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Herbert-Werner Mühlroth Über einige meiner Autoren Essays

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Herbert-Werner Mühlroth

Über einige meiner Autoren

Essays

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Herbert-Werner Mühlroth Über einige meiner Autoren

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Herbert-Werner Mühlroth

Über einige meiner Autoren

Essays

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Umschlagabbildung: © Ivica Matijevic: Natura III, 2016, kombinierte Technik auf Holz

ISBN 978-3-86813-072-0 © Edition Noack & Block in der Frank & Timme GmbH, Berlin 2018. Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Herstellung durch Edition Noack & Block in der Frank & Timme GmbH, Wittelsbacherstraße 27a, 10707 Berlin. Printed in Germany. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. www.noack-block.de

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„Werdet, wer ihr seid!“ Friedrich Nietzsche

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für meinen Freund Martin Wöllner

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Inhaltsverzeichnis *

Vorwort ................................................................................................... 13

Eseltreiber. Reiner Kunze und die Wöllners ......................................... 17 

Interview mit Prof. Hans-Jürgen Schings zu Goethes 250. Geburtstag. Berlin, den 24.02.1999 ............................ 21 

Aus dem „Nachlaß“ von Georg Hensel ................................................. 35 

Die Karussell-Sonette und Jahrmarkt-Chansons (Georg Hensel) ......... 39 

Лeнa (Léana) (Georg Hensel) .................................................................. 45 

Die Drei Boshaften Meditationen (Georg Hensel) ................................. 49 

„Es gibt keine andere Geschichte außer der der Seele“. Zu Ilina Gregoris Buch: Cioran. Anregungen für eine unmögliche Biographie .............................................................. 53 

Anregungen für eine unmögliche Biographie (Seite 19–33) (Ilina Gregori) .......................................................................................... 59 

Ivica Matijevic: „Heimat. Ich nenne es Heimat“ ................................... 73 

Heimat (Moers 2004) .............................................................................. 79

............................................ * Alle nicht näher bezeichneten Beiträge stammen von Herbert-Werner Mühlroth.

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Ovid S. Crohmălniceanu

Crohmălniceanu in Berlin ......................................................................87 

Die rumänische Avantgarde und die literarischen Tabus auf dem Gebiet der Erotik (Ovid S. Crohmălniceanu) ................................103 

Die Hochzeitsgedichte von Ovid S. Crohmălniceanu .........................115 

In memoriam Ovid S. Crohmălniceanu ...............................................125

Wolf von Aichelburg

„Über ruhigem Grund durchsichtig Leben“. Zu dem Dichter, Maler und Komponisten Wolf von Aichelburg .....................135 

„Immer ein bißchen Verrat“. Zu einem Gedicht Wolf von Aichelburgs ............................................................................145 

Heimat eines Reisenden. Wolf von Aichelburgs „irrationale“ Berlinverbundenheit .......................................................149 

„Meister der Geduld“. Zum Tode Wolf von Aichelburgs am 24. August 1994 .....................................................................................157 

Unveröffentlichte Gedichte von Wolf von Aichelburg ........................163

Nikolaus Berwanger

„Dennoch die Schwerter halten“. Leseerfahrung mit Nikolaus Berwangers Gedicht letschte hopsapolka ..............................175 

Die Utopie hat dennoch überlebt. Eine Annäherung an Nikolaus Berwangers letzte Heimat ......................................................185 

Nikolaus Berwanger: Heimatdichter und mehr? .................................189 

Gespräch mit dem rumänischstämmigen Maler und Bildhauer Lucian Ene ............................................................................195 

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Apostol N. Caciuperi: ein bedeutender aromunischer Linguist und Übersetzer. ...................................................................... 205 

Ausgewählte Gedichte aus Das Herzinstitut (Doina Uricariu) ............ 215 

Eine Art Einleitung zu Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften .............................................................. 231 

Mircea Eliades Konzeption einer „Archaischen Ontologie“ .............. 253 

Aus dem Universum der Sprache: Über den rumänischen Dichter Ioan Milea................................................................................ 273 

Ilina Gregori: Ein neuer, geheimnisvoller und faszinierender Blick auf Mihai Eminescu............................................ 281 

S. Damian: Ein standfester und überzeugter Verfechter der Demokratie ........................................................................................... 285 

Walter Engel: Ein Banater Literaturwissenschaftler von Format ................................................................................................... 289 

Alexander Schuller: Journalist und echter Siebenbürger .................... 293 

Ich Abrazo, Alda! Digga! (Alexander Schuller) .................................... 295 

Hahnenkampf am Grill (Alexander Schuller) ....................................... 296 

Rauchen schockt nicht (Alexander Schuller) ........................................ 298 

Analoger Eskapismus (Alexander Schuller) .......................................... 300 

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Bühne frei für Herrn Horwitz (Alexander Schuller) .............................302 

Martin Wöllner: In meinem unbewohnten Elternhaus .......................315

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HERBERT-WERNER MÜHLROTH

Vorwort

„Werdet, wer ihr seid!“ Diesen Ausspruch von Friedrich Nietz-sche möchte ich dem vorliegenden Band „Über einige meiner Autoren“ als Motto voranstellen. Kein Schriftsteller „entsteht“ nur aus sich selbst, sondern er bildet die Summe seiner Einflüsse, seiner Lehrer, seiner Fürsprecher, ja auch seiner Kritiker. Das Buch enthält Beiträge, die aus der Erfahrung realer Begegnungen, wie mit Reiner Kunze, Wolf von Aichelburg oder dem großen rumänischen Literaturhistoriker Ovid S. Crohmălniceanu, ent-standen sind, aber auch aus literarischen Begegnungen mit Ro-bert Musil oder Mircea Eliade.

Reiner Kunze habe ich 1985 durch Else Wöllner kennenge-lernt. Seitdem stehen wir in brieflicher Verbindung. Mehrmals habe ich Gedichte von Reiner Kunze ins Rumänische übersetzt und in rumänischen Zeitschriften veröffentlicht. Dank der groß-zügigen Unterstützung durch Ulrich Wöllner konnte ich meine Übersetzung von Reiner Kunzes Die wunderbaren Jahre in Ru-mänien veröffentlichen.

Mit Wolf von Aichelburg verband mich eine enge Freund-schaft. Wir führten eine Korrespondenz, welcher die hier abge-druckten Gedichte von ihm entstammen, die er seinen Briefen beigelegt hatte. Die hier veröffentlichten Beiträge über ihn sind im Detail mit ihm abgesprochen.

Nikolaus Berwanger habe ich persönlich nicht kennengelernt. Als Publizist und Dichter hatte er jedoch bereits in meiner frühen Jugend eine beträchtliche Wirkung auf mich ausgeübt, wie in „Dennoch die Schwerter halten. Leseerfahrung mit Nikolaus

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Berwangers letschte hopsapolka“ zu erkennen ist. Die beiden an-deren Texte sind nach intensiven Gesprächen mit seinem Sohn Harald Berwanger entstanden.

Apostol N. Caciuperis Werke konnte ich nur dank der Groß-zügigkeit seiner Witwe Katharia Katsiperis-Titz veröffentlichen. Nach dem Tod ihres Mannes suchte sie jemanden, der aus den 17 500 Karteikärtchen das erste Rumänisch-Aromunisches Wör-terbuch seiner Art erstellen konnte. Ich habe diese große Heraus-forderung angenommen und 2011 auch die vierbändige Werk-ausgabe von Caciuperi in Rumänien publiziert.

Doina Uricariu habe ich 1996 kennengelernt, als ich bei ihrem Bukarester Verlag das Wörterbuch von Caciuperi publiziert habe. Ich fing damals an, aus ihrem Gedichtband Das Herzinstitut zu übersetzen. Erst 2011, als ich auf Einladung Doinas drei Wochen in ihrer Bukarester Wohnung verbrachte, veröffentlichten wir den zweisprachigen Gedichtband, den wir dann auch im Herbst des gleichen Jahres auf der Frankfurter Buchmesse präsentierten.

S. Damian oder Samuil Druckmann-Damian war mein Ru-mänisch-Lektor an der Universität Heidelberg. Er sorgte dafür, daß zahlreiche rumänische Schriftsteller und kulturelle Persön-lichkeiten nach Heidelberg eingeladen wurden.

Ilina Gregori war meine Rumänisch-Lektorin an der Freien Universität Berlin. Neben ihrer ausgezeichneten Expertise ver-danke ich ihr auch die Bekanntschaft mit Ovid S. Crohmălnicea-nu.

Ioan Milea habe ich 2012 indirekt über Wolf von Aichelburgs 100sten Geburtstag kennengelernt. Seitdem sind wir in Verbin-dung.

Ivica Matijevic hat 2001 in meiner damaligen Firma Gemälde und Skulpturen ausgestellt. Bis zu meinem Umzug 2004 trafen wir uns mehrmals die Woche in seinem Atelier in Moers.

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Lucian Ene ist mit einem LKW aus Rumänien geflüchtet. 2010 habe ich ihn als mein Übersetzer- Dolmetscherkollege kennenge-lernt. Seitdem sind wir Freunde.

Walter Engel habe ich bereits 1983 zu kennen und zu schätzen gelernt. Seitdem begegnen wir uns immer wieder in den unter-schiedlichsten Kontexten.

All meinen Autoren verdanke ich, daß ich das geworden bin, was ich bin, wer ich bin.

Mein besonderer Dank gilt dem Arzt und Psychotherapeuten Martin Wöllner für eine Freundschaft, die bereits fast ein ganzes Leben währt.

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Reiner Kunze: Die wunderbaren Jahre ins Rumänische übersetzt

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HERBERT-WERNER MÜHLROTH

Eseltreiber. Reiner Kunze und die Wöllners

Else Wöllner, die Mutter meines besten Freundes, Martin, war es, die mir im Sommer 1982 in ihrem Haus in Nastätten den Ge-dichtband von Reiner Kunze Sensible Wege in die Hand gedrückt hat. Ich war damals im ersten Semester und hatte Martin in ei-nem Seminar über Plato kennengelernt. Daraus wurde eine Freundschaft, die keine Anlaufzeit brauchte und die bis heute anhält. Martin nahm mich an manchen Wochenenden zu seinen Eltern mit. Der Vater war der Chef der Krankenhausabteilung in Nastätten, die Mutter war in diesem Krankenhaus praktische Ärztin. Ich wurde mit offenen Armen aufgenommen, was ich selbst als keine Selbstverständlichkeit empfand. Ich war ein halbes Jahr davor aus dem Gefängnis im jugoslawischen Zrenjanin ent-lassen worden, nachdem ich über die grüne Grenze aus Rumäni-en geflüchtet bin, denn ich stand noch unter dem Einfluß des Sadismus der Gefängniswärter. Die Offenheit, die mir Familie Wöllner entgegengebracht hat, trug wesentlich zu meiner Ent-spannung und Entkrampfung bei. Hier herrschte der Geist der Freiheit und des unabhängigen Denkens. Ich befand mich sehr gerne an diesem Ort. Selbstredend war für mich jungen Men-schen die Begegnung mit dieser Familie eine menschliche und geistige Öffnung. Denn ich bin ja in der kommunistischen Dikta-tur aufgewachsen und hatte den freiheitlichen Diskurs dadurch niemals kennengelernt, ja, ich hatte noch nicht einmal das freie, das angstfreie, das offene Sprechen kennengelernt. Ich fühlte mich in diesem Ambiente zum ersten Mal in meinem Leben

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geborgen, denn hier war nicht nur die Freiheit, sondern hier war auch der Geist zu Hause. Hier spürte ich ihn: den wahren Geist von Freiheit und geistigen Abenteuern. Was mir von Martins Vater als Quintessenz übriggeblieben ist, war die unbedingte Verfolgung des geistigen Denkens der Zeit, eine erstaunliche Sache, wenn man bedenkt, wie sehr er damit eingespannt war, ein Krankenhaus zu führen und daß er sein unbedingtes und uner-schütterliches Ethos im Heilen gesehen hat. Dies kulminierte für mich in dem Begriff Ernst Kaltenbrunners „die normative Kraft des Faktischen“, womit der Konservatismus die Fatalität des Ge-schehenden zu rechtfertigen versuchte. Für mich schien, daß Martins Vater dies sehr ernstnahm, aber insgeheim wußte er, daß dies keine Rechtfertigung für das darstellen konnte, was ein Dich-ter wie beispielsweise Reiner Kunze schrieb. Martins Mutter hin-gegen widmete sich mir, dem Literaturstudenten behutsam, aber sehr bestimmt. Für sie war Goethe ein Fixstern am Himmel. Ich genoß es sehr, als sie mir stundenlang Verse von Goethe vortrug, denn ich war damals ja noch nicht so firm in Goethe. Sie erwarte-te von mir meine Meinung und ich sagte sie ihr. Ich merkte, daß es in mir arbeitete und so konnte ich Interpretationen mit Leich-tigkeit entwickeln. Zufrieden über mein Goethe-Examen streckte sie mir beim dritten oder vierten Treffen das Buch von Reiner Kunze entgegen.

Else Wöllner war es, die mir im Sommer 1982 Reiner Kunzes Gedichtband Sensible Wege in die Hand gedrückt hat. Ich war fortan von seiner Lyrik derart angetan, daß ich nicht umhin kann festzustellen: Lieber Reiner Kunze, Ihr Werk hat einen sehr gro-ßen Einfluß auf mein Schreiben genommen.

Ich schrieb an Reiner Kunze: „Else Wöllner ist vor wenigen Tagen gestorben. Sie war es, die für mich – als junger Flüchtling – die Freiheit des Dichtens bestätigt hat. Deshalb in der Anlage auch ein Gedicht, das ich geschrieben habe, um mich von ihr zu verabschieden. Fern kann er nicht mehr sein hat eine beträchtliche

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Rolle in den letzten Tagen von Else Wöllner gespielt. Ich danke Ihnen für Ihre Bücher!“

Reiner Kunze antworte mir: „In einem Gedicht, das mir un-längst eine junge Dichterin schickte, heißt es „Das Schreiben ist nur der Esel“. Ich, ein Eseltreiber wie Sie, wünsche Ihnen, daß Ihr Esel Ihnen hilft, die Welt zu ertragen.“

Reiner Kunze steht für mich gleichberechtigt neben Hölderlin, Rilke und Benn. Robert Musil schrieb „daß nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens“. Für mich hat Reiner Kunze diese Frage immer wieder, in infinitesima-len Annäherungen, beantwortet. Dies können wohl nur Eseltreiber.

Daseinsfrist

Die erlösung des planeten von der menschheit ist der menschheit mitgegeben in den genen:

der zauberlehrling, dessen geistern kein meister mehr gewachsen ist

der fanatiker

die masse, die des massenmörders füße küßt

Reiner Kunze hat mir freundlicherweise dieses Gedicht als Vorab-druck für den vorliegenden Band zur Verfügung gestellt.

© Reiner Kunze 2013

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HERBERT-WERNER MÜHLROTH

Interview mit Prof. Hans-Jürgen Schings zu Goethes 250. Geburtstag. Berlin, den 24.02.1999

‒ Herr Prof. Schings, gestatten Sie mir, daß ich Sie den Lesern der rumänischen Kulturzeitschrift „Secolul XX“ kurz vorstelle. Sie sind Professor für Neue Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin sowie Vorstandsmitglied der Goethe-Gesellschaft in Weimar. Sie haben sich intensiv mit dem Werk des „Dichterfürsten“ der Deutschen, Johann Wolfgang von Goethe, beschäftigt und haben zudem an der Münchner Ausgabe seiner Werke mitgearbeitet. Vor kurzem wurde die Stadt Weimar, in welcher Goethe lange Jahre lebte und schuf, offiziell zur Kulturstadt Europas 1999 ernannt, was nicht zuletzt der 250-sten Wiederkehr von Goethes Geburtstag zu verdanken ist. Welchen Stellenwert besitzt der „Universalwissenschaftler“ Goethe, der sich selbst als Europäer verstand, für die heutige Kulturland-schaft Deutschlands und auch Europas?

‒ Ja, dazu müßten wir die Europäer selbst fragen, und wenn wir das tun und uns umschauen, dann beobachten wir, daß offenbar ein sehr großes Interesse da ist. Überall in Europa finden in die-sem Jahr Goethe-Symposien, Goethe-Kongresse statt, in Glasgow, in London, in Dublin, in Paris, in Straßburg, in Istanbul, in Rom, wohin Sie auch gehen, Goethe wird gefeiert, ‒ offenbar kein schlechtes Zeichen.

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‒ Skizzieren Sie bitte, in allgemeinen Zügen, die Aufgabe der Goe-the-Gesellschaft in Weimar sowie ihr Programm für dieses besonde-re Goethe-Jahr!

‒ Die Goethe-Gesellschaft, eine sehr alte Gesellschaft, ist die größte literarische Gesellschaft in Deutschland, mit weit über 5 000 Mitgliedern. Inzwischen, dank der großen Initiative unseres gegenwärtigen Präsidenten, Werner Keller, bemüht sich die Goe-the-Gesellschaft vor allem darum, international sich zu erweitern. Wiederum werden in ganz Europa und auch in Übersee, in Asien etwa, in China, in Korea, Goethe-Gesellschaften gegründet. Die Goethe-Gesellschaft sucht ein breites Publikum, sucht die Öffent-lichkeit, und möchte sich keineswegs auf den Elfenbeinturm der Universitäten beschränken, und damit, denke ich, hat sie großen Erfolg, das beweisen die Hauptversammlungen, die Kongresse, die in Weimar stattfinden, Sie werden nirgends ein so interessier-tes, nachdenkliches, enthusiastisches, diskussionsbereites Publi-kum finden, wie auf diesen Versammlungen. In diesem Jahr, in diesem Jubiläumsjahr, ist das Thema „Goethe und das zwanzigste Jahrhundert. Das Vergangene als das Zukünftige?“ Das ist das Thema: Ist Goethe, wie man ja gesagt hat, ein Ereignis ohne Fol-gen gewesen? Oder gibt es nicht Folgen, die man heute bedenken sollte? Das wird auf dieser Versammlung verhandelt werden, mit international renommierten Wissenschaftlern aus aller Welt. Ich möchte aber vor allem doch, was die Wirkung der Gesellschaft angeht, das neue Stipendienprogramm erwähnen, das die Gesell-schaft verfolgt. Sie lädt Dutzende von jungen Wissenschaftlern, vor allem aus dem ehemaligen Ostblock, ein, damit sie die Mög-lichkeit erhalten, in Weimar, unmittelbar an den entscheidenden Plätzen selbst, zu forschen.

‒ Sind da bereits Studenten aus Rumänien dabei?

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‒ Das kann ich im Augenblick nicht sagen, aber ich hoffe und wünsche, daß dem so ist. Jedenfalls ist dieses Programm ganz besonders abgezielt auf den ehemaligen Ostblock.

‒ Der Literaturwissenschaftler Richard Alewyn stellte 1949, wenige Jahre nach dem Zerfall des Dritten Reiches fest, daß zwischen uns, den Deutschen, und Weimar Buchenwald liege1. In einer kürzlich vom Kultursender „Arte“ ausgestrahlten Sendung über Goethe und Weimar fiel der Satz: „Der Geist von Weimar ist nicht trennbar von Buchenwald.“ Wie sehen Sie dieses doch sehr problematische Ver-hältnis zwischen dem humanistischen Geist der Weimarer Klassik und der Barbarei des Naziregimes?

‒ Ich würde vorschlagen, daß man differenziert. Der Satz, den Sie zitieren, „Der Geist von Weimar ist nicht trennbar von Buchen-wald.“ – das ist so ein schlagender Satz, der doch zugleich einen Kurzschluß enthält. Gewiß, lokal liegen Weimar und Buchenwald beieinander, man muß aber auch sehen, daß die Nazis, die ja für Buchenwald verantwortlich waren, das gezielt dorthin gesetzt haben, um Weimar zu konterkarieren. Ich bin nicht sicher, ob wir gut daran tun, diesen Nazi-Oktroi mitzumachen und jetzt Wei-mar, sprich also den Geist der Weimarer Klassik, unmittelbar verantwortlich zu machen für Buchenwald, denn das ist ja der Hintersinn dieser Zusammenstellung. Das halte ich für absurd. Es gibt kein Kausalverhältnis zwischen dem Geist der Weimarer Klassik und Buchenwald.

‒ In der Rezeption Goethes haben sich Zeiten der pathetischen Invokation mit Phasen des emphatischen Widerspruchs abgewech-selt. Unbestreitbar bleibt, daß Goethe das kulturelle Selbstverständ-nis der Deutschen nachhaltig geprägt hat, seine Rolle für die Bil-dung war überragend. Inwieweit besitzt das Bild des „Universal-

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menschen“ Goethe noch Gültigkeit für die heutige Zeit? Kann das Weltbild Goethes heute noch als plausibel empfunden werden?

‒ Daß Goethe das kulturelle Selbstverständnis der Deutschen nachhaltig geprägt hat, ist vielleicht eine allzu freundliche Be-hauptung. Manche haben ja auch geglaubt, daß die Wirkung Goethes gerade nicht überragend gewesen ist. Den „Universal-menschen“ Goethe und das Weltbild kann man nicht nachahmen. 200 Jahre sind eine lange Zeit, das hat schon Bertold Brecht ge-sagt, und diese historische Distanz ist nicht einfach zu übersprin-gen. Wenn ich erklären sollte, was Goethe heute noch bedeuten könnte, würde ich versuchen, von dem „Universalmenschen“ und von dem Weltbild wegzukommen und eher zu sagen: Es werden uns bestimmte Verhaltensweisen vorgeführt, die auch heute noch gültig sein könnten: Verhaltensweisen im Umgang mit der Natur, Verhaltensweisen im Umgang mit Menschen. Das Weltbild Goe-thes ist, wie man weiß, sehr spinozistisch geprägt. Damit kommen wir heute sicher nicht mehr weiter, aber die Ethik des Spinoza, die Goethe ja zumindest genauso hoch geschätzt hat wie die Spino-zistische Allnatur, das ist auch heute, denke ich, noch aktuell. Die „Friedensluft“, wie Goethe gesagt hat, die aus dieser Ethik ent-springt, ‒ mit der können wir auch heute noch etwas anfangen. Wir sollten es zumindest!

‒ Das Wort, die Sprache war für Goethe noch die zentrale Form der Mitteilung. Vermittels der Sprache hat er ja nicht nur seine eigene Zeit entscheidend geprägt, sondern auch zukünftige Zivilisations-prozesse antizipiert. Inwieweit hat sich die deutsche Sprache seit Goethe verändert? Kann die Jugend heute Goethe noch adäquat erfassen?

‒ Das ist sicherlich ein Problem. Natürlich hat sich die deutsche Sprache seit dem 18. Jahrhundert entwickelt und oft genug muß

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man bei der Lektüre von Texten aus dem 18. Jahrhundert, bei der Goethe-Lektüre ebenso, im Wörterbuch nachschauen. Es gibt einen Bedeutungswandel. Aber dieser Bedeutungswandel ist nicht so groß, daß er das Verständnis entscheidend behindern könnte. Wir haben eine Menge Ausgaben mit ausführlichen Kommenta-ren, die zur Zeit erschienen sind. Da kann sich jeder informieren. Es gibt eine Sprachbarriere sicherlich nicht. Es kommt hinzu, daß Goethe kein Manierist war, er schrieb nicht schwierig, er schrieb sehr gut, einen luziden, klaren Stil. Jedermann, der guten Willens ist, kann ihn verstehen.

‒ Günter Kunert behauptet in einem Goethe-kritischen Aufsatz, daß der Dichter uns heute wesentlich fremd sei. Er spricht von ei-nem „psychologischen Nichtbegreifen“. Wir wären eher von Georg Büchner und Heinrich von Kleist „affiziert“, weil deren Schicksal uns, „die wir selber nicht gerade vom Schicksal verwöhnt sind, nähergeht“. Er spricht damit implizit auch die Ablehnung Goethes dieser beiden Dichter an, aber nicht nur dieser ‒ die Liste ließe sich noch fortsetzen – ich erinnere an dieser Stelle nur an Friedrich Hölderlin. Wie sehen Sie diese Problematik, bezogen auf Goethe, aber auch aus der Sicht des heutigen Goethe-Lesers?

‒ Jeder Leser, auch der heutige, ist frei, er kann wählen. Niemand wird dazu gezwungen, Goethe zu lesen. Jeder hat seine Vorlieben. Nun sollte man aber auch sehen – Sie führen Günter Kunert an – daß Kunert natürlich zu der entschiedenen Fraktion der „Melan-choliker“ gehört. Zu dieser gehört Goethe sicherlich nicht. Und es ist offenkundig und liegt ja auch nahe, angesichts der Katastrophe unseres Jahrhunderts, daß man auch aus der älteren Literatur lieber die Schreckensmänner, die Unglücksmänner, die Verzwei-felten, die Einsamen liest. Das geschieht. Büchner, Kleist, Lenz – das ist, sozusagen, ein „Kanon des Unglücks“, der heute bevorzugt wird. Ich denke aber, es ist nicht schädlich, wenn man neben

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diesem Kanon des Unglücks doch auch andere Möglichkeiten sich vor Augen führt. Und diese hält Goethe vor Augen. Es gibt ja ein Beispiel, das man gegen Kunert anführen kann, ein Beispiel einer Kehrtwendung in der Bewertung Goethes: Martin Walser. Walser, der in den siebziger Jahren, noch in den frühen achtziger Jahren, Goethe entschieden bekämpft und abgelehnt hat, aus dieser melancholischen, existenzialistischen Perspektive auch, und der inzwischen doch zu einem, ja, zu einem Befürworter Goethes geworden ist. Da hat eine merkwürdige Anerkennung Goethes stattgefunden, die man, glaube ich, sehen muß und die man auch schätzen muß. Es gibt nicht nur Unglück, es gibt möglicherweise auch anderes.

‒ Wird Goethe heute an deutschen Schulen noch gelesen und wie? Ich möchte einen Ausspruch des Dichters Peter Rühmkopf anfüh-ren: „An der Schule wurde uns Goethe aufgelastet / zugemutet, wie er serenissimushafter-geheimrätlicher wohl nicht zu denken war. In ihm schien – u.zw. in seinen Werken wie in seiner Person – aufs philisterhafteste domestiziert, was wir selbst nur als schreienden Widerspruch erlebten (…), so daß wir uns schüttelnd von ihm ab-wandten.“

‒ Ja, ganz offenkundig hat Peter Rühmkopf auf der Schule Pech gehabt. Dieses Pech teilen mit ihm sicher sehr viele. Was Rühm-kopf da über die Schule sagt, ist nicht Goethe anzulasten, sondern der Vermittlung in der Schule. Nun haben wir sicherlich seit den späten sechziger, siebziger Jahren eine entschiedene Goethe-Abstinenz erlebt, auch auf den Schulen. So, als habe man sich diese Worte Rühmkopfs zu eigen gemacht und Goethe erst ein-mal stillgestellt, weil das Interesse für ihn nicht mehr da war. Das ist inzwischen anders. Es sieht sogar so aus, als ob diese Goethe-Enthaltsamkeit jetzt ein ganz neues Interesse hervorgerufen hat,

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eine Neugier auch. Goethe ist nicht mehr bekannt von Kindes-beinen auf und durch die Schule.

‒ Die Problematik der adäquaten Goethe-Rezeption zeigt sich, meines Erachtens, gerade an den Inszenierungen seiner Stücke an deutschen Theatern. Die Substanz der Goetheschen Sprache scheint nur zu wirken, wenn sie mit einem explosiven oder provokativen Gemisch von „special effects“ unterlegt wird. Wie sollte man heute Goethe auf der Bühne spielen, um ihm gerecht zu werden?

‒ Hier geht es sicher nicht nur um ein Goethe-Problem, sondern auch um ein Theaterproblem. Das moderne Theater, das soge-nannte Regietheater, hat sich ja lange Zeit eigentlich um die Texte und um ihre Sprache nicht gekümmert, sondern das, was Sie „special effects“ nennen, ganz in den Vordergrund gerückt. Ob man Goethe so spielen muß, ob man ihn also theatralisch ausbeu-ten muß um jeden Preis, da habe ich meinen großen Zweifel. Damit vernichtet man doch. Gerade in Weimar, in Frankfurt, haben wir Faust-Inszenierungen erlebt, bei denen das der Fall war2. Das Entsetzen der Rezensenten war groß und mündete in die Aufforderung: Faust lesen, aber nicht ins Theater gehen! Das ist, denke ich, für das Theater eine Niederlage, aus der das Thea-ter lernen müßte.

‒ W. Daniel Wilson möchte mit seinem Buch „Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar“, München 1999, mit einem Goethe-Tabu aufräumen, nämlich daß Goethes Funktion als Staatsmann mit allzu großer Nachsicht bewertet wer-den würde. Zur Sprache kommt dabei auch Goethes Zustimmung zur Todesstrafe für das Verbrechen des Kindesmordes. Wie sehen Sie Goethes Rolle als Staatsmann?

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‒ Wenn ich vielleicht zunächst einmal so beginnen darf: Die Rolle als Staatsmann, das war für einen aufgeklärten Mann im 18. Jahr-hundert eine unerhörte Chance. Die bürgerlichen Aufklärer sa-hen ihre Chance darin, die Fürsten zu erziehen: Mentoren zu spielen im Rahmen dessen, was man inzwischen den aufgeklärten Absolutismus nennt. Das war die realistische Chance, die auch Goethe sah, als er nach Weimar kam und die er zu nutzen ver-suchte. Er hat ja den Fürsten, also Karl August, seinen Herzog, zu erziehen versucht, und daß dieser Erziehungsversuch nicht im-mer geglückt ist, wissen wir. Aber das ist zunächst einmal der Ansatz: Goethe ging nicht als Fürstenknecht nach Weimar, son-dern als Fürstenerzieher. Daß er nun als Minister in die schwie-rigsten Bredouillen kam, liegt auf der Hand und das ist auch seit langem bekannt, auch der Fall, auf den Sie hier anspielen, also das Votum des geheimen Consiliums zugunsten der Todesstrafe in einem besonderen Fall, im Fall der Anna Catharina Höhne (1783). Das ist eine furchtbare Sache gewesen, ganz offenkundig für alle Beteiligten. Es gibt umfangreiche Akten darüber, umfang-reiche Stellungnahmen, leider fehlt uns ausgerechnet der Aufsatz, in dem Goethe sich ausführlich dazu geäußert hat. Er schließt sich dann dem Votum seiner Kollegen an. Man muß das sicher-lich mit Schrecken wahrnehmen, wie er, der Dichter des Gret-chens, nun auf einmal für die Todesstrafe plädiert in diesem Zu-sammenhang – es geht um Abschreckung. Man muß das mit Schrecken registrieren, man muß sich aber vor Augen halten, daß Goethe hier nicht einfach irgendeiner in ihm angelegten Inhu-manität freien Lauf gelassen hat. Da steckt sicher noch anderes dahinter.

‒ Mich würde interessieren, wie Sie Goethes soziales Engagement bewerten. Ich möchte nur anmerken, daß er beispielsweise notlei-denden Bauern geholfen hat.

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‒ Er hat auch im Einzelfall geholfen. Es gibt ja eine ganze Reihe von unglücklichen Menschen, die an ihn herangetreten sind. Es gibt die Kinder der Frau von Stein, etwa den Fritz Stein, es gibt den „Peter im Baumgarten“ 3, den er bei sich aufgenommen hat. Er hat sich also ganz konkret um einzelne Fälle gekümmert, mit großem finanziellen Aufwand. Also im Konkreten kann man ihm Menschenliebe und Ähnliches auf keinen Fall absagen. Soziales Engagement im Großen, das hat er im Rahmen seiner Möglich-keiten als Minister gefördert. Sie sehen ja auch das Reformpro-gramm, das im Wilhelm Meister dann zum Zuge kam. Dahinter steht Goethe ganz sicher: Bauernbefreiung, Abschaffung des Feudalsystems – das sind seine Anliegen, die er auch als Staats-mann, als Regierungsmann, verfolgt hat.

‒ Nun hat Goethe aber die Französische Revolution abgelehnt mit den Worten, daß sie „nicht naturgemäß“ wäre.

‒ Das ist sicher der Fall, daran besteht überhaupt kein Zweifel, Goethe war entsetzt über das, was da in Frankreich passierte. Nebenbei bemerkt, man könnte Herrn Wilson ja auch vorschla-gen, mal den Blick nach Paris zu richten und zu sehen, wie viele Todesurteile dort zustande kamen und unter welchen Umstän-den. Goethe, wie gesagt, war entsetzt, er kannte ja die Phänomene ja sehr gut, zum Teil aus eigener Anschauung, er war in Frank-reich (Kampagne in Frankreich4). Seine Grundüberzeugung wur-de da aufgerührt; eine Grund-überzeugung, die auch mit seiner Naturwissenschaft zu tun hat: Die Natur macht keine Sprünge, die Natur ist nicht vulkanistisch organisiert, die Natur ist evoluti-onär. Und so hat er sich in der Tat auch gesellschaftlichen Fort-schritt vorgestellt: als Evolution, nicht als Revolution.