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- Orhan-Pamuk Das Museum der Unschuld | Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse: Türkei | Denis-Johnson Ein gerader Rauch | Ingo-Schulze Adam und Evelyn | Judith-Kuckart Die Verdächtige | Orlando-Figes- Die Flüsterer | Weitere Rezensionen zu Günter-Grass, Volker-Schlöndorff,-Alexander- J.-Seiler,-Ludwig-van-Beethoven- und anderen | Charles-Lewinsky Zitatenlese Nr. 9 | 28. September 2008

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Page 1: OrhanPamuk Das Museum der Unschuld | Schwerpunkt ... · Schriftsteller und Nobelpreisträger Orhan Pamuk – zum munteren Gespräch über sein neues Buch und die politische Situation

­­­­­­­­­­Orhan­­­­­­­­­­Pamuk Das Museum der Unschuld | Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse: Türkei | Denis­­­­­­­­­­Johnson Ein gerader Rauch | Ingo­­­­­­­­­­Schulze Adam und Evelyn | Judith­­­­­­­­­­Kuckart Die Verdächtige | Orlando­­­­­­­­­­Figes­­­­­­­­­­Die Flüsterer | Weitere Rezensionen zu Günter­­­­­­­­­­Grass, Volker­­­­­­­­­­Schlöndorff,­­­­­­­­­­Alexander­­­­­­­­­­J.­­­­­­­­­­Seiler,­­­­­­­­­­Ludwig­­­­­­­­­­van­­­­­­­­­­Beethoven­­­­­­­­­­und anderen | Charles­­­­­­­­­­Lewinsky Zitatenlese

Nr. 9 | 28. September 2008

Page 2: OrhanPamuk Das Museum der Unschuld | Schwerpunkt ... · Schriftsteller und Nobelpreisträger Orhan Pamuk – zum munteren Gespräch über sein neues Buch und die politische Situation

Alles, was schlau macht: zum Lesen, Hören

oder Spielen für Ihre Kids. Dafür sind wir immer

offen, täglich 24 h, 7 Tage in der Woche.

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Warum?Wieso? Weshalb?

Page 3: OrhanPamuk Das Museum der Unschuld | Schwerpunkt ... · Schriftsteller und Nobelpreisträger Orhan Pamuk – zum munteren Gespräch über sein neues Buch und die politische Situation

Belletristik4 DenisJohnson:EingeraderRauch Von Stefan Zweifel6 IngoSchulze:AdamundEvelyn Von Andreas Isenschmid7 RebeccaMiller:PippaLee Von Afra Gallati ThomasvonSteinaecker:Geister

Von Regula Freuler8 SylviaPlath:Ariel Von Angelika Overath ManuelAlvarezBravo:Photopoetry Von Gerhard Mack9 JudithKuckart:DieVerdächtige Von Manfred Papst

10 ebnemI igüzel:AmRandVon Marli Feldvoss

11 GünterGrass:DieBox Von Paul Jandl

KurzkritikenBelletristik11 SabineAnders,KatharinaMaier(Hrsg.):

LiebesbriefegrosserMänner Von Regula Freuler PeterK.Wehrli:KatalogvonAllem

Von Manfred Papst JohnGrisham:Berufung Von Pia Horlacher ChristophMeckel:Wohldenendiegelebt

Von Manfred Papst

Interview12 OrhanPamuk,Nobelpreisträgerund

türkischerAutor«Lies alle Bücher!». Von Susanne Schanda

Kolumne15 CharlesLewinsky

Das Zitat von Astrid Lindgren

KurzkritikenSachbuch15 SudhirKakar:FreudleseninGoa

Von Kathrin Meier-Rust ErnstNolte:Das20.Jahrhundert Von Urs Rauber JosephH.Reichholf:StabileUngleichgewichte

Von Kathrin Meier-Rust PhilipMatyszak:Romfür5DenaramTag

Von Geneviève Lüscher

Sachbuch16 OrlandoFiges:DieFlüsterer Von Carsten Goehrke18 VolkerSchlöndorff:Licht,Schattenund

Bewegung Von Martin Walder AlexanderJ.Seiler:Danebengeschrieben

1958–2007 Von Urs Rauber

19 AlbrechtRiethmülleru.a.(Hrsg.): DasBeethoven-Lexikon Von Corinne Holtz20 KlausKreiser:Atatürk Von Hans-Lukas Kieser21 NaokoFelder-Kuzu:KleinerEinsatz,

grosseWirkung Von Charlotte Jacquemart DanielGendre:UdSSR

Von Jost Auf der Maur22 BrigitteRossbeck:ZumTrotzglücklich Von Manfred Koch ThomasBlubacher:Gibtesetwas

SchöneresalsSehnsucht?Von Andreas Tobler

23 DasWikipediaLexikonineinemBandVon Thomas Köster

24 PhilippvonBoeselager:WirwolltenHitlertöten

DorotheevonMeding,HansSarkowicz:PhilippvonBoeselager

AntoniusJohn:PhilippvonBoeselager Von Gerd Kolbe25 MarleneZuk:WaswäredasLebenohne

Parasiten?Von Hermann Feldmeier

NeilShubin:DerFischinunsVon Georg Sütterlin

26 ZoltánSebök:ParasitäreKultur Von Sieglinde Geisel

DasamerikanischeBuch TomVanderbilt:Traffic–WhyWeDrivethe

WayWeDo(andWhatItSaysAboutUs) Von Andreas Mink

Agenda27 NikolausGelpke(Hrsg.):SüdafrikasKüste Von Manfred Papst BestsellerSeptember2008 Belletristik und Sachbuch AgendaOktober2008

Veranstaltungshinweise

Es gibt Buchtitel, die wie ein Soundtrack klingen. Der Wälzer «Traffic» von Tom Vanderbilt zum Beispiel trägt die Unterzeile «Why We Drive the Way We Do (and What It Says About Us)». Nicht nur bezeichnet die Affiche exakt, was die Buchlektüre verspricht. Sie bringt auch das rhythmische Klopfen der Automotoren in den Weiten der USA zum Klingen. Unser Kollege Andreas Mink bespricht das Road-Book in der Rubrik «Das amerikanische Buch» (Seite 26).In eine andere Gegend möchten wir Sie ebenfalls entführen, liebe Leserin, lieber Leser: in die Türkei. Am Bosporus, dem Brückenkopf zwischen Europa und Asien, traf Susanne Schanda den Istanbuler Schriftsteller und Nobelpreisträger Orhan Pamuk – zum munteren Gespräch über sein neues Buch und die politische Situation in seiner Heimat (S. 12). Das Land zwischen Orient und Okzident ist Gast der Frankfurter Buchmesse, die am 15. Oktober ihre Tore öffnet. Aus diesem Anlass stellen wir Ihnen auch den Erfolgsroman der türkischen Autorin ebnem I igüzel vor (S. 10) sowie eine neue Atatürk-Biografie, die

zeigt, wie die islamische Gesellschaft nicht zuletzt dank Schweizer Hilfe – mit unserem Zivilgesetzbuch – laizisiert worden ist (S. 20). Dies und vieles mehr empfehlen wir Ihnen zur Lektüre. Wir hoffen, dass Sie nicht nur auf packende Themen und Autoren stossen, sondern auch auf Melodien, die das Lesen zum Ohrwurm machen. Urs Rauber

Wenn sich Literatur in Musik verwandelt

Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) RedaktionUrs Rauber (ura.), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) StändigeMitarbeitUrs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Judith Kuckart, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan Zweifel ProduktionEveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Patrizia Trebbi (Bildredaktion), Joëlle Prochazka (Layout), Ingrid Essig, Bettina Keller (Korrektorat) AdresseNZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected]

OrhanPamuk(Seiten12–14).IllustrationvonAndréCarrilho

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Nr. 9 | 28. September 2008

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28. September 2008 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3

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InderGeisterbahnderGefühle:JudithKuckart,49,schreibteinenLiebesroman,deraucheinKrimiist.

Inhalt

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Denis Johnson: Ein gerader Rauch. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell und Robin Detje. Rowohlt, Reinbek 2008. 880 Seiten, Fr. 43.70.

Von Stefan Zweifel

Vietnam-Romane gibt es wahrlich genug. Ganze Regale, in denen sich Schock und Schrecken abgelagert haben. Aus dieser Fülle erhebt sich nun neu ein rauchen-des Buchzeichen, das mehr sein möchte als eine Vietnam-Story, nämlich ein Welt-Roman. Nach vielen Gedichtbän-den, Novellen und Romanen hat Denis Johnson nun einen künftigen Klassiker geschrieben: eine rätselreiche Rauch-säule, die uns den Weg nicht mehr him-melwärts weist, wo Gott allem einen Sinn gibt, sondern die aus den Kratern endloser Kriege ins Leere ragt und nach Napalm, verbranntem Fleisch und roher Verzweiflung riecht.

Dem 1949 geborenen amerikanischen Schriftsteller gelingt es, dank seiner stilistischen Virtuosität – gleichsam neben her – sämtliche Erwartungen an einen Vietnam-Roman zu erfüllen: mit Szenen voller Brutalität aus dem totalen Krieg, den Amerika damals führte, in My Lai und zahllosen andern Dörfern, mit verwirrenden Intrigen der Geheim-dienste, dann mit Seiten prall gefüllt mit Sex und atemlosen Dialogen voll «dirty words», um die sich Erinnerun-gen an Filme wie «Apocalypse Now» (1979) oder «MASH» (1970) anhäufen. Dazwischen zeigt er die schlichte Ver-zweiflung schlichter Seelen, Landschaf-ten, die im Dunst des Irrealen schweben, bevölkert von schreienden Geckos und weinenden Soldaten, die sich in Todes-angst krümmen.

Doch das ist nur die Oberfläche eines philosophischen Werks über eine Welt, die nach dem Tod Gottes ohne Halt in die kalte Leere des Weltalls hinausrast und um die eigene Achse taumelt. Nicht die Achse des Bösen, sondern die Achse des Nichts. Und um die schleudert es auch uns Leser. Denis Johnson lockt uns

Roman Für seinen Vietnam-Roman erhielt der amerikanische Autor Denis Johnson den National Book Award 2007. Hinter einer spannungsgeladenen Oberfläche erwartet den Leser eine poetische Philosophie über den Zerfall von Sinn, Macht und Wirklichkeit

Gott ist tot, die Welt taumelt

anfangs mit viel Handlung und einem gängigen Plot immer weiter ins Buch. Parallele Biografien entführen den Leser auf immer anderen Ebenen nach Vietnam. Bald folgt man marodieren-den Todestruppen, zu denen sich ver-armte Jünglinge gemeldet haben, weil es sie mit Hochgefühl erfüllte, mit der eigenen Unterschrift ihrem Leben end-lich einmal selbst eine Richtung geben zu können. Bald folgt man Vietcongs, die als Doppelagenten die Seiten wech-seln. Oder man begleitet lesend eine bibelfeste Kinderhilfswerk-Schwester, die an Calvin verzweifelt, nachdem die blanken Knochen ihres Mannes in einer Schachtel zurückgebracht wurden, und die nun ihren Schmerz beim Zufallssex mit einem US-Boy kühlt. Zurück bleibt die Leere.

Im Sturm des NichtsIn diese Leere lässt uns Denis Johnson irren, acht Kapitel lang, Jahr für Jahr, von Manila 1963 bis Saigon 1970, bevor dann im Kapitel über das Jahr 1983 alles implodiert. Jedes Kapitel bildet einen Jahresring, der sich um den «Tree of Smoke» ablagert, wie das Buch im Ori-ginal in Anspielung auf eine Bibelstelle heisst. Doch dieser «palm tree» ist kein Baum, der im Paradies verwurzelt ist und den Apfel der Erkenntnis trägt, son-dern nur noch ein Palmwedel, geschüt-telt im Sturm der Druckwellen von Bomben. Wir Leser folgen den verschie-denen Handlungssträngen. Das Schick-sal der einzelnen Figuren überschneidet sich jeweils nur kurz, dann verlieren sie sich aus den Augen, und zwischen den Bruchstellen der Handlung erahnt der Leser die Abgründe, die den Menschen vom Mitmenschen trennt.

So taumelt man gleich auf den ersten Seiten mit einem jungen Infanteristen in den Dschungel, mit dröhnendem Kopf, denn wieder einmal hat er viel Lucky Lager getrunken, zu viel Lucky Strike geraucht. Wie von selbst zieht seine Hand die Waffe und feuert einem Affen in den Rücken. Ein letztes Mal umarmt der Affe einen Baum, bevor er hinsinkt

als blutgeblähtes Stück Fell und der Sol-dat von einem Heulkrampf geschüttelt wird. «Lucky»? Glücklich? Jedes Wort wird in Vietnam in sein Gegenteil ver-kehrt.

Kein Phönix aus dieser AscheDenis Johnsons eindringliche Romane und Reportagen von den Rändern der Welt bilden – wie nun der Vietnam-Roman «Ein gerader Rauch» – das ABC einer Apokalypse. Sie sind geprägt von einer zerstückelten Handlung, auf die sich jeder Leser einen eigenen Reim machen muss, denn die Rauchzeichen sind kein Wolkenwink der Götter mehr, sondern Asche, aus der sich kein Phönix erhebt.

«Operation Phoenix» hiess das ver-hängnisvolle Spionageprogramm der USA, das den historischen Hintergrund für die Operation «Tree of smoke» in Johnsons Buch abgibt. Dessen Haupt-held ist CIA-Colonel F. X. Sand. Der Krieg gegen den Kommunismus gibt ihm genauso Halt wie ein Glas mit einem Highball-Drink, er klammert sich an

Belletristik

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beide und tobt wie eine entfesselte Naturgewalt. Den Bürstenschnitt silber-grau als Amboss auf dem Kopf, brütet er darüber, wie der Geheimdienst Rauch-säulen in Richtung Washington senden könnte, statt sich in vorauseilendem Gehorsam der Politik zu beugen und Resultate zu erfinden, die Washington als Vorwand dienen – wie es damals in Vietnam und, so Johnsons deutlicher Wink, vor kurzem im Irak der Fall war. Spionage ist längst schon kein Aufklä-rungsdienst mehr, sondern ein zynisches Mittel der Desinformation.

Gewaltige ErzählkraftWie in «Apocalypse Now Redux», dem Director’s Cut von «Apocalypse Now», die Szene in einer französischen Kolonial-Villa die historische Tiefe des Konflikts aufzeigt, weitet sich in «Ein gerader Rauch» der Horizont ebenfalls in einer französischen Villa. Dort stösst man auf Notizen eines toten Gelehrten, auf Übersetzungsversuche von Schriften Antonin Artauds (1896–1948). Dessen Aufzeichnung aus dem Land der Tara-

humara-Indianer wird in der Mitte des Romans gleich dreimal zitiert, zweimal auf Englisch und auch auf Französisch. Seitenweise!

Der französische Autor und Theater-mann Artaud hat im mexikanischen Hochland die Spuren des göttlichen Alphabets wiederentdeckt, als er beim Ritt zu Pferd unter Heroin-Entzug zu sehen glaubte, wie Felsspalten Buchsta-ben bildeten, Buchstaben eines verlore-nen heiligen Textes, den die göttlichen Mächte einst in die Landschaft gebannt hatten. Seit wir den Zugang zu diesem Text verloren haben, so Artaud, sei unser Leben nur noch Schein, nur noch ein «Double» des wahren Lebens. Hier trifft sich Johnsons Suche nach dem wahren Namen der Welt, der er in seinen Büchern nachgeht, mit Artauds Suche nach dem wahren Leben.

Allein das Theater kann uns wieder mit dem Leben verbinden, dachte Artaud. Allein der Roman, denkt viel-leicht Denis Johnson. Und so beugt er sich mit seinen Figuren über den Sub-text (d. h. Artauds Schriften), den bei

ihm nicht die mexikanischen Felsforma-tionen, sondern die kilometerlangen Tunnelsysteme unter Vietnam bilden. Waren diese eine mystische Botschaft oder nur Kriegstaktik? Dieser tiefere Sinn wurde von den Amerikanern jedoch nicht entziffert, sondern in die Luft gejagt. Seither fliegen wir Menschen, so die Botschaft von Johnsons Roman, als Trümmer durch die Sinnleere der Welt.

Selbst der Sex wird im Buch nicht mehr als rettende Umarmung geschil-dert, sondern als zufälliger Schnittpunkt zweier Menschen. Durch Johnsons gewaltige Erzählkraft verführt, merkt man als Leser zuletzt voll Beklemmung, dass er uns in die radikale Einsamkeit gelockt hat: Auch wir verfehlen uns Tag für Tag genauso wie die Figuren im Roman. Die US-Apokalypse hat das ABC zerrissen, und eine Grammatik der Sinn-losigkeit verfälscht alle Nachrichten. Das erlebt man beim Lesen am eigenen Leib. ●Stefan Zweifel lebt als Publizist, Über set zer und Journalist in Zürich. Er ist Mitglied des «Literaturclubs» von SF.

Amerikanische Soldaten warten auf die Evakuierung; 1968 in Khe Sanh, Süd-Vietnam.

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Autor eines famosen Wenderomans: Ingo Schulze in seiner Ostberliner Wohnung.

Ingo Schulze: Adam und Evelyn. Berlin-Verlag 2008. 317 Seiten, Fr. 32.90.

Von Andreas Isenschmid

«Buy one, get one free» – das olle Man-tra der amerikanischen Werbung wird in Ingo Schulzes Roman «Adam und Eve-lyn» höchstvergnüglich wahr: Man liest, mitgerissen von ihrem Tempo, diese Geschichte und sieht «for free» zugleich den zauberhaften Film vor sich, zu dem sie gewiss werden wird. Das liegt an ihrer Stimmung, die an die so leichten und beziehungsreichen Sommerfilme Eric Rohmers erinnert. Doch es liegt, mehr noch, an Schulzes Schreibart.

Sein Roman besteht fast nur aus dem fabelhaft geschnittenen Pingpong qui-cker Dialoge, dargeboten in der raschen Folge kurzer Kapitel. Wo Schulze Be -schreibungen einsetzt, sind es nicht die üppigen Mengen stilistischen Fertigdres-sings, mit denen uns andere Sonnenauf-gänge, «flirrende» Luft und ähnlichen Kokolores vorgaukeln – Schulze lenkt mit zwei Strichen seines Skizzenstifts die Augen in die richtige Richtung und setzt die Ohren instand, den Dialogen zu folgen, mehr nicht. Jeder seiner Sätze ist knackig wie Frischgemüse, keiner stilis-tischer Bluff. Schulze erzeugt mit einem Minimum gut gesetzter Wörter ein Maximum an Sinn und Sinnlichkeit, was umso mehr zu bewundern ist, da dieser Autor auch anders kann: Sein Wälzer «Neue Leben» exzellierte (und wie!) in schwerer deutscher Rinderbraten-mit-Sauce-Prosa.

Zwei Ossis im WestenDoch dieses Mal musste es anschauliche Knappheit sein, diese Geschichte muss-te vor einem vorbeifliegen wie der wehende Schal einer schönen Kabrio-fahrerin. Denn Schulze erzählt, wie einige Liebespaare, bestehend aus drei Ostdeutschen, bisweilen begleitet von einigen Ungarn und einem Westdeut-schen, den Spätsommer 1989 inklusive Mauerfall erleben. Ein Wenderoman also, diese sagenumwitterte Deponie zur Endlagerung schwer bedeutungsstrah-lenden deutschen Epochenumbruch-mülls. Schulzes bewundernswerte Leis-tung ist es, dass er alle Zutaten des famo-sen Wenderomans bietet – mit Ausnah-me der Schwere.

Der erste Kniff, den er dabei anwen-det, ist, dass er seine Figuren aus Ost-deutschland wegschickt. Berlin kommt nicht vor, keiner taumelt durch die Mauer und sagt «Wahnsinn». Schulze schickt sein Personal in einem Road-movie erst via Prag nach Ungarn an den Plattensee, dann über Österreich und

Zürich nach München. Der Effekt ist, dass das Politische keine unmittelbare Gegenwart hat. Es grollt sozusagen am fernen Horizont. Es schleichen keine Stasi-Agenten durch die Seiten, man muss auf keine Montagsdemo. Vom Mauerfall zum Beispiel erfahren Schulzes Helden am Zürcher Bürkliplatz mitten in einem Gespräch über Luxemburgerli.

Natürlich greift das Politische den-noch nach den Herzen unserer in den Westen reisenden Ossis. Aber – und das ist Schulzes zweiter feiner Kniff – es steht dort in Konkurrenz zur Liebe. Zur Hauptsache ist dieser Roman nämlich die Geschichte des Damenschneiders Adam und der verhinderten Studentin und realen Kellnerin Evelyn, ihres Zu -sammenseins (in Ostdeutschland), ihrer Trennung (in Ungarn) und ihrer Wie-dervereinigung (im Westen, wo sie auch bleiben). Sie hat ihn in flagranti bei sei-nem Hobby, Sex mit Kundinnen, ertappt und reist ihm, wie damals Abertausende Ostdeutscher, flugs nach Ungarn davon. Er ihr in seinem liebevoll wie eine Romanfigur geschilderten alten Wart-burg hinterher.

Es stösst eine Katja hinzu, es geht eine Mona über Bord, und es legt sich auch ein Wessi namens Michael der schönen Evelyn ins Bett. All das spielt als verzau-bertes amouröses Sommerstück in duf-tigen Nächten und tropischen Tagen an den Ufern des Plattensees. Es erinnert in seinen Symmetrien, Spiegelungen und Reprisen an ein Ballett des Dix-Huitième.

Alles, was schwer werden könnte, bleibt bei Schulze doppeldeutig und in der Schwebe. Die Entscheidung, zu gehen oder zu bleiben, ist für jede der Figuren zugleich eine private Liebes- und eine politische Lebensfrage.

Schön, doch etwas gar leichtUnd dann ist da noch das Paradies. Schulze begann diesen Roman als Bei-trag zu einer Reihe des Berlin-Verlags mit Neugestaltungen mythischer Stoffe. Er sollte und wollte die Geschichte von Adam und Evas aufs Neue erzählen. Sehr wörtlich hat er diesen Auftrag zum Glück nicht genommen. Aber wie er zwischen und auf den Zeilen stets mit dem Stoff der Schöpfung, des Paradieses, des Sündenfalls und der Vertreibung flirtet, trägt nicht wenig zur Schönheit seiner Geschichte bei.

Ein Einwand sei nicht verschwiegen. Schulze ist seiner Leichtigkeit leider auf den Leim gegangen. Die Bedeutungshu-berei muss ihm ein solcher Graus gewe-sen sein, dass er seine Figuren zuletzt etwas gar bedeutungsarm angelegt hat. Die durch die Seiten geisternde Katja gibt dem Buch wenig, nimmt ihm aber das Tempo, von dem es lebt. Und Evelyn sagt uns aufs Schönste alles, was sie zu sagen hat, und ist deshalb nicht ganz so interessant wie der bis zum Schluss rät-selhafte Adam. Fazit: Schulze hat ein schönes Buch geschrieben, doch seine anderen Bücher waren noch um einiges schöner. ●

Roman Ingo Schulze hat aus dem erdenschweren Stoff eines Wenderomans ein amouröses Sommerstück gemacht

Als die Mauer fiel, sprachen sie über Luxemburgerli

Belletristik

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Rebecca Miller,Regisseurin, Schrift-stellerin und TochterArthur Millers.

28. September 2008 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7

Rebecca Miller: Pippa Lee. Aus dem Amerikanischen von R. Böhnke. Fischer, Frankfurt a. M. 2008. 368 S., Fr. 34.90.

Von Afra Gallati

Die 46-jährige Amerikanerin Rebecca Miller, Malerin, Schauspielerin und Re -gis seurin, hat nach Kurzgeschichten ihren ersten Roman geschrieben: «Pippa Lee», der nun auch auf Deutsch vorliegt. Hinter dem peppigen Titel versteckt sich das detaillierte Porträt einer Frau, die nicht weiss, was sie will. Das Leben der gut 50-jährigen Pippa Lee ist perfekt. Sie hat in Herb den Mann ihrer Träume gefunden, einen um Jahre älteren, erfolg-reichen Verleger. Sie hat zwei erwachse-ne, problemlose Kinder. Und sie hat ein neues Haus in Marigold Village, unweit von New York, einer Senioren-Siedlung. «Dieser Ort hatte alles: Schwimmbad, […] kleine Shoppingcenter, […] Sexual-therapeuten.» Das mag wie eine Endsta-tion klingen, scheint für Pippa aber ein Ort der Ruhe zu sein, nach einem wilden und unbeständigen Leben.

Doch lauern hinter der einwandfreien Fassade von Marigold Village Lug, Betrug, Intrige. Pippa langweilt sich zunehmend und gerät ausser Kontrolle. Sie beginnt zu schlafwandeln, dabei Schokoladenkuchen und Erdnussbutter in sich hineinzustopfen und zu rauchen. Sie lebt in den dunklen Nächten aus, was sie tagsüber nicht mehr darf. Und dann ist da noch Chris, der Sohn einer Bekannten Pippas. Chris stört als ver-rückter, barscher, junger Mann die Alters-idylle. Er hat keinen Job und will sich gar

nicht einfügen in das scheinbar perfekte Leben der Seniorensiedlung. Dieser Chris löst in Pippa Erinnerungen an ihre eigene Vergangenheit aus.

Pippa wuchs bei Eltern auf, die Sinn-bild für ihre Zerrissenheit sind. Sie hatte eine besitzergreifende, tablettensüch-tige Mutter und einen Vater, der Pfarrer war. Nachdem sie als Teenager beim Sex mit einem Lehrer erwischt worden war, floh sie zu ihrer lesbischen Tante Trish nach New York. Die darauffolgenden Jahre wilder Exzesse erlebte Pippa wie in einem Traum: Drogenkonsum, wilde Partys, kaputte Beziehungen. Bis sie auf den älteren Herb traf, der Aussicht auf ein ruhigeres und beständigeres, aber auch bürgerliches Leben versprach. Pippa hoffte, ihr Glück gefunden zu

haben: «Als ich Herb heiratete, schlüpfte ich in eine neue Haut, es war meine letz-te Chance, ein guter Mensch zu sein.» Doch dieses vermeintliche Glück ist nicht von langer Dauer. Das Schlafwan-deln und der Appetit auf Schokolade, Erdnussbutter und Zigaretten sind nur die Vorboten weiterer Veränderungen. Pippa hat sich etwas vorgemacht.

Mit «Pippa Lee» zeigt Rebecca Miller, dass sie es mit ihrem Vater, dem Schrift-steller Arthur Miller, durchaus aufneh-men kann. Auch wenn der 360 Seiten lange Roman keine grosse Literatur ist und zuweilen ins Klischeehafte ab -rutscht, porträtiert die Autorin Pippa glaubhaft als eine widersprüchliche Frauenfigur, die gezwungen ist, ihr bis-heriges bürgerliches Leben aufzugeben und nochmals auf den Kopf zu stellen.

Das Buch überzeugt inhaltlich nicht immer, sprachlich aber schon. Einer-seits, weil Miller Pippas Vergangenheit bunt ausmalt und damit einen klaren Gegensatz zur grauen Gegenwart schafft. Andererseits erinnern ihre genauen Beschreibungen aus einer küh-len Distanz sowie die knappen, nüch-ternen und ironischen Dialoge an Film-szenen. Damit überlässt die Autorin dem Leser die Rolle eines Beobachters, der an Pippas kaputtem Leben, an ihrer Suche nach dem Glück sowie am ver-meintlich gefundenen Glück teilhaben kann. Das Buch richtet sich an Frauen mittleren Alters, da Miller mit Pippa eine Figur kreiert hat, die deren alltäg-lichen Ängste, Hoffnungen und Träume kennt. Und weil sich Pippa jene Fragen zum Leben stellt, die sich wohl auch die bald ebenso alte Autorin gestellt hat. ●

Roman Eine 50-jährige Frau auf der Suche nach dem «perfekten» Zuhause rutscht ins alte Chaos

Böses Erwachen aus dem vermeintlichen Glück

Thomas von Steinaecker: Geister. Mit Comics von Daniela Kohl. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2008. 204 Seiten, Fr. 35.90.

Von Regula Freuler

Wer sich so intensiv mit Literaturtheo-rien beschäftigt wie der promovierte Thomas von Steinaecker, kommt wohl nicht um die Versuchung herum, die üblichen Grenzen des Literarischen zumindest anzukratzen. Dass in diesem Fall daraus nicht trockene Konzeptlite-ratur resultiert, ist der unprätentiösen Sprache von Steinaeckers zu verdanken. Bereits in seinem Début, «Wallner be -ginnt zu fliegen», das 2007 mit dem As -pekte-Literaturpreis ausgezeichnet wur-

de, zeigte sich der Autor als Freund post-moderner Collage von Genres und Kunst-sparten wie Kino, Fernsehen, Popmusik. Als einer, der die Trennlinie zwischen Fakten und Fiktion gerne hinterfragt.

In «Geister» legt von Steinaecker nach, indem er die Zweifel am hundert-prozentig zuverlässigen Bewusstsein in den Kopf seines Protagonisten Jürgen verlegt. Dessen Geschichte beginnt, als er Teenager ist. Es wird ein Film über das Schicksal seiner älteren Schwester gedreht, die verschwand, als Jürgen noch ein Baby war und der darum keine Erin-nerung an sie hat. Wie ein Geist schwebt die Hoffnung über der bürgerlichen Familie, Ulrike lebe noch. Und wie ein Geist fühlt sich Jürgen, der sich gedank-lich «wegbeamt» oder in Rollenspiele verfällt, wenn das Geschehene wieder

einmal zu schwer auf ihm lastet. Man folgt Jürgen durch die Schule, die Ehe, die Scheidung, den Jobwechsel, bis er als Physiotherapeut in einer Wellness-Klinik am Chiemsee von der Comic-Zeichnerin Cordula überrumpelt wird. Sie will ihn als Figur verwenden. Er stimmt zu und lässt sich in eine Parallel-welt verführen. Fortan ergänzen Daniela Kohls Comics in kräftigen Farben und strenger Ligne claire den Text.

Was sich lange einfach nur wie eine traurige Geschichte liest, nimmt zuletzt eine unerwartete Wendung. Nicht, dass sich von Steinaecker zu einem aufge-pfropften Happy End hinreissen liesse. Aber er zeigt auf behutsame Weise, wie einer, der alle Hoffnung für seine abwe-sende Schwester aufgebraucht hatte, neu Mut fasst. ●

Roman Von einem, der auszog, sein Kindheitstrauma zu überwinden

Kommt die Schwere, «beamt» er sich weg

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Die junge Frau scheint ganz entspannt in der Sonne zu liegen und zu schlafen, als wäre es das Alltäg-lichste auf der Welt, dass ihr Becken bis auf die Scham bandagiert ist und Kaktusfrüchte neben ihr liegen. «Der gute Ruf, schlafend», so der Titel des Bildes, wurde mit seiner Vieldeutigkeit zu einer Ikone der mexikanischen Fotografie und ihres Schöpfers Manuel Alvarez Bravo. Dem Meister der zarten Grau-Abstufungen des Lichts gerät alles zu Poesie und Sinnbild. Ein Schilfrohr greift vor dem Himmel nach einer Fernsehantenne. Ausgeschnittenes Papier wirft ornamentale Schattenmuster an eine Wand.

Gleichwohl weicht der Fotograf, dessen Lebensdaten von 1902 bis 2002 das Jahrhundert der Moderne umspannen, keineswegs vor der Wirklichkeit aus. Ein streikender Arbeiter, der ermordet in seinem Blut liegt, wurde zu seinem berühmtesten Bild. Aber Alvarez Bravo liebt sein Land, und mit dieser Hingabe verzaubert er die einfachsten Dinge. «Photopoetry» stellt das Werk des grossen Mexikaners erstmals umfassend vor. Gerhard MackManuel Alvarez Bravo: Photopoetry. Schirmer/Mosel, München 2008. 336 Seiten, 374 Tritone-Abbildungen, Fr. 97.90.

Mexikanische Fotografie Zauber in Bildern

Sylvia Plath: Ariel. Englisch und deutsch. Ursprüngliche Fassung. Übersetzt von Alissa Walser. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008. 232 Seiten, Fr. 41.50.

Von Angelika Overath

Am Morgen des 11. Februars 1963 – ihre zwei kleinen Kinder schlafen noch und sie hat ihnen Milch hingestellt – nimmt sie Schlaftabletten und steckt ihren Kopf in den Backofen des Gasherds. Es ist nicht ihr erster Versuch, sich das Leben zu nehmen. Aber wollte sie wirk-lich sterben? Oder hoffte sie, weil sie so mutig war, das Dasein doch noch einmal geschenkt zu bekommen? Auch Katzen haben neun Leben. Sicherheitshalber legt sie einen Zettel mit der Telefon-nummer ihres Arztes auf den Küchen-tisch.

Sylvia Plath ist 30 Jahre alt gewor-den. Auf ihrem Schreibtisch fand man einen schwarzen Klemmhefter mit vier-zig druckfertigen Gedichten, geordnet unter dem Titel «Ariel». Ihr Mann, der Schriftsteller Ted Hughes, von dem sie getrennt lebte, der sie aber finanziell weiter unterstützte und sie und die Kin-der fast täglich besuchte, entschliesst sich, aus dem Manuskript «das best-mögliche Buch» zu machen. Er nimmt dreizehn Gedichte heraus, die Angehö-rige und Freunde verletzen könnten, oder auch nur Texte, die er schwächer findet, und ersetzt sie durch neuere, ebenfalls noch ungedruckte Gedichte. 1965 erschien seine Auswahl in England, ein Jahr später mit leichten Varianten in den Vereinigten Staaten. 1974 kam diese Ausgabe in der Übersetzung von Erich Fried auch auf den deutschen Buch-markt.

Spätestens mit «Ariel» wurde Syl-via Plath zu einer Ikone der modernen anglo-amerikanischen Lyrik. Als Ted Hughes 1982 ihre «Collected Poems» edierte, druckte er auch die Inhaltsliste der ursprünglichen «Ariel»-Auswahl im Anhang und setzte sich mit seinem nun offensichtlichen Eingriff der massiven Kritik aus. Erst nach Hughes’ Tod im Jahr 2004 erschien die von Sylvia Plath ursprünglich gewünschte Fassung des Bandes in England; nun liegt sie in der Übersetzung von Alissa Walser auch auf Deutsch vor, ein in sich stimmig kom-ponierter Kosmos aus einem radikalen Frauenleben.

Man hat, was Sylvia Plath schreibt, gerne autobiografische Lyrik genannt. Das ist richtig. Sie selbst sprach von «Bücher & Babys & Boeuf Bourguig-non», dem unbarmherzigen Anspruch, eine grosse Schriftstellerin, eine wun-derbare Mutter (und Tochter!) und eine perfekte Hausfrau zu sein. «Ariel» ent-

stand in einer Zeit, als sie sich nicht nur als überforderte, sondern auch noch von ihrem Mann betrogene Frau sah. Aber gerade der Versuch einer thematischen Paraphrase bleibt blass, denn das, was in diesen Texten geschieht, sind Erdbe-ben der Sprache, für die ein Ehebruch höchstens ein passender Auslöser war. Diese Lyrikerin ist sprachreitend unter-wegs auf ihrem Lieblingspferd «Ariel», eine Löwin Gottes, ein zu Weizen auf-schäumender Glanz, ein Pfeil, herrlich und suizidal.

Alissa Walser ist eine ausgewiesene Übersetzerin und überträgt texttreuer als Erich Fried. Und doch gelten beim Übertragen von Lyrik andere Gesetze als in der Prosa. An manchen Stellen wäre ein kühnerer und sinnlich ver-lässlicherer Zugriff möglich gewe-

sen. Und manchmal glättet sie den wilden Text. Warum werden Heilige «frostblau», wenn im Text nur steht: «Inside the church, the saints will be all blue»? Warum mutiert die englisch zischende Zeile «An engine, an engi-ne» im Deutschen in eine erklärende Variation «Eine Maschine, ein Zug»? Es gibt rhythmisch-stilistische Unbe-holfenheiten: «Eine Krankenschwester bringt / Einen grünen Drink, eine einen blauen» für das Englische: «One nurse brings in / A green drink, one a blue.» Und doch liegt hier dankenswerterwei-se erstmals eine zweisprachige Aus-gabe der Originalfassung von «Ariel» vor, die einen heftigen Eindruck von der todesmutigen Lebenswut und dem Wortglück einer unwahrscheinlichen Lyrikerin gibt. ●

Lyrik Die neue Übersetzung von Sylvia Plaths Gedichten ist texttreu und spiegelt ein radikales Frauenleben

Über die Lebenswut einer Autorin und das Beben ihrer Sprache

Belletristik

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28. September 2008 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9

In die Geisterbahn gestiegen und verschwunden: Judith Kuckarts Krimi ist auch ein Liebesroman. Hier: Wiener Prater.

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Judith Kuckart: Die Verdächtige. Dumont, Köln 2008. 287 Seiten, Fr. 35.90.

Von Manfred Papst

Robert Mandt arbeitet als Kriminal-hauptkommissar beim Morddezernat in einer Kleinstadt. Eines Tages taucht eine seltsame Frau bei ihm auf. Marga Burg heisst sie, ist Ende dreissig wie er selbst und gibt eine Vermisstenanzeige auf. Vor zwei Wochen sei der Mann, den sie liebe, verschwunden, sagt sie; auf dem Rummelplatz sei er allein in die Geisterbahn gestiegen und seither nicht mehr aufgetaucht. Robert ist fas-ziniert von der kühlen, undurchschau-baren Frau und nimmt sich des Falles an, obwohl dieser eigentlich nicht in seinen Bereich gehört. Zusammen mit seiner jungen Kollegin Nico ermittelt er im Umfeld des Verschwundenen. Dabei stösst er immer wieder auf Marga selbst, die offensichtlich mehr weiss, als sie sagt, und die für ihn alsbald von der Zeugin zur Verdächtigen wird. Das macht sie indes nur noch faszinierender. Lässt der Fall ihn nicht mehr los, oder ist es Marga selbst? Die beiden Aspekte lassen sich nicht trennen.

In Robert und Marga treffen sich zwei verlorene Seelen. Robert ist ein kluger, sensibler Mann, der an rechtsmedizi-nischen Fachtagungen Vorträge hält (besonders über die sogenannte «Kälte-idiotie», das Phänomen, dass Erfrieren-de Wärme verspüren und ihre Kleider ablegen); zudem sieht er aus wie George Clooney. Das hat seine Ehe jedoch nicht retten können. Seine Frau hat ihn gerade verlassen. Er wohnt nun allein im gemeinsam erworbenen Eigenheim und fühlt sich schlecht. Zwar «funktio-niert» er, doch hinter seiner Fassade ist er ein Melancholiker. Er leidet stumm in sich hinein. Bob Dylans wöchentliche «Theme Time Radio Hour» dient dabei als Soundtrack seiner Seele.

Abgründe der SehnsuchtIn dieser Verfassung begegnet er Marga, deren Leben nicht weniger verschattet ist als seines: Eigentlich hat sie Reli-gionswissenschaft studiert, aber sie versieht eine öde Büroarbeit im Stras-senverkehrsamt. Seit dem Tod ihrer Eltern lebt sie zusammen mit ihrem Bruder, einem esssüchtigen, halbinfan-tilen Wesen, sowie einer Katze in einer völlig verwahrlosten Wohnung, die sie aber stets proper und adrett verlässt. Während Robert in seiner Not doch noch seinen Alltag bewältigt, lässt sie sich treiben: An ihrem Arbeitsplatz erscheint sie nicht mehr, dafür hilft sie bei der Geisterbahn, die ihren Gelieb-ten angeblich verschluckt hat, als «kalte

Hand» aus. Sie taucht auf, verschwindet, ist überall und nirgends.

Subtil, raffiniert und doch ganz unan-gestrengt führt Judith Kuckart diese bei-den einsamen Figuren zusammen – und lotet dabei alle Abgründe der Sehnsucht, des Begehrens und der verletzten Liebe aus. Dabei vergisst sie den Plot ihres Kriminalromans jedoch keineswegs. Das Buch bleibt spannend bis zum Schluss – auch wenn die Autorin sich um einige Gesetze des Genres souverän foutiert. Sie legt zum Beispiel falsche Fährten oder bleibt ausführlich bei Details, die für den Fall keine Rolle spielen. Ihre Geschichte ist jedoch so sorgsam gebaut, dass sie auch als «Fall» überzeugt und noch im letzten Satz mit einer überra-schenden Wende aufwartet.

Das alles ist indes nicht das Entschei-dende. Was Judith Kuckarts Prosa zum beglückenden Erlebnis macht, sind ihre funkelnden Formulierungen. Sie hat eine unverwechselbare Handschrift. Sie bemerkt zum Beispiel, dass die Regen-tropfen «schnelle Schneckenbahnen» über das Glas ziehen. Das widersprüch-liche Bild hakt sich fest. Oder sie lässt Marga ihren verschwundenen Geliebten auf dem Polizeiposten wie folgt schil-dern: «Er trägt meistens weisse Anzüge, die er selber bügelt, und ist Filmausstat-ter.» Das Detail mit den selbstgebügelten Anzügen spricht Bände. Judith Kuckart fällt es auch auf, wenn eine Tür Risse hat, weil sie so oft zugeschlagen wurde. Den Bruder Margas charakterisiert sie mit der Beobachtung, dass er sich immer

noch hinsetzt, um die Turnschuhe zu binden. Marga selbst lässt sie auf dem Schreibtisch liegen und beglückt ihren nackten Fuss beobachten, «der aufge-regter war als sie». Ein Revolver wird angefasst «wie Puppen, die einem nicht gehören». Für Robert sind Therapeu-ten Leute, «die für viel Geld schlafende Hunde weckten, um sie dem, der dafür bezahlt hatte, auf den Hals zu hetzen». Und wenn er sich davonmachen will, heisst es, er wolle «verschwinden wie eine Faust, wenn die Hand sich öffnet».

Geniale AssoziationenSolche Formulierungen begegnen uns bei Judith Kuckart auf buchstäblich jeder Seite. Gleichwohl kippt ihr Text nicht ins Preziöse. Ihr Sprachfluss ist ganz natürlich. Sie schaut einfach genauer hin als andere, und zu allem, was sie sieht, fällt ihr etwas Ungewöhnliches ein. Sie ist ein Genie der Assoziation. Ein so aus-geprägter Sinn fürs sprechende Detail kann dem epischen Strom durchaus im Weg sein. Es gibt Autoren, die vor lau-ter Bäumen den Wald nicht mehr sehen. Judith Kuckart gehört nicht zu ihnen. Im Roman «Die Verdächtige» ist ihr eine mehrfache Gratwanderung geglückt. Sie hat einen plausiblen Krimi verfasst und zugleich ein modernes Märchen um zwei verzweifelt Liebende, die man nicht mehr vergisst. Sie hat eine präzise Milieustudie geschrieben und gleichzei-tig Schwermut und Sehnsucht als «con-dition humaine» überzeugend gestaltet. Das ist viel für einen Roman. ●

Roman Judith Kuckart erzählt die Liebesgeschichte zweier verlorener Seelen

Ein Mann verschwindet in der Geisterbahn

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Mit 17 veröffentlichte sie einen Geschich -ten-Band, der sofort verboten wurde:

ebnem I igüzel, 35, türkische Autorin.

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ebnem I igüzel: Am Rand. Aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann. Berlin-Verlag, 2008. 432 Seiten, Fr. 39.90.

Von Marli Feldvoss

Wenn es um die Türkei geht, lassen sich Literatur und Politik nur schwer tren-nen. Das gilt nicht nur für den streit-baren Orhan Pamuk, den kein Litera-turnobelpreis davor schützen kann, vor den Kadi zitiert zu werden, sondern genauso für Vertreter der jüngeren tür-kischen Literatur. So fiel die 1973 gebo-rene ebnem I igüzel den Ordnungs-hütern gleich mit ihrem ersten, im Alter von 17 Jahren veröffentlichten Kurzge-schichtenband in die Hände, der sofort verboten wurde und nur mit schwarzen Seiten zu haben war. Zuvor hatte sie den angesehenen Yunus-Nadi-Literaturpreis erhalten. Ihr dritter, 2005 erschienener Erfolgsroman «Am Rand», der als erstes ihrer Werke ins Deutsche übersetzt wurde, lässt keinen Zweifel daran, dass die Autorin sich keineswegs von öffent-licher Einflussnahme zurückgezogen hat, vielmehr teilte sie deutliche Seiten-hiebe gegen die politischen Verhältnisse in ihrer Heimat aus.

Am Rand von IstanbulAuch anlässlich der deutschen Überset-zung ihres Romans hat sie sich mit der Forderung nach mehr Demokratie und nach Beseitigung der alten Putschver-fassung lautstark zu Wort gemeldet. «Ausser in unserem tiefsten Inneren gibt es nirgendwo ein Paradies.» Um diese bittere Erkenntnis bis in die Tiefen auszuloten, schickt I igüzel ihre beiden Protagonistinnen, Leyla und Yıldız, geradewegs in die Hölle. Die herunter-gekommene, missbrauchte Leyla hat es bis zur Königin des Müllbergs – Haupt-schauplatz des Romans – gebracht, wäh-rend die in der bürgerlichen Gesellschaft verbliebene Yıldız dem Wunsch hinter-herjagt, sich als Schriftstellerin zu ver-wirklichen und eine Biografie des Diri-genten Karacan zu schreiben.

Leyla war in der Vergangenheit eine begabte Schachspielerin aus gutem Diplomatenhause, die Ende der sech-ziger Jahre mit ihren Eltern nach Mos-kau übersiedelte, ein Wunderkind, das beim Weltmeister Michail Botwinnik in die Schule ging und gegen Garri Kas-parow und Anatoli Karpow antrat. Als sie später als Vollwaise nach Hause zurückkehrte, weil ihre Eltern einem ominösen «Verkehrsunfall» zum Opfer fielen, hatte der Militärputsch vom 12. September 1980 die Türkei in eine Mördergrube verwandelt. Leyla wurde verhört, beschattet und landete irgend-wann auf der Strasse – eine Aussteige-rin, eine Gebrochene, die aber tief im Innern ihre Integrität bewahrte.

Yıldız’ Werdegang ist weniger aben-teuerlich. Sie wird in einem Selbstbe-hauptungskampf gegen das, was hier

«Muttergespenst» genannt wird, aufge-rieben und driftet langsam, aber sicher in üble Gewässer ab. Von Yıldız bleibt nur die Fassade einer bürgerlichen, von innen her längst ausgehöhlten Existenz übrig; sie ist in gewissem Sinne das äusserlich unversehrte, aber innerlich verderbte Spiegelbild der körperlich geschundenen, seelisch aber rein gebliebenen Leyla.

Phantastischer Realismusebnem I igüzel führt die beiden Lebens-

geschichten in alternierenden Kapiteln parallel – die geraden Kapitelzahlen ge -hören Yıldız, die ungeraden Leyla. Wie in einem Schachspiel lässt sie beide Zug um Zug vorrücken, bis Leyla tot und Yıldız verschwunden ist. Wenn man sich den Roman als ein Schachspiel vorstellt, wie die Autorin es empfiehlt, tritt der eigentliche Sinn des Schachspiels deut-lich vors Leserauge: der Krieg zwischen zwei Personen mit dem Ziel, das Ego des anderen zu vernichten.

Aber hier ist das Terrain des Schach-spiels nicht der personalisierte Krieg zwischen zwei Frauen, die sich nie be -gegnen, sondern eine gewalttätige, fa -schis tische Gesellschaft, auf die nicht nur mit allegorischem Nachdruck, son-

dern auch mit konkreten Namen und Daten verwiesen wird. I igüzel zeichnet mit der Wortgewalt des phantastischen Realismus eine barocke, grausame, bis an die Grenzen des Darstell baren ge -hende Welt des Schreckens, die gerade-wegs einem Horrorfilm oder auch einem Comic entsprungen scheint, letztlich eine Karikatur (die Autorin hat früher als Karikaturistin gearbeitet!), die den Bezug zur Wirklichkeit nie ganz verliert. Neben symbolisch aufgeladenen Figuren stehen bekannte wie Hitler, Schiwago oder auch Karacan – eine Anspielung auf den Dirigentengott Karajan.

Die Gestalten, die auf den Müllhalden der Millionenstadt Istanbul hausen oder im Untergrund ihren schmutzigen Or gan- handel betreiben, sind die Opfer oder auf schreckliche Weise die Gewinner einer Gesellschaft, der jegliche Wertmassstäbe oder so etwas wie Moral abhandenge -kommen ist. Wenn die Autorin ihre Leser dann zum Schluss mit einem langen, aus fingierten Interviews bestehenden An -hang ins vermeintliche Vertrauen zieht und sie auffordert, ihr Buch doch als «autobiografischen Roman» oder als eine Art Tatsachenbericht zu lesen, bricht nur noch kaltes Entsetzen aus. ●

Frankfurter Buchmesse: Türkei Überlebenskampf von Frauen in einer gewalttätigen Gesellschaft

Königin des Müllbergs

Belletristik

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Kurzkritiken BelletristikErinnerungen Günter Grass schrieb eine Hommage an sich selbst

Väterchen Eitelkeit

Christoph Meckel: Wohl denen die gelebt. Erinnerung an Marie Luise Kaschnitz. Libelle, Lengwil 2008. 64 Seiten, Fr. 30.90.

Um die einstmals berühmte deutsche Lyrikerin und Erzählerin Marie Luise Kaschnitz (1901–1974) ist es still gewor-den. Höchst willkommen ist deshalb ein Bändchen, in dem der Dichter Christoph Meckel der so klugen wie soignierten Grande Dame gedenkt. Als junger Autor hatte er ihr Gedichte geschickt und sie auf ihrem schlossartigen Familiensitz in Bollschweil, später auch in Frankfurt und Rom besucht. Mit Emphase und Takt nähert er sich der Ehrfurcht erhei-schenden, zugleich aber auch schon ein wenig schrulligen Figur. Er denkt sich in die Begegnungen von damals hinein, sieht nochmals genau hin, hört aufmerk-sam zu. So gelingt ihm aus der Distanz von über drei Jahrzehnten ein einfühl-sames Porträt. In einigen Passagen ist es etwas preziös geraten; dennoch liest man es gern und stellt es im Regal neben Meckels meisterliche Erinnerungen an Johannes Bobrowski.Manfred Papst

Liebesbriefe grosser Männer. Hrsg. Sabine Anders, Katharina Maier. Marix, Wiesbaden 2008. 254 Seiten, Fr. 9.50.

Es war bloss eine Frage der Zeit, bis die Verlage die Idee vermarkteten: Im Kino-film der TV-Kultserie «Sex and the City» sitzt Carrie im Bett mit ihrem Verlobten und schwärmt von einem Buch mit Lie-besbriefen grosser Männer. «Ewig Dein / ewig mein / ewig uns», zitiert sie Beet-hoven. Schmacht! Das Buch, das Briefe von 46 Autoren von Plinius d. J. über E. A. Poe und Pessoa bis Tucholsky ent-hält, birgt neben viel Schwülstigem auch schmallippige Geständnisse – und lusti-ge Formulierungen. Heinrich Heine grüsst alias «Nebukatnetzar II., ehema-liger königlich preussischer Atheist, jetzt aber Lotosblumenanbeter». Napo-leon richtete seine Küsse auch an José-phines Schosshund aus. Und Victor Hugo fand die treffenden Worte: «Man muss sich lieben, und dann muss man es sich sagen, und dann muss man es sich schreiben, und dann muss man sich auf den Mund küssen und auf die Augen und anderswohin.»Regula Freuler

Peter K. Wehrli: Katalog von Allem. Vom Anfang bis zum Neubeginn. Ammann, Zürich 2008. 534 Seiten, Fr. 44.90.

Seit 1968 arbeitet der Zürcher Autor Peter K. Wehrli, der drei Jahrzehnte lang Kulturredaktor beim Schweizer Fern-sehen war, an seinem Opus magnum. Es ist ein so faszinierendes wie eigen-williges Konvolut von literarischen Schnapp schüssen. Der Legende nach begann Wehrli das Buch, weil er auf einer Reise nach Beirut den Fotoapparat vergessen hatte und nun quasi mit Wor-ten fotografierte. Seither hat er sein Werk immer wieder erweitert. Mittler-weile umfasst es 1697 streng kompo-nierte Einträge, die stets aus einem titel-gebenden Wort und einem Relativsatz bestehen. Man kann in Wehrlis dichte-rischer Topografie einzelne Reisen –nach Rumänien, Brasilien, zu den Azo-ren, ja sogar nach Bülach – unterneh-men, aber auch auf eigene Faust oder mit Hilfe des mehrfachen Registers kreuz und quer in ihm herumhüpfen. So oder so ist das Buch eine originelle, ergiebige und amüsante Sehschule.Manfred Papst

John Grisham: Berufung. Thriller. Aus dem Amerikanischen von Bernhard Liesen u. a. Heyne, München 2008. 464 S., Fr. 34.90.

«Wenn Ihnen das Urteil nicht passt, kau-fen Sie sich doch einfach einen eigenen Berufungsrichter!» So ungefähr fasste die «New York Times» den neuen Polit-thriller des vielleicht berühmtesten Juristen der Welt zusammen. Und tat-sächlich: Als mögliche Chronik darüber, wie die politische Rechte im Dienste des Grosskapitals das amerikanische Justiz- und Wahlsystem pervertiert, ist Gri-shams neuer Roman atemberaubend – präzis, zügig, informativ und erschre-ckend glaubwürdig. Nur die Figuren, die als Täter und Opfer eines Chemieskan-dals in einer Kleinstadt in Mississippi agieren, bleiben Pappkameraden, und die Beziehungsfäden, die sie zusammen-halten, eine Drehbuchskizze. Offen-sichtlich war der Bestsellerautor mehr von aufklärerischem als literarischem Furor getrieben. Man verzeiht ihm die Mängel aber gerne – und wartet mit Vor-freude auf die Verfilmung.Pia Horlacher

28. September 2008 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11

Günter Grass: Die Box. Dunkelkammergeschichten. Steidl, Göttingen 2008. 222 Seiten, Fr. 32.90.

Von Paul Jandl

Milde urteilt die Geschichte über den grossen alten Mann der deutschen Lite-ratur – kein Wunder, denn sie ist von ihm selbst geschrieben. «Die Box» nennt Günter Grass sein neues Buch und sich darin ein «Väterchen». Ist es der Reflex eines Gekränkten, dass er nach «Beim Häuten der Zwiebel» ein Märchen schreibt, den «Zeitungsfritzen» die lange Nase dreht, weil ihnen das Be -kenntnis, er sei bei der Waffen-SS gewe-sen, allzu spät kam?

Die Box, von der der Titel spricht, ist eine Agfa-Kamera der dreissiger Jahre, die Wunderdinge kann. In den Händen des fotografierenden Mariechens schaut sie nicht nur in die Vergangenheit, son-dern auch in die Zukunft. Ein Orakel von Telgte ist dieser Apparat, der alles weiss, und uns doch nicht sagen kann, was diese eitle und vorzugsweise redun-dante Prosa bedeuten soll.

«Die Box» will eine Hommage an Grass’ langjährige Leibfotografin Maria Rama sein und ist doch eine Hommage an ihn selbst. Im Auftrag des Schrift-stellers, so die Fiktion, kommen die acht Kinder der Grassschen Patchwork-familie immer wieder zusammen und erzählen in einem sonderbaren Sozio-lekt ewiger Pubertät, wie es so war mit dem «Väterchen», auch «Vatti» genannt. Einen Roman nach dem anderen hat der «in der Mache», «viel Knete» verdient er damit und kauft sich Häuser davon. Hat sich der Schriftsteller nicht genü-gend abgerackert mit Geschichten-Erfinden, hat «paar scharfe Briefe ge -schrieben gegen den Mauerbau» damals, sich dann in der «Espede» en gagiert? «Konnte doch jeder von uns mitkriegen,

wie er alles, was er erlebt hat, später voll abarbeiten musste. Die

ganze Nazi-Scheisse rauf-runter.»

Selten nur kommen kri-tische Stimmen aus dem Kreis der Kinder, die über das abenteuerliche und mitunter ziemlich uner-quickliche Familienleben

gewiss mehr zu sagen ge -habt hätten. Den zaghaften

Protest der Söhne und Töchter, eigener wie angehei-

rateter, formuliert der Vater selbst: «Er denkt sich

uns einfach aus!» Günter Grass all -mächtig, auf dem Gipfel seines Ruhms. ●

EPA

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Interview

Orhan Pamuk

Orhan Pamuk (56) gehört zu den radikalsten, verspieltesten und seit dem Nobelpreis 2006 erfolgreichsten Autoren der Türkei. Aufgewach-sen in einer europäisch geprägten Grossfamilie in Istanbul, kritisierte er vor drei Jahren den türkischen Genozid an den Armeniern. Nationa-listen riefen zur Verbrennung seiner Bücher auf. Ein Prozess gegen ihn wegen «Beleidigung des Türkentums» wurde auf Druck der EU fallen-gelassen. Sein soeben auf Deutsch erschienenes neues Buch «Das Museum der Unschuld» (Hanser, 571 Seiten, Fr. 44.90) ist ein grosser Liebesroman über einen jungen Mann aus Istanbuls Oberschicht. Das Interview für die «NZZ am Sonntag» wurde in Pamuks Wohnung in der Hauptstadt geführt. Der Autor lebt in Istanbul und auf einer Insel im Marmarameer.

Nobelpreisträger Orhan Pamuk ist das literarische Aushängeschild der Türkei. Ein Gespräch über seinen neuen Roman «Das Museum der Unschuld» und die politischen Widersprüche eines Landes zwischen Ost und West. Interview: Susanne Schanda

Bücher am Sonntag: Herr Pamuk, Sie stehen unter Polizeischutz, da Sie auf einer schwarzen Liste der Nationalisten aufgeführt sind, die Sie umbringen wollen.Orhan Pamuk: Ich habe Bodyguards, wo immer ich hingehe.

Kürzlich verhaftete die Polizei zahlreiche Mit­glieder der extremistischen Untergrundorgani­sation Ergenekon, die liberalen Personen wie Ihnen nach dem Leben trachten. Ist die Gefahr durch die Verhaftung nun gebannt? Die Regierung rät mir zu Polizeischutz, und ich gehorche, weil ich keine Probleme will. Aber wie kann ich wissen, ob noch andere frei herumlau-fen, die mich umbringen wollen? Ich will nicht weiter über dieses Thema sprechen.

Wie stark hat der Literaturnobelpreis, den Sie vor zwei Jahren erhalten haben, Ihren Alltag ver­ändert?Als mir mein Agent die Nachricht überbrachte, sagte ich zu ihm: Der Nobelpreis wird mein Leben nicht verändern. Aber er veränderte mein Leben sehr wohl. Zuvor wurden meine Bücher in 46 Sprachen übersetzt, jetzt in 58. Ich

habe Millionen von Lesern. Aber meine Arbeits-gewohnheiten veränderte er nicht. Ich erhielt den Preis in der Mitte meiner literarischen Kar-riere. Dies macht mich noch ehrgeiziger, all die neuen Leser in der ganzen Welt zu erreichen.

Hat der Nobelpreis nie ein Gefühl von Unfreiheit bewirkt?Das Einzige, was meine Freiheit einschränkt, sind die Todesdrohungen und die Bodyguards. Aber auch heute spaziere ich mitten in der Nacht durch die Strassen von Istanbul. Ich glau-be, dass Leute, die sich über den Nobelpreis beklagen, anmassend und wichtigtuerisch sind. Der Nobelpreis ist eine tolle Sache. Ich bin dankbar, dass ich ihn erhielt.

Die Türkei geht sehr widersprüchlich mit ihrem prominentesten Schriftsteller um. Noch vor drei Jahren wurden Sie wegen Beleidigung des Tür­kentums angeklagt, jetzt ist die offizielle Türkei stolz, mit dem Nobelpreisträger Pamuk an der Frankfurter Buchmesse vertreten zu sein.Dies zeigt, wie geteilt die politischen Mei-nungen bei den herrschenden Kräften sind. Ein Teil dieser Kräfte will mich ins Gefängnis ste-cken, ein anderer Teil sagt, das wäre nicht gut, denn dann würden wir von Europa und der ganzen Welt kritisiert und bestraft. Es gibt keine einheitliche Türkei. Das betrifft auch die Hal-tung der Türkei gegenüber Europa.

Bei unserem letzten Gespräch im Jahr 2001 sagten Sie, die Türkei sei noch nicht bereit, der EU bei­zutreten, weil sie ihre Hausaufgaben bezüglich Menschenrechten und Reformen nicht gemacht habe. Wie beurteilen Sie dies heute?Die Probleme sind die gleichen. Allerdings hat der Enthusiasmus für einen EU-Beitritt in der Türkei unglücklicherweise abgenommen. Es gibt zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und die Behinderung der freien Meinungs-äusserung. In den letzten sieben Jahren wurden zwar Reformen umgesetzt, dann gab es wieder Rückschläge.

Seltsamerweise hat ausgerechnet eine islamis­tische Partei die Türkei näher an Europa heran­geführt. Wie erklären Sie dies?

So funktioniert Politik. Die islamistische Partei in der Türkei realisiert, dass sie ihren demo-kratischen Sieg gar nicht geniessen kann, wenn sie nicht eine völlig offene Gesellschaft wie in Europa hat. Das heisst nicht, dass die Islamis-ten westlicher orientiert wären als die Säku-laren.

Rund die Hälfte der türkischen Bevölkerung unterstützt die moderat islamistische Partei von Erdo an . . .Genug Politik, Madame!

Nun, ich frage mich, wie Sie als säkularer, libera­ler Intellektueller sich angesichts der Erstarkung einer religiösen Partei fühlen.Die AKP ist zwar eine religiöse Partei, scheint aber doch sehr sorgfältig ihre Schritte zu über-legen und versucht, die Türkei an Europa her-

12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2008

«Ein Leben mit Büchern ist so viel reicher»: Orhan Pamuk, Literatur-Nobelpreisträger, in seiner Stadtwohnung in Istanbul, August 2008.

«Lies alle Bücher!»

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28. September 2008 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13

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anzuführen. Und sie weiss, dass sie selbst sehr sorgfältig beobachtet wird.

Sprechen wir über Ihre Bücher. Im Roman «Schnee» tauchen Sie tief in den Konflikt zwi­schen Nationalisten und Islamisten in einer ost­türkischen Kleinstadt ein. Das Buch hat zu wütenden Reaktionen geführt.Ich bin kein Propagandist. Es ist die Pflicht eines Schriftstellers, seine Figuren zu verstehen, auch wenn diese religiöse Fundamentalisten oder

säkulare Militaristen sind. Darum geht es in der Kunst des Romans. Für «Schnee» habe ich tür-kische, arabische und persische Bücher von Fundamentalisten gelesen. Einige meiner isla-mistischen Leser behaupteten: «Sie können uns gar nicht verstehen, denn erstens sind Sie völlig anders, zweitens zeichnen Sie im Buch einen Islamisten, der zugleich ein Frauenheld ist, das ist gegen den Islam, das gibt es bei uns nicht.» Einige von ihnen gestanden mir allerdings zu, ich hätte ihnen gegenüber keine Vorurteile. Nie-mand ist glücklich über den Spiegel, den ich ihm vorhalte. Aber ich schreibe nicht, um anderen zu schmeicheln oder sie zufriedenzustellen.

Ihr neues Buch «Museum der Unschuld» ist ganz anders. Haben Sie nach den heftigen Reaktionen auf «Schnee» Angst vor politischen Themen?Schon am Tag, als ich «Schnee» publizierte, beschloss ich, lange Zeit keinen politischen Roman mehr zu schreiben. Im früheren Roman «Rot ist mein Name» blickte ich durch die Malerei auf die Gesellschaft, bei «Schnee»

durch die Politik und jetzt durch die Liebe. Diese ist übrigens ein ernsthafteres Thema als die Politik.

Ist der Protagonist Kemal nicht etwas verrückt?Er ist obsessiv, aber nicht verrückt. Ich näherte mich ihm mit Verständnis und Einfühlungs-vermögen. Er ist ein empfindsamer Mann, der in eine Liebessituation fällt, die schwer zu ertra-gen ist. Um sich der Geliebten nahe zu fühlen, sammelt er Gegenstände, die sie berührt hat. Es wird zu einer Gewohnheit, schliesslich wird daraus eine Sammlung. Die Geschichte dauert acht Jahre, doch die ganze Zeit glaubt er, dass er seine Geliebte in wenigen Monaten in die Arme schliessen wird. Am Ende akzeptiert er sein Leben sogar mit einem gewissen Stolz.

Der Roman ist auch ein nostalgisches Buch über ein vergangenes Istanbul.Das ist für mich nicht Vergangenheit, das habe ich alles erlebt. Das ist kein historischer Roman, sondern direkte Erfahrung. Meine Ex-Frau, die

«In meinem neuen Roman ‹Das Museum der Unschuld› blicke ich durch die Liebe auf die Gesellschaft. Diese ist ein ernsthafteres Thema als die Politik.»

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jetzt eine gute Freundin ist, sagte mir, ich hätte alles geschrieben, was wir damals wussten.

Sie nennen den Roman im Titel «Museum».Museen beschäftigen sich nicht notwendiger-weise mit der Vergangenheit. Oder anders ge-sagt: Alles ist vergangen. Wenn ich einen Roman über gestern geschrieben hätte, wäre er jetzt auch über die Vergangenheit. Nur Science-Fic-tion ist nicht Vergangenheit.

Die Gegenstände, die Sie im Roman beschreiben, liegen hier in Ihrem Arbeitszimmer auf dem Boden. Wo haben Sie die gefunden?In verschiedenen Geschäften Istanbuls und

irgendwo in und ausserhalb der Türkei. Einiges kam von Freunden und Familienmitgliedern, die wussten, dass ich dieses Museum zusam-menstelle. Während Jahren habe ich diese Gegenstände gesammelt. Sie kamen erst in den Roman, als ich sie in der Hand hatte.

Der Protagonist spricht den Leser immer wieder direkt an und führt die Gegenstände vor wie bei einem Rundgang durch ein Museum.Wie finden Sie das Buch? Hat es Sie aufgeregt? Dachten Sie: Das will ich nicht lesen?

Keineswegs. Die Erzählhaltung ist ungewöhnlich. Man merkt, dass Sie beim Schreiben Ihren Spass haben, gerade auch dort, wo Sie Orhan Pamuk

rungen an mein früheres Istanbul langsam ver-blassen. Mit dem Schreiben will ich die Erinne-rungen vor dem Vergessenwerden bewahren.

Was vermitteln Sie Ihrer Tochter?Meine Tochter ist jetzt 17. Ich sage ihr jeden Tag: Lies alle Bücher in diesem Alter, dann nimmst du sie auf in deine Erinnerung, und sie begleiten dich bis ans Ende deines Lebens. Ein Leben mit Büchern ist so viel reicher. Bücher, die ich mit 17 oder 18 Jahren las, habe ich nie vergessen.

Welche waren das?Tolstoi, Dostojewski und viele andere zeigten mir alle möglichen Varianten von menschlichen Typen, Charakteren, Erfahrungen und Ver-ständnismuster für die Menschheit. Dies bleibt. Wenn man eine literarische Person ist, ver-gleicht man alles, was man erlebt, mit dem, was man schon in Büchern gelesen hat.

Welche Rolle spielt die türkische Grossfamilie in Ihrem Leben und Schreiben?Ich komme aus einer grossen Familie und genoss dies sehr, all diese Versammlungen, Feste, Mit-tagessen und Abendessen, Grossmütter, Zunei-gung, Mitleid, Witze, Cousins, alle in einem ein-zigen Zimmer. Wir hatten Köche, Butler, Kin-dermädchen. Aber diese grosse Familie fiel nach und nach, wie bei Thomas Mann, ausein-ander. Nachdem ich meine Kindheit in einer Grossfamilie verbracht habe, lebe ich nun fast ganz alleine. Teilweise ist das eine private Geschichte, aber ein Teil ist auch türkische Sozialgeschichte der Modernisierung.

Haben Sie nie versucht, die Familie zusammen­zuhalten?Nein, ich bin nicht dieser Typ. Ich kann nicht das Oberhaupt einer grossen Familie sein. Ich bin ein Einzelgänger. l

als literarische Figur einführen und Querverweise auf andere Ihrer Bücher machen.Ja, es gibt jede Menge Tricks in dem Buch. Einen ganzen Satz habe ich vollständig aus meinem Roman «Das neue Leben» übernommen. Dane-ben gibt es Figuren aus meinen früheren Roma-nen. Das machte mir tatsächlich grossen Spass. Aber als Leser müssen Sie die Anspielungen nicht unbedingt merken, um den Roman zu ver-stehen und zu geniessen.

Wie wichtig ist die Kindheit für Ihr Schreiben?Die Erinnerungen an meine Kindheit sind für mich poetisch. Beim Schreiben von «Istanbul» merkte ich, dass ich alt werde und die Erinne-

«Es ist die Pflicht eines Schriftstellers, seine Figuren zu verstehen, auch wenn diese religiöse Fundamentalisten oder säkulare Militaristen sind.»

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Während Jahren sammelte Orhan Pamuk Gegenstände für sein Buch, in und ausserhalb der Türkei.

Er hat die Kindheit in der Grossfamilie verbracht. Heute lebt Orhan Pamuk allein.

Interview

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Kolumne

Kurzkritiken SachbuchCharles Lewinskys Zitatenlese

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28. September 2008 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15

Es gibt kein Alter, in dem alles so irrsinnig intensiv erlebt wird wie in der Kindheit.

Wir Grossen sollten uns daran erinnern, wie das war.

Astrid Lindgren

Wenn Sie sich mit Hilfe der Ihnen treu ergebenen Bestseller-Brigaden an die Macht geputscht hätten und jetzt der allmächtige Literatur-Diktator dieser Welt wären, was wäre dann Ihr erstes Edikt?

Dass in Zukunft niemand mehr ein Buch schreiben darf, der dazu einen Ghostwriter braucht? Dass alle Klap-pentext-Verfasser auf einen fernen Pla-neten verbannt werden? Dass Hera Lind ihre Schreibmaschine abgeben muss?

Oder würden Sie – das wäre mein bescheidener Vorschlag – mit dem gol-denen Federkiel, der das Zeichen die-ses Amtes ist, gleich am ersten Tag Ihrer Regentschaft folgenden Erlass unterschreiben: «Ab sofort haben alle Autobiografien mit dem dreissigsten Geburtstag des Autors zu enden. Zuwi-derhandlungen werden mit dem Ent-zug der ISBN-Nummer bestraft.»

Denn, seien wir doch ehrlich: Wenn die Leute erst mal erwachsen werden, wirds langweilig. Der Bericht vom Streit mit dem Nachbarsjungen, bei dem es nur gerade um ein paar Mur-meln ging, ist meist bedeutend interes-santer zu lesen als die Schilderung der Nobelpreisverleihung im letzten Kapitel.

Ich bin mir nicht so ganz klar dar-über, woran das liegt. Hat Astrid Lind-gren recht, und die frühen Jahre lassen sich so viel lebendiger beschreiben, weil sie intensiver erlebt wurden als die späteren? Oder sind die ersten Erinnerungen deshalb so lesenswert, weil sie im Laufe des Lebens am häu-figsten erzählt und mit jeder Wieder-gabe in immer perfektere Form geschliffen wurden?

Vielleicht hat es aber auch ganz einfach damit zu tun, dass sich vor allem in Prominenten-Memoiren nach den ersten Erfolgen unweigerlich der Namedropping-Bazillus einschleicht, gegen dessen Infektion die Wissen-schaft bisher noch kein Mittel gefun-den hat. Die Symptome sind lästig, aber zum Glück nicht tödlich. Beim infizierten Autor äussert sich der Ausbruch der Krankheit in schubwei-ser Logorrhö, während der befallene Leser an einer schmerzhaften Ver-krampfung der Gesichtsmuskulatur (sogenanntem Gähnen) zu leiden beginnt. Schlimmere Folgen lassen sich durch schleuniges Zuklappen des Buches meist vermeiden.

Und darum, wenn Sie Literatur-Diktator werden sollten: Erlassen Sie doch bitte im Interesse der Volks gesundheit die-ses Edikt. Ihre getreuen Untertanen werden es Ihnen ewig danken.

Charles Lewinsky, 62, ist Schriftsteller, Radio- und TV-Autor und lebt in Frankreich. Sein neues Buch «Zehnundeine Nacht» ist soeben bei Nagel & Kimche erschienen.

Philip Matyszak: Rom für 5 Denar am Tag. Sanssouci, München 2008. 176 Seiten, Fr. 27.90.

Rom im Jahr 200 n. Chr: Die antike Stadt am Tiber ist auf der Höhe ihrer Macht und Pracht, es lohnt sich, sie jetzt zu be -suchen. Der britische Althistoriker Philip Matyszak hat zu diesem Zweck einen amüsanten, kleinen Reiseführer verfasst, gedacht für Zeitreisende mit schmalem Budget. Nur 5 Denar stehen pro Tag zur Verfügung, dafür erhielt man damals etwa zwei Kilo Brot. Der Baedeker beginnt klassisch mit der Anreise. Nach der Quar- tiersuche werden die Sehens wür dig kei -ten beschrieben und was sich in Rom zu kaufen lohnt: Zum Beispiel Gewürze aus Indien, günstig auf dem Trajansmarkt, teuer an der Via Sacra. Und was tut man am Abend? Theater, Tierhatz oder öffent-liche Hinrichtung, für jeden Geschmack ist gesorgt. Auch die Bordelle Roms sind berühmt. Ein Glossar am Schluss hilft dem Sprachunkundigen: Quanti est – wie viel kostet das? Auxilium mihi – helfen Sie mir! Conclave meum est flagrans – mein Zimmer steht in Flammen! Geneviève Lüscher

Sudhir Kakar: Freud lesen in Goa. Spiritualität in einer aufgeklärten Welt. C.H. Beck, München 2008. 187 Seiten, Fr. 34.90.

Der indische Schriftsteller und Psycho-analytiker Sudhir Kakar ist für seine kul-turvergleichenden Arbeiten über die Seele bekannt. Auch die hier versammel-ten Essays suchen den Brückenschlag zwischen westlicher Psychotherapie und östlicher Übung in Spiritualität. Glänzend erhellt der Psychoanalytiker Kakar etwa die charismatische Ge stalt des Gurus Rajneesh, der als Bhagwan von Poona Scharen von westlichen Sinn-suchern in seinen Bann zog. Und ebenso überzeugend vermittelt der indische Autor die «praktische Spiritualität» eines Mahatma Ghandi, dessen private Obsessionen aus psychologi scher Sicht gern als zwanghaft belächelt werden. Doch das eigentliche Anliegen Kakars ist eine wenig bemerkte Gemeinsamkeit von West und Ost: jenes für seelische Heilung zentrale Element der Empathie, das die westliche Psychotherapie mit der spirituellen Suche des Ostens teilt.Kathrin Meier-Rust

Ernst Nolte: Das 20. Jahrhundert.Die Ideologien der Gewalt. Herbig, München 2008. 175 Seiten, Fr. 45.–.

Bekannt geworden war der 1923 gebore-ne Historiker und langjährige Ordina-rius für Neuere Geschichte an der FU Berlin Ernst Nolte als Auslöser des «Historikerstreits» 1986. Seine damalige These, dass der Nationalsozialismus eine Reaktion auf den Bolschewismus, der Rassenmord der Nazis eine indi-rekte Antwort auf den Klassenmord der Sowjets gewesen sei, ist auch heute umstritten, wird aber inzwischen sach-licher diskutiert. Wer Noltes Vergleich der beiden gewalttätigen Systeme und seine These vom europäischen Bürger-krieg nachlesen will, greift mit Gewinn zu diesem Bändchen. Es enthält fünf Überblicksvorlesungen zur Ideologie-geschichte des 20. Jahrhunderts, die der Verfasser 1994 in Rom gehalten hat, sowie eine Einführung aus dem Jahr 2008. Ein nüchterner Essay, ohne über-schiessende Zuspitzungen, mit beden-kenswerten Erkenntnissen.Urs Rauber

Josef H. Reichholf: Stabile Ungleich- gewichte. Die Ökologie der Zukunft. edition unseld, Frankfurt 2008. 138 Seiten, Fr. 18.–.

Alles Statische ist vergänglich, nur das Fliessen ist beständig – Reichholfs Er -kenntnisse hören sich manchmal an wie Lehrsätze der Vorsokratiker. Gerade wenn er liebgewonnene Vorstellungen provoziert, überzeugt der Münchner Evo lutionsbiologe, Zoologe und Ökolo-ge mit seinem ganzheitlichen Blick auf den heutigen Zustand unseres Planeten. Die gängige Rede vom natürlichen Gleichgewicht, zu dem es zurückzufin-den gelte, erweist sich da als ebenso rea-litätsfern wie die Fantasie vom üppigen Tropenwald als Paradies des Lebens. Allenfalls Fliessgleichgewichte können auf längere Dauer stabil sein, wie Reich-holf am Beispiel von vergänglichen Seen und beständigen Flüssen illustriert. Und selbst die baumlose Tundra ist pro-duktiver als das geschlossene Recycling-system des Regenwaldes. Denn hoch-produktive Zonen, das legt Reichholf an vielen Beispielen dar, sind immer instabil.Kathrin Meier-Rust

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16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2008

Sachbuch

Orlando Figes: Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Berlin-Verlag, Berlin 2008. 1036 S., viele Abb., Fr. 57.90.

Von Carsten Goehrke

Auf mehr als tausend Seiten breitet der britische Historiker Orlando Figes ein eindrückliches Panorama der Lebens-bedingungen aus, mit denen die Men-schen der Sowjetunion vom Ende der zwanziger Jahre bis zum Tode Stalins 1953 und darüber hinaus zurechtkom-men mussten. Hunderte von Inter-views mit Zeitzeugen und eine Reihe von Familienarchiven hat er zu diesem Zweck ausgewertet. Ohne Zuarbeit und die Unterstützung der russischen Stif-tung «Memorial», die Zeitzeugnisse zur Stalinzeit sammelt, hätte das Unterneh-men die Kräfte eines Einzelnen weit überstiegen.

Wie bringt man eine derartige Fülle von Informationen an Leserinnen und Leser? Zwei Wege bieten sich an: Man kann möglichst viel des gesammelten Materials ausbreiten, es chronologisch ordnen und innerhalb der einzelnen Zeitabschnitte thematisch strukturie-ren; dies wäre eine Sicht «von unten», ein induktives Vorgehen. Oder man steigt in das Thema «von oben» ein, indem man ein breites Bild des sowje-tischen Alltagslebens erstellt und in dieses eine gezielte Auswahl des Quel-lenmaterials exemplarisch und typo-logisch verdichtet einfügt; dies wäre ein gemischtes deduktiv-induktives Verfah-ren. Figes hat den ersten Weg gewählt, ich im dritten Band meiner russischen Alltagsgeschichte den zweiten.

Städtisches Leben im FokusBeide Zugriffe haben ihre je eigenen Stärken und Schwächen. Figes ver-mag uns auf diese Weise Hunderte von Einzel- und Familienschicksalen ein-dringlich nahezubringen und hautnah und facettenreich zu veranschaulichen, was es hiess, in der Sowjetunion Sta-

lins leben und leiden zu müssen. Aber dadurch, dass er sich genötigt sieht, die Sowjetzeit in eine Reihe von Zeitab-schnitten zu unterteilen, zerstückelt er die ohnehin fast unüberblickbare Fülle an Biografien noch zusätzlich.

Auch wenn er einzelne herausragende Persönlichkeiten wie den Journalisten und Schriftsteller Konstantin Simonow ins Zentrum des Panoramas stellt, ver-schwimmen durch diese Zerstückelung viele Einzelschicksale, je mehr man sich durch das Buch hindurcharbeitet, in einem diffusen Nebel. Obgleich Figes den politischen Rahmen, der jeden Zeit-abschnitt markiert und die Lebensbedin-gungen auf seine Weise geprägt hat, mit kundiger Hand skizziert und vor allem die unsäglichen Wohnverhältnisse in den mit Menschen vollgestopften Kom-munalwohnungen der Städte ausleuch-tet, bleiben doch viele alltagsrelevante Zeitumstände im Dunklen. Zudem bestimmt die Quellenbasis auch in sozi-aler Hinsicht den Fokus des Interesses. Es ist vor allem die «bessere», städtische, Gesellschaft, die sich mündlich und schriftlich artikuliert hat und in den Zeitzeugnissen aufscheint. Arbeiter und Landbevölkerung, mit Ausnahme der in den frühen dreissiger Jahren als «Kula-ken» deportierten wohlhabenderen Bau-ern, erscheinen nur am Rande.

Dessen ungeachtet vermag das von Figes gewählte Vorgehen eindrückliche Momentaufnahmen einzelner Lebens-bereiche der Stalinzeit zu erarbeiten. Dazu zählen am beklemmendsten die verschiedenen Facetten des Lagersys-tems, ferner die Lebenswelten und Schicksale der Juden, der Strassen- und Waisenkinder, der sowjetischen Solda-ten des Zweiten Weltkrieges oder die Mechanik des Spitzelwesens und Denun-ziantentums. Ausgezeichnet gelingt es Figes, seinen Quellen die Atmosphäre der dreissiger Jahre zu entlocken, die alltägliche dumpfe Angst vor der Ver-haftung, die, wenn Politisches bespro-chen wurde, zum Flüstern selbst inner-halb des engsten Familienkreises zwang. Dies ist verständlich, wenn man bedenkt,

Sachbuch

dass ein Achtel der Bevölkerung in die Mühlen des Stalinschen Terrors geraten ist. Direkt oder indirekt betroffen war damit fast jede Familie.

Der Mensch als WolfDurch das ganze Buch ziehen sich zwei Leitfäden, an denen die Schicksale aufge-reiht erscheinen: zum einen, mit welchen Strategien Individuen und Familien um ihre Existenz und das Überleben in die-sen schweren Zeiten kämpften, und zum anderen, in welchem Masse sie dadurch psychisch und physisch verkrüppelt wurden und das Gesetz des Dschungels die zwischenmenschlichen Beziehungen schwersten Belastungen aussetzte. Dass beim Kampf ums Überleben oder um kleinste Vorteile der «Mensch des Men-schen Wolf» wurde, Freundschaften und Ehen zerbrachen, moralische Grundsät-ze geopfert wurden und die eigene Ver-strickung in das System totgeschwiegen oder noch nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems durch gekünstelte Rechtfertigungsversuche bagatellisiert wurde, war weit verbreitet. Umso heller leuchten jene – gar nicht wenigen – Bei-spiele von persönlichem Mut, ja sogar von Verweigerung und insbesondere von familiärem Zusammenhalt als ein-ziger Stütze in einem Meer von Gemein-heit, Feigheit und Egoismus.

Dem Opus magnum von Figes muss man sich – allen Mühsalen der Lektüre zum Trotz – aussetzen, denn es zeigt exemplarisch den Menschen in seiner ganzen Nacktheit auf dem Prüfstand äusserster existenzieller Herausforde-rung. Nur schade, dass Figes wie die meisten englischsprachigen Autoren die reichhaltige deutschsprachige Literatur zum Stalinismus und die originären deutschsprachigen Quellen zum Thema nur berücksichtigt, wo sie in englischer Übersetzung vorliegen. ●Carsten Goehrke war bis 2002 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Uni Zürich. Seine letzte grössere Publikation war die dreibändige Geschichte «Russischer Alltag» (Chronos, Zürich 2003 bis 2005).

Sowjetrussland Der britische Historiker Orlando Figes zeichnet ein monumentales Panorama des Alltags im Stalinismus. Wegen der Überfülle der Zeugnisse verschwindet manches im Nebel. Sichtbar bleibt aber das Leben in einem Meer von Gemeinheit, Feigheit und Egoismus

Eine Gesellschaft von Flüsterern

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28. September 2008 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17

Angst, Spitzelei und Wohnungsnot: Sowjetische Arbeiter des Stahlwerkbaus Magnitogorsk im Südural (1930).

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18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2008

Volker Schlöndorff: Licht, Schatten und Bewegung. Mein Leben und meine Filme. Hanser, München 2008. 400 S., Fr. 48.–.

Von Martin Walder

Volker Schlöndorff, 69, steht internatio-nal wie wenige für den deutschen Film. Für seinen Aufbruch in den sechziger Jahren, als «Opas Kino» für tot erklärt wurde. Mit Fassbinder und Co. gehörte er zu den politisch und sozial Wach-samen in der alten BRD, die sich nach 1968 und in den Jahren des Terrors künst-lerisch Luft machen wollten und dafür Risiken eingingen. Prompt rechnete man ihn nach der Böll-Verfilmung «Die verlo-rene Ehre der Katharina Blum» dem sogenannten Sympathisantensumpf zu.

Der deutsche Film ist aber stolz auf ihn. Weil der energische kleine Schlön-dorff mit dem markanten Glatzenschä-del Kosmopolit ist, seit er im Bubenalter als Halbwaise dem betulichen Wiesba-den und einer schwierigen Vaterbezie-hung entflohen ist und in französischen Internaten und einem Pariser Elite-Gym-nasium sein Leben selber an die Hand genommen hat. Die Goldene Palme von Cannes 1979 und bald darauf der Oscar für die Verfilmung der «Blechtrommel» von Grass waren die Krönung.

Nun kann man dieses Leben und Werk von annährend 30 Filmen schön rekapitu-lieren. Der Drehbuchautor, Produzent, Regisseur, Dozent und mehrjährige Chef der nach der Wende wiederauferstande-

nen Babelsberger Filmstudios hat sich in seine Kartonschachteln mit Notizen, Fotos und Tagebüchern vertieft, im Fall der «Blechtrommel» sehr ausführlich daraus zitiert und sei ne Erinnerungen aufgeschrieben. Man liest mit Gewinn.

Gleich auf den ersten Seiten ist zu spü-ren, wie da einer weder an den Fakten klebt noch sich in Anekdoten und Name-dropping verplaudert. Das Buch ist wohl-tuend frei von eitler Pose und in gezie-mendem Masse selbstkritisch. Dem damals grassierenden «Auteur»-Kult

etwa stand der passionierte junge Cine-ast, der sich durchaus als Autor versteht, skeptisch gegenüber und besann sich für seinen starken Erstling «Der junge Törless» darauf, wie sich «die Regis-seure der Nouvelle Vague sehr schnell mit erfahrenen Produzenten zusammen-getan» hätten. Provokativ nennt er sich auch einen «Handwerker» – und wird das Etikett nicht mehr los. Er ist gerne Handwerker, auch in den 600 Oliven-bäumen und den Reben seines toska-nischen Landguts über dem Arno.

Biografie Volker Schlöndorff schildert sein Leben und Lieben – frei von Eitelkeiten und Pathos

«Ich habe Filme gemacht, wie ich es musste»

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Volker Schlöndorff (Mitte) bei den Dreharbeiten zu «Homo faber» 1990.

Alexander J. Seiler: Daneben geschrieben. 1958–2007. Zeichnungen von Martial Leiter. Vorwort von Peter Bichsel. Hier + jetzt, Baden 2008. 318 Seiten, Fr. 38.–.

Von Urs Rauber

Ein seltsamer Buchtitel, der leicht miss-deutet werden könnte – im Sinne von «an der Sache vorbeigeschrieben». Doch das sind die Texte des 1928 geborenen Filme-machers Alexander J. Seiler, der «insge-heim Schriftsteller werden wollte», kei-neswegs. Schon als Kind habe er mit zwei Fingern auf einer Underwood-Schreib-maschine getippt, erzählt er bereitwillig, dann als Gymnasiast eine Mittelschulzei-tung herausgegeben und später neben seiner Tätigkeit als Filmautor immer wieder Texte verfasst, weil er sich «eine Existenz ohne Publizieren» nicht vorstel-len konnte.

Dem breiteren Publikum ist Seiler als Dokumentarfilmer be kanntgeworden

und als Mitbegründer des Neuen Schwei-zer Films. Seine wichtigsten Werke – «Siamo italiani» (1964), «Die Früchte der Arbeit» (1977), «Ludwig Hohl» (1982) und «Palaver, Palaver» (1990) – wirkten stilbildend und beeinflussten die politische Debatte im Land.

Seinem Drang zum öffentlichen Schreiben konnte der Filmemacher vor allem im «Tages-Anzeiger», im «Maga-zin», in der «Weltwoche», in der von ihm mitherausgegebenen Autorenzeitschrift «Ein spruch» (1987–1991) sowie in den letzten Jahren in der linken «Wo -chenzeitung» nachleben. Seilers Texte verstanden sich stets als littérature enga-gée: als Botschaft, Mahnung, oft auch als Bekenntnis.

So findet man denn vieles an The-men, das auch Seilers Brüder im Geiste, von Max Frisch bis Arnold Künzli, wie-derholt aufgreifen: das Eigene und das Fremde, Solidarität und Ausgrenzung, Kunst und Gesellschaft, Dritte und Erste Welt, die Schweiz als Sonderfall. Oft

durchtränkt vom wütenden Wider-spruchsgeist jener Jahre – wider die Strömungen der Zeit, wider Beliebigkeit und wirtschaftliche Logik, gegen Ban-ken, Behörden und Establishment. Diese helvetisch-selbstanklägerische Zeitpro-sa bietet wenig Überraschendes.

Anderes ist wirklich neu zu entdecken: Seilers grossartige literarische Re por -tage über Henry Miller in Big Sur (1958 in der Basler «Nationalzeitung» erschie-nen). Oder die Porträts über Pablo Casals (1976) und Ludwig Hohl (1980), die kri tische Rezension einer Glauser-Bio grafie (1981) und der eindrückliche, bewegende Text über den Besuch am Sterbebett von Max Frisch (1991). Eher unerwartet erscheint Seilers Begrün-dung des Neins zur EWR-Ab stim mung vom Dezember 1992. Auch unter den Betrachtungen «Fünf Minuten für ein Bild», die teilweise biogra fische Bezüge aufweisen, und seinen Kolumnen für die «Neuen Wege» sind etliche schöne und knappe Preziosen versteckt.

Gesellschaftskritik Alexander J. Seiler präsentiert zu seinem 80. Geburtstag eigene Artikel

Filmautor als verkappter Schriftsteller

Sachbuch

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28. September 2008 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19

Ludwig van Beethoven (1779–1827), mit Schrecken bewundert.

Albrecht Riethmüller, Heinz von Loesch, Claus Raab (Hrsg.): Das Beethoven-Lexikon. Das Beethoven-Handbuch Band 6. Laaber Verlag, Laaber 2008. 850 Seiten, Fr. 165.–.

Von Corinne Holtz

Muss es sein? Ein Lexikon über jenen Komponisten, der Bismarck, Lenin und Hitler begeisterte – und die Musikolo-gen umtrieb? Ludwig van Beethoven ist bestens dokumentiert, und trotzdem legt man dieses Handbuch, schwer wie ein Ziegelstein, nicht so schnell zur Seite. Was Sie schon immer über Beet-hoven wissen wollten und sich vielleicht nicht zu fragen trauten, findet sich hier in einem einzigen Buch versammelt.

Unter «A» und dem Stichwort «Aus-sehen» begegnet der Leserin und dem Leser ein Beet hoven, der als rau und finster galt, «mit einem hässlichen roten Gesicht voller Pockennarben». Selbst die Schriftstellerin und Komponistin Bettina von Arnim – seine wichtigste Freundin und die einzige Frau, die er brieflich duzte – bewunderte ihn mit Schrecken. «So gross sein Geist und Herz ist», sei er «voll Blatternarben, was man so nennt: garstig.» Über Beet hovens Arbeitsweise erfährt man auf knapp vier Seiten, welche Anstrengungen es ihn kostete, seine Musik zu Papier zu brin-gen. Er war zwar ein leichtfüssiger Im -provisator, rang aber mit sich umso här-ter, wenn er seine Skizzen überarbeitete. Der Kontrast zwischen der intuitiven Kombinatorik der Einfälle und dem konstruktiven Arbeiten am Material war so gross wie bei kaum einem anderen Komponisten.

Die Tempofrage schliesslich ist zen-tral in der Beethoven-Rezeption und ein ebensolches Streitobjekt. Die teuf-lisch schnellen Tempi wollen die einen auf sein defektes Metronom zurück-führen, treffender ist, sie Beethovens «ungebändigter Persönlichkeit» (Goe-the) zuzuschreiben. Nur selten nämlich findet sich in seinen Tempobezeich-nungen das Moderato oder Non troppo, vielmehr, wie im berüchtigten ersten Satz der Klaviersonate op. 106, das Allegro assai.

Dazu passt die berühmte Begeben-heit, die vermutlich eine Anekdote ist und im Lexikon als solche deklariert wird: Beethoven ist mit Johann Wolf-gang von Goethe in Bad Teplitz unter-wegs und begegnet der Kaiserin Maria Ludovica von Österreich und deren Hofstaat. Goethe tritt zur Seite und ver-neigt sich, «wohin gegen Beethoven grusslos durch die Gruppe hindurch-schreitet». Gesichert ist hin gegen Beet-hovens Äusserung in einem Brief an seinen Verleger, in dem er Goethes Kniefall mit der Lächer lichkeit eines Virtuosen vergleicht und zum Schluss

kommt, Goethe behage die Hofluft mehr, als es einem Dichter zieme.

Das Beethoven-Lexikon hält, was es verspricht: Es informiert in der Breite und nicht in der Tiefe. Es hüpft vom Bio-grafischen über das Werk bis zur Rezep-tion und macht in aller Kürze auf Kuri-oses wie Wesentliches aufmerksam. Die alphabetische Ordnung generiert aus-serdem eine besondere Form von Bio-grafie und verführt zu einem Lesen, das von der zielgerichteten Suche wegführt und im besten Sinne die Neugier befrie-digt. Dabei täuschen die Herausgeber weder Vollständigkeit vor noch scheuen sie Überschneidungen, wenn die über hundert Autorinnen und Autoren gele-gentlich dasselbe Detail beleuchten – wenn auch aus anderer Perspektive.

Das Lexikon setzt den Schlusspunkt des ehrgeizigen Beethoven-Editionspro-jekts im Laaber Verlag und richtet sich an ein Publikum, das sich generell für den Komponisten interessiert. Nur sel-ten ist dem Rotstift der Herausgeber eine Floskel entgangen, etwa dort, wo man vom bedeutenden Beethoven-Pia-nisten Emil Gilels liest und von der «klassischen Schönheit» seiner Inter-pretation, «die frei von jedem Akade-mismus ist, da sie alle Ausdrucksab-gründe in sich einbegreift». Entgegen dem Zeitgeist wird nicht allein abgebil-det, sondern auch bewertet. Was ist zu halten etwa von Anne-Sophie Mutters Beethoven-Interpretation? Schlagen Sie nach, und Sie lesen von der «Überbeto-nung der melodischen Linie» und der «Glättung dramatischer Aspekte». ●

Musik Das Komponisten-Lexikon hält, was es verspricht: Es informiert breit, befriedigt die Neugier und verführt zum Lesen

Beethoven von A bis ZBiografie Volker Schlöndorff schildert sein Leben und Lieben – frei von Eitelkeiten und Pathos

«Ich habe Filme gemacht, wie ich es musste»Schlöndorff erzählt gut und span-

nend. Anekdotisches ist meist von prä-ziser Leuchtkraft. Da taucht unter den Meistern Resnais, Malle und Melville Fritz Lang auf, der dem jungen Kollegen etwas fürs Leben ans Herz legt: Habe bei ihm eine Entscheidung angestanden «für etwas, was mein Privatleben beglückt hätte im Gegensatz zu meinem Beruf (...), so hat immer der Beruf gewonnen. Ich habe meine Filme gemacht, so, wie ich es musste.» Langs Maxime geistert auch durch Schlön-dorffs Leben.

Die Irrungen und Wirrungen zwi-schen Leben und Lieben – in Bezug etwa auf Ehefrau und Kollegin Margarethe von Trotta – haben ihren Platz im Buch. Die Krisen, wenn man in der «Entwick-lungshölle» von Projekten versackt, ebenfalls. Schlöndorff lässt Freunde Revue passieren, Kollegen, Autoren (berührend der todkranke Max Frisch zur Zeit des «Homo faber»-Films), Schauspieler, Stars – und natürlich die Lieben, die schwierigen und, am Ende, die glückliche. Intimes wird in Details fast nonchalant angepeilt – dann elegant umschifft. Besonders schön sind die Erkundungen der Anfänge im Nach-kriegsdeutschland und in Frankreich – seine Infizierung durch «Amerika» im besetzten Deutschland, dann durch den Existenzialismus. Und so ist man jenem Produzenten nicht gram, der Volker Schlöndorff vom Projekt «Die Päpstin» gefeuert hat. Dieser hat die plötzlich verfügbare Zeit gut genutzt. ●

Gesellschaftskritik Alexander J. Seiler präsentiert zu seinem 80. Geburtstag eigene Artikel

Filmautor als verkappter SchriftstellerLesenswert sind auch heute noch Sei-

lers Filmkritiken zu Michelangelo Anto-nioni, François Truffaut, Jean-Luc Go-dard, Alain Tanner und Fredi M. Murer. Es sind präzis beobachtete, kenntnis-reich verfasste Werkinterpretationen und Autorenwürdigungen. Manche die-ser Beiträge wurden in der «Weltwoche» publiziert, für die Seiler von 1967 bis 1969 als Filmkritiker wirkte. Es waren, so schreibt der heute Achtzigjährige, «meine schönsten, ungetrübtesten Erin-nerungen an journalistische Arbeit».

Die rund 60 Texte aus fünf Jahrzehn-ten Nebenher-Publizistik sind im Buch zu mehreren Abteilungen zusammen-gefasst: Porträts, zeitaktuelle Beiträge, Filmkritiken, Kolumnen. Der schön gestaltete Band ist illustriert mit Fotos und Strichzeichnungen von Martial Lei-ter, die – da sie noch stark den zornigen Geist der neunziger Jahre atmen – den Blick auf die ganze Breite des journalis-tischen Œuvres des Filmemachers lei-der etwas verstellen. ●

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Kemal Atatürk (1881–1938) lässt sich von der ersten Fliegerin der Türkei, Sabiha Gökçen, mit einem Handkuss begrüssen, 1937.

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20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2008

Klaus Kreiser: Atatürk. Eine Biografie. C. H. Beck, München 2008. 334 Seiten, Fr. 44.90.

Von Hans-Lukas Kieser

Die Mutter wollte ihn vom Militär fern-halten, aber wie fast alle Jünglinge der Belle Epoque faszinierten ihn die Uni-formen. Vor allem boten die Militärschu-len im späten Osmanischen Reich eine Aufstiegschance für Knaben aus wenig bemittelten muslimischen Familien. Als Staatsgründer entschied sich der ehema-lige Militärschüler und Offizier, die Uni-form ganz wegzulegen, was ihn von an -deren bekannten Führern der Zwischen-kriegszeit unterschied. Umso weni ger ist bisher die Ikone des Kemalismus – Mus-tafa Kemal Atatürk – und sein imposantes Werk jenseits der Faszination biogra-fisch sorgsam ergründet worden.

Dem Bamberger emeritierten Profes-sor und Türkeihistoriker Klaus Krei ser ist dies gelungen. Gelassen, oft mit Humor, geht Kreiser dem bedeutsamen Curriculum nach, bezieht neue Quellen ein und gibt meisterhaft Einblick in grössere Zusammenhänge. Stern stunden und Schatten werden offenge legt, das Urteil den Lesenden überlassen.

Mustafa Kemal kam in der spätosma-nischen Hafen- und Provinzhauptstadt Saloniki zur Welt, die im frühen 20. Jahr-hundert zum Zentrum der jungtür-kischen «Gesellschaft für Einheit und Fortschritt» wurde. Junge Beamte und Offiziere, darunter Mustafa Kemal sowie die meisten Mitbegründer der Republik Türkei, gehörten dieser «Gesellschaft» von Patrioten des Reiches und Kritikern des Sultans an. Alle jung, stammten viele von ihnen aus dem Balkan und kannten Anatolien kaum, das für sie nach dem Verlust der Heimat in den Balkankriegen (1912/13) zum Gelobten Land des Tür-kentums wurde. Aufgewachsen waren sie in einer mehrheitlich nichtmusli-mischen Umgebung. Von den rund hun-derttausend Einwohnern der Stadt Salo-niki waren ein Viertel Muslime, fast die Hälfte Juden und ein Sechstel Europäer, bevor sie Ende 1912 griechisch wurde.

Hypothek ArmeniermordAndere als Mustafa Kemal organisierten 1908 die Jungtürkische Revolution, die für einen Moment die Versöhnung der Völker verhiess. Innenminister Talat und der populäre Offizier Enver Bey standen an der Spitze der konspirativ geblie-benen «Gesellschaft»; lenkten ab 1913 das riesige Reich, führten es 1914 in den Krieg und betrieben im Schatten des Kriegs eine mörderische Um- und Aus-siedlung von Nichttürken. Enver Bey wurde 1914 Pascha, Kriegsminister und Armeechef, und von der Presse in Berlin, wo er als Militärattaché geweilt hatte, zum genialen Tatmenschen stilisiert. Wie die meisten Jungtürken vermischte er Politik und Armee, was Mustafa Kemal

als unstaatsmännisch irritierte. Kemals Chance war es, trotz seinem Ehrgeiz vor 1919 keine politische Spitzenposition zu erlangen. Anfang 1916 zum Brigadege-neral befördert, übernahm er ein Kom-mando in Diyarbekir. Das war bedeutsam für das Gelingen des Unabhängigkeits-kriegs, der 1919 von den Ostprovinzen ausging. Bereits in Diyarbekir übte sich der junge General darin, die Geschichte seiner Taten an der Dardanellenfront (1915) zu formulieren.

Im Kriegstagebuch blendet der junge General indes die Vernichtung der Armenier aus. Zu den Innovationen von Kreisers Buch gehören konzise Worte zu diesem Thema und Beobachtungen, wie die Gründergeneration aus dem Armeniermord eine dauerhafte Hypo-thek machte. Bei einem Deutschlandauf-enthalt schrieb Mustafa Kemal schon 1917 der armenischen Nation «Geschichts-losigkeit» zu, was ihr das Anrecht auf die anatolische Heimat abspräche – ein später wiederholtes Argument.

In Ankara liess er als Führer der Nationalbewegung Abdülhalik Renda, einen der schlimmeren Täter von 1915/16, Mitglied der Nationalversammlung wer-den. Ein Tischgenosse Atatürks notierte auf die Frage «Warum haben wir Izmir verbrannt» die entwaffnende Antwort, dass Furcht und Minderwertigkeits-gefühl dahinterstecke; aus demselben Grund hätten sie nach 1915 die arme-nischen Quartiere in den Städten Anato-liens verbrannt. Einige armenische Häu-ser blieben indes intakt, darunter im heutigen Diplomatenviertel Çankaya in Ankara ein Sommerhaus, das seit Ata-türk Sitz des Staatspräsidenten ist.

Kemals politische Stunde schlug nach der Weltkriegsniederlage. Zusammen

mit Offizierskollegen organisierte er den muslimischen Widerstand gegen die Siegermächte und die Istanbuler Regierung, die mit ihnen kooperierte. Klar sah er im Sommer 1919 die Zukunft Anatoliens als säkularen Nationalstaat Türkei voraus, der sich zivilisatorisch Europa zuwenden sollte.

Reformideen aus der SchweizNach dem Sieg um Anatolien und der Konferenz von Lausanne setzte er zusam-men mit jungen Kadern, die zum Teil eben ein Studium in der Schweiz absol-viert hatten, die angedachten Re formen durch. Kemals Bemühung um Geschichts-schreibung gipfelte 1927 in einer Sechs-Tage-Rede in der Ich-Form über die Staatsgründung; und bis zu seinem Tode 1938 trieb ihn die These um, dass Anato-lien proto-türkisch, das Türkentum Wiege der Zivilisation und Türkisch Ursprache der Menschheit sei.

Kreiser zeigt Atatürk «als entschie-denen Agnostiker», der die muslimischen Geistlichen instrumentalisierte, den Kult um seine Person zuliess und die Türkei durch zeitgenössische Wissenschaft zu vergewissern suchte. Mitten in Ankara versinnbildlicht seit 1987 die pompöse Kocatepe-Moschee die Bedeutung, die der Islam seit Atatürk zurückgewonnen hat. Dennoch, so das positive Fazit der Biografie, ergäbe heute eine Abstim-mung über das «Rückgrat des türkischen Laizismus», das Zivilgesetzbuch, ein überwiegendes Ja. 1926, als das Schwei-zerische ZGB eingeführt wurde, hätten keine fünf Prozent der Bevölkerung zugestimmt. ●Hans-Lukas Kieser ist Neuzeit-Historiker und Privatdozent an der Uni Zürich sowie Experte für die Geschichte der Türkei.

Frankfurter Buchmesse: Türkei Atatürks Licht- und Schattenseiten in einer neuen Biografie

Der Aufstieg des Mustafa Kemal

Sachbuch

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28. September 2008 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21

Naoko Felder-Kuzu: Kleiner Einsatz, grosse Wirkung. Mikrofinanzierung und Mikrofranchising – Modelle gegen die Armut. Rüffer & Rub, Zürich 2008. 173 Seiten, Fr. 36.–.

Von Charlotte Jacquemart

Es ist nicht das erste Buch von Naoko Felder-Kuzu über Mikrofinanz. Bereits zwei ältere Titel zum Thema, wie die Armut mit dem System der Mikrokredit-Idee bekämpft werden kann, stehen von der im zürcherischen Erlenbach leben-den Autorin in den Buchhandlungen. Naoko Felder-Kuzu war viele Jahre in führenden Positionen in der Finanz-marktbranche tätig und arbeitet heute als selbständige Beraterin in der Vermö-gensverwaltung.

Das neueste Buch mit dem Titel «Kleiner Einsatz, grosse Wirkung», leicht verständlich geschrieben und ansprechend präsentiert, verdient erneut Aufmerksamkeit. Dies deshalb, weil die Autorin nicht nur zusammen-fasst, was Mikrokredite in der Vergan-genheit alles bewirkt haben, was sie leis-ten können und was nicht, sondern weil die Autorin die jüngsten Fortschritte und Entwicklungen in der Mikrofinanz zusammenträgt und anhand von kon-kreten Beispielen beschreibt.

Der Friedensnobelpreis von 2006 für den Bengalen Muhammad Yunus und seine Grameen Bank hat die Idee der Mikrokredite salonfähig gemacht. Mikro-kredite existieren jedoch schon seit über 30 Jahren. Dank diesen Kleinstkrediten gelangen auch die ärmsten vier Mil-liarden Menschen dieser Welt in den Genuss von Kapital. Typischerweise sind die Kredite nur zwischen 25 und 1500 Dollar klein. Millionen von Men-schen in Asien, Afrika und Südamerika konnten sich in den letzten drei Jahr-zehnten auf diesem Weg eine beschei-dene Existenz auf bauen.

Sozial und profitabelIn ihrem Buch gibt Naoko Felder-Kuzu im ersten Teil einen Überblick über die Welt der Mikrofinanz und skiz-ziert im zweiten und dritten Teil auch neue Tendenzen, innovative soziale Geschäftsmodelle und das Mikrofran-chising. Die profunde Kennerin der Thematik glaubt, dass Mikro franchising die nächste Stufe auf der Entwick-lungsleiter sein könnte, um die Armut in den Entwicklungsländern schneller zu überwinden.

Die Autorin beobachtet dabei eine «Konvergenz»: Die Welt des sozialen Engagements, die nicht auf Gewinn aus-gerichtet ist, und die Welt des gewinn-orientierten Geschäftes laufen immer mehr aufeinander zu. Darin sieht sie eine grosse Chance, vor allem auch dank der wachsenden Vernetzung durch Mo -

biltelefonie und Internet. Als Beispiel dafür verweist das Buch auf virtuelle Firmen wie KIVA und MicroPlace, die sich in den letzten Jahren etabliert haben. KIVA ist die erste Mikrokredit-Internet-Plattform, über die Privatper-sonen direkt Kredite an einen ausge-wählten Kreditnehmer in einem Ent-wicklungsland zahlen können. Micro-Place hingegen ist die erste Website, über welche Kleinanleger Mikrofinanz-investitionen online tätigen können.

Die Autorin vergisst trotz ihrer Be -geisterung für den Fortschritt rund um die Mikrofinanzierung aber nicht, die Kommerzialisierung der Mikrofinanz auch kritisch zu betrachten. Auch die aktuelle Diskussion über Sinn und Un -sinn des Börsenganges des mexikani-schen Mikrofinanzinstitutes Comparta-mos fehlt nicht in diesem Buch, das jedem, der sich für das Thema Mikro-kredite interessiert, warm empfohlen werden kann. ●

Mikrofinanz Kleinstkredite leisten einen effektiven Beitrag zur Bekämpfung der Armut. Auch über das Internet, wie eine Finanzmarkt-Spezialistin beschreibt

Kommerz kann Gutes tun

Im Jahr 1970 eine Reise durch die Sowjetunion unternehmen, vier Monate lang von Ost nach West im Riesenreich unterwegs sein, von Nachodka bis Leningrad (im Bild: Fassadenkunst auf dem St. Petersburger Schlossplatz). Der Schweizer Foto graf Daniel Gendre zieht mitten im Kalten Krieg mit seiner Kamera übers Land. Scheinbar beiläufig scheinen seine Bilder entstanden, meist aus Halb-distanz aufgenommen, objektiv gleichsam. Gendre veranstaltet kein Spektakel, ist nie aufdringlich, er nimmt niemandem die Würde. Umso eindringlicher

erzählt er den Aufmerksamen kleine Geschichten. Es sind Nachrichten über den sowjetischen Alltag, Dokumente schon im Moment ihres Entstehens. In diesem wertvollen Bildband sind auch die Essays willkommen, die uns an die Zeit erinnern, als wir im «andern» Teil der Welt lebten und man nie ganz sicher sein konnte, ob die Nachrichten über die UdSSR denn auch wahr waren. Gendre gibt auf seine Weise Auskunft. Jost Auf der Maur Daniel Gendre: UdSSR. Offizin, Zürich 2008. 159 Seiten, Fr. 68.–.

Sowjetunion Nachrichten aus dem andern Teil der Welt

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22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2008

Brigitte Rossbeck: Zum Trotz glücklich. Caroline Schlegel-Schelling und die romantische Lebenskunst. Siedler, München 2008. 366 Seiten, Fr. 39.90.

Von Manfred Koch

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war die Universität Göttingen eine wahre Pflanz-stätte weiblicher Intelligenz in Deutsch-land. Zwar durften Frauen nach wie vor nicht studieren. Dafür zeugten Göttin-gens Star-Professoren binnen weni ger Jahre eine legendäre Genera tion hoch-begabter Töchter. Caroline Michaelis (geboren 1763) hatte den herausragenden Orientalisten, Therese Heyne den bedeu-tendsten Altertumskundler der Zeit zum Vater. Dorothea Schlözer und Philippine Gatterer waren Abkömmlinge der zwei wichtigsten Aufklärungshistoriker. Die väterliche Bibliothek und der beständi-ge Umgang mit Deutschlands führenden Intellektuellen sorgten, auch wenn die Eltern das gar nicht wollten, für eine «männliche» Bildung der lesehungrigen Mädchen. Alle vier Göttinger «Universi-tätsmamsellen» wurden zu Pionierinnen weiblichen Schreibens um 1800.

Caroline Michaelis hat von jeher das grösste Interesse auf sich gezogen. Allein die Kette ihrer Familiennamen – Micha-elis, Böhmer, Schlegel und Schelling – ruft eine grandiose Epoche deutscher Geistesgeschichte ins Gedächtnis; zu -gleich verweist sie auf ein skandalum-wittertes Leben. Am Anfang eine Kon-ventionsehe, aus der der Tod des Man-

Weibliches Schreiben Eine Caroline-Schlegel-Biografie zeigt neue Details aus dem Leben der Romantikerin

Bewundert für ihren klugen Witz

Thomas Blubacher: Gibt es etwas Schö -neres als Sehnsucht? Die Ge schwister Eleonora und Francesco von Mendelssohn. Henschel, Berlin 2008. 446 S., Fr. 50.90.

Von Andreas Tobler

Eleonora und Francesco von Mendels-sohn – schön, reich, begabt – galten als das glamouröseste Geschwisterpaar der Weimarer Republik. Heute sind sie in Vergessenheit geraten. Nun hat sich der Basler Publizist Thomas Blubacher ihrer angenommen.

Die 1900 geborene Eleonora, Tochter des Berliner Bankiers Robert von Men-delssohn und direkte Nachfahrin des Phi-losophen Moses Mendelssohn, wusste schon früh, was sie werden wollte: Schau-

spielerin, wie ihre berühmte Pa tentante Eleonora Duse. Schon bald steht sie unter der Leitung des von ihr vergötterten Max Reinhardt auf der Bühne. Ihr ein Jahr jün-gerer Bruder Francesco amüsiert derweil die Berliner High Society, indem er auf einem Ball im Pelz erscheint, den Mantel fallen lässt und sich im Adamskostüm zeigt. Seine künstlerische Laufbahn be -ginnt er als Cellist im renommierten Klingler-Quartett, später versucht er sich als Theaterregisseur und bringt zwei Horváth-Stücke zur Uraufführung.

Wie sind die künstlerischen Leis -tungen der Mendelssohns zu bewerten? Anhand zeit genössischer Kritiken zeigt Blubacher, dass die Geschwister durch-aus gewürdigt wurden, auch wenn sie mit den Besten ihrer Zeit nicht mithalten konnten. Mit der Machtübernahme Hit-

lers be ginnt ein neues Kapitel im Leben der Mendelssohns: Im Exil in den USA überschreitet Francesco immer öfters «die Grenze zwischen snobistischer Exzentrizität und klinischem Wahnsinn» (Klaus Mann). Nach Spitalaufenthalten verbringt der einstige «glamorous boy» den Lebensabend mit Bridge und Haus-musik. Eleonoras Leben ist geprägt durch vier unglückliche Ehen und ihren unerfüllten Kinderwunsch. 1951 begeht sie Selbstmord.

Thomas Blubachers profund recher-chiertes Buch entreisst nicht nur zwei Künstler der Vergessenheit, es bietet auch all jenen, die schon immer mal in die Leben von zwei wirklichen Exzentri-kern eintauchen wollten, die Gelegen-heit, sich mit ihren Neurosen und Ab -gründen vertraut zu machen. ●

Künstlerleben Neurosen und Abgründe des glamourösen Geschwisterpaars von Mendelssohn

Exzentrische Paradiesvögel

Caroline Michaelis, verh. Schlegel-Schelling (1763–1809), Romantikerin der ersten Stunde.

nes sie befreit. Dann, im Revolutionsjahr 1791, der Umzug nach Mainz, wo ihre Jugendfreundin Therese Heyne lebt. Therese hat ein Verhältnis mit dem Lite-raten Ludwig Ferdinand Huber, für den sie Ende 1792 ihren Mann Georg Forster verlässt. Fortan kümmert sich Caroline um den unglücklichen Forster und steht ihm, dem Jakobiner, in den wilden Mona-ten der Mainzer Republik zur Seite.

Eine rauschhafte Liebesnacht mit ei -nem Offizier der französischen Revoluti-onsarmee hat Folgen. Auf der Flucht vor Preussens Truppen wird sie arretiert und entdeckt in der Festungshaft, dass sie schwanger ist. Nachdem einflussreiche Fürsprecher mühsam ihre Freilassung erwirkt haben, bringt sie das Kind im sächsischen Provinznest Lucka zur Welt.

Der Literaturkritiker August Wilhelm Schlegel sorgt generös für die Resoziali-sierung der Verfemten (eine Auf rüh rerin und «Franzosendirne»!), die persönliche Betreuung vor Ort übernimmt sein Bru-der Friedrich, der Caroline bald anbetet und sich von ihrem Vorbild zu zwei epo-chemachenden Essays über intellektuelle Frauengestalten der Antike anregen lässt. Als Gemahlin von August Wilhelm und Co-Autorin seiner Shakes peare-Überset-zung wird Caroline später in Jena zum Mittelpunkt des Frühromantiker-Kreises, bewundert für ihren Witz im Gespräch, gerühmt und gefürchtet als Briefschrei-berin und Rezensentin. Die Gruppe zer-fiel nicht zuletzt aufgrund ihrer Liebesaf-färe mit dem Philosophen Friedrich Wil-helm Schelling, den sie 1803 nach der Scheidung von Schlegel heiratete.

Seit Caroline im 20. Jahrhundert zu einer Ikone des Feminismus aufstieg, herrscht an Biografien über sie kein Mangel. Brigitte Rossbeck hat zwar neue Details recherchiert, insgesamt fällt ihr Buch aber hinter ältere Darstellungen (Eckart Klessmann, Sigrid Damm) zu -rück. Da der Leser so gut wie nichts über die Werke der Beteiligten erfährt, wird sein Blick voyeuristisch. Mit einiger Süf-fisanz stellt uns Rossbeck, um zwei Bei-spiele zu nennen, Therese Heyne als ehebrüchige Kanaille und Friedrich Schlegel als chronisch bankrotten Ego-manen vor. Fraglos keine unberechtigten Urteile: Die ursprünglichen Freunde waren zuletzt tatsächlich Carolines ärgs-te Verleumder. Beide haben aber auch mehr zustande gebracht als Gehässig-keiten, Seitensprünge und Intrigen.

Ohne die Ideen der Romantiker hat die hier geschilderte «romantische Le -benskunst» verzweifelte Ähnlichkeit mit einer Seifenoper. ●

Sachbuch

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28. September 2008 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23

Das Wikipedia Lexikon in einem Band. Bertelsmann Lexikon Verlag, München 2008. 1008 Seiten, 1000 Abbildungen, Fr. 34.90.

Von Thomas Köster

Eigentlich muss man Wikipedia mögen. Denn das kostenfreie Online-Lexikon setzt auf ein sympathisches, da demo-kratisches Prinzip. In Wikipedia-Arti-keln kann jeder sein Wissen mit allen teilen. Wer mehr weiss, darf Fehler kor-rigieren oder Beiträge weiterschreiben. Damit das auch juristisch funktioniert, verzichten Autoren laut einer «Lizenz für freie Dokumentation» auf ihre Urhe-berrechte. Und dort, quasi im Kleinge-druckten, steht dann doch noch ein sehr unsympathischer Satz. Denn jeder darf die Inhalte von Wikipedia weiterver-wenden, «auch zu kommerziellen Zwe-cken». Sprich: Jeder darf Geld mit der Arbeit der Autoren machen.

Jetzt hat ausgerechnet Wikipedia selbst die kostenlose Arbeit ihrer Auto-ren zu Geld gemacht. Verkauft wurden Inhalte an den Wissen-Media-Verlag der Bertelsmann-Gruppe in Gütersloh. Er hat ein einbändiges Lexikon daraus ge -macht; 50 000 Artikel und Begriffserklä-rungen sind versammelt. Die Vorteile der Vertragspartner liegen auf der Hand: Wikipedia erhält 20 000 Euro als «Spen-den» deklarierte Lizenzgebühr für sei-nen gemeinnützigen Verein, der der «Er -stellung, Sammlung und Verbreitung freier Inhalte in selbstloser Tätigkeit» dienen soll. Im Gegenzug bekommt Ber -telsmann die Möglichkeit zur kosten-günstigen Produktion eines Buchs, das sich mit dem prominenten Namen von Wikipedia schmücken darf. Wo aber liegt der Nutzen für die Nutzer? Warum soll man für ein Buch bezahlen, dessen Texte man umsonst im Internet lesen kann?

Keine AktualisierungDie Frage ist mehr als berechtigt. Denn von den rund 800 000 Artikeln der täg-lich wachsenden Online-Enzyklopädie wurden gerade einmal sechs Prozent in die Druckkopie aufgenommen – und zudem von der Bertelsmann-Redaktion noch stark gekürzt. Wo im Original oft mehrere Seiten über ein Thema infor-mieren, sind es hier nur ein paar Zeilen. Aktualisierungen, eine Stärke von Wiki-pedia, sind im Druckwerk ohnehin nicht möglich. Aber auch (verlinkte) Verweise, von denen die Internet-Enzyklopädie nur so wimmelt, fehlen völlig. Im Wiki-pedia Lexikon weisen keine Pfeile dar-auf hin, ob ein Begriff aus dem Fliesstext als Stichwort irgendwo erläutert wird.

Im schlimmsten Fall würde man dieses Stichwort aber ohnehin nicht fin-den. Wer sich beispielsweise für die Filme der Coen-Brüder interessiert, soll-te schon den Vornamen des jüngsten

Bruders kennen. Im Wikipedia Lexikon findet sich der Eintrag keineswegs wie üblich unter C wie «Coen», sondern unter E wie «Ethan und Joel Coen». Im Internet mit seinen regulierenden Such-mechanismen ist das nicht problema-tisch. Im Druckwerk ist das eine enzy-klopädische Katastrophe.

Beim Wikipedia Lexikon hat die Ber-tels mann-Redaktion laut eigener Aus sage nur «behutsam in die Texte eingegrif-fen». Das merkt man den Einträgen lei-der deutlich an. Keine sprachliche Straf-fung, dafür wimmelt es nur so von Re -dundanzen, die eher darauf schliessen lassen, dass sich die Produktion vor allem automatischer Generierung verdankt. Das beginnt damit, dass jedem Stichwort seine Abkürzung folgt (so zur Seifenoper «Alles was zählt: A. w. z. [AWZ]»). Und es endet damit, dass sich Einträge wie bei «Laurel, Stan» und «Laurel und Hardy» auf der gleichen Seite doppeln.

Spiegel der Internetnutzung Schlimmer als derart formale Fragwür-digkeiten ist ein Teil der Inhalte selbst. So erfährt man über die Bergpredigt im Wikipedia Lexikon (anders als in Wiki-pedia) lediglich, dass Jesus hier «in prä-zisen Worten unterschiedliche Lebens-bereiche» angesprochen habe. Und «Ausländer» werden (wie im Wikipedia-Original) als Personen definiert, «die sich nach der Eigenschaft der Staatsan-gehörigkeit von anderen Einwohnern des Landes, aus deren Perspektive die Betrachtung erfolgt, unterscheiden». So versinkt vieles in Belanglosigkeit oder fehlender Präzision.

Eine Besonderheit allerdings hat das Wikipedia Lexikon dann aber doch zu bieten: Sein Bestand nämlich verdankt sich nicht dem klassischen Bildungska-non, sondern dem Suchverhalten von Wikipedia-Nutzern. Basis für die Ein-tragsauswahl waren die 2007/2008 am häufigsten aufgerufenen Stichwörter, weshalb sich das Wikipedia Lexikon, etwas verschämt, da wenig verkaufs-trächtig, im Innenteil als «Lexikalisches Jahrbuch» verstanden wissen will. So kommt es, dass Einträge zu Wrestlern, Pornostars oder Daily Soaps neben klas-sischen Einträgen wie «Fussball» oder «Merkel, Angela» stehen. Da mag es Leser mit Sinn fürs Skurrile durchaus vergnügen, dass 2007 offenbar viele Wissensdurstige in Wikipedia nach der Definition von «Wichser» suchten. Aber nützlich wird das Wikipedia Lexikon als Lexikon deshalb nicht.

So hat das Wikipedia Lexikon als Phä-nomen vor allem symptomatischen Wert. Es zeigt, wie stark sich die gegen-wärtige Wissenslandschaft durch Wiki-pedia gewandelt hat – und immer noch wandelt. Es zeigt, welch verzweifelte Rettungsversuche grosse Lexikonver-lage in Zeiten unternehmen, da ihnen Wikipedia die Existenzgrundlage lang-sam entzieht. Vor allem aber zeigt es, dass auch Wikipedia zur weiteren Ver-breitung seine sympathische Idee der freien, sprich: kostenlosen Verfügbar-keit von Wissen zu unterwandern droht. Wikipedia sollte also lieber weiterhin online betrieben und gelesen werden. In voller Länge. Und auf dem aktuellsten Stand. ●

Lexikon Das Internet-Nachschlagewerk in Buchform liefert 50 000 Artikel – statt der 800 000 der Online-Enzyklopädie

Wikipedia auf Papier

Das rasch wachsende und kostenlose Online-Wissen soll als Momentaufnahme gedruckt werden: ein zweifelhaftes Unterfangen.

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24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2008

Philipp von Boeselager: Wir wollten Hitler töten. Ein letzter Zeuge des 20. Juli erinnert sich. Hanser, München 2008. 191 Seiten, Fr. 32.90.Dorothee von Meding, Hans Sarkowicz: Philipp von Boeselager. Der letzte Zeuge des 20. Juli 1944. Zabert Sandmann, München 2008. 216 Seiten, Fr. 36.–.Antonius John: Philipp von Boeselager. Widerstand und Gemeinwohl. Bouvier, Bonn 2007. 383 Seiten, Fr. 41.50.

Von Gerd Kolbe

Drei Bücher sind in den letzten Monaten erschienen, die Philipp von Boeselager, dem letzten Überlebenden des deut-schen Widerstandes und des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944, gewidmet sind. Boeselager hatte sie vor seinem Tod am 1. Mai dieses Jahres noch gelesen und teilweise autorisiert. Selber nämlich griff er in all den Jahren seit Kriegsende nicht zur Feder. Er hielt Vorträge in Schulen und bisweilen auch vor Bundes-wehrsoldaten. Er nahm an Diskussionen teil und gab Interviews. Das Schreiben seiner Biografie überliess er anderen, auch wenn «Wir wollten Hitler töten» einen anderen Anschein erweckt.

Dieses zuletzt erschienene Buch ist zugleich das problematischste. Nach vielen Gesprächen mit Boeselager haben es Florence und Jérôme Fehrenbach auf Französisch zu Papier gebracht. Ge-schrieben ist es in der Ich-Form. Die Übersetzung ins Deutsche hat Boesela-ger, Offizier der Légion d’honneur, sel-ber bearbeitet. Authentizität lässt sich dem Buch also nicht absprechen. Es ent-hält zudem bisher unbekannte Einzel-heiten. Es liest sich leicht, ist verständ-lich, aber in erster Linie eine Biografie und weniger eine Auseinandersetzung mit dem deutschen Widerstand.

Offizier in GewissensnotAntonius John hat eine Neuauflage sei-nes 13 Jahre alten Buches über Boese-lager vorgelegt. Er schreibt aus der Per-spektive eines Unteroffiziers, der selbst an der Ostfront kämpfte und zeitweilig der Reiterbrigade Boeselager unterstellt war. John war Augenzeuge, und er hat die Notizen über Unterhaltungen mit Boese-lager durch eigene Eindrücke, Erlebnisse und Erfahrungen angereichert. Ihn wie

die Autoren des dritten Buches, Doro-thee von Meding und Hans Sarkowicz, zeichnet eine ausführliche Auseinander-setzung mit den Gewissenskonflikten aus, in die Boeselager und die anderen Widerständler in der deutschen Wehr-macht gerieten. Meding und Sarkowicz schildern nicht nur, was sie aus Boese-lagers Mund erfuhren. Sie haben grosse Teile eines Interviews zusätzlich in Wort und Ton festgehalten, nämlich auf einer dem Buch beiliegenden Audio-CD, was aus dem Ganzen ein Dokument der Zeit-geschichte werden lässt.

Der junge Boeselager war zuallererst Soldat. Für Politik interessierte er sich allenfalls am Rande. Zwei Schlüssel er leb-nisse aber liessen aus der eher ge fühls-mässigen Abneigung gegen Hitler die Be -reitschaft zum aktiven Widerstand wer-den. Als Ordonnanzoffizier musste er mitanhören, wie ein SS-Obergruppenfüh-rer sich zur wahllosen Er schiessung von Zigeunern und Juden bekannte. Dann die Begegnung mit Oberstleutnant Henning von Tresckow, der ihm endgültig die Augen öffnete, «für mich war er wie ein Bruder», sagt Boeselager über ihn. Tre-sckow war neben General Hans Oster im fernen Berlin die treibende Kraft des Widerstands in der kämpfenden Truppe. Skrupel, den Fahneneid zu brechen und den Tyrannenmord zu wagen, wischte Tresckow mit den Worten beiseite: «Den-ken Sie daran, 16 000 Menschen werden täglich umgebracht. Das wollen wir stop-pen» – wie sich Boeselager im Interview mit Dorothee von Meding erinnert.

Ein kleines Rädchen, oder doch eine Schlüsselfigur? Irgendwie trifft auf Boe-

selager beides zu. Im März 1943 war er mit anderen Offizieren bereit, Hitler bei einem der seltenen Frontbesuche zu erschiessen. Allein, der eingeweih-te Feldmarschall Kluge verbot den Anschlag, weil Heinrich Himmler, der Reichsführer SS, nicht mitgekommen war. Kluge befürchtete einen Bürger-krieg zwischen Wehrmacht und SS.

Den Nazis entkommenBoeselager besorgte dann, ohne sich dessen zunächst bewusst zu sein, den Sprengstoff für Graf von Stauffenbergs Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Sein älterer Bruder Georg war auf die Idee gekommen, ein Reiterregiment zu bilden, das John «die neue Truppe für Front und Staatsstreich» nennt. Tresckow verfügte nun nicht nur über mobile Einheiten zur Sicherung des Rückzugs und zur Partisanenbekämpfung, sondern auch zur Unterstützung eines Machtwech-sels in Berlin. Boeselager hatte sich mit 1200 Reitern schon auf den Weg in die Reichshauptstadt gemacht, musste aber, als das Scheitern des Attentats bekannt- wurde, wieder zurück an die Front.

Wie ein Wunder erscheint, dass die Nazis Boeselager nicht auf die Spur kamen. Sein Leben verdankte er der Schweigsamkeit seiner verhafteten und gefolterten Mitstreiter. Er brachte es im September 1944 sogar zum Sachbearbei-ter für Kavallerie im Oberkommando des Heeres. Man wusste zwar voneinander, aber mit Stauffenberg redete Boeselager nie ein Wort. Für die Widerständler galt die eiserne Regel, nur dienstlich not-wendige Kontakte zu pflegen. ●

Besorgte Sprengstoff für das Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944: Philipp von Boeselager (1917–2008).

Sachbuch

Nationalsozialismus Mit Philipp von Boeselager starb 2008 ein Überlebender des 20. Juli 1944

Einer unter vielen, aber auch Schlüsselfigur des Widerstands

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28. September 2008 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25

Marlene Zuk: Was wäre das Leben ohne Parasiten? Warum wir Krankheiten brau -chen. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2008. 330 Seiten, Fr. 46.50.

Von Hermann Feldmeier

Sprache ist verräterisch. Besonders wenn wir über Infektionskrankheiten spre-chen: Eine besonders leistungsfähige Variante der weissen Blutkörperchen heisst Killerzelle, und in ihrer Gesamt-heit werden die Immunzellen gerne als die Polizei des Körpers bezeichnet. Die Werbung will uns jeden Tag weisma-chen, dass in Badezimmer und Küche eine Invasion von Keimen droht, falls wir diesen nicht mit chemischen Präven-tivmassnahmen zu Leibe rücken.

Doch was wäre, wenn Krankheit gar nicht unser Feind wäre, sondern eine Kraft, mit der man lernen kann umzuge-hen? Was würde sich ändern, wenn wir Erreger nicht länger als Feinde, sondern eher als Familienmitglieder betrachten? Wie diese suchen wir sie uns zwar nicht aus, aber ohne sie ist unser Leben auch nicht vorstellbar.

Wir hätten nicht nur ein neues Denk-modell für den Umgang mit krankma-chenden Mikroorganismen. Möglicher-weise ergäben sich auch neue thera-peutische Ansatzpunkte, die bislang von der Forschung vernachlässigt wurden, meint Marlene Zuk. Die Evolutionsbio-login an der Universität von Kalifornien in Riverside ist überzeugt, dass ein sol-cher Paradigmenwechsel längst über-fällig ist. Infektionskrankheiten gab es schon immer, sagt die Professorin, und

belegt dies mit gut resümierter wissen-schaftlicher Fachliteratur. Sie sind nor-mal, natürlich und – das ist das Neue an der These – für unser kollektives Wohl-befinden sogar unerlässlich.

Krankmachende Agenzien haben uns geformt, seit unsere Vorfahren vor rund drei Millionen Jahren begannen, auf zwei Beinen zu gehen. Krankheitserreger sind selbst Lebewesen, und ihr Schicksal ist eng mit unserem verwoben. Koevolution nennt die Biologie das Prinzip: In einem Ökosystem entwickeln sich Lebewesen stets gemeinsam, «Kosten» und «Nut-zen» für die beteiligten Spezies sind nicht statisch vorgegeben, sondern auf Populationsebene in einem dynamischen Gleichgewicht.

Dieser neue Denkansatz ist nicht nur wissenschaftstheoretisch interessant, son dern ermöglicht auch neue praktische Einsichten. Asthma und Allergien bei-spielsweise, heutzutage in jedem Kin der-garten so häufig wie der Migrationshin-tergrund, stehen in einem reziproken Ver-hältnis mit Körper- und Haushaltshygie-ne. Will heissen, die Wahrscheinlichkeit, an Heuschnupfen, Neurodermitis und Co zu erkranken, sinkt, je häufiger Klein-kinder mit Bakterien und Viren in Kon-takt kommen können. Der Slogan «Lass das liegen, wer weiss, wer das schon alles angefasst hat» reflektiert also ein Ver-haltensmuster, das die Entstehung von Al lergien begünstigt. Wie dieser Mecha-nismus auf zellulärer Ebene funktioniert, beschreibt Zuk un terhaltsam im Abschnitt «Die wohltemperierte T-Zelle».

Auch entzündliche Darmerkrankun-gen wie der Morbus Crohn sind vermut-lich Folge eines Immunsystems, dem die

Balance durch fehlenden Kontakt mit Umweltkeimen in der Kindheit abhan-dengekommen ist. In logischer Konse-quenz behandelt ein Professor des re -nommierten Tufts New England Medical Center in Boston Patienten mit der Crohnschen Krankheit mit lebenden Eiern des Peitschenwurms vom Schwein, um ihr Immunsystem in die richtige Bahn zu lenken. Und er hat Erfolg mit seiner unkonventionellen Methode: Bei fast drei Viertel seiner Patienten ver-schwinden die Symptome der Darment-zündung, wenn sie alle drei Wochen eine Minidosis der ungefährlichen Parasiten-Eier schlucken.

Die Evolutionsbiologin hat nicht nur einen scharfen Verstand, sie kann auch gut schreiben. Wenig Fachjargon, Ver-zicht auf unnötige Details bei der Dar-stellung der zitierten Fachliteratur und eine klare Sprache machen das Buch zu einer spannenden Abendlektüre. Wer die elf Themenkomplexe vertiefen will, fin-det zu jedem Kapitel 30 bis 50 Verweise auf entsprechende Fachliteratur. So hebt sich das Buch angenehm von den unzäh-ligen Gesundheitsratgebern ab, die zwar spezifische therapeutische Ratschläge liefern, aber nie über den medizinischen Tellerrand hinausschauen. ●

Gesundheit Exzessive Hygiene schadet mehr, als sie nützt – meint eine neue Studie

Keim und Krankheit, deine Freunde

Neil Shubin: Der Fisch in uns. Eine Reise durch die 3,5 Milliarden alte Geschichte unseres Körpers. Fischer, Frankfurt am Main 2008. 281 Seiten, Fr. 35.40.

Von Georg Sütterlin

Vom Astronomen Carl Sagan stammt der Satz, ein Blick zu den Sternen sei ein Blick in die Vergangenheit. Deren Licht hat seine Reise nämlich lange vor dem Ent-stehen unserer Welt angetreten. Wenn der Paläontologe Neil Shubin in den menschlichen Körper blickt, entdeckt er darin eine Entwicklungsgeschichte, die bis zur Entstehung des Lebens vor drei-einhalb Milliarden Jahre zurückreicht.

Shubin ist vor einigen Jahren bekannt-geworden, weil sein Team in der Arktis einen aufsehenerregenden Fund machte: ein Fossil, das sie Tiktaalik nannten und das den evolutionären Übergang von Fischen zu Landwirbeltieren vor rund 350 Millionen Jahren belegt. In seinem neuen, kompakt und anschaulich ge schriebenen Buch nimmt Shubin den Leser mit auf eine Zeitreise durch den menschlichen Körper und beschreibt, was sich darin über unser Herkommen finden lässt. Ske-lett, Muskeln, Nerven, Gehirn verraten unsere Verbindungen mit uralten, längst verschwundenen Lebensformen. Shubin illus triert die mitunter trockene Materie mit überraschenden Erkenntnissen. So verweist etwa der Schluckauf auf jenen

Teil un serer Ge schichte, den wir mit Kaulquappen ge meinsam haben. Und wenn Männer zu Leistenbrüchen neigen, so hat das damit zu tun, dass sich unser Säugetierkörper aus einem Fischkörper entwickelt hat.

Paläontologen denken in grossen Zeiträumen, aus ihrer Perspektive ist die Geschichte unserer Art sehr kurz. Homo sapiens gibt es erst seit einigen zehn-tausend Jahren. Shubin zweifelt nicht daran, dass auch wir eines Tages von der Erde verschwunden sein werden, so wie 99 Prozent aller jemals existenten biolo-gischen Arten. Wenn sich also bei der Lektüre neben dem Staunen eine gewisse Demut einstellt, so ist das unvermeid-lich – und durchaus wohltuend. ●

Paläontologie Der menschliche Körper als uraltes Bauwerk zeigt Spuren seiner langen Entstehung

Vor Milliarden von Jahren

Kinder dürfen mit Dreck spielen, so bleiben sie gesund.

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Strassenverkehr wie in Los Angeles erfor-dert höchste Konzen-tration. Autor Tom Vanderbilt (unten).

26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2008

Zoltán Sebök: Parasitäre Kultur.Kulturverlag Kadmos, Berlin 2008. 220 Seiten, Euro 18.50.

Von Sieglinde Geisel

Der 1958 geborene ungarische Kunst-historiker Zoltán Sebök wundert sich über die Allgegenwart von Ohrwürmern oder viel zitierte Sätze wie «Das Leben ist eine Wanderung». Er sieht darin «Ge -dankenviren», die unser Gehirn infi-zieren – oder «Meme», wie man es seit den siebziger Jahren nennt, als kultu-relle Entsprechung zum Gen. Indem Zoltán Sebök dieses Modell weiterdenkt (das natürlich längst selbst zu einem Mem geworden ist), kommt er auf sein Leitmotiv der «parasitären Kultur». Kul-tur sei nichts anderes «als das Zusam-

Essay Kultur ist nur das Spiel erfolgreich kopierter Ideen, sagt ein ungarischer Kunsthistoriker

Durch die Welt des Denkens flanierenmenspiel erfolgreich kopierter Meme», die unser Gehirn zu ihrer Verbreitung nutzen.

Zoltán Sebök habe sich «in einer Art Niemandsland der Kunsttheorie und der Philosophie» niedergelassen, schreibt László Földényi im Nachwort. Das Anekdotische ist Seböks Element, eine schelmische Ironie sein Stilmittel. Er ist, im besten Sinn, ein parasitärer Autor, der durch die Welt des Denkens flaniert und sich dabei von den Gedan-ken anderer anstecken lässt. Dabei ver-rät er eine wache Spürnase für moderne Mythen, die wir nicht erkennen, weil wir ein Teil von ihnen sind. Über Kunst und Simulation, Original und Fälschung denkt Sebök ebenso nach wie über unse-re oft seltsame Beziehung zu Gegen-ständen. Er erzählt Geschichten, in de -nen sich die Geschichte spiegelt (was

etwa widerfuhr dem Mädchen Gelia, das von Stalin auf einer Fotografie umarmt worden war?), und er schreibt Porträts, in denen eine ganze Kunst-theorie steckt.

Das Soz-Art-Duo Komar und Mela-mid etwa führte in der Sowjetunion die Identifikation mit Väterchen Stalin ad absurdum, in den USA unterwarfen sie ihre Kunst dann scheinheilig dem Diktat von «Väterchen Mehrheit» und malten Bilder nach Meinungsumfra-gen. «Ebenso wie früher kritisierten sie auch in diesem Fall nichts und nie-manden, sie waren einfach nur neugie-rig, was aus den Idealen wird, wenn sie verwirklicht werden.» Ein Jammer nur, dass man Seböks leichtfüssigen, hei-teren Ernst in der ungelenken (und an vielen Stellen fehlerhaften) Überset-zung oft erahnen muss. ●

Das amerikanische Buch Der Mensch hinter dem Steuerrad: eine Liebesaffäre

Autofahrer neigen dazu, ihre eigenen Fähigkeiten am Steuer zu überschät-zen. Das führt neben Rüpelhaftigkeit zu Langeweile und der Bereitschaft, sich ablenken zu lassen. Wie Tom Vanderbilt in seinem aktuellen Bestseller Traffic: Why We Drive the Way We Do (and What It Says About Us) (Knopf, 416 Seiten) erklärt, kommt es zu 80 Prozent aller Unfälle, weil sich Fahrer drei Sekunden lang nicht voll auf die Strasse und den Verkehr konzentriert haben. Dabei ist keine Ablenkung am Steuer gefähr-licher und trotz aller Gesetze in den USA weiter verbreitet, als es der Ge-brauch des Mobiltelefons ist. Und die meisten Unfälle – die laut «Traffic» meist keine Zufälle sind, sondern von Fahrern verursacht werden – ereignen sich nicht etwa auf schmalen, schlecht ausgebauten Gebirgsstrassen, sondern auf breiten Fernstrassen oder in ver-trauter Umgebung: Je «sicherer» uns eine Situation erscheint, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es ge-rade im nächsten Moment kracht, so Vanderbilt.

Der Journalist und Sachbuchautor hat sich auf ein Terrain begeben, das bislang Ingenieuren und Verkehrs-planern vorbehalten war. Vanderbilt verdankt diesen eine Fülle techni-scher und naturwissenschaftlicher In-formationen, die er unterhaltsam aufbereitet. Er zeigt auch anhand eigener Erfah rungen, dass der Mensch ständig an oder jenseits der Grenzen seines körperlichen und geistigen Potenzials operiert, sobald er die Pferdchen unter der Motorhaube weckt. Laut Vanderbilt verlangt der Verkehr jedem Automo bilisten zwischen 1500 und 2500 körperliche und geistige Fähig keiten und Akti-vitäten ab, zudem muss er bei Tempo 50 in den USA pro Minute durch-

schnittlich 1320 Informationseinheiten verar beiten.

Wie die «Washington Post» in ihrer be-geisterten Rezension notiert, bilden Strassen und Autos «das Herz unserer modernen Existenz» und der amerika-nischen Populärkultur. Aber «Traffic» stelle den gelungenen und eigentlich lange überfälligen ersten Versuch dar, dieses Thema in all seinen Facetten aus-zuleuchten. Auch die «New York Times» lobt das vor wenigen Wochen publizierte Buch als «überraschenden, erhellenden Blick auf die Psychologie

der Menschen hinter dem Steuerrad». Vanderbilt gliedert sein Thema in ein-zelne Bereiche von der Stau-Bildung über Frauen am Steuer bis zum Span-nungsverhältnis zwischen Anonymität und Kooperation auf den Strassen. Dass gegenseitige Rücksichtnahme allen Verkehrsteilnehmern hilft, ist nur eine Erkenntnis, die Vanderbilt etwa aus dem Vergleich zwischen Autofah-rern und Wanderameisen zieht. Letz-tere sind kooperativer und kommen schneller zum Ziel. Frauen scheinen dies besser zu verstehen als die aggres-siveren Männer. Aber da sie neben familiären Pflichten zunehmend Berufe schultern, sind Amerikanerinnen im-mer länger auf Achse und damit in weitaus mehr Unfälle verwickelt als noch vor 20 Jahren.

Was für einzelne Fahrer gilt, trifft laut «Traffic» auf die amerikanische Ge-sellschaft insgesamt zu. Das Strassen-netz der USA wird seit den siebziger Jahren kaum noch modernisiert und hat die Grenzen seiner Leistungsfähig-keit längst erreicht. Vanderbilt plädiert für radikale Schritte wie Strassenzölle oder die Vervielfachung der Parkge-bühren, um wenigstens Ballungszen-tren zu entlasten. Der Autor stösst sich an der Gelassenheit, mit der Amerika seine 40 000 Verkehrstoten im Jahr hinnimmt. Aber Vanderbilt erwartet trotz steigender Ölpreise und zuneh-mender Verkehrsdichte nicht, dass die Amerikaner ihre «Liebesaffäre mit dem Auto» aufkündigen. Dafür skiz-ziert «Traffic» am Ende eine sichere Zukunft, in der Autos untereinander und mit den Strassen kommunizieren, um ihre Insassen als Verkehrshindernis auszuschalten. Bis dahin sind die Fahrer gut beraten, zumindest ihre Handys zu ignorieren. ● Von Andreas Mink

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Sachbuch

Page 27: OrhanPamuk Das Museum der Unschuld | Schwerpunkt ... · Schriftsteller und Nobelpreisträger Orhan Pamuk – zum munteren Gespräch über sein neues Buch und die politische Situation

Agenda

28. September 2008 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27

BaselMontag, 13. Oktober, 19 UhrZülfü Livaneli: Glück-seligkeit. Lesung, Fr. 15.–. Literaturhaus, Barfüsser-gasse 3, Tel. 061 261 29 50.

Mittwoch, 15. Oktober, 20 UhrPascal Voggenhuber: Nachricht aus dem Jenseits. Vortrag, Fr. 12.–. Thalia, Freie Strasse 32, Tel. 061 264 26 55.

Dienstag, 21. Oktober, 20 UhrAllan Guggenbühl: Anleitung zum Mob-bing. Vortrag, Fr. 12.–. Thalia (s. oben).

Mittwoch, 29. Oktober, 20 UhrArnold Hottinger: Die Länder des Islam.Vortrag, Fr. 12.–. Thalia (s. oben).

BernMontag, 13. Oktober, 20 UhrFlorianne Koechlin: Pflanzen-Palaver. Vortrag, Fr. 12.–. Stauffacher Buchhand-lung, Ryffligässchen 8, Tel. 031 313 63 63.

Sonntag, 19. Oktober, 20 UhrAndrej Kurkow: Picknick auf dem Eis. Lesung, Fr. 15.–. Schlachthaus Theater, Rathausgasse 20, Tel. 031 312 96 47.

Mittwoch, 22. Oktober, 20 UhrHansjörg Schertenleib: Das Regen-orchester. Lesung, Fr. 12.–. Stauffacher (s. oben).

SolothurnDienstag, 21. Oktober, 19 UhrKarin Wenger: Checkpoint. Lesung und Dîner litteraire, Fr. 55.–. Hotel Restau-rant Baseltor, Tel. 032 622 34 22.

ZürichDienstag, 7. Oktober, 20 UhrJacques Chessex: Le vampir de Ropraz. Lesung, Fr. 15.– inkl. Apéro. Literatur-haus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 08.

Donnerstag, 9. Oktober, 18.15 UhrAdolf Muschg: Kinderhochzeit. Lesung. Semper-Sternwarte, Schmelzbergstr. 25, Anmeldung Tel. 044 632 69 06.

Donnerstag, 16. Oktober, 20 UhrBernhard Thurnheer, Beatrice Tschanz, Klara Obermüller, Adolf Ogi und Christoph Keckeis: Starke Worte. Buchpremiere, Fr. 25.–. Kaufleuten, Festsaal, Tel. 044 225 33 77.

Donnerstag, 23. Oktober, 20 UhrGertrud Leutenegger: Matutin. Lesung und Ge-spräch, Fr. 15.– inkl. Apéro. Literaturhaus (s. oben).

Agenda Oktober 2008

Bücher am Sonntag 10/08 erscheint am 26. 10. 2008

Südafrikas Küste Naturwunder und Zivilisationsmüll

Die Küste Südafrikas spannt sich über 2500 Kilome-ter. Sie grenzt an zwei Ozeane und umfasst blühende Landschaften wie Wüsten und steinige Einöden, Urwälder wie chaotische Städte. Streusiedlungen gehören zu ihr, aber auch Slums und improvisierte Märkte. Das Land ist als Reiseziel für Touristen, die eine überwältigende Fauna und Flora geniessen wollen, ein Traum, für Bewohner, die im Alltag der

horrenden Kriminalität und extremen sozialen Ge gen -sätze leben müssen, aber ein Albtraum. Der 1961 in Dinslaken geborene Fotograf Jörn Vanhöven hat diese Widersprüche dokumentiert. Seine Aufnahmen ver-binden Exaktheit und Emotion. Manfred PapstSüdafrikas Küste. Bilder von Jörn Vanhöfen. Texte von Zora del Buono. Hrsg. von Nikolaus Gelpke. Mare, Hamburg 2008. 136 Seiten, Fr. 82.90.

GO

KH

AN

YIL

MA

Z

1 Rhonda Byrne: The Secret. Das Geheimnis. Goldmann. 237 Seiten, Fr. 30.90.

2 Guinness-Buch der Rekorde 2009. Brockhaus. 275 Seiten, Fr. 35.50.

3 Bernhard Moestl: Shaolin. Droemer/Knaur. 239 Seiten, Fr. 27.50.

4 Rüdiger Schache: Das Geheimnis der Herz- magneten. Nymphenburger. 200 S., Fr. 32.

5 Der Duden: Die deutsche Rechtschreibung. Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 38.80.

6 André Comte-Sponville: Woran glaubt ein Atheist? Diogenes. 240 Seiten, Fr. 35.90.

7 Ernst J. Schneiter: Zivilgesetzbuch. Orell Füssli. 848 Seiten, Fr. 39.–.

8 Hape Kerkeling: Ich bin dann mal weg. Malik. 346 Seiten, Fr. 35.40.

9 Bärbel Mohr: Bestellungen beim Universum. Omega. 136 Seiten, Fr. 19.50.

10 Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Goldmann. 398 Seiten, Fr. 27.50.

1 Sven Regener: Der kleine Bruder. Eichborn. 281 Seiten, Fr. 35.90.

2 Franz Hohler: Das Ende eines ganz normalen Tages. Luchterhand. 140 Seiten, Fr. 31.90.

3 Noah Gordon: Der Katalane. Blessing. 496 Seiten, Fr. 34.90.

4 John Grisham: Berufung. Heyne. 464 Seiten, Fr. 34.90.

5 Andrea Camilleri: Die schwarze Seele des Sommers. Lübbe. 288 Seiten, Fr. 35.90.

6 Charlotte Roche: Feuchtgebiete. Dumont. 219 Seiten, Fr. 27.50.

7 Cecelia Ahern: Ich hab dich im Gefühl. Krüger. 416 Seiten, Fr. 29.90.

8 Hakan Nesser: Eine ganz andere Geschichte. Btb. 588 Seiten, Fr. 34.90.

9 Henning Mankell: Der Chinese. Zsolnay. 608 Seiten, Fr. 48.–.

10 Christian Haller: Im Park. Luchterhand. 185 Seiten, Fr. 31.90.

Sachbuch

Bestseller September 2008

Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 17. 9. 2008. Preise laut Angaben von www.buch.ch.

Belletristik

Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich.

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spräch, Fr. 15.– inkl. Apéro.

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Page 28: OrhanPamuk Das Museum der Unschuld | Schwerpunkt ... · Schriftsteller und Nobelpreisträger Orhan Pamuk – zum munteren Gespräch über sein neues Buch und die politische Situation