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Europäische Union Zeitenwende von Harry U. Elhardt Sechzehn Millionen britische Wähler votierten am 23. Juni 2016 für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Fünfzehn Millionen wollten das nicht. Die meisten von denen jung, gebildet, aus London oder Schottland. Darin mögen die Europäer unter den Briten Trost finden, ändern tut sich nichts. Die Würfel sind gefallen - auch für den Rest Europas. Was das britische Votum für die zurückgewiesene Europäische Union bedeutet, wird sich im Lauf der Zeit erst erweisen. Für das Vereinigte Königreich traten erste Kollateralschäden sofort zutage: Rücktritt der Regierung Cameron, das Pfund unter Druck, Turbulenzen auf den Finanzmärkten und Warnungen aller Art und allenthalben, von Washington bis Beijing. Und was die City Flash Boys wohl am meisten stören dürfte: Herabstufungen durch die Ratingagenturen. In Paris und Brüssel war die Verstörung fast greifbar; in Berlin hingegen bemühte sich die Kanzlerin, Ruhe zu bewahren, was im Lichte der epochalen Entscheidung der Briten seltsam anmutete. Immerhin ist klar, dass nicht nur ein Land, das Vereinigte Königreich, die Konsequenzen zu schultern hat, sondern auch die 27 anderen, die in der Europäischen Union verblieben sind - die zur Zeit noch

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Page 1: OWN  WRITING   Gazette  18  Zeitenwende

Europäische Union

Zeitenwendevon Harry U. Elhardt

Sechzehn Millionen britische Wähler votierten am 23. Juni 2016 für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Fünfzehn Millionen wollten das nicht. Die meisten von denen jung, gebildet, aus London oder Schottland. Darin mögen die Europäer unter den Briten Trost finden, ändern tut sich nichts. Die Würfel sind gefallen - auch für den Rest Europas.

Was das britische Votum für die zurückgewiesene Europäische Union bedeutet, wird sich im Lauf der Zeit erst erweisen. Für das Vereinigte Königreich traten erste Kollateralschäden sofort zutage: Rücktritt der Regierung Cameron, das Pfund unter Druck, Turbulenzen auf den Finanzmärkten und Warnungen aller Art und allenthalben, von Washington bis Beijing. Und was die City Flash Boys wohl am meisten stören dürfte: Herabstufungen durch die Ratingagenturen.

In Paris und Brüssel war die Verstörung fast greifbar; in Berlin hingegen bemühte sich die Kanzlerin, Ruhe zu bewahren, was im Lichte der epochalen Entscheidung der Briten seltsam anmutete. Immerhin ist klar, dass nicht nur ein Land, das Vereinigte Königreich, die Konsequenzen zu schultern hat, sondern auch die 27 anderen, die in der Europäischen Union verblieben sind - die zur Zeit noch verblieben sind, ist man versucht hinzuzufügen.

*

Britische Wähler haben die in der ‚Verfassung‘ der EU ver-ankerte offene Gesellschaft mit ihren Grundwerten wie Asylrecht und Freizügigkeit just in Zeiten globaler Unsicherheit und nationalistisch-völkischer Bewegungen mit der ‚knappen‘ Mehrheit

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von einer Million Stimmen entscheidend abgelehnt. Die Masse der ablehnenden Stimmen formierte sich dabei in England - das multi-kulturelle und polyglotte London ausgenommen - wobei in diesem England im ersten Monat nach dem Referendum die Anzahl der ‚Hassverbrechen‘ an EU-Ausländern um das Vierfache zunahm, wie die zuständigen Polizeibezirke Englands auf Anfrage des Guardian mitteilten.

Vor diesem Hintergrund nimmt einem der Kommentar von Berthold Kohler, dem Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, regelrecht den Atem: „Europa wird nur das sein können, was es nach dem Willen seiner Völker sein soll.“

Denn, nach vorne schauend, wird sogleich deutlich: Dieses England ist nicht allein und das künftige Europa könnte „nach dem Willen seiner Völker“ ein häβlich-abstoβendes Aussehen annehmen.

*

Gegen Europa wg EigennutzBereits zwei Monate vor dem Referendum der Briten ‚scharrten die Dänen mit den Hufen,‘ als Kristian Thulesen Dahl, der Führer der Dansk Folkeparti (Dänische Volkspartei), der zweitgröβten Partei Dänemarks, kräftig die Trommel rührte, um ein dänisches Exit-Referendum einzufordern. Dabei stünden die Chancen ein solches Referendum zu bekommen gar nicht schlecht.

Dänemark wurde im selben Jahr Mitglied Europas wie das Vereinigte Königreich, im Jahr 1973, mit demselben gebremsten Enthusiasmus, der sich auf nie mehr als Sparflamme erwärmte - wie bei den Briten.

Ebenso wie die Briten lehnen die Dänen eine Mitgliedschaft im Euro vehement ab; und ähnlich den Briten profitieren die Dänen von einer langen Liste von opt-outs, die sie analog zu den Briten eigentlich zu einem eher “virtuellen” EU-Mitglied machten.

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Und im gleichen Schritt und Tritt mit Briten wollen auch Dänen raus aus Europa und dennoch am gröβten ent-wickelten Wirtschaftsraum der Welt teilhaben. Zwar sagt man im Englischen zu einer solchen Forderung: „You can’t have your cake and eat it“ - auf deutsch: „man kann seinen Kuchen nicht behalten wollen und gleichzeitig verspeisen“ - aber Briten und Dänen wollen genau das.

Und das will man auch am Südufer des Armelkanals.

*

Marine Le Pen, die Chefin der französischen Rechtspartei, Front National (FN), war sofort zur Stelle mit der Forderung nach einem baldigen “Frexit.“

Aus Den Haag kam wie erwartet das Echo von Geert Wilder von der Partij voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit), der nun ebenfalls mit einem “Nexit” dieses von ihm so gehasste Europa verlassen will.

Und aus Stockholm berichtet das schwedische Meinungs-forschungsinstitut Sipo Research International von der zunehmenden Zahl von Schweden, die durch einen „Swexit“ in eine glorreiche ‚schwedische‘ Zukunft aufbrechen wollen.

Für den Moment kann sich Europa damit trösten, dass keiner der drei an der Macht ist.

Aber schon im Mai nächsten Jahres könnte nicht nur Frankreich selbst, sondern auch die deutsch-französische Partnerschaft und mit ihr ganz Europa komplett neu definitert werden, sollte Marine Le Pen die Präsident-schaftswahlen gewinnen. Dass sie Frankreich aus der Europäischen Union führen würde, daran lässt sie keine Zweifel aufkommen; gleiches gilt für NATO. Allerdings: Zur deutsch-französischen Vertragspartnerschaft kam von ihr bis jetzt kein Komentar. Kein gutes Zeichen,

Dass ein Sieg Le Pens nicht auszuschlieβen wäre, zeigt allein schon der Blick auf das Ergebnis der Regionalwahlen vom vergangenen Herbst, als Marine Le Pens FN sieben von 13 Regionen

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Frankreichs gewonnen hat. Zweifellos eine solide Basis für ein gutes, nationales Wahlergebnis.

Die schwächelnden Umfragewerte von François Hollande und Nicolas Sarkozy sind dabei nicht berücksichtigt.

*

Die tour d’horizon der Champions nationalen Eigennutzes im westlichen Europa könnte schon im Herbst dieses Jahres auch auf Österreich ausgedehnt werden, dessen Absturz ins Völkische durchaus passieren mag, sollte der Präsidentschaftskandidat der Freiheitlichen, Norbert Hofer, die vom Obersten Gericht in Wien angeordnete Wiederholung der Wahl vom April dieses Jahres gewinnen. Zwar hätte das Land trotz alledem noch eine sozialdemokratisch geführte Regierung, doch der ohnehin stärker gewordene Einfluss der Freiheitlichen würde durch einen Sieg Hofers keinesfalls schwächer.

Im Gegenteil: Die Diplomatie der Erben des KuK-Imperiums sucht schon seit geraumer Zeit nach einem eigenen Weg Österreichs.

Auf seiner Suche nach ‚nationaler Identität‘ dockt das Land vorsichtig aber zielstrebig von Europa ab und drifted auf die Nachbarn in Budapest, Bratislava und Prag zu. Die Wiener nähern sich damit Dreien aus dem Viererbund von Visegrad an, der unter der polnischen Präsidentschaft der Europäischen Union den Kampf angesagt hat.

An dieser Stelle drängt sich ein unerhörter Gedanke auf, wonach ein historischer Gesinnungsgenosse der Hoferschen Freiheitlichen hier von ‚Vorsehung‘ sprechen würde

*

Feinde im InnernGedankengut des ‚Ahnen aus Österreich‘ feiert in Warschau fröhliche Urständ. Das ist nicht mehr neu.

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Es ist hinlänglich bekannt, dass Kaczyński den Rechtsstaat in Polen auβer Kraft gesetzt hat, indem er nicht nur die Partei selbst (PiS) im Warschauer Parlament kommandiert, sondern auch die Premierministerin, Beata Maria Szydło, sowie den Staatspräsidenten, Andrzej Duda. Selbstredend gehören alle handelnden Personen der PiS an.

Die Gesetzgebung kann somit nicht beeinflusst werden. Sollte jedoch das Verfassungsgericht, dem man ebenfalls eine gesetzliche Zwangsjacke verpasste, trotz alledem die vom PiS-Staatspräsidenten unterzeichneten Gesetze für unwirksam erklären, lacht man die Obersten Richter des Landes aus und erklärt sich an den Richterspruch nicht gebunden. Wie erst jüngst geschehen. Kurzum: Das Polen Kaczyńskis hat faktisch und juristisch wesentliche Grundvoraussetzungen einer Mitgliedschaft in der EU auβer Kraft gesetzt.

Und die Folgen?

So gut wie keine. Im Europäischen Rat, dem letztendlichen Entscheidungsgremium Europas, schachern nationale Regierungen - man kann es nicht oft genug sagen: nationale Regierungen und nicht eine anonyme „EU“ - um Politiken und Gesetze, darunter auch das Flüchtlingsabkommen, das selbst nach den von den nationalen Regierungen gnadenlos erzwungenen Verwässerungen den Polen immer noch zu ‚groβzügig‘ erscheint, so dass es von der polnischen Regierung schlechterdings ignoriert wird.

Und trotz dieser Sachlage meint Autor und Soziologe Jean Ziegler er müsse „die EU“ anklagen indem er von der europäischen Flüchtlingspolitik als einem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ spricht. Da springt wohl einer auf den ‚band wagon,‘ auf dem man ungehemmt wider die EU posaunt. Es scheint so, als müsse er der wohlfeilen europaweiten Kakophonie halt auch sein Tönchen hinzublasen.

Zur Erinnerung: Es ist die Flüchtlingspolitik, die den Briten als bester Vorwand zum Exodus aus Europa

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diente; es ist die Flüchtlingspolitik, die sich Polen, Ungarn et al zunutze machen, um gegen Europa zu kämpfen. Und die tun das nicht, weil Europa etwa zu wenig Flüchtlinge aufnimmt.

*

Zurück zum Rat: Unter den 28 nationalen Regierungen unter dem Vorsitz des Polen Donald Tusk gab es bisher keine erkennbaren Kritiken an den eklatanten Rechtsbrüchen Polens. Au contraire: Tusk hatte bereits vor Monaten vor jeder juristischen Initiative gegen Polen gewarnt.

Und in der Tat hat sich auf europäischer Ebene nur einer zur Wehr gesetzt: Jean-Claude Juncker, der Chef der Kommission. Juncker ordnete eine Untersuchung nach dem in Artikel 7 festgelegten Vertragsverletzungsverfahren an - vergleichbar mit einem Normenkontrollverfahren – das zu einem Entzug der Stimmrechte Polens im Rat führen könnte.

Von der Warschauer Führungsriege war wie nicht anders zu erwarten Häme und Gelächter in Richtung Brüssel zu vernehmen und dazu noch die Forderung des polnischen Auβenministers, Witold Waszczykowski, Jean-Claude Juncker solle unverzüglich seinen Stuhl räumen.

Und die Polen legten nach, indem sie mit ihren Visegrad-Bündnispartnern nun im Gleichschritt gegen „die EU“ zu Felde ziehen. Das erklärte Ziel der Visegrad-Verbündeten: Die Kommission als letzte Instanz, die über die Einhaltung der Verträge - sprich: der europäischen Verfassung - wacht, soll „zurückgebaut“ werden. Nach den Vorstellungen der vier Regierungschefs - der Polin Szydło, des Ungarn Orban, des Tschechen Sobotka und des Slowaken Fico - soll es künftig nur noch den Rat als einziges Entscheidungsgremium geben.

Damit wären dann auch die Grundwerte Europas Makulatur, weil nach diesem erklärten Politikziel nur die nationalen Regierungen die Interpretationshoheit hätten. Wie in Warschau schon jetzt, würde man auch sonstwo in Zukunft nur

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das gemeinsam tun, was dem nationalen Interess dient.

Es ist wahrlich kein Zufall, dass dieses mit grenzenloser Frechheit beschlossene und auch so veröffentlichte Politikziel der Vier mit dem Brexit in perfider Synchronität daherkommt.

Wie sagte der FAZ-Herausgeber? „Europa wird nur das sein können, was es nach dem Willen seiner Völker sein soll.“

Man stelle sich vor, Berthold Kohler hat recht, dann werden die Völkischen in wenigen Jahren in Europa die Macht haben. Und absehbar ist dann auch, dass sich die re-nationalisierten Politiken früher oder später gegeneinander richten werden.

Um solche Eventualitäten einzugrenzen, gibt es die parlamentarische und nicht die plebiszitäre Demokratie. Aber so wie einst die Nazis die parlamentarische Demokratie abtrieben, so tun es Kaczinskis Polen jetzt wieder, deren antidemokratische Rhetorik längst in antidemokratischer Gesetzgebung manifestiert ist. Die antieuropäische Rhetorik ist gerade im Begriff, manifest zu werden. Soll man nun zuwarten, bis die antideutsche und antisemitische Rhetorik in Aggression umschlägt?

Ob mit oder ohne Unterstützung oder gar Steuerung durch Vladimir Putin: Es kann per se nicht ausgeschlossen werden, dass in Europa wieder die Lichter ausgehen.

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Nur wenige Monate ist es her, dass Papst Franciscus vor einem solchen Rückfall in die schlimmste Tragödie der Menschheitsgeschichte eindringlich gewarnt hatte.

Mit sicherem Gespür für die Gefahr, die der Europäischen Union in diesen Tagen durch nationalistischen Fanatismus droht, beschwor der Papst die europäische Tradition von Aufklärung und Humanismus, die Kreativität, die Toleranz und den Geist, der Kraft und Mut verleiht, “...aus den

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eigenen Grenzen hinauszugehen, sich in freier Entscheidung für das Gemeinwohl zusammen zu schlieβen und dabei für immer darauf zu verzichten, sich gegeneinander zu wenden.”

Polen, Briten, Dänen und einige mehr machten bereits deutlich, dass sie nicht bereit sind, sich „für das Gemein-wohl zusammen zu schlieβen.“ Auch will man nicht darauf „verzichten, sich gegeneinander zu wenden,“ wie man vor allem an der politischen Zielsetzung der Visegrad-Vier ablesen kann.

Zu dem vom Papst beschworenen Europa der Aufklärung und Toleranz gehörten Wenige. Frankreich, Deutschland, Italien, die BeNeLux-Staaten, damals wie heute. Es sind dies die „Erben der Aufklärung,“ die Jean-Claude Juncker wohl im Sinn hatte, als er im Palast des Papstes seine Grundsatzrede hielt anläβlich der Verleihung des International Karlspreises an den Pontifex am 6. Mai 2016.

Polen gehörte nicht dazu. Zu keiner Zeit. Niemals.

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Ende einer Epoche Ein neues, ein anderes Europa muss gebaut werden, und die Zeit drängt. Die Europäische Union ist inzwischen auf Nationalstaaten angewiesen, die im Grunde genommen die Europäische Union beenden wollen.

Ganz so neu und überraschend ist das nun nicht gerade. Seit mehreren Jahren schon begleitet die GAZETTE die Entwicklungen in Europa, die zu diesem Zustand geführt haben. In Brüssel ist das längst angekommen. An dieser Stelle sei an Jean-Claude Junckers Fazit seines ersten Jahres als Kommissionspräsident erinnert, das er in seiner State of the Union-Rede von 2015 knapp so formulierte: „Zu wenig Europa, zu wenig Union.“

Was wird wohl der Kernsatz seiner zweiten sein? Vielleicht mit Blick auf die Viererbande von Visegrad eine Anleihe bei Abraham Lincoln: „A house divided

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against itself cannot stand“ (ein Haus durch das ein Riss geht, kann nicht bestehen).

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In den 28 Nationalstaaten ist hochgerechnet rund ein Fünftel der Gesamtbevölkerung oder etwa 100 Millionen Menschen den Nationalisten oder Völkischen zuzurechnen. Die weisen das Europa, auf das sich der Papst bezog, schroff zurück.

Besser wird das kaum, eher schlimmer, wie die von den nationalen Regierungen im Rat beschlossenen, zynischen Kompromisse hinreichend dokumentieren. Und denkt man an die nächsten Wahlen zum Europaparlament 2019, so sollte es niemanden überraschen, sollte sich dort eine groβe Zahl völkischer Rüpel zusammenrotten.

Es wird immer deutlicher, dass mit der gegenwärtigen Besetzung weder im Rat noch im Parlament an der Union weiter gearbeitet werden kann. Und die Kommission allein kann aufgrund der verfassungsrechtlich verankerten Kompetenzen nichts bewegen.

Ein klassisches ‚gridlock‘, wie man in Washington sagen würde (auf deutsch: Patt). Nichts geht mehr.

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Parallelen zu Abraham Lincoln vor seinem ersten Antritt als Präsident sind wohl so abwegig nicht. Auch damals war man am Ende einer Epoche angelangt und eine neue musste erst erstritten werden. Damals wie heute sind Grundwerte der Streitpunkt.

Ein neues, ein ganz anderes Europa muss gebaut werden, und die Zeit drängt. Und weil das so ist, kitzelt Angela Merkels „Ruhe bewahren“ eher das Gegenteil heraus, nämlich Nervosität.

Warum zögert die Kanzlerin?

Vielleicht, und das mag man ihr zugute halten, will sie die Gefühle der Polen nicht verletzen. Nur: Der Präsident von Frankreich braucht sie; der Präsident

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muss die Wahl im nächsten Mai gewinnen; die Chancen des Präsidenten diese Wahl zu gewinnen steigen, wenn den Franzosen gezeigt werden kann, dass die bestimmende Gröβe in Europa an der Seite dieses Präsidenten steht. Ohne deutsch-französische Partnerschaft gibt es kein Europa. Polen ist in dieser Konstellation wahrlich nicht erste Wahl.

Und als nicht gänzlich marginal: Im Zusammenhang mit Polen und Europa sollte man sich nicht von salbadernden Gutmenschen Polen betreffend beirren lassen. Die nationale Selbstsucht ist in Warschau so virulent, dass Vladimir Putin dies auszunützen versuchte indem er, wie der ehemalige polnische Auβenminister und derzeitige MdEP, Radek Sikorski, bestätigte, Polen das Angebot unterbreitete, das in Potsdam 1945 von Churchill an Stalin übergebene Ostpolen - heute ein nicht unerheblicher Teil der Ukraine mit der Hauptstadt Lviv, dem früheren Lemberg - an Polen zurückzugeben. Im Gegenzug sollte sich Polen an der Aufteilung der Ukraine beteiligen und aus der NATO austreten. Der Empfänger der Putin’schen Offerte von 2014 war Donald Tusk. Dieser habe geschwiegen, sagte Sikorski.

Mittlerweile aber positionierte Kaczinsky Polen innerhalb der NATO als Speerspitze mit aggressiver Rhetorik gegen Russland.

So oder so: Das polnische Lavieren ist keine Beruhigung weder für Europa noch für die NATO. Nur gut, dass der deutsche und der französische Auβenminister an einem Strang ziehen und die Beziehungen zu Russland zu einer deutsch-französichen Prärogative machten.

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Und just eine solche von Deutschland und Frankreich zur Top-Priorität erhobene Initiative braucht das neue Europa. Ruhe bewahren, Zögern und Zaudern pflastern den Weg in die Katastrophe. „Periculum in mora“ (Gefahr durch Zaudern) wusste auch schon der römische Historiker Titus Livius vor 200o Jahren.

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Franzosen und Deutsche haben ja schon zumindest gedanklich Dinge angestoβen. In Deutschland ist es die Glienicker Gruppe, die in ihrem von der ZEIT schon 2013 veröffentlichten Manifest eine neue Europäische Union skizzierte, was dann wiederum von der Eiffel Group in Paris im August 2014 aufgegriffen wurde.

Beide Initiativen plädierten für ein Europa, das nur aus den Euro-Staaten entstehen sollte. Damit in jedem Falle ohne das Vereinigte Königreich, ohne Polen, Dänemark, Ungarn und den Rest des Balkans.

Am präzisesten unter allen Vorschläge gilt nach wie vor das von Thomas Piketty in mehreren Schriften seit 2014 vorgestellte und erläuterte Projekt eines Europa mit bicameralem System, das sowohl die jeweilige Bevölkerungsgröβe der Mitgliedsländer wiedergibt, als auch die für das Fuktionieren einer parlamentarischen Demokratie unverzichtbare Nähe zum Bürger gewährleistet.

Bemerkenswert dabei: Die künftigen MdEPs sollen sich aus gewählten Mitgliedern der nationalen Parlamente kon-stituieren und „nur“ zu den transnationalen oder pan-europäischen Gesetzgebungsmaβnahmen sowie der Aus-übung der parlamentarischen Kontrolle über die europä-ische Administration versammeln. Darüber hinaus wird kein Dritter - das heisst, ein Land, das nicht der Eurozone angehört - die legislative und kontrollierende Arbeit des Eurozonen-Parlaments behindern oder auf irgendeine Weise beeinflussen können.

Ein weiterer Eckpunkt in Pikettys Konstrukt bildet dabei die Konzentration der Steuer- und Finanzpolitik in einem europäischen Finanzministerium als Teil einer europäischen Administration. Dieses Element soll wie ein Schutzschild gegen Spekulanten wirken, die bislang die 19 vorhandenen unterschiedlichen Steuersätze ausbeuten und dabei die Länder gegeneinander ausspielen. Dass in diesem Finanzszenario des neuen Europa die Finanztransaktions-steuer (Tobin) festgeschrieben wird versteht sich fast schon von selbst.

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Am 14. Juli 2015 schlieβlich griff François Hollande die Vorschläge von Thomas Piketty auf und trat damit an die Öffentlichkeit. Beinahe en detail forderte er das, was Piketty in seinem „New Deal for Europe“ und „Capital in the 21st Century“ als unumgänglich für ein neues Europa dargelegt hatte und kündigte an, dass er unter Führung Frankreichs eine Avantgarde aus Ländern der Eurozone schaffen werde, die ein neues, gestärktes und einiges Europa formen werde mit eigener Satzung, eigenem Parlament, ausgestattet mit allen klassischen, parlamentarischen Rechten, und das sich aus seiner Mitte eine Eurozonen-Regierung wählt.

In einem Punkt schob Hollande eine Präzisierung nach: Keiner der gegen Europa arbeitet, der Europa verlassen oder am europäischen Haus nicht mitbauen will, kann daran teilhaben. Der muss, so wörtlich, „au dehors“ - raus!

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Heute, im August 2016 wartet man immer noch darauf, wenigstens ein unterstützendes oder solidarisches Signal aus Berlin zu bekommen. Aber es ist nichts auf dem Radar.

Stefan Seidendorf, Direktor des EU-Referats am Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg, verwies schon vor einem Jahr auf die Notwendigkeit eines gemeinsamen deutsch-französischen Voranschreitens und hoffte auf eine baldige Umsetzung des präsidialen Plans aus dem Palais d’Elysée in Paris. Seidendorf war klar, dass ein solch grundlegendes Reformvorhaben “verfassunggebenden Rang” haben wird und, um eine Anleihe bei Charles de Gaulle zu machen, es wird “Großes” bewirken.

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Frankreich, das “Europa der Willigen” warten auf die Kanzlerin. Frankreich und dieses Europa brauchen die Gewissheit, dass Deutschlands Partnerschaft mit Frankreich nicht verhandelbar ist. Um diese Gewissheit zu geben, muss die Kanzlerin

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einen “Beweis des Lebens” der deutsch-französichen Verbundenheit erbringen, am besten, indem sie sich demonstrativ an die Seite des Präsidenten von Frankreich und dessen europäischer Reform stellt.

Sollte sich die deutsch-französische Achse als nicht mehr tragfähig erweisen, hätte dies nicht nur volkswirtschaflich katastrophale Folgen - der groβe Markt Europas würde wohl über kurz oder lang in sich zusammenbrechen –sondern auch der Friede in Europa wäre nicht mehr gesichert.

Die Zeitenwende ist da. Die Menschen in Europa brauchen eine Antwort: quo vadimus, Angela?

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