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Nikolaus Staubach Vera Johanterwage (Hrsg.) Außen und Innen Räume und ihre Symbolik im Mittelalter ~ PETERLANG Internationaler Verlagder Wissenschaften

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Nikolaus StaubachVera Johanterwage

(Hrsg.)

Außen und InnenRäume und ihre Symbolik

im Mittelalter

~PETERLANG

Internationaler Verlagder Wissenschaften

NmKOLAUSSTAUBACH

Vita solitaria und vita communisDer Innenraum als Symbol religiöser Lebensgestaltung

im Spätmittelalter

.. In dem brabantischen Augustinerchorherrenstift Rooklooster verfertigte im Jahr1426 der Profeßbruder Christian van Hesen aus Maastricht die Abschrift eines'Libellus de custodia celle", Das Büchlein behandelt die geistlichen Übungen lectio,meditatio, oratio, actio, wobei die Meditation den breitesten Raum einnimmt. Esbeginnt mit einer eindringlichen Ermahnung zum ausdauernden Verweilen in derZelle, dem fUr jene privaten exercitia vorgesehenen Ort:

'Wer sich in der Zelle aufhält, muß wissen und stets im Gedächtnis behalten, daßdie Zelle selbst es nicht mag, wenn ihr Bewohner allzulang mutwillig von ihr fernbleibt. Und wer bleibt ihr schon gem lange und mutwillig fern, außer jemandem, dergar nicht weiß, welche Güter sie enthält? Denn so ertragreich es ist, sich in ihraufzuhalten, so gefährlich ist es, ihr lange fernzusein. Kann doch der Zellenbewohneraußerhalb der Zelle geistlich nicht länger am Leben bleiben, als ein Fisch körperlichaußerhalb des Wassers. Seht,es gibt einen Fisch mit Namen 'Allee', der in eben-demselben Augenblick, da er das Wasser verläßt, sein Leben verliert. Und aus seinemNamen ist das Wort 'cella' gebildet, wenn man ihn nämlich umwendet und von hintennach vom liest.'2

Dieses kuriose Lob der Zelle kann nicht als geistiges Produkt der 'Devotiomodema' reklamiert werden, obwohl Rooklooster seit 1412 der Windesheimer Kon-gregation, also dem regulierten Zweig jener Reformbewegung angehörte. Denn der'Libellus de custodia cellae' ist nur ein Auszug aus dem um 1190 entstandenen weitumfangreicheren Traktat 'De quadripertito exercitio cellae' des Kartäusers Adam von

IWien, CNB N.S. 12889, fol. 43r-68r. - Zur Handschrift vgl. P. J. H. VERMEEREN,Op zoek naar delibrije van Rooklooster, in: Het Boek 35, 1961/62, S. 134-173, S. 163f. Nr. 20; FRANZ UNTER-KIRCHER,Katalog der datierten Handschriften in lateinischer Schrift in Österreich, Bd. 4,1, Wien1976, S. 214, mit abweichender Lesung des Schreiberkolophons fol. 68r. - Zu Christian van Hesen s.Anecdota ex codicibus hagiographicis Iohannis Gielemans, Brilssel 1895, S. 225; WILHELMKomiERNEST PERSOONsI ANTONIUS G. WEILER(Hgg.), Monasticon Windeshemense, Teil 1: Belgien(Archief- en Bibliotheekwezen inBelgie, Extranummer 16) Brilssel 1976, S.117. '.2 Wien, ÖNB N.S. 12889, fol, 43r: Sciendum el diligenter est el in tenacl memoria recondendum quimoratur in cella, quia ipsa cella non valt ut qui in ea conversatur, nimis diu extra eam temeredemoretur. El quis diu extra eam temere demorari amat, nisi qui quanta ei tnsunt bona penitusignorat? El quidem quantum in ea morari fructuosum; tantum extra eam morari longe vel diupericulosum. Non enim diucius habitaior celle vivere potest spiritualiter extra cellam, quamcorporaliter piscis extra aquam. Considerate quia pisciculo illi qui allec dicltur unum ldemquemomentum est et extra aquam esse et exspirare. Et 'cella' quidem formatur ex hac dicione 'allec', cumconvert/fur.

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Dryburght. Neben der Tilgung ordensspezifischer Elemente und weitläufiger bibel-allegorischer Ausfilhrungen kennzeichnet die Bearbeitung eine Reduktion der ur-sprUnglich acht Meditationsarten auf sechs - die beiden letzten Stufen, die dasStaunenswert-Wunderbare der Welt und die Unsichtbarkeit Gottes zum Gegenstandhaben, sind bewußt übergangen. Die bislang unbeachtete Handschrift des Christianvan Hesen ist also ein Zeugnis der Rezeption kartäusischer Spiritualität durch dieDevotio modernas.

Allerdings waren die von den Devoten auch sonst hochgeschätzten Kartäuser nichtdie einzigen und ersten Repräsentanten eines eremitischen Zellen-Idealst. Auf seineUrsprunge verweist das Fisch-Gleichnis, das Adam von Dryburgh, angeregt durchnaturkundliche Information über den halee I allee, zu einem originellen Anagrammelaboriert hats, Programmatisch auf das Kartäuserleben bezogen begegnet es in denConsuetudines Guigos J.7 und hat dann offenbar sprichwörtliche Verbreitung gefun-

3 Text bei MIGNEPL 153, Sp. 799-884, unter dem Namen Guigos 11.Die Wiener Handschrift umfaßtetwa folgende Passagen dieses Traktats: Sp. 815C-816C, 817A, 826C-828C, 829B-83IC, 832A-845B.- Zu Adam s. ANDREWILMART,Magister Adam Cartusiensis, in: Melanges Mandonnet. Etudesd'histoire litteraire et doctrinale du moyen äge, Bd. 2, Paris 1930, S. 145-161; MARIE-MADELEINEDAVY,La vie solitaire cartusienne d'apres le 'De quadripertito exercitio cellae' d' Adam le Chartreux,in: Revue d'ascetique et de mystique 14, 1933, S. 124-145; JAMESHOGG,Adam the Carthusian's 'Dequadripartito exercitio cellae', in: De Cella in Seculum. Religious and secular life and devotion in latemedieval England, hg. von MICHAELG. SARGENT,Cambridge 1989, S. 67-79; DAVIDJONES, Anearly witness to the nature of the Canonical Order in the twelfth century. A study in the life andwritings of Adam Scot (Analecta Cartusiana 151) Salzburg 1999; NATHALIENABERT,La pensee et lesmots ou l'heritage du sens chez quelques auteurs chartreux du moyen age au XVle siecle, Le cas dumot cellule, in: Das Erbe der Kartäuser. Internationaler Kongress filr Kartäuserforschung 1999, hg.von JORGGANz) MARGRlTFROH(Analecta Cartusiana 160) Salzburg 2000, S. 147-159; FRANCESCOPALLESCHI,La solitudine e i quattro fiumi del Paradiso in Adam Scot, in: The mystical tradition andthe Carthusians, Bd. 5, hg. von JAMESHOGG (Analecta Cartusiana 130) Salzburg 1996, S. 5-44;DERS., Les demiers ecrits d' Adam Scot. Analyse linguistique et stylistique du 'De quadripertitoexercitio cellae' (Analecta Cartusiana 168) Salzburg 2002.4 JAMESHOGG, The English Charterhauses and the Devotio modema, in: Historia et spiritualitasCartusiensis, Destelbergen 1983, S. 257-268; HEINRICHROTHING,Zum Einfluß der Kartäuserstatutenaufdie Windesheimer Konstitutionen, in: Ons Geestelijk Erf59, 1985, S. 197-210; GERARDACHTENKartäuser und Devotio Moderna. Kleiner Beitrag zur Geschichte der spätmittelalterlichen Mystik. in;Die Geschichte des Kartäuserordens, Bd. 2 (Analecta Cartusiana 125) Salzburg 1992, S. 154-181.5 Vgl. LoUIS GOUOAUD,Cellule, in: Dictionnaire de spiritualite ascetique et mystique, Bd. 2, Paris1953, Sp. 396-400; THOMASLENTES, 'Vita perfecta' zwischen 'Vita communis' und 'Vita privata'.Eine Skizze zur klösterlichen Einzelzelle, in: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, hg. vonGERTMELVILLEIPETERVONMOOS,KölnlWeimarlWien 1998, S. 125-164.6 Vgl. etwa die auf älteren Quellen beruhende Information bei Thomas Cantipratensis, Liber de naturarerum, Vn,5, hg, von HELMUTBOESE, BerlinlNew York 1973, S. 254: De alleciis [.•.] Hie fenomnium piscium solus aqua tantum vivit nee nisi in aqua vivere potest statimque ut aeris serenacontigerit, exspirat, nee ulla mora est inter contactum aeris et exspirationem, - Das Anagramm allee Icella auch übernommen im 'Speculum animalium' des Christanus von Lilienfeld, s. ChristaniCampililiensis Opera poetica, Bd. 2, hg. von WALTERZECHMEISTER(CC CM 19B) Tumhout 1992, S.304: Allee vivit aqua tantum, tractum perit a qua. I Occidunt mella mundi monachum sine cella.7 Guigues ler, Coutumes de Chartreuse (SC 313) Paris 1984, 31,1, S. 232: [Cellae) habitatonmdiligemer ac sollleite decet invigilare, ne quas occasiones egrediendi foras vel machinetur vel recipiat[...] sed potius sicut aquas piscibus et caulas ovibus, ita suae saluti et vitae cellam deputetnecessariam.

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den: Ut piscis extra aquam, sie monaehus extra cellams Das eindrucksvolle Bild istjedoch älter: Es geht auf die Anfange des orientalischen Mönchtums zurück und wirdals Diktum sowohl dem Einsiedler Antonius wie auch anderen Wüstenvätern zuge-schrieben", In der lateinisch unter dem Titel 'Vi~ patrum' zusammengefaßten ()Aftväter-Lfterarur's steht der Vergleich neben zahllosen ähnlichen Zeugnissen einescharakteristischen, auf die eremitische Behausung fixierten Lebensgefühls. Es ent-spricht einer mönchischen Existenz, die der dauernden extremen und unvermitteltenSpannung zwischen Gott und Dämonen, Himmel und Hölle ausgesetzt und zum immerneuen asketischen Schicksalskampf herausgefordert ist. Diesem Mönchstyp erscheintdie Zelle als Schauplatz metaphysischer Entscheidung in durchaus zwiespältigemLicht: Sie ist magischer Schutzraum und Kerker, Quelle des Trostes oder der Ver-zweiflung, für den Ausharrenden aber ein Unterpfand des Triumphs über dieVersuchungen des Scheiterns. So heißt es von ihr:

'Warum leide ich Trübsal, da ich in der Zelle sitze? [...] Weil du noch nicht dieRuhe gesehen hast, die wir erhoffen, noch die Qualen, die wir befürchten, Hättest dusie genau vor dir gesehen, wUrdest du stets ohne Trübsal in deiner Zelle bleiben, selbstwenn sie voller WUrmerwäre, so daß du bis zum Halse darin stecktest.' 11

'Die Mönchszelle ist jener Babylonische Feuerofen, in dem die drei Jünglinge demGottessohn begegneten, sie ist die Wolkensäule, aus der Gott zu Moses sprach.'12

'Wie Moses, wenn er die Wolke betrat, mit Gott sprach, und mit dem Volke, wenner sie verlassen hatte, so spricht auch der Mönch mit Gott, wenn er in seiner Zelle ist;wenn er sie aber verläßt, ist er unter den Dämonen.' 13

'Es sprach Abt Paulus Galata: Wenn ein Mönch in seiner Zelle außer dem Lebens-notwendigen noch etwas haben will, sinnt er immer darauf, sie zu verlassen und wirdso von den Dämonen betrogen und getäuscht. Und jener Paulus selbst hielt einmal dieganze Fastenzeit bei einem Maß Linsen und einem kleinen Krug Wasser aus undflocht sich eine Matte und löste sie wieder auf, nur um nicht nach draußen zu gehen.' 14

'Ein Bruder wurde von Gedanken geplagt, sein Kloster zu verlassen, und gestanddies seinem Abt. Der sagte: Setz dich hin und gib deinen Körper den Wänden der

• HANsWALTHER,Lateinische Sprichwörter und Sentenzen des Mittelalters, 5 Teile, Göttingen 1963-67, TeilS, Nr. 32503; ähnlich ebd. Teil4, Nr. 29602.9 MIGNE PL 73, Sp. 164C, 781B, 858A.10 Vgl, EVA SCHULZ-FLOGEL,Zur Entstehung der Corpora 'Vitae Patrum', in: Studia Patristica 20,1989, S. 289-300.11MIGNE PL 73, Sp. 780D-781A (vgl, 90OC): 'Cur sedens in cella mea patior acediam?' [...] 'Quianecdum vldisti requiem, fill, quam speramus, neque tormenta quae timemus. Si enim ea diligentertnsptceres, etiam si vermibus plena esset cella tua usque ad collum, tu tamen in ipsis jacerespermanens sine acedia. '12 Ebd, Sp. 902A: Cella monachi est caminus ille Babylonius, ubi tres pueri Filium Dei invenenmt,sed et columna nubis est ex qua Deus locutus est Moysi.Jl Ebd. Sp. 1020C: Quia quando intrabat Moyses in nube, cum Deo loquebatur, quando autem exibatde nube, cum populo, sic et monachus, quando in cella sua est, cum Deo loquitur, egrediens autem decella cum daeminibus est.14 Ebd. Sp. l029A-B.

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Zelle zum Pfand, daß du nicht hinausgehst; dann laß deine Gedanken ziehen: DerKörper mag denken, was er will, wenn du ihn nur nicht aus der Zelle entläßt. 'IS

Die Faszination der Wüstenaskese und ihrer rigoristischen paradoxalen Psychologiehat das abendländische Religiosentum in literarischer Vermittlung immer wiedererreicht und inspiriert's, Dabei blieb die Zelle stets ein zentrales Symbol existenziellerBewährung, wenn auch ihre Funktion in sublimerer Deutung gewürdigt und dasProblem immobilitätsbedingter acedia einfilhlsamer behandelt wurde. Der Wandel vonkörperlicher Abtötung zu geistlicher Übung, von der Selbstverleugnung zur Gottes-erfahrung ist vielleicht am deutlichsten faßbar in dem Brief, den der BenediktinerWilhelm von St.-Thierry an die Kartäuser von Mont-Dieu geschrieben hat. Mit Bildernund Wortspielen von hoher Emotionalität, mit Paradoxien der stoischen Popular-philosophie und biblischen Gleichnissen wird hier die Zelle als Ort des himmlischenFriedens, der Gotteszwiesprache und der gleichsam pränatalen Geborgenheit geschil-dert:

'Der Apostel sagt: körperliche Übung ist zu wenigem nütze, die Frömmigkeit aberist zu jedem guten Werk nützlich. [...] Wer dies nicht in seinem Bewußtsein hat [...]und in der Zelle praktiziert, der ist nicht Einsiedler (solitarius) sondern einsam (so/us),und die Zelle ist ihm nicht Zelle, sondern Gefängnis und Kerker. [...] Einsamkeit undGefängnis sind Begriffe des Elends. Die Zelle aber darf keineswegs ein Zwangsge-fängnis, sie soll Wohnung des Friedens sein. [...] Bei wem Gott ist, der ist niemalsweniger allein, als wenn er allein ist. [...] Die beiden Wörter cella und ce/um bezeich-nen zwei verwandte Orte; wie sie miteinander verwandt sind, haben sie auch eineähnliche geistliche Bedeutung: A celando enim et celum et cella nomen haberevidentur; et quod celatur in celis, hoc et in cellis, quod geritur in celis, hoc et in cellis.[...] Den Sohn der Gnade, die Frucht ihres Leibes hütet die Zelle, nährt und umfängtihn, entwickelt ihn bis zur Vollkommenheit und macht ihn würdig für die Unterredungmit Gott.' 17

IS Ebd. Sp. 902A: Frater quidam dum sollicltaretur a cogitationibus propriis ut exiret a monasterio,indicavit hoc ipsum abbati. OIe autem dixit: 'Vade et sede, et da parieti cellae tuae corpus tuum inpignore, et non exeas inde; cogitationem autem tuum dimitte; cogitet quantum vult, tantum ne ejiciasde cella tua corpus tuum. '16 Vg!. HEINRICHHOLZE,Erfahrung und Theologie im frühen Mönchtum. Untersuchungen zu einerTheologie des monastischen Lebens bei den ägyptischen Mönchsvätern, Johannes Cassian undBenedikt von Nursia (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 48) Göttingen 1992; MARIA-ELISABETHBRUNERT,Das Ideal der Wüstenaskese und seine Rezeption in Gallien bis zum Ende des6. Jahrhunderts (Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinertums 42) Münster1994; ANDREASE. J. GROTE,Anachorese und Zönobium. Der Rekurs des frühen westlichen Mönch-tums aufmonastische Konzepte des Ostens, Stuttgart 2001.17 Guillaume de Saint-Thieny, Un traite de la vie solitaire. Epistola ad Fratres de Monte-Dei, hg. vonMARlE-MADELEINEDAVY, Paris 1940, cap. 17-21, S. 77-79. Wilhelm zitiert den bekannten Aus-spruch des P. Scipio Africanus Maior bei Cicero, De Officiis III 1,1: numquam se minus otiosum essequam cum otiosus, nee minus solum quam cum solus esset. - Ein ähnlich emphatisches Lob der Zelleenthält bereits die Schrift 'Oe laude vitae solitariae' des Ps-Basilius (=Petrus Damiani, MIGNEPL145, Sp. 246-252), die Petrarca zum Vorbild gedient hat (s. unten Anm. 38); vgl. etwa ebd. Sp. 247f.:o cella, spiritualis exercitii mirabilis officina, in qua certe humana anima creatoris sui i1lse restauro:imaginem et ad sua redit originis puritateml [...] Tu scala ilia Jacob, quae homines vehis ad coelum etangelos ad humanum deponis auxilium. Tu via aurea; quae homines reducis ad patriam. [...] Cellanempe est conclliabulum Dei et hominum, compitum in came degentium et supemorum. I1luc slqui-

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Es liegt in der Konsequenz dieser geradezu mystischen Spiritualisierung der Zelle,daß sie als cella interior auch zum Bewußtseinsort par excellence, zum Gewissen(conscientia) wird. Diese 'Verinnerlichung des Innenraums' zu einem Symbol fUrPersönlichkeitszentrum und Identitätskern des Individuums ist ein Schritt, den gleich-falls Wilhelm von St.-Thierry in Augustinischem Geist und mit eindrucksvollerAnschaulichkeit vollzieht: 'Sei dir selbst ein Gleichnis der Erbauung. Du hast eineäußere und eine andere, die innere Zelle. Die äußere ist das Haus, in dem deine Seelezusammen mit deinem Körper wohnt; die innere ist dein Gewissen, in der das Innerstedeines Inneren wohnen soll, Gott zusammen mit deinem Geiste. [...] Liebe also deineinnere Zelle, liebe auch die äußere. [...] Erweise beiden ihre Ehre und mach deineHerrschaft in ihnen geltend.'18

Bei den modernen Devoten genoß die gewöhnlich Bernhard von Clairvaux zuge-schriebene 'Epistola ad fratres de Monte Dei' höchstes Ansehen. Nicht wenigerAchtung und Aufinerksamkeit widmete man indes den Schriften, die von der asketi-schen Strenge und der Radikalität der Christusnachfolge bei den frühen Mönchsväternberichteten. Verstand man doch ihren RUckzug aus den Städten in die WUsteals einenersten Versuch, das Ideal der vita apostolica zu erneuern, und damit als Urbild deseigenen Reformanliegens. Der simultane Zugriff auf ganz verschiedene Entwicklungs-phasen der monastischen Tradition erklärt, warum die devote Spiritualität der Zellesowohl archaische wie neue ZUgeaufweist",

Der erfolgreichste und fruchtbarste Autor der Devotio moderna, Thomas vonKempen, war zugleich der wärmste und beredteste Apologet der Zelle20• Dazu scheint

dem supemi cives ad colloquia humana conveniunt. [...] Cella namque conscientia est secreti consilii,quod habet cum hominibus Deus.IS Wilhelm von St. Thierry cap. 52, DAVY(wie Anm. 17) S. 100f. - Bezeichnenderweise wurde beiden Devoten unter dem Titel 'De cella interiori sive de conscientia' ein entsprechender Auszug aus der'Epistola ad fratres de Monte Dei' rezipiert; vgl. THOMASKOCK, Die Buchkultur der Devotio mo-dema. Handschriftenproduktion, Literaturversorgung und Bibliotheksaufbau im Zeitalter des Medien-wechseIs (Tradition-Reform-Innovation 2) FrankfurtlM. 22002, S. 278. - Zum verwandten Bild vomclaustrum animae u. I. vgl, CHRISTIANIAWHITEHEAD,Making a cloister of the soul in medievalreligious treatises, in: Medium Aevum 67, 1998, S. 1-29.19 Zur Rezeption der Vitas patrum im Spätmittelalter vgl, COlUMBAM. BATLLE,Die 'Adhortationessanctorum patrum' ('Verba seniorum') im lateinischen Mittelalter (Beiträge zur Geschichte des altenMönchtums und des Benediktinerordens 31) MUnster 1972; LOUISEGNÄDINGER,Das Altväterzitat imPredigtwerk Johannes Taulers, in: Unterwegs zur Einheit. Festschrift für Heinrich Stimimann, Frei-burglSchw. 1980, S. 2~3.267; KLAUSKLEIN,Frühchristliche Eremiten im Spätmittelalter und in derReformationszeit. Zu Überlieferung und Rezeption der deutschen 'Vitaspatrum'-Prosa, in: Literaturund Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, hg. von LUDGERGRENZMANNIKARLSTACKMANN,Stuttgart 1984, S. 686-695; DERS., Die Vitaspatrum. Überlieferungsgeschicht-liche Untersuchungen zu den Prosaübersetzungen im deutschen Mittelalter, Diss. Würzburg 1985,Teildruck Marburg 1985; KONRADKUNW ULLAWILLIAMsIPHILIPPKAISER,Information und innereFormung. Zur Rezeption der 'Vitaspatrum' , in: Wissensorganisierende und wissensvermittelndeLiteratur im Mittelalter. Perspektiven ihrer Erforschung, hg. von NORBERTRICHARDWOLF, Wies-baden 1987, S. 123-142; ULLAWILLIAMsIWERNERJ. HOFFMANN,'Vitaspatrum', in: Die deutscheLiteratur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 10, BerlinlNew York 1999, Sp. 449-466.20 Zu Thomas von Kempen s.jetzt die Beiträge des Sammelbandes: Aus dem Winkel in die Welt. DieBUcher des Thomas von Kempen und ihre Schicksale, hg. von UlRIKE BODEMANNI NIKOLAUSSTAUBACH(Tradition-Reform-Innovation 11) FrankfurtlM. u. a. 2006.

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es zu passen, daß sein in verschiedenen Versionen überlieferter Wahlspruch das Idealdes verborgenen Lebens verkündet: In omnibus requiem quaesivi et nusquam inveninisi in een hoecksken met een boecksken, oder: Nusquam tota quies nisi cellis, cod ice,claustrow In zahlreichen Schriften hat Thomas die vita solitaria gepriesen undRatschläge gegen das taedium cellae erteilt - ja, sein berühmtestes Werk. die 'ImitatioChristi' ist im Grunde nichts anderes als ein Trostbuch gegen die Anfechtungen desAlleinseinsv. Zum Zellenideal der Altväter bekennt er sich am deutlichsten in einemSermo, der mit dem Satz beginnt: Fons et origo profectus spiritualis Iibenter in cellaresidere.ü Unschwer ist darin eine von Heinrich Seuse dem Abbas Arsenius zuge-schriebene Maxime zu erkennen, die - mag sie auch nicht authentisch sein - dochtreffend jene Symbolfigur asketischer Weltflucht charakterisiert und daher bei denDevoten zu einem häufig verwendeten Sinnspruch wurde>, Gemäß dem programmatl,sehen Eingangszitat deutet Thomas dann die Selbstbeschrll.nkung auf den Innenraumals Mortificatio unter dem Paulinischen Thema: mihi mundus crucifixus et ego mundo(Gal. 6,14). Wer die Einsamkeit der Zelle nicht ertragen zu können glaubt, wirdschließlich auf den ungleich größeren Leistungs- und Leidensdruck der frühenAsketen verwiesen: 'Begeben wir uns zu der heiligen Väter Stätten innerer Einsam-keit! Suchen wir den ersten Eremiten Paulus auf und Antonius oder Macharius - gibtes etwa einen unter ihnen, der den Anblick der Menschen für eine geringere Dauer alszwanzig oder dreißig Jahre zu entbehren hatte? Dann wird deutlich, wie kurz die Zeitist, da wir allein zu sein pflegen.'2S An den Geist der 'Vitas patrum' erinnert es übri-gens auch, wenn Thomas in anderem Zusammenhang empfiehlt, vor jedem Verlassender Zelle und nach jeder Rückkehr mit einem Gebet der jenseits der Schwelle lauern-den Gefahren zu gedenken und an der Tür eine Mahnung gegen zu langes Ausbleibenzu befestigen», Daß solcherart Zellenfrömmigkeit tatsächlich praktiziert wurde, zeigt

21 Vg!. JOSEPHHUBERTMOOREN,Nachrichten über Thomas a Kempis, Amheim 1855, S. 197-201.n Vg!. etwa NIKOLAUSSTAUBACH,Von der Nachfolge Christi und ihren Folgen, oder: Warum wurdeThomas von Kempen so berühmt?, in: Kempener Thomas-Vorträge, Kempen 2002, S. 85-104.23 Thomas von Kempen, Sermones ad fratres, 7: 'De bono solitudinis exemplo Christi et sanctorumpatrum', in: Ders., Opera omnia, hg. von MICHAELJOSEPHPOHL,7 Bde., FreiburglBr. 1902-1922, Bd.1, S. 116-119, S. 116.24 Heinrich Seuse, Horologium Sapientiae, hg, von PlUs KÜNZLE(Spicilegium Friburgense 23) Freiburg/Schweiz 1977,11 3, S. 545f.; vg!. dazu NIKOLAUSSTAUBACH,Von der persönlichen Erfahrung zurGemeinschaftsliteratur. Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen geistlicher Reformtexte im Spät-mittelalter, in: Ons Geestelijk Erf 68, 1994, S. 200-228, S. 213f. mit weiteren Parallelstellen.2S Thomas von Kempen, Sermones ad fratres, 7 (wie Anm. 23) S. 118.26 Ders., Libellus spiritualis exercitii, in: Ders., Opera omnia (wie Anm. 23) Bd. 2, S. 329-355, cap. 4,S. 337f.: Cave afrequenti exitu [...] Antequam exeas, orationem praemitte pro diligenti custodia viae.[...] Rediens ltaque ad cellam velut ad tranquillitatis portum fige in ea stabilitatis ancoram perorationem ferventem et lectionem devotam: Non enim patitur cella tepidum et otiosum in se diumorari. Fleete statim genua vel caput inclina ante Crucifixum; et sa/uta praecipue lesu matremdominam nostram. Dicito attente et replica saepe hunc versum: Haec requies mea in saeculumsaecull, hie habitabo quoniam elegi eam [ps. 131,14]. Domine bonum est nos hie esse super omniadesiderabilia terrae; locus enim iste sanctus est. Quamdiu ergo spiritus tuos rexerit artus, sit cellarequietionis tuae domus ac tumulus, donee tibi aperiatur paradisus caelestis. Est enim via brevis decella ad coelum, si in ea caelicam duxeris vitam. - Ebd. cap. 2, S. 334: Inutiles circuitus devita peraedes. Stet in ostia cellae pro signa notabile breve. quod te praemoneat exeuntem et redarguas diutardantem.

Vita solitaria und vita communis 285

das Beispiel des Windesheimer Chorherren Johannes Scutken, der sich stets mit einempassenden Bibelspruch vor den Dämonen draußen zu schützen pflegte: cellam exiturusquasi iam continuo contra demones pugnaturusü,

Neben dem asketisch-magischen kennt und preist Thomas aber auch den sanftenund beglückenden, ja mystischen Aspekt der Zelle. Bedeutet sie dem noch unerfah-renen Anfänger des geistlichen Lebens vornehmlich Schutz und Zuflucht vor denVersuchungen der Welt, so ist sie für den Fortschreitenden Läuterung und Tugend-übung, für den Vollendeten aber ein Ort himmlischer Wonne: quasi locus et paradisusvoluptatis est et tamquam hortus deliciarum amoenissimus+: Als den wesentlichenInhalt dieses Glückes nennt Thomas das Sich-Selber-Finden, die Selbsterfahrung: 'Ingewisser Weise finden die Diener Gottes sich selbst, wenn sie sich in ihrem Zimmerals Einzelwesen anschauen. '29

Ein derart glückliches Zu-sieh-Kommen, dem die schmerzhafte Selbsterkenntnisdes Sünders und seine schrittweise Besserung vorausgehen muß, bedeutet zugleichGotteserfahrung und wird von Thomas mit entschiedenem Heilsegoismus auf Kostensozialer Kontakte als höchstes Ziel des Zellenbewohners proklamiert:

'Ein aufs Innere gerichteter Mensch (internus homo) stellt die Sorge um sich selbsthöher als alle anderen Sorgen [...] Wenn du dich ganz auf dich und auf Gott richtest,kümmert dich wenig, was du draußen vernimmst. Wo bist du, wenn du nicht für dichpräsent bist? [...] Wenn du Frieden und wahre Einheit haben willst, mußt du alleshintanstellen und dich allein vor Augen haben. '30

'Besser ist es, verborgen zu leben und sich um sich selbst zu kümmern, als sich zuvernachlässigen und Wunder zu wirken.P!

'Schließe deine Tür hinter dir und rufe deinen Geliebten Jesus zu dir. Bleib mit ihmin der Zelle, denn nirgendwo sonst wirst du solchen Frieden finden.'32

'Stell dir vor, Gott und du, ihr wäret allein auf der Welt, und du wirst eine großeRuhe in deinem Herzen haben. '33

'Dem eigenen Heil darfman nichts vorziehen.P'

27 Johannes Busch, Chronicon Windeshemense. Liber de viris illustribus, cap. 63, in: KARLGRUBE(Hg.), Des Augustinerpropstes Iohannes Busch Chronicon Windeshemense und Liber de reformationemonasteriorum (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen 19) Halle 1886, S. 191. Zuvor hieß es überihn ebd. S. 190f.: virum summe spiritualem se nobis exhibuit [...] motu, vultu et habitu speciemanachorilarum aperte proferentem, tamquam virum de antiquis Christi discipulis Egiptique patribusin deserto penitencie semper enutritum nobis in exemplum a Deo transmissum, [...] Libenter foit ince/la cum Deo occupatus, ce/lam pro paradiso terrestri reputando, quamdiu peregrinus et tncola fuitin mundo. El cellam fecit celum celestia meditando, Deum in corde suo continue portando frequenter-que Deo se in celis presentando, ymmo et Spiritus sancti presenciam angelorumque frequenciam ince/la secum persenciens, cum in cella id ageret, quod angeli in celo.II Thomas von Kempen, Sermones ad fratres, 7 (wie Anm. 23) S. 117. Vgl. auch den in Anm. 27zitierten Text29Ebd.: Quodammodo enim servi Dei se ipsos inveniunt, cum in cubiculo solltarios se conspiciunt.30Thomas von Kempen, De imitatione Christi 115, in: Ders., Opera omnia (wie Anm. 23) Bd. 2, S. 67.31 Ebd. 120, S. 37.32 Ebd. S. 38.33Thomas von Kempen, Libellus de disciplina claustralium, in: Ders., Opera omnia (wie Anm. 23)Bd. 2, S. 265-319, cap. 7, S. 296.

286 Nikolaus Staubach

Was Thomas von Kempen zum Lob der Zelle vorbringt, steht, wie es scheint, inauffallendem Widerspruch zu dem bekannten Selbstverständnis der Devotio moderna,deren Ideal und Programm nicht die vita solitaria, sondern die vita communis gewesenist. Dies gilt sowohl für ihren klösterlichen Zweig, die Augustinerchorherren und-chorfrauen der Windesheimer Kongregation, wie auch für die semireligiosen 'Brüderund Schwestern vom gemeinsamen Leben', die jenes Programm sogar im Namen führ-ten. Der Widerspruch findet sich bei Thomas selbst, wenn neben der Verantwortungfür das eigene Heil zugleich auch die Pflichten gegen die Gemeinschaft Prioritäterhalten:

'Du sollst geistliche Übungen treiben, die deiner Lebensform entsprechen, die dichunterweisen, erneuern und entflammen. Diese privaten Übungen dürfen aber nicht diegemeinschaftlichen ausschließen, sondern sie sollen dich für diese noch bereitermachen, damit du in keiner Weise eine Einbuße an deinem inneren Frieden er-leidest. '35

'Wo auch immer du sein sollst - sieh zu, daß du zeitig kommst, ohne Rücksicht aufdeine privaten Interessen. [ ...] Stelle die gemeinschaftlichen Belange deinen eigenenund privaten stets voran. Bemühe dich mehr darum, den Willen des anderen als deineneigenen zu erfüllen; dann wirst du allen lieb sein, sowohl Gott wie auch denBrUdem.'36

Der von Thomas harmonisierte Gegensatz verweist auf ein Problem, das für dieOrdens- und Frömmigkeitsgeschichte des späteren Mittelalters von grundsätzlicherBedeutung war: Wie ließen sich die geistlichen Neigungen und BedUrfnisse des ein-zelnen mit dem Angebotsspektrum kirchlich approbierter und organisierter Lebens-formen, das man immer wieder durch NeugrUndungsverbote und restaurative Reform-bewegungen festzuschreiben und zu standardisieren versuchte, in Einklang bringen?Welcher der konkurrierenden Orden und gegensätzlichen spirituellen Orientierungenverdiente den Vorzug? Und gab es einen Spielraum für die Etablierung und Verbrei-tung neuer Frömmigkeitsstile und -praktiken in einer kirchlichen Standesgesellschaft,die gemäß dem Grundsatz verfaßt war, daß Pluralität allein durch Ordnung zu Schön-heit und Wert erhoben werden konnte, statt in teuflisches Chaos zu verfallentt? Es wardie Frage der ethisch-religiösen Lebenswahl, der electio vitae, die in dem Maße einbreiteres Interesse fand, wie die Zahl der Individuen wuchs, die aufgrund wirtschaft-licher Unabhängigkeit und gewisser Bildungsvoraussetzungen ein Bewußtsein derVerantwortung für die eigene Persönlichkeit und Biographie entwickelten»,

34 Ders., Libellus de recognitione propriae fragilitatis, in: Ders., Opera omnia (wie Anm. 23) Bd. 2, S.357-373, cap. 3, S. 364.3S Ders., Libel1us spiritualis exercitii (wie Anm. 26) cap. I, S. 332.36Ders., Brevis admonitio spiritualis exercitii, in: Ders., Opera omnia (wie Anm. 23) Bd. 2, S. 419-432, S. 426.37 Vg!. etwa Augustinus, De vera religione 41,77, in: Aurelii Augustini Opera IV,1 (Corpus Christia-norum. Series Latina 32) Tumhout 1962, S. 237: Nihil enim est ordinatum, quod non sit pulchrum;Thomas von Aquin, Summa theologica 1, quo 108, art. 2: Non autem esset multitudo ordinata, sedconfusa, si in multitudine diversi ordines non essent.38 Paradigmatisch für das Problem der bewußten Lebenswahl und Lebensgestaltung sind die SchriftenPetrarcas, insbesondere 'De vita solitaria'; vg!. dazu K. A. E. ENENKEL(Hg.), Petrarca, De vita solitaria,Buch I. Kritische Textausgabe und ideengeschichtlicher Kommentar (Leidse Romanistische Reeks 24)

Vita solitaria und vita communis 287In der Diskussion um die grundsätzlichen Alternativen der Lebenswahl spielte der

Gegensatz von Eremitentum und Gemeinschaftsleben eine ähnlich wichtige Rolle wiedie eng verwandte Synkrisis der vita activa und contemplativan. Die vita solitariawurde durchaus nicht einhellig positiv beurteilt. Da sie die natürliche Sozialität desMenschen ignorierte, erschien sie als ein ambivalenter Ausnahmestatus, der sowohl imGuten wie im Schlechten zum Extrem tendierte: solitarius vel Deus est vel bestiaw,Daß asketische Einsamkeit ein Höchstmaß an Weltverachtung und Gottesnähebedeuten konnte, war nicht zu bestreiten und wurde durch die Gestalt Johannes desTäufers, der als ihr Urbild und vollkommenster Vertreter galt, bestätigt". Andererseitswar sie eine gefährliche, nur für wenige geeignete und keineswegs allgemein zuempfehlende Lebensform. Vor allem aber kennzeichnete sie ein Defizit an sozial-karitativem Engagement, da die Trennung von der menschlichen Gesellschaft dieÜbung praktischer Nächstenliebe - vom Gebet einmal abgesehen - ausschloß. So

Leiden u. a. 1990; DERS., Der andere Petrarca: Francesco Petrarces 'De vita solitaria' und die 'devotiomodema', in: Quaerendo 17, 1987 S. 137-147; NIKOLAUSSTAUBACH,Christianam sectam arripe.Devotio modema und Humanismus zwischen Zirkelbildung und gesellschaftlicher Integration, in:Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien derFrühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung, hg, von KLAUSGARBERIHElNz WIS-MANN,2 Bde., Tübingen 1996, Bd. 1, S. 112-167, S. 134ff.; PETERVONMoos, Petrarcas Einsam-keiten, in: ALEIDA ASSMANNI JAN ASSMANN(Hgg.), Einsamkeit. Archäologie der literarischenKommunikation VI, München 2000, S. 213-237.39 Ein verbreitetes Gliederungsmodell der christlichen Gesellschaft im Hoch- und Spätmittelalterordnete den drei Standesgruppen der Laien, Mönche und Weltkleriker die Lebensformen der vitaactiva, vita contemplativa und vita permixta zu; s. etwa Henricus de Segusio Cardinalis Hostiensis,Summa Aurea, Venedig 1574, Prooemium § 9f., Sp. 6f.: Ex praemissis patet fore duo genera homi-num, scilicet laicorum et religiosorum. Et duo genera vitarum. scilicet contemplativae et activae. Etduo genera scientiarum; divinae scilicet et civilis. [.•.] Sed sine dubio addere possumus tertium genus,ex ingenio quasi permixtum: Nos enim clerici seculares, quos oportet Domino famulari et etiamcurare ne pereant possessiones ecclesiasticae, in medio istorum sumus positi tanquam centrum. [.••]Ideo hoc tertium genus permixtum; vitam permixtam ducens, scientia permixta egebat. Vgl. GIlESCONSTABLE,The orders of society, in : DERS.,Three studies in medieval religious and social thought,Cambridge 1995, S. 248-360, S. 306, Anm. 230, und S. 335f. Doch wurde die vielfach als besondersvollkommen betrachtete Form der vita permixta auch von anderen Gruppen für sich in Anspruchgenommen; s. unten bei Anm. 52, 68 und 75, sowie Anm. 43 und 76. - Zur Diskussion um denVorzug von aktivem oder kontemplativem Leben vgl. auch GILESCONSTABLE,The interpretation ofMary and Martha in: DERS., Three studies, S. 1-141; DIETMARMIETH, Die Einheit von Vita activaund Vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei JohannesTauler, Regensburg 1969; K. A. E. ENENKEL,Wessel Gansforts Stellungnahme zum Vita activa-Vitacontemplativa-Problem, in: Wessel Gansfort (1419-1489) and Northern Humanism, hg. von F. AKKER-MANu. a., Leiden u. a. 1993, S. 44-70; sowie den Sammelband: Arbeit, Musse, Meditation. Betrach-tungen zur 'Vita activa' und 'Vita contemplativa', hg. von BRlANVICKERS,Zürich 1985.40 Johannes Gerson, Collectorium super Magnificat, Tractatus XI, in: Ders., ffiuvres completes, hg.von PALEMONGLORIEUX,10 Bde., Paris u. a. 1960-1973, Bd. 8, S. 479-512, S. 491; Gerson zitiertAristoteIes, Politica I 2, 1253a. - Vgl. AlEIDA ASSMANN,Vae Soli. Über die Entdeckung sozialerTugenden in der frühen Neuzeit, in: Festschrift WaIter Haug und Burghart Wachinger, hg. von JOHAN-NESJANOTA,Tübingen 1992, Bd. I, S. 87-102.41 Gerson (wie Anm. 40) S. 491ff. - Vgl. auch Dens., De comparatione vitae contemplativae adactivam, GLORlEUX(wie Anm. 40) Bd. 3, S. 63-77, bes. S. 70fT.(Johannes der Täufer als Exempel dervita contemplativa; Vorzüge und Verdienstlichkeitsgrade der vita activa, vita contemplativa und vitamixta).

288 Nikolaus Staubach

wurde noch im Reformationszeitalter das Eremitenturn als peccatum contra proximummit besonderer Kritik bedacht - ein Vorwurf, den Bellarmin u. a. mit dem Argumentzurückwies, daß ein Privatmann nicht zu hauptberuflicher Mildtätigkeit verpflichtetsei: ad opera caritatis non obligantur homines privati, nisi quando se offert occasion .:

Wenn die vita solitaria trotz erheblicher Vorbehalte hohes Ansehen genoß, so wardies zweifellos ein Verdienst der Kartäuser, die sie in behutsam abgemilderter Form sotadelsfrei und unverbrüchlich praktizierten, daß der Orden zum sprichwörtlichenMuster der Regeltreue geworden ist43• Der Normalfall klösterlichen Lebens im mittel-alterlichen Westen war jedoch die vita communis; sie entsprach dem Ideal der Urkir-che und konnte darüber hinaus durch biblische und philosophische Bestimmungen derMenschennatur begründet werden. Definiert war sie in der Praxis durch Gütergemein-schaft und den regelmäßigen Besuch von Chor und Kapitel, Refektorium und Dormi-torium. Zellen, also dem einzelnen reservierte Räume für religiöse Übungen wieGebet, Lektüre und Meditation, für Studium und Handarbeit oder für die Nachtruhe,waren sowohl bei Mönchs- und Bettelorden wie auch bei Regularkanonikern grund-sätzlich nicht vorgesehen. Dennoch gab es sie, vornehmlich im späteren Mittelalter, sogut wie überall, weil sie dem unabweisbaren Bedürfnis nach einer wenn auch noch sorestringierten Privatsphäre entsprachen. Ihre Einrichtung, meist durch Unterteilung desDormitoriums mit Holzschranken oder Trennwänden bewerkstelligt, wurde noch vonBenedikt XII. (1336) ebenso entschieden wie erfolglos bekämpft, von den nicht weni-ger strengen Klosterreformern des 15. Jahrhunderts dagegen durchweg als irreversibelhingenommen. Bestrebungen zur Einführung der Observanz galten jetzt nicht mehr derZelle an sich, sondern ihrem Mißbrauch, etwa der Ansammlung von Privateigentum,der durch regelmäßige Revision vorgebeugt werden sollte-'.

42 In der Auseinandersetzung mit den 'Magdeburger Centurien' und Calvin: Robertus Bellarminus,Disputationes de controversiis christianae fidei, 4 Bde., Ingolstadt 1601, Bd. 2, Contr. 2,2, c. 39: 'Deeremitis', Sp. 595-604, Sp. 602.43 Vg!. etwa HEINRICHRÜTHING,Die Kartäuser und die spätmittelalterlichen Ordensrefonnen, in:KASPAR ELM (Hg.), Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichenOrdenswesen (Berliner Historische Studien 14, Ordensstudien 6) Berlin 1989, S. 35-58, S. 35f.;DERS., Der Kartäuser Heinrich Egher von Kalkar, 1328-1408 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 18, Studien zur Gennania Sacra 8) Göttingen 1967, S. 9ff.; GIOVANNlLEONCINI,'Cartusia nunquam reformata': spiritualitA eremitica fra trecento e quattrocento, in: StudiMedievali. Serie terza, 29, 1988, S. 561-586. - Allerdings betrachteten die Kartäuser selbst ihreLebensform als ideale Verbindung von Einsamkeit und Sozialität; vgl, etwa Dionysius Cartusianus,De laude et commendatione vitae solitariae, art. 2, in: D. Dionysii Cartusiani Opera omnia in unumcorpus digesta. Opera minora Bd. 6, Tournai 1909, S. 328: Vita pure solitaria convenit paucis QC

virtuosis dumtaxat, in spirituali militia exercitatis [oo.] Idclrco sapientissimo moderamine actum estSpiritus Sancti; ut inter evangelicae legis religiones, quae pro maxima parte socia/em continent vitam.exstet religio ex vita sociall et conversatione solitaria mixta QC medium tenens, ut Cartusiensis estordo ..... Benedikt XII., Reformatio Ordinis Cisterciensis Monacorum S. Benedicti ('Fulgens sicut stella'),in: Magnum Bullarium Romanum. Bullarum privilegiorum ac diplomatum Romanorum Pontificurnamplissima collectio, hg. von CHARLESCOQUELINES,II12, Rom 1741, S. 209: Cumque tam secundumcanonica quam regular/a instituta in unum locum dormire debeant monaci universi et praetextucamerarum sejunctarum [...] mu/toe sint inhonestates et dissolutiones inductae, nos super his expres-sius et sa/ubrius pravidere volentes statuimus et ordinamus, quod nullus de cetera monacorum incameris jacere oudeat, nisi solummodo propter invalitudinem corpora/em. [...] sed omnes in dorm!-

Vita solitaria und vita communis 289Die Duldung der Zelle im benediktinischen Reformmönchtum und anderen Orden

hat man als einen Beleg für die Archäologie des neuzeitlichen Persönlichkeitsbewußt-seins und Privatlebens in Anspruch genommene, Aus ordensgeschichtlicher Sicht istsie, weniger spektakulär, Symptom einer Differenzierung und Bereicherung der tradi-tionellen religiösen Lebensformen durch Assimilation und Kombination zweier gegen-sätzlicher asketischer Ideale: der vita solitaria und der vita communis. Der von derBursfelder Reformbewegung geprägte Abt Johannes Trithemius hat diesen Befundpägnant in ein benediktinisches 'Lob der Zelle' gefaßt:

'Viele, die von stärkerem Charakter waren, fühlten sich der Einöde gewachsen undwollten dem Herrn im Geiste um so näher sein, je mehr sie sich im Körper von derWelt entfernten [...] Andere aber hatten das Bedürfnis, vielen zu nützen, und richtetenKlöster ein, in denen sie zahlreiche Mönche ansiedelten: Diese sollten getrennt vonden Menschen leben und doch einander Gesellschaft leisten. Denn nicht für jeden istes gut, in der Einöde zu sitzen; für manche paßt es besser, daß sie inmitten ihrerBrüder dem Herrn dienen. Haben doch unsere Klöster auch ihre Einsamkeit, so daßderjenige, der es will, inmitten der Brüder Einsiedler sein kann, wenn er derAbgeschiedenheit der Zelle, in der er sich aufhält, Dauer verleiht. '46

torio joeeant [...] Ad hoc etiam statuendo et ordinando adiicimus, quod deinceps cellae in dormitorionullatenus construantur, et siquae jam constructae fuerint, omnino [...] destruantur. - Ders., Ordina-tiones et reforrnationes pro bono regimine Monacorum Nigrorum Ordinis S. Benedicti ('Summi magi-stri'), ebd. S. 236: Caeterum quia cellae in dormitoriis inhonestates lnducunt, statuimus et ordinamus,quod in ipsis dormitoriis cellae de caetero nullae fiant et jam factae nullatenus dimiaamur, sed [...]destruantur. - Ders., Ordinationes et statuta pro bono regimine Ordinis Fratrum Minorum S. Francisci('Redemptor noster'), ebd. S. 256: Caeterum ordinamus quod nul/us fratrum habeat cameramclausam vel a dormitorio sequestratam, exceptis ministris et lectoribus constittuis in generalibusstudiis, et quod in cellis vel studiis fratrum aliorum non habeant velamina vel clausurae, quominusfratres intus existentes patere possint aspectibus aliorum. - Ders., Constitutio totius Ordinis Canoni-corum Regularium Ordinis S. Augustini ('Ad decorem ecclesiae'), ebd. S. 283: Praecipimus quodcanonici religionis eiusdem residentes in claustris omnes simul [00'] in una domo dormiant et quies-cant. juxta regularia instituta canonica, non habentes separatas cameras sive cellas [00'] Statuimusetiam quod in dormitoriis cellas non habentibus cellae de caetero nullae fiant. Permittimus tamenquod in eis; ubi sunt cellae iam factae, remaneant, sed a parte anterlori debeant aperiri, ita quodtranseuntibus hi qui intra fuerint conspici valeant et videri. - Vgl. den Bericht Buschs über die vonihm durchgeführte Reform des Chorherrenstifts HI. Geist bei Salzwedel, Johannes Busch, Liber dereforrnatione monasteriorum I, cap. 37, in: GRUBE(wie Anm. 27) S. 504: Qui autem omnes adcommunem vitam se dedenmt. Singulorum cellas omnes pariter intravimus, et quarum claves propterabsentiam fratrum non habuimus, per vim aperuimus et inde omnia ad vestitum seu laborem nonpertinentia recepimus et exportavimus oe in commune reposuimus apud vestiarium. [00'] Cellas etiamsingulis [00'] distribuimus iuxta personarum officia et qualitates.45 Dazu ausfUhrlich LENTES(wie Anm. 5).46 Johannes Trithemius, Sermones ad monachos 1,6: 'De amore quietis et solitudinis', in: IoannisTrithemii Opera pia et spiritualia, hg. von IOANNESBUSAEUS,Mainz 1604, S. 431-434, S. 432: Ex eisqui fortiores erant animo. plures convaJuerunt ad eremum. ut eo mente fierent propinquiores Domino.quo corpore longius recesserunt a mundo. [... ] Alii vero cupientes prodesse multis. instituerunt coeno-bio, in quibus multitudinem collocarunt monoehorum, quorum conversatio segregata esset a populiset nihilominus sibi mutua fieret socialis. Non enim omnibus convenit sedere in eremo. quibus in mediofratrum magis congruit Domino militare. Nam et monasteria nostra solitudinem habent suam. ut quivoluerit esse solitarius possil in medio Jratrum. dum cellae in qua moratur continuaverit secretum.

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Die Devotio moderna unterschied sich von den zeitgenössischen religiösenErneuerungsbewegungen dadurch, daß sie nicht auf die Reform einer bestehendenkirchlichen Institution, sondern auf die missionarische Gewinnung von Menschengerichtet war und dabei einen Lebens- und Frömmigkeitsstil entwickelte, für den esgeeignete Organisationsmodelle erst zu suchen, auszubilden und durchzusetzen galt.Sie entstand aus einer Sammlung von frommen Klerikern sowie Laien beiderleiGeschlechts, die sich in geistlichen Wohngemeinschaften, Brüder- und Schwestern-häusern, vereinigten und daher zunächst nur durch das 'gemeinsame Leben' alsäußeres Kennzeichen verbunden waren. Das Reformanliegen, das der charismatischeUrheber der Bewegung, Geert Grote, in Bußpredigt, Mahnbrief und persönlicherUnterweisung vermittelt hatte, wurde erst von seinen Schülern in ein konsistentes unddifferenziertes Programm des inneren und äußeren geistlichen Lebens umgesetzt undmußte zugleich gegen Angriffe und Verdächtigungen der kirchlich approbierten Kon-kurrenz verteidigt werden. In welchem Maße gerade dieser äußere Rechtfertigungs-druck die theoretische Orientierung und Identitätsbildung der Devoten förderte, zeigendie Schriften des Gerhard Zerbolt aus dem Fraterhaus in Deventer, der nicht nur zumwirkungsvollen Apologeten der Bewegung, sondern auch zu einem weit über ihreGrenzen hinaus rezipierten Klassiker der Erbauungsliteratur geworden ist47•

Zerbolt weist mit einer Fülle von sozialphilosophischen und juristischen Argumen-ten nach, daß ein geistliches Gemeinschaftsleben extra religionem, also ohne Ordens-zugehörigkeit, nicht nur erlaubt, sondern - im Gegensatz zur gefährlichen und hartenvita solitaria - auch nützlich und wohltuend sei48.Dabei sieht er allerdings in der vitacommunis nicht mehr als den optimalen Rahmen fur ein ganz auf den spirituellenFortschritt des einzelnen gerichtetes, betont individuelles Programm der Persönlich-keitsbildung, wie es bereits in den Werktiteln seiner Traktate 'De reformatione viriumanimae'49 und 'De spiritualibus ascensionibus'w anklingt: Zweck des Lebens in derGemeinschaft der Brüder ist es, durch Selbstanalyse die eigenen Schwächen undStärken ins Bewußtsein zu heben und sie gezielt mit einem auf die persönliche

47 Vg!.1. VAN ROOIJ,Gerard Zerbolt van Zutphen I: Leven en geschriften, Nijmegen u. 8.1936 (mehrnicht erschienen); G. H. GERRlTS,Inter timorem et spem. A study of the theological thought ofGerardZerbolt of Zutphen (Studies in medieval and Reformation thought 37) Leiden 1986; NIKOLAUSSTAUBACH,Gerhard ZerboIt von Zutphen und die Apologie der Laienlektüre in der Devotio modema,in: Laienlektüre und Buchmarkt im späten Mittelalter, hg. von THOMASKocK! RITASCHLUSEMANNFrankfurtlM. u. a. 1997, S. 221-289, sowie zuletzt die Beiträge des Sammelbandes: Kirchenreformvon unten. Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Brüder vom gemeinsamen Leben, hg. von NIKOLAUSSTAUBACH[Tradition-Reform-Innovation 6) Frankfurt/M. u. a. 2004.48Vg!. A. HYMA,Het traktaat 'Super modo vivendi devotorum hominum simul commorantium' doorGerard Zerbolt van Zutphen, in: Archiefvoor de Geschiedenis van het Aartsbisdom Utrecht 52, 1926,S. 1-100, bes. S. llf. und 34f.49Gerhard Zerbolt, De reformatione virium animae, in: Maxima bibliotheca veterum patrum, hg. vonMARGARINUSDELABIGNE,Bd. 26, Lyon 1677, S. 235-258; Neuausgabe: Gerard Zerbolt de Zutphen,Manuel de la reforme Interieure/ Tractatus devotus de reformacione virium anime, hg. von Sr. FRAN-CISJOSEPHLEGRAND,Introduction: JOSEVAN AELST(Sous la regle de Saint Augustin 8) Turnheut2001.so Gerhard Zerbolt, De spiritualibus ascensionibus, in: LA BIGNE (wie Anm. 49) S. 258-289; Neu-ausgabe: Gerard Zerbolt de Zutphen, La montee du co:url Devotus tractatulus de spiritualibus ascen-sionbus, hg. von Sr. FRANCISJOSEPHLEGRAND,Introduction: NIKOLAUSSTAUBACH(im Druck).

Vita solitaria und vita communis 291

physische und moralische Komplexion abgestimmten Ensemble von Übungen undTechniken hemmend und fördernd zu bearbeiten. Da der einzelne, allein auf sichgestellt, mit dieser Aufgabe in der Regel überfordert ist, tut er gut daran, das Urteil derMitbrüder, ihren Rat und ihre Erfahrung zu nutzen. Die geistliche Wohngemeinschaftist also eine zur wechselseitigen Seelentherapie konstituierte Gruppe, in der Heils-egoismus und Nächstenliebe, Verantwortung für sich selbst und für andere durch dieGesetze nicht nur der caritas fraterna, sondern auch der Psychologie funktionalverbunden sind. Den Dualismus dieser beiden Aspekte - der Konzentration auf sichselbst und des sozialen Engagements - bezeichnet Zerbolt mit dem Begriffspaarascensus-descensus und bringt so ihren komplementären Zusammenhang zum Aus-druck". Die Formel bedeutet gewissermaßen die mystische Integration der beidenasketischen Lebensideale der vita solitaria und vita communis, ähnlich wie dieentsprechenden Termini 'Einkehr' und 'Ausgang', die Jan Ruusbroec zur Unter-scheidung von Interiorität und Weltzuwendung gebrauchtv. Aufschlußreicher noch alsdiese Analogie ist die Tatsache, daß für die' Außenwirkung' bei Ruusbroec auch derkomplexe mystische Zentralbegriff 'gemeines Leben' steht: Erst vor diesem Begriffs-hintergrund wird verständlich, warum die modemen Devoten zur programmatischenKennzeichnung ihrer geistlichen Existenz keinen anderen Ausdruck als den dercommunis vita gewählt habenv.

Bekanntlich haben sich die Schüler Geert Grotes nicht mit der lockeren, improvi-sierten Gemeinschaftskonstruktion des Fraterhauses begnügt, sondern dafilr entschie-den, zudem auch ein Kloster zu gründen: Windesheim. Über die Motive für diesenSchritt gibt der Windesheimer Chronist Johannes Busch Auskunft in einem Bericht,der zwar legendenhaft ausgeschmückt ist, aber treffend das Zeitproblem der electiovitae, der Auswahl einer passenden Lebensform aus dem Angebot der kirchlichenInstitutionen beleuchtet. Als Grote sein Ende nahen fühlte, empfahl er den Seinen:

',,Einige von euch müssen einen von der Kirche approbierten Orden annehmen; beiihnen sollen alle Devoten beiderlei Geschlechts in allen ihren Nöten sichere Zufluchtfmden [...] seien sie im Kloster, oder in Gruppen des gemeinsamen und apostolischenLebens, oder Menschen guten Willens, die in der Welt leben." - Als man ihn fragte,ob sie den Kartäuserorden annehmen sollten, antwortete er: ,,Aufkeinen Fall: Zwar hater überall heilige Männer, die regeltreu leben, doch sind sie zu weit von den Menschenentfernt und können den Devoten keine Zuflucht bieten." Auch den Zisterzienserordenwollte er nicht empfehlen: ,,[ ...] er ist allzu streng, und in der heutigen Zeit können esnicht alle dort aushalten. Den Orden der Regularkanoniker aber sollt ihr annehmen; erhat eine mildere Regel und taugt für alle, die dem Herrn heutzutage im Kloster dienenwollen."'54

SI Gerhard Zerbolt, De ascensionibus cap. 68-70, LA BIGNE(wie Anm. SO)S. 287f.52 MYRlAMGROOT,De tennen inkeer-ultkeer in Ruusbroec's geschriften, in: Ons Geestelijk Erf 61,1987, S. 336-375.53 BERNHARDFRALING,Mystik und Geschichte. Das 'ghemeyne leven' in der Lehre des Jan vanRuusbroec, Regensburg 1974, bes. S. 47 fT., 178 fT.; GUIDODE BAERE, Het 'ghemeine leven' bijRuusbroec en Geert Grote, in: Ons Geestelijk Erf59, 1985, S. 172-183.54Johannes Busch, Chronicon Windeshemense. Liber de origine devotionis modemae, cap. 5, in:GRUBE(wie Anm. 27) S. 263f.

292 Nikolaus Staubach

In beiden Zweigen der Devotio moderna, bei den Regularkanonikern wie bei denSemireligiosen, kam den privaten exercitia und damit dem für den einzelnen reser-vierten Innenraum eine große Bedeutung zu. Zwar bestimmen die Fraterhausstatuten,daß die camerae der Brüder alljährlich im Hinblick auf unerlaubten Eigenbesitzvisitiert werden», doch stellen sie zugleich Regeln zum Schutz der Privatsphäre auf:

'Wenn jemand die Kammer eines anderen betritt, soll er nichts daraus fortnehmenoder mit den Händen berühren, wenn es ihm der Bewohner nicht erlaubt; und es sollniemand die Kammer eines anderen in dessen Abwesenheit betreten, wenn es ihmnicht erlaubt wurde. '56

FUr die Klöster der Windesheimer Kongregation war lediglich ein Zellendormi-torium vorgesehen, und die Konstitutionen verbieten rigoros: Extra dormitoriumnul/us eel/am vel cameram habere debet pro dormitione vel mansione, nisi quos inflr-mitas vel officii necessitas abesse campellitX' Kommt hier die Strenge der Observanzzu Wort, so beschreibt Johannes Busch das Dormitorium von Windesheim als einenOrt höchster geistlicher Erbauung:

'Unsere Brüder erhielten oben in dem Teil des Hauses, der damals der Ostflügelwar, ihre Zellen, um darin zu schreiben, die Nachtruhe zu halten und ihr Gemüt durchden süßen Besuch des heiligen Geistes und der Engel sowie durch die Heiterkeit deseigenen Gewissens zu ergötzen, die dort in mystischer Erfahrung hell erstrahlen. '58

Wenn es die Absicht Grotes war, durch den Rückhalt eines Kanonikerstifts diegeistliche Existenz der devoten Laien und Semireligiosen zu sichern, so gelang diesnur unvollkommen. Denn mit dem überraschenden Erfolg des klösterlichen Zweigesder Devotio moderna veränderte sich das Gewicht und auch das Selbstverständnis derFraterhausbewegung: Man definierte sich schließlich nur als Vorposten der Regular-kanoniker in der Welt, durch den vornehmlich unter der Schuljugend geeignete Kandi-daten für das Kloster angeworben und vorbereitet werden sollten und wo zugleich allediejenigen eine Bleibe finden konnten, die sich dem Ordensleben nicht gewachsenfühlten, Mochte man auch diese funktionale Koppelung der devoten Lebensformen alseine vollkommene Lösung des apostolischen Reformauftrags empfinden, so war esdoch eine Sackgasse, die an den aktuellen gesellschaftlichen Bedürfnissen vorbei indie Vergangenheit fUhrteS9•

FUrdie homines bonae voluntatis in saeculo conversanteso, also diejenigen religiösinteressierten Laien, die wegen ihrer Verpflichtungen in der Welt auf ein geistliches

ss Vgl. z. B. die Consuetudines der Fraterhäuser Münster und Wesel, in: THEOKLAUSMANN,Con-suetudo consuetudine vincitur. Die Hausordnungen der Brüder vom gemeinsamen Leben im Bildungs-und Sozialisationsprogramm der Devotio modema (Tradition-Refonn-Innovation 4) FrankfurtIM.u. a. 2003, S. 393 und 409f.S6 SOdie Consuetudines des Weseier Fraterhauses; KLAUSMANN(wie Anm. SS) S. 411f.57 Constitutiones Canonicorum Regularium Capituli Windeshemensis, Pars tertia, cap. 11, in: EUSE-BIUSAMORT(Hg.), Vetus disciplina Canonicorum regularium et saecularium, Bd. 1, Venedig 1747,S.S89.58 Johannes Busch, Liber de origine (wie Anm. 54) cap. 15, S. 289.59 Vgl. dazu NIKOLAUSSTAUBACH.Zwischen Kloster und Welt? Die Stellung der Brüder vomgemeinsamen Leben in der spätmittelalterlichen Gesellschaft, in: Kirchenreform von unten (wie Anm.47) S. 368-426.60 Johannes Busch, Liber de origine (wie Anm. 54) cap. 5, S. 263.

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Gemeinschaftsleben verzichten mußten, bot eine zunehmend stärker vom Ordensidealund dem elitären Selbstbewußtsein des status perfectionis geprägte Devotio modemakeine befriedigende Perspektive. Denn anstelle von Zuspruch und Unterstützung er-hielten sie die Auskunft, zum untersten Stand in der Kirche zu gehören: quod statuseorum in sancta Ecclesia infimus est», Andererseits kam ihnen der erfolgreiche Ein-satz der Devoten gegen die kirchlichen Beschränkungen volkssprachiger Erbauungs-literatur zweifellos zugute. Benötigten sie doch für ihre private Frömmigkeitspraxis -nicht anders als Thomas von Kempen - vor allem zwei Dinge: ein Buch und einenWinkel zur ungestörten Lektüre. Zwar gab es neben dem Lob der Zelle immer auchStimmen, die bestritten, daß Gotteserfahrung zeit- und raumgebunden sei: 'Wer Gottrecht in Wahrheit hat, der hat ihn an allen Stätten und auf der Straße und bei allenLeuten ebensogut wie in der Kirche oder in der Einöde oder in der Zelle.'62 Gleich-wohl galt die Entsprechung von äußerer und innerer solitudo als die beste Meditations-voraussetzung. So kommt Dionysius der Kartäuser in seinem Laienspiegel 'Oe lauda-bili vita conjugatorum' auch auf die Mahnung Jesu zu sprechen: 'Wenn du betest, gehin deine Kammer, schließ die Tür und bete zu deinem Vater im Verborgenen' (Matth.6,6). Er bemerkt dazu: 'Dies ist nicht so zu verstehen, als ob man nur an einem abge-

61 So der Rektor des Fraterhauses Zwolle Dirk van Herxen in seinem Dialog 'Oe utilitate monacho-rum', s, MARCELHAvERALS, 'Contra detractores monachorum' alias 'De utilitate monachorum' vanDirk van Herxen, in: Serta devota inmemoriam Guillelmi Lourdaux, hg. von WERNERVERBEKE u. a.,Bd. 1 (Mediaevalia Lovaniensia, Series 1/ Studia 20) Löwen 1992, S. 241-294, S. 259. - Grund für dieAbwertung der Laien war die Prämisse, daß ihre Lebensform mit der Befolgung der consilia evangelicaunvereinbar sei und daher keine vollkommene Christusnachfolge und Gottförmigkeit erlaube; s. etwaDionysius Cartusianus, De vita et [me solitarii, art. 6, in: Ders., Opera minora Bd. 6 (wie Anm. 42)S.270: Quoniamquidem ergo mandata, non consilia; de necessitate salutis censentur, ad omniumadimpletionem praeceptorum singuli obligati sunt. Porro consiliarum observatio nemini in toto indict-tar; nee cuiquam omnium suodetur consiliorum assumptio. Non enim eidem statui cuncta competerequeunt. - Ebd. art. 7, S. 271: Humanae mentis [... ] vera ac summa perfectio aliud prorsus non estquam divinae imitatio vitae, et similitudo cum increata aetemaque mente. Verumtamen imitatio istavaria est atque secundum diversos status, professiones et ordines multiformis et distans. [... ] Aliterassimilalionem hanc deiformem intendit qui praeceptis contentus est, aliterque qui insuper consiliasuscipit asque adimplet. - Daß die Erfüllung der consilia evangelica verdienstlicher sei als die bloßeBefolgung der praecepta entsprach der communis opinio; strittig war jedoch, ob die damit gegebeneSkala christlicher Vollkommenheit an die kirchlich-soziale Standesordnung gebunden oder für jedenoffen sei; vgl. etwa Gerhard Zerbolt, Super modo vivendi, in: HYMA(wie Anm. 48) S. 29: Manifestumest autem secundum doctores, quod consilia evangelica nullum certum statum, sed solamdisposicionem requirunt in observante et sunt libere et universaliter tradita; et sicut voventibus sun!deinceps in precepto, ita non voventibus stou in consilio. - Radikaler noch und geradezu vorreforma-torisch formulierten diese Position Peter Dieburg und Johannes Pupper von Goch; dazu STAUBACH(wie Anm, 59) S. 390fT.62Meister Eckhart, 'Von der abegescheidenheit unde von haben gotes', in: FRANZ PFEIFFER (Hg.)Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, Bd. 2: Meister Eckhart, Leipzig 1857, S. 547: Weraber got reht in der wdrheit hOt, der hOt in in allen steten und in der sträze unde bt allen liuten als wolals in der kirchen oder in der einrede oder in der zellen. Übersetzung nach: JOSEFQUINT (Hg.),Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, München 1963, S. 58f.

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schiedenen und verschlossenen Ort beten dürfe. [...] Doch zu einem frommen Gebet istein geheimer und stiller Ort sehr hilfreich und förderlich. '63.

Johannes Gerson, der die religiöse Befähigung des ungebildeten, aber frommenLaien hoch schätzte=, behandelt dieses Problem in der volkssprachigen Anleitung zurKontemplation, die er für seine unverheirateten, im elterlichen Hause lebenden Schwe-stern geschrieben hat:

'Man kann keine allgemeine Regel dafür angeben, welcher Ort der beste ist, umseine Ruhe zu fmden. [ ...] Am einfachsten ist es, einen Ort im eigenen Haus zu wählenund sich an ihn zu gewöhnen, entweder das eigene Zimmer, wenn man eines für sichallein hat, oder einen anderen Platz. Und die Gewohnheit tut viel dazu, daß man daranGefallen findet. So habe ich von einer Frau gehört, die wegen einer Krankheit langeZeit gezwungen war, sich in einem Zimmer aufzuhalten. Einmal sagte sie zu mir: Ichweiß nicht, was ich tun soll, wenn ich dieses Zimmer wieder verliere; denn es gibtkeinen anderen Ort, wo ich so gut über Gott und mich selbst nachdenken kann. '65

Gersons Bemerkung ist übrigens ein Schlüsselzeugnis für den Nachweis seinerpersönlichen Bekanntschaft mit Christine de Pizan - denn um sie dürfte es sich bei derzitierten Frau gehandelt haben=. Man sieht, wie ein gerader Weg vom Lob derMönchszelle über die spätmittellaterliche Laienfrömmigkeit bis hin zu Ansätzen einerEmanzipation der gebildeten und selbstbewußten Frau führt, die sich ihren privatenBereich im Hause erkämpfen muß, um in religiöser Meditation und Selbstreflexionihre Persönlichkeit zu entfalten. Der private Raum, das eigene Zimmer ist, wenn manso will, der Ursprungsort der modernen Individualität und Selbstkultur gewesenst,

63 Dionysii Cartusiani Opera minora Bd. 6 (wie Anm. 42) S. 79: Verumtamen istud non est sicintelligendum quasi non sit orandum nisi in loco secreto et clauso [.•. ] Sed ideo Christus locutus estverba illa [... ] quia ad orandum devote multum confert et juvat locus secretus atque quietus.64 Vg!. BRIANPATRICKMCGUIRE, Late medieval care and control of women: Jean Gerson and hissisters, in: Revue d'histoire ecclesiastique 92, 1997, S. 5-37.65 Johannes Gerson, La montaigne de contemplation, in: Ders., <Euvres completes, hg. von GLORIEUX(wie Anm. 40) Bd. 7, S. 16-55, S. 33: Pour teile diver site on ne puet donner rugle generalle, a scavoirquellieu est le meilleur pour querir son secret. [...) Briefment le plus legier a avoir et aeoustumer esten son ostel, en sa chambre s 'elle l'a seule, ou ail/eurs dedens. Et)' fera moult coustume a)' prendreplaisir; comme i'ai sceu d'une femelete qui a cause de maladie estoit constrainte par long temps setenir en une eha. mbre; et une fois en parlant a moy: ie ne scai, dist elle, que ie ferai quant ie perdrayceste chambrete car if n 'est au/tre lieu ou ie puisse si bien penser en Dieu et en moy. - Andererseitsmahnt Gerson die frommen Frauen in der Welt, ihren Vollkommenheitssanspruch nicht zu hoch zuspannen; Ders., Contre conscience trop scrupuleuse, GLORIEUXBd. 7, S. 140f.: Une personne managi-ere ne doibt point tendre trop a auoir teile pais et transquillite de C(J!UT et de pensee comme unesolitaire, car en ce porroit estre ou trop grant orgueil, ou trauail en vain, ou griefue me/ancolie ouhayneuse tristesse et desplaisam a ceulx auxquelx elle doibt plaire. Souffise /ui reeourir a Dieu encertaines heures a ce plus conuenables et franches, et soy ce/er le plus que faire se poeut de apparoirplus deuote que les aultres entre lesquelz on doibt viure, touteffoys sans faire ou dire mal ou pechie,S. auch oben Anm. 61.66 Vg!. EARLJEFFREYRlCHARDS, Christine de Pizan and Jean Gerson: An intellectual Friendship, in:Christine de Pizan 2000. Studies in honour of Angus J. Kennedy, hg. van JOHNCAMPBELll NADIAMARGOLIS,Amsterdam/Atlanta 2000, S. 197-208,328-330.67 Dazu ausfilhrJich ANNEITEKERN-STÄHLER, A room of one's own. Reale und mentale Innenräumeweiblicher Selbstbestimmung im spätmittelalterlichen England (Tradition-Reform-Innovation 3)FrankfurtlM. u. a. 2002.

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Gerson war es auch, der sich erstmals um eine differenzierte Typologie der vitasolitaria bemühte und dabei neue Formen der geistlichen Existenz und Frömmigkeits-praxis ebenso wie die kirchlich etablierten Lebensordnungen zu erfassen versuchte. Sounterscheidet er durchaus traditionsgemliß nach dem Grad ihrer gesellschaftlichenIsolation als drei Gruppen von solitarii die Eremiten, Mönche und zölibatären Welt-kleriker. Darüberhinaus stellt er eine weitere Kategorie auf, deren exakte Definitionallerdings, wie er selbst bemerkt, nicht ganz leicht ist: Es sind in der Stadt lebendeEinzelpersonen ohne Bindung an eine Ordensregel, die sich der geistlichen Betrach-tung widmen, sowie die Gelehrten, die das Studium der sapientia divina zu ihremLebensinhalt gemacht haben68• Für diesen Typus ist die solitudo nicht mehr Merkmalund Bestandteil des kirchlich-sozialen Status, sondern individuelle Lebensbedingungund persönlicher Lebensstil: otiosi vel sapientiae studiosi nomine magis quam solitariivocandus apparetr, Man könnte darin eine 'Privatisierung der Einsamkeit' sehen, eineVorbedingung für jenes literarische und wissenschaftliche Otium, das von Petrarca"und Montaigne" bis zu Johann Georg Zimmermanntt und Odo Marquard" kultiviertund diskutiert worden ist. Dagegen kennzeichnet die kirchliche Standesgesellschafteine 'Institutionalisierung der Einsamkeit', als deren wohl krassestes Beispiel diefeierliche Einschließung der Eremitinnen oder Inklusen zu nennen wäre. Auch dieseExtremfonn asketischer vita solitaria war ja bekanntlich nicht der subjektiven Gestal-tungsfreiheit der Betroffenen überlassen, sondern mit Regelannahme, Einkleidung,Profeß und einem Gehorsamsversprechen gegenüber dem Ortsbischof verbunden. Ineiner dem Beerdigungsritus nachgebildeten Liturgie wurde die Inkluse, die ein Kreuz

68 Gerson, Collectorium super Magnificat, Tractatus XI (wie Anm. 40) S. 502ff.: Dieemus quod estvita solitaria primo coelibalis, secundo monachalis, tertio eremitiealis, quarto sapientialis. [.•. ] Eccequadruplicem vitam solitariam [...] Et prima est appropriata sacerdotii vel ordinis sacri [...] Secundavita est monasterii vel coenobii vel claustri et hominum sub triplici voto viventium. Tertia est eremi veldeserti et hominum loco segregato se continentium propter Deum. Quarta vita est studii, non qualis-cumque, sed divinae sapientiae; et ista est hominum apud semetipsos contemplantium, curis omnibuspostpositis et caleatis vel reverenter omissis. Nunc de quarta vita solitaria, cujus nomen non itaresonat in usu vulgari, colloqui deinceps desidero. [... ] Non vult beneficiorum curls intendere, nonregimini etiam spiritali populorum ut sacerdotes et praelati. Non vult officium claustrale, si Jashabeat, insequi; non vult in austeritate eremi seipsum concludere; sed temperanter uti eibo et somnoet obsequio tolerabili unius vel paucorum; vult sufftcientiam habere librorum ad intelltgentiamsapientiae valentium; vult aliquando sed rarissime collationem disputationis habere cum scholasticis,quorum vita socialis est non hoc modo solitaria nec penitus tali fine.69 Ebd. S. 504.70S. oben Anm. 38.71 Vgl. Montaigne, Essais I 39: 'Oe la solitude',72 Johann Georg Zimmermann, Über die Einsamkeit, 4 Teile, Leipzig 1784-1785. - Vg!. MARTINAWAGNER-EGELHAAF,Unheilbare Phantasie und heillose Vernunft. Johann Georg Zimmermann, 'Überdie Einsamkeit', in: ASSMANNI ASSMANN(wie Anm. 38) S. 265-279.73 ODOMARQUARD,Plädoyer für die Einsamkeitsflihigkeit, in: RUDOLFWALTER(Hg.), Von der Kraftder sieben Einsamkeiten, FreiburgfBr. u. a. 1983, S. 127-142. - Vgl, auch HILDEGARDEMMEIlULRICHDIERSE,Einsamkeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Dannstadt 1972, Sp.407-413.

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trug, tamquam mundo mortua über den Friedhof zu ihrer Zelle gefilhrt, wo der Priesterdie Tür hinter ihr schloß mit den Worten: Requiescat in pace, amen.ts

Der gelegentliche Rückzug frommer Laien aus ihren Alltagsgeschäften in dieAbgeschiedenheit eines privaten Gebetsraums war eine Praxis, die wenig mit einemBegräbnis zu Lebzeiten gemeinsam hat. Dennoch wurde sie von den englischen Mysti-kern des Spätmittelalters als vita mixta bezeichnetü. Der Begriff verdeutlicht denKompromißcharakter einer Existenz, die die Schranken der kirchlichen Heilsständeüberschreiten will, ohne sich von ihrem Organisationsmodelllösen zu könnents, DasBild eines homogenen, integralen christlich-laikalen Lebens entwirft dagegen Erasmusvon Rotterdam am Vorabend der Reformation in seiner Utopie vom pflügenden Land-mann, der Psalmen singt. von der Frau am Spinnrad, die das Evangelium liest, und von

74 Johannes Busch, Liber de refonnatione monasteriorum n, cap. 42, in: GRUBE (wie Anm. 27)S.657f. - Vg!. ANNA PAPI BENVENUfI, 'Velut in sepulchro': Cellane e recluse nella tradizioneagiografica italiana, in: Culto dei Santi, istituzione e classi sociali in eta preindustriale, hg. von SOFIABOESCHGAJANO/LUCIASEBASllANI,Rom u. a. 1984, S 365-455; ANNK. WARREN,Anchorites andtheir patrons in medieval England, Berkeley u. 8. 1985; GABRIELASIGNORI,Ohnmacht des Körpers-Macht der Sprache. Reklusion als Ordensalternative und Handlungsspielraum fUr Frauen, in: Frauenzwischen Anpassung und Widerstand, hg. von REGULALUDIu. a., ZUrich 1990, S. 25-42.7S Vg!. etwa SARAHJ. OGILVIE-nIoMSON (Hg.), WaIter Hilton's MIXed Life edited from LambethPalace MS 472 (Salzburg Studies in English Literature. Elizabethan & Renaissance Studies 92:15)Salzburg 1986; JONATIIANHUGHES,Pastors and visionaries. Religion and secular life in late medievalYorkshire, Woodbridge u. a. 1988, S. 251-297; HILARYM. CAREY,Devout laypeople and the pursuitof the mixed life in later medieval England, in: The Journal of Religious History 14, 1986/87, S. 361-381; KERN-STÄHLER(wieAnm. 67) bes. S. 223-240. S. auch oben Anm. 39.76 In Anlehnung an Henricus de Segusio unterscheidet Gerhard Zerbolt nach ihrer Lebensweise dreiStatusgruppen der christlichen Gesellschaft: Weltleute, Religiose und einen status medius; Ders.,Super modo vivendi, in: HYMA(wie Anm. 48) S. 22f.: Status autem, large sumendo statum hominum;potest esse triplex. Sunt enim seculores secularuer et dissolute viventes [ ] Sunt et religiosi etregulares, qui sicut vita et moribus ita et habitu debent differre a secularibus [ ] Inter hos autem eststatus medius, illorum videlicet, qui etsi proprie non sunt religiosi, large tamen, quia pre ceterisducunt vitam sancciorem, posstau dici religiosi, sicut vidue vel virgines in propriis domibus casteviventes, sicut confratres religiosorum et cleriei seculares, Ebd. S. 17f.: Largo autem modo, secundumHostiensem. [...] dicitur aliquis religiosus non ideo quod asstriaus sit olicu; certe regale, sed respectuvite, quam arciorem et sanctiorem ducit quam ceteri homines seculares, qui omnino secularite» etdissolute vivunt. Vgl. Summa Aurea (wie Anm. 39) Sp. 6f. und 1107f. - Das Spektrum "semireli-gioser' Lebensformen klassifikatorisch zu erfassen versuchte Johannes Nider in seiner Schrift 'Desecularium religionibus'; s. dazu JOHNVANENGEN,Friar Johannes Nyder on laypeople living asreligious in the world, in: Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift fUrKaspar Elm, hg. von FRANz J.FELTENu. a. (Berliner historische Studien 31, Ordensstudien 13) Berlin 1999, S. 583-615. - ZurStellung des 'Laien' im Ordnungssystem der mittelalterlichen Kirche vg!. etwa CONSTABLE,Orders ofsociety (wie Anm. 39); MARTINAWEHRLI-JOHNS,Voraussetzungen und Perspektiven mittelalterlicherLaienfrömmigkeit seit Innozenz III., in: Mitteilungen des Instituts fUr Österreichische Geschichts-forschung 104, 1996, S. 286-309; BERT ROEST, Church and laity in the later middle ages, in:Theoretische Geschiedenis 25, 1998, S. 78-87; YVESCONGAR,Der Laie. Entwurf einer Theologie desLaientums, Stuttgart '1964, bes. S. 21-51; sowie die Sammelbände: I laici nella 'Societas christiana'dei secoli XI eXil. Atti della terza Settimana intemazionale di studio Mendola 1965 (Miscellanea delCentro di studi medioevali 5) Mailand 1968, und: Les mouvances laTques des ordres religieux. Actesdu troisieme colloque international du C.E.R.C.O.R., Saint-Etienne 1996.

Vita solitaria und vita communis 297der Stadt, die ein großes Kloster geworden ist". Auch die modernen Devoten wolltenmöglichst viele Menschen für das Kloster gewinnen - ein Kloster jedoch, das nicht fürein stadtbürgerliches Gemeindeideal stand, sondern als irdische Antizipation desEngellebens galt. Auf den polemischen Einwand: 'Wenn alle jungfräulich blieben,ginge die Welt zugrunde' erwiderten sie: 'Wir sind nicht dazu da, die Fortdauer derWelt zu sichern. Das menschliche Leben auf der Welt wird vergehen, ob wir es wollenoder nicht, sobald [...] die Zahl der Geretteten erfiillt ist, mit der die Engelschöre er-gänzt werden sollen."! "

Angesichts solcher Außerungen ist man versucht, die Devotio moderna trotz ihresepochalen Erfolgs als die Geschichte eines historischen Versäumnisses, einer tragi-schen Fehlentwicklung zu betrachten. Indem sie ihren innovativen Anspruch auf eineumfassende, die kirchlichen Standesgrenzen transzendierende religiöse Erneuerung derchristlichen Gesellschaft immer mehr den Interessen der Selbstorganisation als aske-tische Leistungselite unterordnete, reihte sie sich in die zahlreichen Ordensreform-Bewegungen des Spätmittelalters ein, die in der Wiederherstellung klösterlicher Ob-servanz ihr vorrangiges Ziel sahen79• Dabei war das Ideal religiöser Interiorität mitLektüre, Meditation und Gebet auch für die Laien in der Welt, die an der vitacommunis einer geistlichen Gemeinschaft nicht zu partizipieren vermochten, so attrak-tiv, daß es gewissermaßen säkularisiert und auf den Innenraum des Privathauses über-tragen werden konnte, wie die prominenten Beispiele Petrarca und Christine de Pizanzeigen. Gleichwohl fiihrte die laikale Rezeption der vita solitaria nicht dazu, die Kluftzwischen Kloster und Welt, die zur Schicksalsfrage der spätmittelalterlichen Kirchewerden sollte, zu überwinden. Vielmehr gehörte es zum Selbstverständnis und Lei-stungsbewußtsein der KIosterreformer, die profane Lebenssphäre mit ihren ver-meintlich heilsbedrohenden Versuchungen und Gefahren mehr denn je abzuwertenund auszugrenzen. Zwar hielt die Kirche gerade auch für die 'einfachen Christen' eineReihe von Frömmigkeitsübungen und Heilsangeboten bereit, die ihrer besonderenGefährdung und Schwäche Rechnung tragen sollten und sozusagen zur äußerlichenAnwendung bestimmt waren: Ablaß, Wallfahrt, Heiligen- und Bilderkult, Benediktio-

77 Erasmus von Rotterdam, InNovum Testamentum praefationes, in: Ders., Ausgewählte Werke, hg. vonHAlO HOLBORN,München 1933, S. 137-174, S. 142: Optarim ut omnes mulierculae legant evangelium,legant Paulinas epistolas.[ ...] Utinam hinc ad stivam aliquid decantet agricola, hinc nonnihil adradios suos moduletur textor, huiusmodi fabulis itineris taedium level viator. - Ders., Enchiridionmilitis Christiani, ebd. S. 1-136, S. 19: quaeso le, quid aliud est civitas quam magnum monasterium?Monachi abbati suo parent aut praepositis, cives episcopo ac pastoribus suis obsequuntur, quos ipseChristus praefecit, non hominum auctoritas. Illi vivunt in oüo et aliena liberalitate saginantur, in com-mune possidentes, quod citra sudorem illis obvenit,[ ...] isti, quod suo peperunt industria, pro suisquisque facultatibus impertiunt egentibus. [...] Postremo non admodum in eo desiderabimus tria illavota ab hominibus reperta; qui primum illud et unicum votum, quod in baptismo non homini sedChristo nuncupavimus, sinceriter pureque servaverit. - Vgl, dazu STAUBACH (wie Anm. 38) S. 149ff.78 Dirk van Herxen, HAvERALS(wie Am. 61) S. 273: Non enim ideo in hac vita vivimus, ut mundumistum in propagacione et permanencia teneamus. Nam mundus, id est hominum vita, in hoc mundoperibit, velimus nolimus, cum tempus a Deo prefinitum advenerit, hoc eSI cum consummatus fueritnumerus hominum salvandorum in hoc mundo, de quibus supplebuntur chori angelorum:79 Jedoch gab es in der Devotio moderna auch Ansätze zur Infragestellung der kirchlichen Standes-und Verdienstordnung; s, oben Anm. 61.

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nen und Sakrarnentalienw. Aber ein dem 'Engelleben' der Religiosen gleichwertigerstatus perfectionis wurde den Laien nicht zuerkannt. Um ihre Gleichstellung zu er-reichen, war es nötig, die institutionelle Differenzierung christlicher Lebenspraxisgrundsätzlich zu delegitimieren und aufzuheben.

SO Vgl. NIKOLAUSSTAUBACH,Cusani laudes. Nikolaus von Kues und die Devotio moderna im spät-mittelalterlichen Reformdiskurs, in: Frühmittelalterliche Studien 34,2000, S. 259-337.