichkeit fliehen — weltfremd waren sie in derRegel nicht: Sie konnten der Faszination, die von derIrrealität ausgeht, erliegen, ohne deshalb das Gespürfür die Realitäten des Lebens — und auch des literari-schen Lebens — einzubüßen. Zwar distanzierten siesich oft von der Gegenwart, aber nie von dem Publi-kum; ja, sie fanden geradezu ein Vergnügen daran,ihm augenzwinkernd entgegenzukommen — gele-gentlich so weit, daß sich strenge Kunstrichter ver-anlaßt sahen, sorgenvoll das Haupt zu schütteln.

    Diese schöne Tradition spürt man noch jetzt inden Büchern österreichischer Autoren. Natürlichwird auch in Wien über die Literatur, wie sie viel-leicht sein könnte oder müßte, viel spekuliert und

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  • gestritten, auch dort entwirft man verwegene Theo-rien und erprobt kühne Möglichkeiten. Doch unab-hängig von diesen Erwägungen und Theorien undmitunter sogar im reizvollen Widerspruch zu ihnenscheint sich in Österreich die menschenfreundlicheAnsicht bewahrt zu haben, daß, beispielsweise,Romane lesbar, Gedichte verständlich und Stückespielbar sein sollten. In der Heimat Nestroys undSchnitzlers ist es heute ebenfalls nicht üblich, dasPublikum zu vergessen.

    Hilde Spiel ist Wienerin. Vieles, das auch die ge-genwärtige österreichische Literatur so liebenswertmacht, gilt zugleich für die Prosa dieser Autorin,vor allem für ihre immer bedenkenswerten Essaysund ihre oft virtuosen Kulturberichte. Denn HildeSpiel schreibt, zunächst einmal, mit beneidenswerterKlarheit und Präzision, ihr Stil ist ebenso anmutigwie natürlich, ihrer Prosa fehlt es weder an Tempera-ment und Verve noch an Charme und Eleganz. Unddabei scheint alles ganz ohne Anstrengung entstan-den zu sein.

    Auch der Leser des Buches >Lisas Zimmer< ahntkaum, daß dieser entspannte und lockere Ton, derhäufig lässig und flott klingt, das Werk harter Arbeitist. Hier hat eine Schriftstellerin keine Mühegescheut, damit wir es leicht haben. Was sie erreichenwollte, ist ihr in der Tat gelungen. >Lisas Zimmer<erweist sich als ein niemals das Publikum ignorieren-des, als ein vorzüglich lesbares Buch.

    Der Romanautor jedoch, der sich entschließt, dieBedürfnisse und den Geschmack des Publikums ingewissen Grenzen zu berücksichtigen — und hierzu

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  • waren auch Balzac und Dostojewskij bereit —, mußsich Gedanken über eben dieses Publikum, seineWünsche und Möglichkeiten machen.

    Welche Leserschaft konnte Hilde Spiel im Sinnehaben? Jedenfalls weder eine österreichische nocheine deutsche. Denn das Buch war ursprünglich eng-lisch geschrieben und ist 1961 in London erschienen.Es sollte wohl, wenn mich nicht alles täuscht, denamerikanischen Markt erobern. Damit ließe sichzwar nichts rechtfertigen, doch immerhin erklären,wodurch manches, das in >Lisas Zimmer< befremdenmuß, verursacht wurde.

    Der Roman spielt, abgesehen vom einleitendenKapitel, Ende der vierziger Jahre in New York. DieIch-Erzählerin ist eine appetitliche und intelligenteLettin, die sich erst seit kurzem in den VereinigtenStaaten aufhält. Aus ihrer vorurteilslosen, etwas nai-ven und doch kritischen Sicht wird ein Milieugeschildert, von dem sie sich angezogen und zugleichabgestoßen fühlt und das allerdings mit Amerika nurwenig zu tun hat.

    Denn die Frau, in deren Bann sie gerät, jene Lisa,auf die der Titel hinweist, ist eine Wienerin. Und dieMenschen, die den mondänen Salon dieser Damebesuchen — meist Schriftsteller, Journalisten undÄrzte —, haben Europa ebenfalls erst vor einigen Jah-ren (mehr oder weniger freiwillig) verlassen undleben in Wirklichkeit weiter in ihrer alten Welt: » Wirsind alle Gespenster und Außenseiter, Gefangene derVergangenheit. Unser Leben ist zum Stillstand ge-kommen.«

    Also ein Buch über Emigranten, zumal Intellektu-

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  • elle, über symptomatische Schicksale im zweitenViertel unseres Jahrhunderts ? Ja und nein.

    Gewiß sind hier derartige Lebenswege gezeigtoder zumindest berichtet. Auch finden wir einigePorträts exilierter Schriftsteller, wobei sich meistleicht erkennen läßt, wer Hilde Spiel, ob er es wollteoder nicht, als Modell gedient hat. Eine in pamphle-tischer Absicht gezeichnete Schlüsselfigur weistübrigens einerseits so große Ähnlichkeit mit demrealen Vorbild auf und enthält andererseits sounzweifelhafte Verunglimpfungen, daß der Autorinder Vorwurf, sie habe die Grenzen des Zulässigenweit überschritten, nicht erspart werden kann.

    Indes scheint das Exilmilieu, obwohl Hilde Spielihm viel Aufmerksamkeit widmet und >Lisas Zim-mer< seiner vorwiegend satirischen Darstellung man-che Pikanterie verdankt, letztlich kaum mehr als einVorwand zu sein. Die »abgetakelten Versager, wurm-stichigen Vaterfiguren und zahnlosen Klapperschlan-gen, die sich gegenseitig aufzufressen versuchen«,sollen den dahinsiechenden europäischen Geist sym-bolisieren, und ich befürchte, daß ein gewisser Teildes amerikanischen Publikums tatsächlich in demBuch das wiedergefunden hat, was es sich unterEuropa vorstellt.

    Gleichviel, der »Haufen nutzloser abgesplitterterFragmente« ist als Kontrastmilieu zu seiner neuenUmgebung gedacht. Denn Hilde Spiel geht es um dasEuropäische und das Amerikanische schlechthinund um die Begegnung dieser beiden Welten in derMitte unseres Jahrhunderts.

    Für diejenigen, die es vielleicht immer noch nicht

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