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Markus Finke
Nikolaj Vasil’evič Gogol’ und seine Darstellung in der deutschsprachigen Literaturgeschichtsschreibung
1. Einleitung
Nikolaj Vasil’evič Gogol’ (1809 ‐ 1852) war schon zu Lebzeiten um‐stritten, nicht etwa wegen seines Erfolges, sondern wegen der Wir‐kung seiner Werke, v.a. des Dramas „Revizor (Der Revisor)“ und des Romans „Mertvye duši (Die toten Seelen)“. Hinzu kommt die innere Entwicklung seines Schaffens, das mit der erfolgreichen frühen Erzäh‐lungssammlung „Večera na chutore bliz Dikan’ki (Abende auf dem Vorwerk bei Dikan’ka)“ noch deutlich an romantische Vorstellungen anknüpft. Andererseits gilt er als der Kronzeuge des russischen Früh‐realismus, der „Natürlichen Schule“ (russ.: Natural’naja škola), ob‐wohl bestimmte Elemente romantischer Provenienz in seinen Werken fortleben und allenfalls eine eigenartige Verbindung mit „realistisch“ zu nennenden Strategien eingehen. So wäre also zu prüfen, wie weit die Literaturgeschichten das Problem „Gogol’“ berücksichtigen.1 Der Vergleich der Gogol’‐Darstellung in den verschiedenen Litera‐turgeschichten in deutscher Sprache soll sich daher auf vier Punkte konzentrieren: a) Wird Gogol’ in die Romantik, in den Realismus, in beide Epochen oder überhaupt nicht eingeordnet? Hierbei werden vorab die Inhalts‐verzeichnisse miteinander verglichen. Danach wird auf die Gogol’ betreffenden Textstellen in den Literaturgeschichten Bezug genom‐men. b) Worin liegt nach Meinung der Autoren die Hauptbedeutung von Gogol’s Schaffen? c) Ergeben sich Unterschiede bei der Behandlung eines konkreten Werkes? Hierfür werden die einzelnen Darstellungen von „Šinel’ (Der Mantel)“ verglichen. d) Inwieweit wird dem Problem von Gogol’s Stil Rechnung getragen?
1 Vgl. zum Forschungsstand bzw. zu grundlegenden Fragen zu Gogol’ und sei‐
nem Werk die im Anhang genannte Sekundärliteratur.
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2. Zur Einordnung von Gogol’s Werk
a) Gogol’s Literatur zwischen Romantik und Realismus
In den Inhaltsverzeichnissen rechnet von den 19 verglichenen Lite‐raturgeschichten lediglich Polonskij 1902 Gogol’ dem Realismus zu (11. Kapitel. Gogolj und der russische Realismus). Drei Autoren entschei‐den sich dafür, Gogol’ in die Romantik einzugliedern: Stender‐Peter‐sen 1993 (zwei Gogol’ betreffende Kapitel in Die Romantische Periode), Tschižewskij 1964 (sieben Gogol’ betreffende Abschnitte im Kapitel Prosadichtung der Romantik im Buch Romantik) und Lauer 2000 (Gogol’ im Kapitel Die Puškin‐Zeit (1820‐1840)). Zwei Literaturgeschichten kennzeichnen Gogol’s Werk im Inhaltsverzeichnis als Übergang von der Romantik zu Realismus: von Reinholdt 1886 (26. Kapitel. Übergang von der Romantik zum Realismus: Gogol. Die progressive Bewegung der dreissiger und vierziger Jahre: Čaadajew, Belinskij und seine idealistische Kritik) und Waegemans 1998 (Gogol’ in: Von der Romantik zum Realis‐mus). Die anderen Autoren vermeiden im Inhaltsverzeichnis eine Ein‐ordnung Gogol’s in Romantik, Realismus oder Übergang von der Ro‐mantik zum Realismus. Zwei Autoren ordnen Gogol’ in die so ge‐nannte klassische Zeit ein: Luther 1924 (Gogol in: Die klassische Zeit) und Braun 1947 (ein Gogol’ gewidmetes Kapitel im Teil: Die großen Klassiker). Drei weitere Autoren teilen Gogol’ im Inhaltsverzeichnis lediglich in eine von Jahreszahlen markierte Periode ein: Brodski 1954 behandelt Gogol’ in Die dreißiger und vierziger Jahre, Lettenbauer 1958 in Die Literatur von 1800 – 1850 und Düwel 1965 in Die russische Litera‐tur von 1816‐42. Graßhoff 1974 und Düwel/Graßhoff 1986 widmen Gogol’ ein Einzelkapitel und vermeiden jegliche Einordnung. Ebenso bekommt Gogol’ bei Eliasberg 1925 ein Einzelkapitel, wobei Eliasberg die russische Literatur nur in personengebundenen Einzelkapiteln be‐handelt. Die übrigen vier Autoren sind in ihrer Einteilung ebenso ei‐gen: Brückner 1905 benennt ein Kapitel Der Roman und Gogol. Sakulin 1927 behandelt Gogol’ im Abschnitt Die künstlerische Prosa des Kapi‐tels Die Adelsliteratur, welches wiederum in den Teil Dritte Periode der neuen russischen Literatur eingegliedert ist. Von Guenther 1964 behan‐delt Gogol’ im Kapitel Russische Polarität und Mirskij 1964 benennt ei‐ne ganze Periode Die Zeit Gogols und behandelt dessen Werk darin. Darüber, dass Gogol’s Werk die Natürliche Schule bzw. den Rea‐lismus begründet hat, herrscht Einigkeit bei den Autoren der Litera‐turgeschichten. Uneinig sind sie sich aber bei der Behandlung von Gogol’s Werk an sich. Hier lassen sich drei Tendenzen erkennen:
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Eine häufig anzutreffende Einordnung ist, dass Gogol’ erst Roman‐tiker war und dann zum Realisten wurde. So äußert sich von Rein‐holdt: „In seinen ersten Novellen [...] ist Gogolj übrigens noch ganz Romantiker“ (von Reinholdt 1886, 611). Mit den Petersburger Erzäh‐lungen vollziehe sich dann der Schritt in den Realismus, wobei von Reinholdt von „minutiösem Realismus“ und „photographischer Treue der Darstellung“ spricht (von Reinholdt 1886, 613). Für Brückner zeigt sich schon in Gogol’s ukrainischen Erzählungen eine Doppelnatur: einerseits eine „sich bis zur Phantastik steigernde Romantik“, ande‐rerseits „ein Realismus, eine wunderbar treue und scharfe Beobach‐tungsgabe“ (Brückner 1905, 236). Fortan setzte sich, laut Brückner, der Realismus in Gogol’s Werk immer mehr durch. Im „Revizor“ habe er [der Realismus] sich schließlich behauptet:
Der Realismus, ja der Naturalismus feiert seinen höchsten Triumph: die ge‐naueste Beobachtung und die schärfste Wiedergabe des Gesehenen [...]. Den Romantiker verrät nur noch einiges Wenige, wie im ,Revisor‘ der Stich ins Groteske [...]. (Brückner 1905, 244)
Auch für die an der marxistischen Ideologie orientierten Literaturge‐schichten (Sakulin 1927, Brodski 1954, Düwel 1965, Graßhoff 1974 und Düwel/Graßhoff 1986) ist Gogol’ zunächst Romantiker, später wird er zum Realisten. Als Wendepunkt werden zumeist die „Peterburgskie rasskazy (Petersburger Erzählungen)“ angesehen. Andere Autoren bezeichnen Gogol’ zwar als Begründer des Rea‐lismus, Gogol’ selbst aber wollen sie nicht Realist nennen. Für Elias‐berg ist Gogol’ nur im gleichen Maße zu den Realisten zu rechnen wie Homer (Eliasberg 1925, 31f.): „Seine Art ist phantastisch, zuweilen romantisch, aber niemals realistisch.“ (Eliasberg 1925, 32) Eliasberg verweist auf eine Entdeckung der russischen Kritik von 1909 zur Feier von Gogol’s 100. Geburtstag, als man sein ganzes Werk durchforschte und keine einzige Zeile fand, „die die Wirklichkeit einfach und natür‐lich wiedergäbe; alles ist ins Maßlose übertrieben oder ins Groteske verzerrt.“ (ebenda) Für Setschkareff ist das Werk Gogol’s „eine groß‐artige Synthese aller Richtungen“ (Setschkareff 1949, 89). Setschkareff argumentiert, dass man Gogol’s Werk nur verstehen könne, wenn man seine Verwurzelung in der Religion kennt und bezeichnet den Teufel als Hauptgestalt von Gogol’s Werk (Setschkareff 1949, 90). Weiterhin sei es
das Bild unversöhnlicher Gegensätze. Schon der Widerstreit zwischen Gogol dem Realisten und Gogol dem Romantiker ist nicht gelöst. Scheinbar unmög‐liche Verbindungen werden bei ihm großartige Wirklichkeit. (Setschkareff 1949, 92)
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Auf religiöse Einflüsse verweist auch Braun, indem er Gogol’ als „I‐dealist[en] und Wahrheitssucher“ bezeichnet und als „vielleicht de[n] erste[n] der vielen Gottsucher in der russischen Literatur“ (Braun 1947, 111). An einer anderen Stelle bezeichnet Braun Gogol’ als „ex‐pressionistischen Tendenzdichter“ (Braun 1949, 117). Für Stender‐Petersen bietet Gogol’ ähnlich wie bei Setschkareff „das Bild seltsam kontrastierender, paradoxer Tendenzen“ (Stender‐Petersen 1993, II, 165). Mit der bereits erwähnten Zweiteilung der Gogol’‐Darstellung (Der romantische Stil Gogol’s und Der groteske Stil Gogol’s) versucht Stender‐Petersen diese Tendenzen aufzuschlüsseln. Für ihn überwiegt das Romantische bei Gogol’ bis in die „Peterburgskie rasskazy“. Das Groteske bestimmt Gogol’s Werk im „Revizor“ und in „Mertvye duši“. Für Lettenbauer kann Gogol’s Werk nicht realistisch verstan‐den werden, weil er nicht die Wirklichkeit widerspiegelte, sondern seine eigene, groteske Welt schuf (Lettenbauer 1958, 120f.). Warum Gogol’ realistisch verstanden wurde, hat mit der Darstellung der „kleinen Leute“ zu tun, die bei ihm zum ersten Mal zu bemerken war und an der sich die Realisten orientierten (Lettenbauer 1958, 122). Auch für Waegemans gilt Gogol’ zwar als Vorbild der Realisten, „er war jedoch außerdem noch ein Phantast, der phantastischste aller rus‐sischen Schriftsteller, und ein Mystiker.“ (Waegemans 1998, 104) Mir‐skij hingegen betont zwar auch die romantischen und fantastischen Elemente bei Gogol’ (Mirskij 1964, 148). Für ihn ist Gogol’ aber vor allen Dingen ein Satiriker (Mirskij 1964, 143f.), der ebenso durch sei‐nen besonderen Stil und durch seine Originalität Bedeutung erlangte (Mirskij 1964, 145). Zu einer ähnlichen Meinung kommt Tschižewskij, der auch das Romantische in den Frühwerken Gogol’s (Tschižewskij 1964, 99f.) und das Groteske in den Spätwerken diskutiert (Tschižew‐skij 1964, 108). Für ihn ist Gogol’ aber hauptsächlich ein Stilkünstler (Tschižewskij 1964, 108‐113). Für manche Autoren, die Gogol’ zwar ebenso wie alle anderen als Begründer der realistischen Literatur bezeichnen, ist er selbst jedoch ein Romantiker. Für Luther hat Gogol’ die realistische Literatur stark beeinflusst, weil u.a. das soziale Mitleid in den „Peterburgskie rasska‐zy“ zum ersten Mal zum Vorschein kommt, „aber trotz alledem war er selbst weit mehr Bekenner als Ankläger und kein Realist, sondern ein Romantiker, ja vielleicht der echteste und eigenartigste Romanti‐ker, den Rußland besessen hat.“ (Luther 1924, 195f.). Luther begrün‐det seine Meinung mit der Problematisierung der Wirklichkeit als Grundzug der Romantik. So habe auch Gogol’ nie ein getreues Bild der Wirklichkeit gegeben und immer ins Maßlose übertrieben (Luther
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1924, 196). Auch für von Guenther 1964 ist Gogol’ eindeutig ein Ro‐mantiker. Das Gogol’ oft zugeschriebene „Lachen unter Tränen“ ist für von Guenther romantisch, denn, so der Autor, „gerade in der Ver‐schmelzung der Gefühle, im Ineinanderfließen der Empfindungen, im Zueinandergleiten von Traum und Wirklichkeit, von Vision und Wahrheit liegt ja das Essentielle der Romantik. ,Lachen durch Tränen‘ kann man als Kronbeispiel romantischer Empfindungen ansehen.“ (von Guenther 1964, 45) Auch das für Gogol’ angeblich bezeichnende Mitleid mit den „Erniedrigten und Beleidigten“ ist für von Guenther romantisch (von Guenther 1964, 45). Zu einer ähnlichen Charakteri‐sierung Gogol’s kommt Lauer:
Er [Gogol’] bewies, daß das Prosamedium ebensogut wie die Verssprache, wenn nicht besser, romantische Wortgespinste einfangen kann. So wurde Go‐gol’ der reine Romantiker der russischen Literatur und ihr erster großer Er‐zähler. (Lauer 2000, 227)
b) Zur Bedeutung von Gogol’s Werk
Nach den Autoren der Literaturgeschichten liegt eine Hauptbedeu‐tung von Gogol’s Werk darin, dass er die Natürliche Schule und den Realismus begründet hat (unabhängig davon, ob man ihn nun selbst als Realisten bezeichnet oder nicht). Darauf verweisen alle Autoren entweder in den Gogol’ betreffenden Kapiteln oder in späteren Kapi‐teln, wenn es um die Natürliche Schule oder um den Realismus geht. Übereinstimmend mit anderen begründet Braun dies damit, dass Go‐gol’ Fragen der russischen Gegenwart in die Literatur eingeführt hat und „ihr die Richtung zur weltanschaulichen und ethischen Problem‐stellung gewiesen“ hat (Braun 1947 S.126). Manche Autoren bestehen aber auch auf eine andere, für sie wichtige Bedeutung, die Gogol’s Werk hatte. Hierbei lassen sich wiederum drei Haupttendenzen er‐kennen. Einige Autoren bezeichnen Gogol’s Werk als unerlässlichen Be‐standteil der russischen Literatur überhaupt, ohne welches sie in ihrer weiteren Entwicklung nicht denkbar gewesen wäre und dessen Aus‐wirkungen bis in die (jeweils zugehörige) Gegenwart zu spüren sei. So äußert sich Braun wie folgt:
Nikolai Gogol [...] ist neben Puschkin der zweite Grundpfeiler des literari‐schen Schaffens in Rußland und in seiner unmittelbaren Auswirkung sogar der stärkere Pfeiler. Während Puschkins Einfluß sich mit der Zeit immer mehr auf das schwer erfaßbare Gebiet allgemeiner dichterischer Grundlagen be‐schränkte, ist der Einfluß von Gogol bis auf den heutigen Tag mit einer fast
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handgreiflichen Deutlichkeit zu spüren. Puschkin hat die russische Literatur geschaffen, Gogol sie auf ihren endgültigen Weg gebracht. (Braun 1947, 100)
Für Setschkareff ist Gogol’ ein Schriftsteller, „dem in Stoff und Tech‐nik fast alle großen Russen des 19. und 20. Jahrhunderts verpflichtet sind“ (Setschkareff 1949, 89). Auch Lettenbauer äußert sich ähnlich:
So gewaltig die Bedeutung Puškins für das Aufblühen einer nationalen Litera‐tur war, so stark diese in ihren Grundlagen auch weiterhin durch ihn beeinflußt worden ist, so ist doch die Wirkung, die von Nikolaj Gogol [...] auf die russische Literatur bis ins 20. Jahrhundert hinein ausgegangen ist, noch bestimmender, zumindest augenfälliger, greifbarer gewesen, eine Wirkung, die sich auch auf die Literatursprache erstreckt. (Lettenbauer 1958, 112f.)
Ebenso meint Tschižewskij in seinem Kapitel über die Prosaisten der Romantik: „Ohne Zweifel überragt die hier dargestellten und später zu erwähnenden Prosaschriftsteller [...] durch seine Begabung, aber auch durch seinen bis jetzt noch anhaltenden Einfluß auf die russische Literatur Nikolaj Vasiljevič Gogol’ [...].“ (Tschižewskij 1964, 98) Nach von Guenthers Meinung „schuf Gogol als der größte Menschenschil‐derer eine russische Prosa, deren Nachhall noch weit bis in die Ge‐genwart hinein zu spüren ist. Die großen russischen Erzähler Dosto‐jewski, Melnikow, Lesskow und Saltykow, aber auch Prosaiker unter den Symbolisten, wie Remisow, Andrei Bjely und Samjatin, sind ohne Gogol nicht denkbar.“ (von Guenther 1964, 48) In verschiedenen Literaturgeschichten wird zuweilen auch auf die gattungsspezifische Bedeutung Gogol’s Bezug genommen. Wie sich schon aus dem Inhaltsverzeichnis (s.o.) ableiten lässt, betont Brückner die außerordentliche Bedeutung Gogol’s für die Entwicklung des rus‐sischen Romans. Gogol’ habe dasselbe für den Roman geleistet wie Puškin für die Poesie, indem sie „nach Sprache und Inhalt von ihren Stelzen herabsteigen“. Beide zeigten, „was für Schätze im einfachen, umgebenden Leben, unter Bauern, auf der einförmigen weiten Ebene zu heben sind“ (Brückner 1905, 250). Ebenso sei die erste russische Komödie nach der Satire Griboedovs das Werk Gogol’s (Brückner 1905, 229). Auch Düwel betont gleich zu Beginn seines Kapitels die Bedeutung Gogol’s für die Entwicklung bzw. Weiterentwicklung der literarischen Gattungen:
Mit seinen Zyklen volkstümlicher und satirischer Erzählungen schuf er Meis‐terwerke russischer Novellistik, die Turgenjew und Dostojewski, Saltykow‐Schtschedrin, Tschechow u.a. inspirierten. Mit seiner größten Prosadichtung, den Toten Seelen, legte er den Grundstein für das russische Romanepos, das in L. Tolstoj und Scholochow seine bedeutendsten Schöpfer gefunden hat und einen eigenen Platz in der Weltliteratur einnimmt. Mit seinem dramatischen Schaffen trug Gogol in hervorragendem Maße zur Entwicklung des russi‐
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schen realistischen Theaters bei. Er nahm die Tradition der sozialkritischen Komödie, wie besonders Fonwisin und Gribojedow sie begründet hatten, auf und führte sie zur künstlerischen Vollendung. Der russischen Charakterkö‐modie wies er neue Wege, die von A. Ostrowski, Suchowo‐Kobylin u.a. weiter beschritten wurden. (Düwel 1965, 304)
Mirskij bezeichnet den „Revizor“ als beste Komödie in russischer Sprache und begründet dies mit überragender Charakterzeichnung, Dialogführung und dem auffallenden Kunstverstand, mit dem das Stück geschaffen sei (Mirskij 1964, 151). Für Lettenbauer ist der „Revi‐zor“ sogar eine der bedeutendsten Komödien der Weltliteratur (Let‐tenbauer 1958, 118). Die gattungsspezifische Bedeutung der „Mertvye duši“ versucht Lettenbauer zu erläutern, indem er auf frühere Aben‐teuerromane aus dem 17. und 19. Jahrhundert (Narežnyj und Bulga‐rin) hinweist, in deren Tradition Gogol’s Roman steht. Ebenso be‐nennt er wie viele andere Autoren die Beziehung dieses Werkes zu Dantes „Göttlicher Komödie“ (Lettenbauer 1958, 119). Lauer nennt den „Revizor“ übereinstimmend mit Lettenbauer eine der besten Ko‐mödien „des gesamten Weltrepertoires“ (Lauer 2000, 235f.). Genauer auf die gattungsgeschichtlichen Aspekte v.a. beim „Revizor“ und den „Mertvye duši“ geht auch Stender‐Petersen ein (Stender‐Petersen 1993, II, 174‐182). Einige Autoren halten auch andere Aspekte in Gogol’s Werk für wesentlich. Für Eliasberg beginnt die große russische Literatur, die auch außerhalb Russlands bekannt geworden ist, erst mit Gogol’: „Er ist der Vater des auch dem Nichtrussen bekannten Teiles der russi‐schen Literatur, nämlich der russischen Prosa.“ (Eliasberg 1925, 27) Für Luther ist Gogol’ einer der „genialsten Karikaturenzeichner der Weltliteratur“ (Luther 1924, 196). Mirskij sieht die Bedeutung von Go‐gol’s Werk v.a. in seiner Originalität begründet:
Es stellt eine der unfassbarsten, überraschendsten und originellsten Welten dar, die je von einem Wortkünstler geschaffen wurden. Wenn die schöpferi‐sche Kraft einziger Wertmaßstab wäre, müßte Gogol als der größte russische Schriftsteller gelten. In dieser Hinsicht hält er den Vergleich mit Shakespeare oder Rabelais aus. (Mirskij 1964, 146)
Wie Luther hält Mirskij Gogol’ für einen bedeutenden literarischen Karikaturisten, wie im folgenden Zitat zum Ausdruck kommt: „Er zeichnet seine Figuren wie ein Karikaturist – hervorstechende Züge werden übertrieben und auf geometrische Grundformen reduziert. Dabei sind die Karikaturen von einer Überzeugungskraft und Lebens‐treue – meist erzielt er das mit einem Hauch völlig unerwarteter Reali‐tät –, daß sie selbst die sichtbare Welt zu übertreffen scheinen.“ (Mirskij 1964, 147) Braun hingegen verweist auf einen anderen As‐
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pekt: „Gogol ist der erste russische Dichter und einer der ersten der Weltliteratur, der die lebendige Beziehung zwischen dem Menschen und den Dingen seiner Umgebung entdeckt hat und mit unheimlicher Sicherheit zum Ausdruck bringt, daß Hauseinrichtungen, Kleider usw. ein Bestandteil der menschlichen Persönlichkeit sein können“ (Braun 1947, 114). U.a. wegen dieses Aspekts habe sich sein Einfluss auf spätere Literaten ausgewirkt: „Diese Entdeckung ist aus der jün‐geren russischen Dichtung nicht mehr wegzudenken.“ (ebenda) Laut Braun war Gogol’ auch „der erste russische Dichter, der das Wetter und die Landschaft in den Dienst dieser indirekten Charakterisierung durch scheinbar belanglose Kleinigkeiten gestellt hat.“ (Braun 1947, 114f.) Wie Lettenbauer (s.o.) hebt auch Brodski die Bedeutung für die Entwicklung der Literatursprache seiner Zeit hervor (Brodski 1954, 82f.). Darüber hinaus bringt er Lenin und Stalin mit Gogol’s Werken in Verbindung (Brodski 1954, 84), wie auch bei den anderen sozialis‐tisch orientierten Literaturgeschichten Querverbindungen zu Perso‐nen der marxistischen Lehre nicht ausbleiben. Überhaupt überwiegt in diesen Literaturgeschichten die Tendenz einer sozialpolitischen Be‐deutung Gogol’s. Beispielsweise schreibt Graßhoff:
Schonungslos deckte Gogol die Klassengegensätze der feudalabsolutistischen Ordnung auf. Indem er die parasitäre Lebensweise der herrschenden Klassen der Lächerlichkeit preisgab, versinnbildlichte er die historische Überlebtheit des zaristischen Rußlands. (Graßhoff 1974, 137)
c) Zur Behandlung von „Šinel’“
Bei der Behandlung dieses Werkes in den Literaturgeschichten lassen sich vier verschiedene Darstellungsweisen erkennen: Unter den verglichenen Werken ist es lediglich die Literaturge‐schichte von Polonskij, die „Šinel’“ mit keinem Wort bedenkt. Von Reinholdt erwähnt die Erzählung nur beiläufig, indem er sie im Zu‐sammenhang mit den anderen „Peterburgskie rasskazy“ als Werk be‐handelt, worin viel Fantastisches aber auch Lebensnahes sei. Man könne das Elend der lächerlichen Menschen, das Manko der Ideale und die Verkrüppelung der Menschennatur fühlen (von Reinholdt 1886, 613). Bei Sakulin wird „Šinel’“ im Gogol’ gewidmeten Kapitel nicht explizit erwähnt, dafür aber an zwei anderen Stellen, wo es um Zusammenhänge mit Puškin bzw. Dostoevskij geht (Sakulin 1927, 136 u. 154).
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Die anderen ideologisch bestimmten Literaturgeschichten (Brod‐ski, Graßhoff, Düwel) gehen ausführlich auf die Erzählung ein und deuten sie sozialkritisch. Graßhoff schreibt:
Der Mantel gilt zu Recht als das programmatische Werk des klassischen russi‐schen Humanismus [...]. Die Geschichte vom gestohlenen Mantel verwandelt sich bei Gogol in eine ergreifende Geschichte vom gestohlenen Menschenle‐ben in der zaristischen Gesellschaft. Das Schicksal des armseligen Beamten Akaki Akakjewitsch Baschmatschkin, dieses stillen Opfers einer unmenschli‐chen Gesellschaft, wird zur scharfen Anklage gegen das aristokratisch‐büro‐kratische System. Der soziale Humanismus der Novelle trägt aktiven Charak‐ter. (Graßhoff 1974, 147)
Zu einer sozialkritischen Deutung tendiert auch Luther: „Aber er [Gogol’] sieht diese lächerlichen Geschöpfe nicht nur als Erzeugnisse ihrer Umgebung, sondern auch als Opfer dieser Umwelt. Zur sozialen Satire gesellt sich das soziale Mitleid und macht, daß wir das Mensch‐liche, die lebendige Seele in diesen verachteten Wesen erkennen, mit ihnen leiden und sie lieb gewinnen.“ (Luther 1924, 201) Andere Autoren legen „Šinel’“ völlig anders aus. Setschkareff schreibt: „Die berühmte Novelle Gogol’s ‚Der Mantel‘ [...] soll nur zei‐gen, wie der Teufel auch den geringsten Gegenstand nicht ver‐schmäht, um seine Opfer zu stürzen. Die Menschen hängen am Ober‐flächlichen, so geht Gott in ihrem Inneren verloren.“ (Setschkareff 1949, 91). Stender‐Petersen erwähnt zwar einen gewissen „humanitä‐ren Zweck“ (Stender‐Petersen 1993, II, 173) des „Šinel’“, indem er darauf aufmerksam macht, „daß auch kleine Schreiber das Anrecht auf eine menschenwürdige Existenz haben.“ (Ebenda) Daneben habe „Šinel’“ aber noch einen anderen Zweck „und zwar den, die verachte‐ten kleinen Existenzen dadurch den Sieg über die brutale Wirklichkeit davontragen zu lassen, daß sie ihr Dasein jenseits des irdischen Le‐bens im Namen des Ideals fortsetzen, entweder in einer selbstgestalte‐ten Welt oder als Werkzeug einer höheren Gerechtigkeit in einer Phantomwelt.“ (Ebenda) Auch Waegemans erwähnt soziales Enga‐gement in „Šinel’“. Dahinter aber erkenne man „die eigenartige Kraft unlogischer Mächte“ (Waegemans 1998, 101). Für Tschižewskij ist „Ši‐nel’“ hauptsächlich aus stilistischen Gründen bedeutsam (vgl. Punkt d). Die übrigen Autoren beschränken sich zumeist darauf, auf die Wirkung des „Šinel’“ hinzuweisen (was auch die zuvor besprochenen tun) und lassen sich im Wesentlichen nicht auf einen eigenen Deu‐tungsversuch ein. Von Guenther schreibt: „Der ‚Mantel‘ ist eine Urzel‐le, aus der sich das königliche Gebäude der russischen Epik empor‐gewölbt hat.“ (Von Guenther 1964, 48) Mirskij meint dazu: „Gerade
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das heftige Mitleid mit dem armen und unbedeutenden Helden hat die zeitgenössischen Leser so ungeheuer beeindruckt. Der Mantel war der Anlaß für eine ganze Serie philantropischer Geschichten über den kleine Beamten, deren bedeutendste Dostoevskijs Arme Leute ist.“ (Mirskij 1964, 151) Braun schreibt über „Šinel’“, dass die Erzählung die russische Literatur geradezu aufgewühlt habe:
„Es war eigentlich alles neu und aufrüttelnd an ihr: die Erzähltechnik, die psychologische Durcharbeitung, die einzelnen Menschentypen und vor allem das Thema [...]. Zum ersten Mal erscheint hier der ganz kleine Mann – ‚einer der Erniedrigten und Beleidigten‘, um mit Dostojewski zu reden – im Schein‐werferlicht der Dichtung. [...] Es ist nicht sicher, ob Gogol wirklich die Absicht hatte, eine Lanze für Humanität und soziale Gerechtigkeit zu brechen; mögli‐cherweise ergab sich dieser Unterton halb von selbst aus dem Handlungsab‐lauf seiner tragikomischen Groteske. Aber jedenfalls hat die literarische Öf‐fentlichkeit seine Novelle gerade in diesem Sinne verstanden und so ist der ‚Mantel‘ tatsächlich zum Ausgangspunkt der gesamten sozial‐humanitären Literatur in Rußland geworden [...].“ (Braun 1947, 104f.)
d) Zur Behandlung von Gogol’s Stil
Auch bei der Behandlung von Gogol’s Stil lassen sich wieder vier ver‐schiedene Arten der Darstellung (bzw. Nichtdarstellung) unterschei‐den: Von Reinholdt 1886, Polonskij 1902, Brückner 1905, Luther 1924, Sakulin 1927, Graßhoff 1974 und Düwel/Graßhoff 1986 gehen nicht auf Gogol’s Stil ein. Andere Autoren (Eliasberg 1925, Setschkareff 1949, von Guenther 1964, Düwel 1965 und Waegemans 1998) äußern sich sehr allgemein zu Besonderheiten von Gogol’s Stil. Eliasberg charakterisiert ihn bei‐spielsweise als „klug berechnete Vermischung feinster Ziselierarbeit, unvergleichlich poetischer Stellen mit bewußten Plattheiten“ (Elias‐berg 1925, 33). Eine ähnliche Charakterisierung nimmt auch Setschka‐reff vor: „Im Gegensatz zu der klassisch‐präzisen Prosa Puschkins, die nach einer klaren Einheitssprache strebt, vermischt Gogol bewußt die verschiedenen Sprachstile und bringt durch das Nebeneinander ‚ho‐her‘ und ‚niedriger‘ Wörter stilistische Wirkungen hervor, die in der ‚klassischen‘ Prosa durch die üblichen Stilmittel der Rhetorik erreicht wurden“ (Setschkareff 1949, 89). Von Guenther würdigt Gogol’s Stil, bleibt darin aber relativ abstrakt: „Gogols Stil ist von einer (manchmal etwas kauzigen) Eleganz und Vollendung [...]; er ist gewählt und fun‐kelnd, er ist voll glanzvollem Rhythmus, bewegt und in sich heiter
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und kann sich dabei doch ganz einfach geben“ (von Guenther 1964, 51). Vier Autoren beschäftigen sich ausführlicher mit den stilistischen Besonderheiten des Schriftstellers. Lettenbauer, der an einigen Stellen auf den Stil Gogol’s eingeht, schreibt beispielsweise in Bezug auf Mertvye duši: „Die hinreißende Komik, in die die Handlung meist ge‐stellt ist, beruht auf mannigfachen Kunstgriffen; so erzielen neben Hyperbeln und Alogismen kleine grammatikalische Veränderungen und Besonderheiten in der Wortstellung starke Wirkungen“ (Letten‐bauer 1958, 120). Wie schon an der Einteilung Stender‐Petersens zu erkennen ist (Der romantische Stil Gogol’s, Der groteske Stil Gogol’s), legt er Wert auf die stilistische Betrachtung der Werke des Schriftstellers. Stender‐Petersen geht bei der Behandlung der einzelnen Werke folg‐lich immer wieder auf den Stil Gogol’s ein. Zu „Taras Bul’ba“ (von Stender‐Petersen als Novelle bezeichnet) schreibt er in Der romantische Stil Gogol’s: „Sie [die Novelle] war in einer gehobenen Sprache erzählt, die mit allen Mitteln der Kunst geschmückt war, mit Antithesen und Parallelismen, mit Vergleichen und Metaphern, mit Beiwörtern und bildlichen Ausdrücken.“ (Stender‐Petersen 1993, II, 168) Gogol’s Stil in den frühen Werken, den Stender‐Petersen als „lyrische, ekstatische Poesie“ bezeichnet (ebenda), führt den Autor zu der Suggestion, „daß die wahre Romantik [...] hier plötzlich Wirklichkeit geworden war“, was die Einteilung (Der romantische Stil Gogol’s) begründet. In Der gro‐teske Stil Gogol’s behandelt der Autor „Revizor“ und „Mertvye duši“, wobei er mit dem Ausdruck „grotesk“ die jeweiligen Themen der Werke und deren Umsetzung meint und nicht wie zuvor die Sprache. Gogol’s Scheitern beim zweiten Teil der „Mertvye duši“ begründet Stender‐Petersen mit der Unvereinbarkeit beider Stile, obwohl deren Kombination von Gogol’ offenbar angestrebt worden war (Stender‐Petersen 1993, II, 184). Mirskij äußert sich ähnlich wie Lettenbauer und Stender‐Petersen an mehreren Stellen zu Gogol’s Stil und ver‐weist auf dessen außergewöhnliche Besonderheit (z.B. Mirskij 1964, 147). Ebenso geschieht dies bei Lauer bei der Behandlung von „Šinel’“ (Lauer 2000, 234f.). Drei Autoren gehen in ihrer Darstellung des Schaffens Gogol’s sehr ausführlich auf dessen Stil ein. Braun äußert sich auf sechs seiner 27 Gogol’ gewidmeten Seiten explizit zum Stil des Schriftstellers, wo‐bei er einige längere Textbeispiele anführt. Für Braun ist Gogol’ „ein Meister der schwierigen Satzperiode“ und „ein Meister des scheinbar ungezwungenen Plauderstils“ (Braun 1947, 119). Weiterhin unter‐scheidet er bei Gogol’ zwei Stilarten: „die humoristische und die pa‐
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thetische“ (ebenda), die er im Folgenden beide erläutert. Die Teilung des Gogol’schen Stils in diese zwei Richtungen ist mit der Stender‐Petersens vergleichbar. Sehr ausführlich behandelt auch Brodski die‐sen Aspekt des Schaffens Gogol’s. Hierbei versucht Brodski die Be‐sonderheiten in der Sprache Gogol’s zu benennen und mit Beispielen zu belegen. Als hervorstechendste Merkmale der Sprache des Schrift‐stellers nennt Brodski: „häufige Hyperbeln“, „weit ausgesponnene Vergleiche“, „detaillierte Schilderungen und Aufzählungen von Ein‐zelheiten“, „viele Synonyme“, „periodische Wiederholungen von Wörtern oder ganzen Sätzen“ und „die Durchsetzung der Sprache mit unliterarischen Wörtern“ (Brodski 1954, 81f). Der dritte Autor, der sehr ausführlich auf Gogol’s Stil eingeht ist Tschižewskij. In seiner 13 Seiten umfassenden Gogol’‐Darstellung verweist er immer wieder auf stilistische Besonderheiten Gogol’s und widmet ihm außerdem noch explizit die letzten drei Seiten. Hierbei ist beachtenswert, dass bei Tschižewskij zum ersten Mal in den Literaturgeschichten der Begriff „skaz“ auftaucht (z.B. im Zusammenhang mit „Šinel’“ bei Tschižew‐skij 1964, 108), den Tschižewskij im Folgenden charakterisiert. Auch andere Autoren (wie z.B. Braun s.o.) weisen auf diese Erzähltechnik als Eigenheit des Gogol’schen Stils hin, doch nur Tschižewskij und Lauer (S.234) verwenden den Begriff „skaz“. Als „Lieblingskunstgrif‐fe“ des Schriftstellers bezeichnet Tschižewskij „Hyperbel und Oxymo‐ron“ (Tschižewskij 1964, 111). Eine auffallende Besonderheit seien auch die zahlreichen aus dem Ukrainischen abgeleiteten Wörter, „die weder in der russischen noch in irgendeiner anderen Sprache vor‐kommen“ (Tschižewskij 1964, 114), was der Autor mit zahlreichen Beispielen belegt.
3. Zusammenfassung
Nach der Lektüre von jeder Gogol’‐Darstellung in 19 Literaturge‐schichten ergibt sich ein ziemlich unterschiedliches Bild vom Schaffen dieses Schriftstellers. Schon beim Vergleich der Inhaltsverzeichnisse ergaben sich gravierende Unterschiede zwischen den Literaturge‐schichten. Drei Autoren behandeln Gogol’ in der Romantik, zwei im Übergang von der Romantik zum Realismus und einer im Realismus. Die restlichen dreizehn Autoren wählen andere, nicht auf Epochenbe‐zeichnungen bezogene Einteilungen. Auch bei der Frage, ob Gogol’ selbst als Romantiker und/oder Rea‐list zu gelten habe, waren unterschiedliche Ansichten festzustellen. Der Meinung, dass Gogol’ erst Romantiker war und dann Realist
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wurde, steht die Ansicht anderer Literaturhistoriker gegenüber, dass Gogol’s Werk von seinen Zeitgenossen zwar realistisch aufgefasst wurde, es aber eigentlich auf andere Deutungen zielte. Weiterhin gibt es Autoren, die Gogol’ ausschließlich als Romantiker betrachten, ob‐wohl er doch den Realismus begründet hat. Bei der Frage nach der Hauptbedeutung von Gogol’s Schaffen herrscht Einigkeit darin, dass Gogol’ Werk den entscheidenden Schritt in den Realismus bedeutete. Darüber hinaus sind manchen Autoren andere Aspekte wichtig. So betonen die einen Autoren die Bedeutung Gogol’s für die Literatur insgesamt, andere wiederum heben die Wichtigkeit der Werke des Schriftstellers für die Entwicklung einzel‐ner Gattungen hervor. Bei der Untersuchung der Behandlung von „Šinel’“ gab es ebenso weit auseinander gehende Darstellungen. Manche Autoren erwähnen die Erzählung nicht bzw. nur beiläufig oder beschränken sich darauf, auf die Wirkung des Werkes hinzuweisen. In den meisten marxistisch orientierten Literaturgeschichten dominiert die sozialkritische Lesart des „Šinel’“. Von den übrigen Autoren werden andere, zumeist in ei‐ne metaphysische Richtung tendierende Interpretationen vorgeschla‐gen. Bei der Behandlung des Stils des Schriftstellers setzt sich das un‐terschiedliche Bild, welches die Literaturgeschichten zeichnen, fort. Der Stil Gogol’s wird entweder überhaupt nicht gewürdigt, nur abs‐trakt geschildert oder aber ausführlich bzw. sehr detailliert behandelt, wobei die Autoren hier versuchen, dessen Besonderheiten zu benen‐nen und mit Beispielen zu belegen. Ein Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass Gogol’s Werk die Ver‐fasser von Literaturgeschichten vor erhebliche Probleme bezüglich einer Einteilung in Epochen, der Einschätzung der Bedeutung der Texte, der Interpretation einzelner Werke und auch der Behandlung des Stils stellt. Die vielen unterschiedlichen Ansichten der Autoren zu Gogol’s Werk haben aber wohl als Indiz für dessen Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit zu gelten.
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