rdm der medizin christian kopetzki 01 - haslinger … dateien/rdm_2017_rene haumer… · rdm [2017]...

7
RECHT DER MEDIZIN www.manz.at/rdm RdM Schriftleitung Christian Kopetzki Redaktion Gerhard Aigner, Erwin Bernat, Daniel Ennöckl, Meinhild Hausreither, Thomas Holzgruber, Dietmar Jahnel, Matthias Neumayr, Magdalena Pöschl, Reinhard Resch, Hannes Schütz, Lukas Stärker, Karl Stöger, Felix Wallner, Johannes Zahrl Februar 2017 01 Beiträge Gesundheitsberufe und Berufsanerkennungsrichtlinie Alexandra Lust und Susanne Weiss £ 4 Produktwarnungen im Gesundheitsrecht (I) Sebastian Scholz £ 13 Der praktische Fall Komforttherapie bei infauster Prognose Alois Birklbauer und René Haumer £ 17 Gesetzgebung und Verwaltung Zielsteuerung-Gesundheit £ 22 Rechtsprechung Empfehlung eines Optikers durch einen (Augen-)Arzt Verena Christine Blum £ 25 Deutsche Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel unionsrechtswidrig Claudia Zeinhofer £ 29 Leitsätze Anwendungsbereich der RL 2001/83/EG offizinale Zubereitungen £ 35 Empfehlung der DSB an die Trägerorganisation einer KA £ 38 Schwerarbeitszeiten einer DGKS £ 40 ISSN 1022-9434 Österreichische Post AG PZ 06Z036885 P Verlag Manz, Gutheil Schoder Gasse 17, 1230 Wien 1 44

Upload: lamdiep

Post on 07-Feb-2018

214 views

Category:

Documents


1 download

TRANSCRIPT

Page 1: RdM DER MEDIZIN Christian Kopetzki 01 - HASLINGER … Dateien/RdM_2017_Rene Haumer… · RdM [2017] 01 17 [DER PRAKTISCHE FALL] Entscheidung zur Komforttherapie bei infauster Prognose

RECHTDER MEDIZIN

www.manz.at/rdm

RdM

Schriftleitung Christian KopetzkiRedaktion Gerhard Aigner, Erwin Bernat, Daniel Ennöckl, Meinhild Hausreither,

ThomasHolzgruber, Dietmar Jahnel,Matthias Neumayr,Magdalena Pöschl,Reinhard Resch, Hannes Schütz, Lukas Stärker, Karl Stöger,Felix Wallner, Johannes Zahrl Februar 2017 01

Beiträge

Gesundheitsberufe undBerufsanerkennungsrichtlinieAlexandra Lust und Susanne Weiss £ 4

Produktwarnungen im Gesundheitsrecht (I)Sebastian Scholz £ 13

Der praktische Fall

Komforttherapie bei infauster PrognoseAlois Birklbauer und René Haumer £ 17

Gesetzgebung und Verwaltung

Zielsteuerung-Gesundheit £ 22

Rechtsprechung

Empfehlung eines Optikers durch einen (Augen-)ArztVerena Christine Blum £ 25

Deutsche Preisbindung für verschreibungspflichtige ArzneimittelunionsrechtswidrigClaudia Zeinhofer £ 29

Leitsätze

Anwendungsbereich der RL 2001/83/EG –offizinale Zubereitungen £ 35

Empfehlung der DSB an die Trägerorganisation einer KA £ 38

Schwerarbeitszeiten einer DGKS £ 40

ISSN 1022-9434 Österreichische Post AG PZ 06Z036885 P Verlag Manz, Gutheil Schoder Gasse 17, 1230 Wien

1 – 44

Page 2: RdM DER MEDIZIN Christian Kopetzki 01 - HASLINGER … Dateien/RdM_2017_Rene Haumer… · RdM [2017] 01 17 [DER PRAKTISCHE FALL] Entscheidung zur Komforttherapie bei infauster Prognose

RdM [2017] 01 17

[DER PRAKTISCHE FALL]

Entscheidung zur Komforttherapiebei infauster PrognoseEin Grenzgang zwischen zulässiger Behandlung und strafbarer Sterbehilfe

RdM 2017/4

SachverhaltDie 79-jährige Patientin P wurde nach einem Kreislaufkollaps underfolgreicher Reanimation intubiert und stabilisiert vom Notarztdem diensthabenden Arzt Dr. A des Krankenhauses X überge-ben.1) Bei Eintreffen im Schockraum lagen bei P, die stark unter-gewichtig war, ein stabiler Kreislauf und eine assistierte Spontan-atmung vor. Sie hatte normale Blutdruckwerte und einen norma-len Herzrhythmus. Der Notarzt äußerte gegenüber Dr. A den Ver-dacht, dass der Zustand von P mit dem Fentanyl-Pflaster, das imPflegeheim verabreicht wurde, in Zusammenhang stehen könnte.

Dr. A koordinierte im Schockraum Untersuchung und Erstver-sorgung. P erholte sich relativ schnell und war gezielt kontaktfä-hig, mehr und mehr ansprechbar, machte die Augen auf undwurde schließlich, zumal sie auch begann, selbständig zu atmen,extubiert. Nachdem P jedoch schnell wieder schwach wurde undnicht mehr selbständig atmen und die Sekrete nicht abhustenkonnte, wurde sie wieder intubiert. Aus dem anschließend durch-geführten Thoraxröntgen war eine beginnende Lungenentzün-dung ersichtlich, weshalb sofort mit der Antibiose begonnenwurde. Festgestellt werden konnten überdies zahlreiche Rippen-frakturen und ein gebrochenes Brustbein als Folge der Reanima-tion. Aus der Krankengeschichte waren weiters eine deutliche Ver-kalkung der Aorten- und Mitralklappe sowie deutlich ausgeprägteallgemeine Aortensklerose bekannt. Darüber hinaus litt P an chro-nisch degenerativenWirbelsäulenschmerzen und am Gebrechlich-keitssyndrom.

Dr. A kontaktierte, weil nach seiner Einschätzung P „kritisch“erkrankt war, das Pflegeheim und brachte in Erfahrung, dass für Pkeine Patientenverfügung vorliegt. Weiters wurde ihm mitgeteilt,dass es lediglich eine Person gebe, die P gelegentlich besuchenwürde, nämlich den Neffen N. Dr. A kontaktierte N telefonischund ersuchte ihn, ins Krankenhaus zu kommen, um den mutmaß-

lichen Willen von P eruieren zu können. Dr. A ging davon aus,dass P eine etwas weniger als 50%ige Chance habe, nach einer etwazwei- bis dreiwöchigen Intensivtherapie (Beatmung und Antibi-ose) die Intensivstation lebend zu verlassen. An eine Wiederher-stellung des Gesundheitszustands wie vor der Einlieferung insKrankenhaus war aus seiner Sicht nicht mehr zu denken.

Dr. A entschied sich nach einem Gespräch mit N, in dem er zurÜberzeugung gelangte, dass P einen Zustand, wie er nach der Be-handlung auf der Intensivstation zu erwarten war, nicht wolle, dieintensivmedizinische Behandlung zu beenden und auf „Komfort-therapie“ umzustellen. Rund fünf Stunden nach der Einlieferungin Krankenhaus veranlasste Dr. A die Verabreichung von Mor-phin über einen Perfusor in einer Dosierung von zunächst 2 ml/Stunde, die nach etwa 15 Minuten auf 4 ml/Stunde erhöht wurde.Anschließend entfernte Dr. A den Beatmungstubus. Als P danachagitierte und Luftnot hatte, erhöhte Dr. A die Morphindosierungauf 6 ml/Stunde. Etwa 45 Minuten später verstarb P.

Da aus Sicht von Dr. A für den Kreislaufkollaps keine eindeu-tige Ursache gefunden werden konnte und der Notarzt bei derÜbergabe im Schockraum den Verdacht äußerte, es könnte imPflegeheim eine unsachgemäße Verabreichung des Fentanyl-Pflas-ters erfolgt sein, gab Dr. A bei der Todesmeldung an, dass einFremdverschulden nicht auszuschließen sei. Dies führte zu einergerichtsmedizinischen Obduktion.

Anklage wegen fahrlässiger TötungDas gerichtsmedizinische (toxikologische) Gutachten ging davonaus, dass P infolge einer Morphinintoxikation in Kombination mitFentanyl auf nicht natürliche Weise verstorben sei. Ausschlagge-bend dafür war, dass im Schenkelvenenblut von P deutlich erhöhte

1) Vgl Urteil des LG Salzburg 63 Hv 85/15s v 7. 10. 2015.

Page 3: RdM DER MEDIZIN Christian Kopetzki 01 - HASLINGER … Dateien/RdM_2017_Rene Haumer… · RdM [2017] 01 17 [DER PRAKTISCHE FALL] Entscheidung zur Komforttherapie bei infauster Prognose

Morphinwerte nachgewiesen wurden (0,44 mg/L), welche ausSicht der Gerichtsmedizin – bei nicht an Morphin gewöhnten Per-sonen – im als komatös-letal betrachteten Konzentrationsbereichlagen. Auf die Frage, inwieweit die verabreichte Menge von Mor-phin aus schmerzmedizinischer Sicht erforderlich war, ging dasGutachten nicht ein. In der späteren Hauptverhandlung (HV)räumte der Gutachter ein, dass ihm diesbezüglich die Kompetenzfehle.

Die zuständige Staatsanwaltschaft (StA) erhob, ohne einschmerz- oder intensivmedizinisches Gutachten einzuholen, An-klage wegen des Vergehens der fahrlässigen Tötung unter beson-ders gefährlichen Verhältnissen nach § 81 Abs 1 Z 1 StGB2) inForm eines Strafantrags, der entsprechend § 484 StPO keine Be-gründung kennt. Aus dem Anklagetenor geht hervor, dass sich derFahrlässigkeitsvorwurf auf „die Verabreichung von mehreren star-ken Morphininfusionen“ stützte. Sachlich zuständig für dieHauptverhandlung war der Einzelrichter des Landesgerichts(LG; § 31 Abs 4 Z 1 StPO).

Unzuständigkeitsurteil wegen Verdacht des MordesDie zuständige Richterin fällte nach Durchführung der HV, in derseitens der StA die Anklage auf die „Beendigung lebenserhaltenderMaßnahmen“ ausgedehnt wurde, unter Berufung auf § 488 Abs 3StPO ein Unzuständigkeitsurteil. Durch die Anklageausdehnungwar Verhandlungsgegenstand nicht mehr nur die Verabreichungvon zu hohen Dosen an Morphin, sondern auch die Entscheidungvon Dr. A, angesichts der medizinischen Prognose und des (mut-maßlichen) Patientenwillens das Therapieziel auf Komforttherapiegeändert und nicht mehr alles Erforderliche zur Lebensverlänge-rung unternommen zu haben.

Nach § 488 Abs 3 StPO hat ein Unzuständigkeitsurteil zu er-gehen, wenn der Einzelrichter zur Ansicht gelangt, dass für dieAburteilung des angeklagten Sachverhalts das LG als Schöffen-oder Geschworenengericht zuständig ist, weil der Sachverhalt un-ter eine strengere Strafnorm zu subsumieren ist. Im Bereich derTötungsdelikte ergibt sich eine Kompetenz des Geschworenenge-richts, wenn der Tod vorsätzlich herbeigeführt wurde und insofernMord (§ 75 StGB) vorliegt (vgl § 31 Abs 2 Z 1 StPO). Eine Kom-petenz des Schöffengerichts besteht, wenn die vorsätzliche Tö-tungshandlung in einer allgemein begreiflichen heftigen Gemüts-bewegung (Totschlag nach § 76 StGB) erfolgt ist (§ 31 Abs 3 Z 1StPO) oder die Tötungshandlung Folge eines ernstlichen und ein-dringlichen Verlangens des Sterbewilligen (Tötung auf Verlangennach § 77 StGB) war (§ 31 Abs 3 Z 2 StPO). Im vorliegenden Fallerachtete die Einzelrichterin nach den Ergebnissen der HV Dr. Aals ausreichend verdächtig, die Patientin P vorsätzlich getötet unddadurch das Delikt des Mordes (§ 75 StGB) verwirklicht zu haben.

Das Unzuständigkeitsurteil ist ein Formalurteil. Es beruht aufeinem Anschuldigungsbeweis, für den es ausreicht, dass bei „Anle-gung eines realitätsbezogenen Maßstabes“ die Annahme eines be-stimmten (die Zuständigkeit des Schöffengerichts bzw Geschwo-renengerichts begründenden) Straftatbestands „nahe liegend“ist“.3) Dieser Anschuldigungsbeweis ist entsprechend zu begrün-den.

Im konkreten Urteil wurde der Tötungsvorsatz überwiegendauf die Beendigung der lebenserhaltenden Maximaltherapie bezo-gen und nicht unbedingt auf die Verabreichung zu hoher Mor-phindosen. Die Einzelrichterin betonte, offenbar um ihre Ausei-nandersetzung mit der einschlägigen Literatur zu unterstreichen,dass (Hervorhebungen im Urteil) „die vorsätzliche Tötung sowohlSterbenskranker als auch unheilbar Schwerkranker [. . .] allerdingsunter dem Gesichtspunkt der Euthanasie ethische Schwierigkeiten

[bereitet], an denen das Strafrecht nicht vorbeigehen kann. [. . .]Die Menschlichkeit, das Mitleid oder das Selbstbestimmungsrecht[können es] nahe legen, dem Patienten die erlösende „Wohltat“ zuerweisen, ihn vorzeitig zu töten, um sein Leiden zu verkürzen,wenn die Rettung des Lebens oder die Befreiung von den unerträ-glichen Leiden völlig aussichtslos ist.“4) Damit referiert sie denMei-nungsstand, dass nicht der Tötungsvorsatz allein die Tat als Un-recht einzustufen vermag, sondern ein „ethisches Korrektiv“ dazuführt, in bestimmten Fällen solche Tötungen als vom gesellschaft-lichen Wertekonsens getragen und damit als sozialadäquat anzu-sehen.

Im Weiteren fasst das Urteil den in der zweiten Auflage desWiener Kommentars zum StGB dargestellten Meinungsstand zudiesem Themenbereich, der aus dem Jahre 2002 stammt, zusam-men und verwendet die dortige Begrifflichkeit, ohne auf aktuellereÜberlegungen zu diesem Thema sowie die mittlerweile von Fach-kreisen vorgeschlagene neue Terminologie einzugehen,5) die – auf-grund der damit verbundenen Assoziation zur leidvollen Vergan-genheit des Dritten Reichs – zumindest das Wort „Euthanasie“meidet. Im Urteil heißt es: „Die indirekte passive Euthanasie, beider eine lebensverlängernde Maßnahme (etwa durch künstliche Er-nährung) unterlassen wird, um den Patienten von Schmerzen zubefreien, fällt unter die Regelung der passiven Euthanasie (Moos,WK-StGB2 § 75 Rz 25). Die passive Euthanasie durch Unterlassenlebenserhaltender Maßnahmen, sei es, dass solche gar nicht be-gonnen oder nicht fortgesetzt werden, sei es, dass das Unterlassendirekt zum Zwecke der Tötung oder indirekt zur lebenshemmen-den Schmerzbekämpfung erfolgt, erfüllt an sich den Tatbestandeines Tötungsdelikts ebenso wie durch positives Tun, wenn der Be-treffende zur Lebenserhaltung verpflichtet ist (§ 2).Das trifft beson-ders für die Angehörigen oder die behandelnden Ärzte zu. EinZurückweichen der Strafbarkeit ist hier jedoch in ungleich größe-rem Maße angebracht, als bei der aktiven Euthanasie. Der Willedes tödlich erkrankten Patienten, nicht behandelt zu werden ist dieSchlüsselstelle der Straflosigkeit der passiven Euthanasie (Moos,WK-StGB2 § 75 Rz 31 f). Bei der Tötung Kranker durch Unterlas-sen ist in aller Regel das Selbstbestimmungsrecht eines Menschenunbedingt zu respektieren, nach eigenem Gutdünken, Eigensinnoder auch aus Unvernunft von schicksalbedingten Krankheitengeheilt zu werden oder nicht.“6)

In Fortsetzung der Gedanken über das Selbstbestimmungsrechtwird auf den maßgeblichen Willen bei bewusstlosen Patienten ein-gegangen: „Bei Bewusstlosigkeit des Patienten ist maßgeblich, obder Patient seinen Willen noch vorher für die Situation klar geäu-ßert hat. [. . .] Ist der mutmaßliche Wille des Patienten oder seinesVertreters nicht feststellbar, so gilt im Zweifel der Wille, durch diemedizinische Behandlung weiterzuleben, also der normale ärztli-che Heilauftrag (Moos, WK-StGB2 § 75 Rz 37).“7)

In weiterer Folge wird das Erfordernis des für eine Behand-lungsbeendigung notwendigen Patientenwillens relativiert, indem

RdM[DER PRAKTISCHE FALL]

18 RdM [2017] 01

2) Dabei handelt es sich um die Vorgängerbestimmung der nunmehrigen grob fahr-lässigen Tötung nach § 81 Abs 1 StGB. Zur diesbezüglichen Gesetzesänderung setwa Birklbauer, Die Auswirkungen des Strafrechtsänderungsgesetzes (StRÄG)2015 auf den medizinischen Bereich, RdM 2016, 4 ff; Schwaighofer, ÄrztlicheKunstfehler – Besonders gefährliche Verhältnisse nach § 81 Abs 1 Z 1 StGB?RdM 2015, 217 ff.

3) Vgl Lewisch in WK-StPO § 261 Rz 10.4) LG Salzburg 63 Hv 85/15s, 3 f.5) Siehe dazu insb die Empfehlungen der Bioethikkommission des Bundeskanzler-

amts; www.bka.gv.at/site/3458/default.aspx6) LG Salzburg 63 Hv 85/15s, 4 f (Hervorhebungen im Original), wobei die angeführ-

ten Zitate sich nicht auf die Darstellung zu § 75 im WK-StGB zu beziehen haben,sondern auf die Vorbem zu §§ 75–79.

7) LG Salzburg 63 Hv 85/15s, 5 (Hervorhebungen im Original), wo das Zitat richtiger-weise wiederum Vorbem zu §§ 75–79 Rz 37 lauten muss.

Page 4: RdM DER MEDIZIN Christian Kopetzki 01 - HASLINGER … Dateien/RdM_2017_Rene Haumer… · RdM [2017] 01 17 [DER PRAKTISCHE FALL] Entscheidung zur Komforttherapie bei infauster Prognose

auf jene Fälle eingegangen wird, in denen eine Fortsetzung der in-tensivmedizinischen Behandlung keine Aussicht auf Besserung ver-spricht: „Sowohl in diesen Extremfällen an sich nicht todgeweih-ter, aber für immer bewusstloser oder doch fast kommunikations-unfähiger zerebral Schwerstgeschädigter als auch beiMoribunden,die ohne Aussicht auf Besserung aufs schwerste leiden und ent-weder nur durch medizinische Intensivbehandlung am Leben er-halten werden oder bereits unmittelbar im Sterben liegen, ist eserlaubt, ohne und sogar gegen den ausdrücklichen oder mutmaß-lichen Willen des Patienten seinen Tod durch Unterlassen der me-dizinischen Versorgung herbeizuführen (Moos, WK-StGB2 § 75Rz 39 mwN).“8)

Die Subsumtion des Tötungsvorsatzes im gegenständlichenUrteil ist knapp. Als Folge der gerichtsmedizinischen Sachverstän-digengutachten und den Angaben von Dr. A in der HV erachtetedas Gericht den „Verdacht [als] gegeben, dass der Angeklagte diePatientin (zumindest bedingt vorsätzlich) getötet habe“. Denn„obwohl es Dr. A – seinen eigenen Angaben zufolge – mit einerWahrscheinlichkeit von etwa 50% für möglich hielt, dass P sichnach zwei- bis dreiwöchiger intensivmedizinischer Behandlungwieder erholt, wenn auch mit Einschränkungen (‚nicht bedeu-tungsvoll‘), wie etwa, der Möglichkeit, dass sie danach nicht mehrselbständig den Toilettengang durchführen hätte können, sie sichnicht mehr selbständig die Zähne putzen hätte können, entschieder sich gegen eine Weiterführung der intensivmedizinischen Be-handlung und begann mit einer sogenannten ‚Komforttherapie‘,indem er die künstliche Beatmung einstellte und PMorphin in einerkomatös-letalen Dosis verabreichte. Für diese Entscheidung nahmsich Dr. A lediglich ein paar Stunden Zeit und traf diese Entschei-dung schließlich zu einem Zeitpunkt, wo noch nicht einmal sämt-liche Untersuchungsergebnisse vorlagen. [. . .] Weder eine Patien-tenverfügung noch eine Vorsorgevollmacht lag vor. Der Ange-klagte kannte den Willen der Patientin nicht. Allein die Befragungdes (Halb-)neffen der Patientin gereicht nicht hin, um den mut-maßlichen Willen der Patientin festzustellen. Hinzu kommt, dass[der Halbneffe] dem Angeklagten gegenüber klar darlegte, dass ernicht entscheiden könne und ihm keine Entscheidungsbefugniszukomme. Allein die Äußerung, wonach er nicht glaube, dassseine Tante künstlich am Leben erhalten werden hätte wollen, ver-mag den mutmaßlichen Willen der Patientin nicht (hinreichend)darzulegen.“9)

Rechtsmittel gegen das UnzuständigkeitsurteilNach diesem Urteil haben die Autoren dieses Beitrags die Vertei-digung übernommen und eine Nichtigkeitsberufung an das Ober-landesgericht (OLG) ausgeführt. Das Rechtsmittel, das lediglichdie Urteilsbegründung dahingehend bekämpfen konnte, dasskeine Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% in Richtung Verur-teilung wegen Mordes vorlag,10) stützte sich auf § 489 Abs 1 iVm§ 281 Abs 1 Z 6 StPO. In diesem Zusammenhang konnten dieUmstände, nach denen das Gericht den Verdacht der Begehungdes Mordes (§ 75 StGB) angenommen hat, nach Maßgabe der Kri-terien des § 281 Abs 1 Z 5 StPO in Frage gestellt werden, wennetwa der Ausspruch des Urteils über entscheidende Tatsachen un-deutlich, unvollständig oder mit sich selbst in Widerspruch stehtoder das Urteil mangelhaft begründet ist, weil keine oder nur un-zureichende Gründe angegeben werden.

Das Rechtsmittel orientierte sich infolge der im Urteil ange-führten allgemeinen Überlegungen zur Anwendung der vorsätz-lichen Tötungsbestimmungen auf schwer leidende bzw sterbendePatienten an drei wesentlichen Fragen:

Ü a) Handelte es sich nach der Vorstellung von Dr. A bei P umeine moribunde Patientin, die ohne Aussicht auf Besserungaufs schwerste gelitten hat und nur durch medizinische Inten-sivbehandlung am Leben erhalten werden konnte? In diesemFall wäre es erlaubt gewesen, ohne und sogar gegen den aus-drücklichen oder mutmaßlichen Willen der Patientin ihrenTod durch Unterlassen der medizinischen Versorgung herbei-zuführen und ihr Hilfe im Sterben zu gewähren, zB durch ent-sprechende Schmerztherapie.

Ü b) Handelte es sich nach der Vorstellung von Dr. A bei P umeine Person, die entweder unmittelbar im Sterben lag oder vonder anzunehmen war, dass sie in absehbarer Zeit sterbenwürde, und bei der der Todeseintritt durch die Gabe schmerz-lindernder Medikamente bloß beschleunigt wurde? In diesemFall hätte Dr. A eine zulässige „indirekte aktive Sterbehilfe“vorgenommen, sofern die Medikation nur die zur Schmerzlin-derung medizinisch indizierte Dosierung beinhaltet hätte.

Ü c) Handelte es sich nach der Vorstellung von Dr. A bei derBehandlung von P um einen Fall indirekter passiver Sterbehilfein dem Sinne, dass bei P eine lebensverlängernde Maßnahme(etwa durch künstliche Beatmung) unterlassen bzw nicht fort-gesetzt wurde, weil dadurch ihr (mutmaßlicher) Wille, nichtbehandelt zu werden, beachtet wurde?

Ad a) Keine vorsätzlich falsche Annahme fehlendermedizinischer Indikation für eine Weiterbehandlung

Um den vorliegenden Sachverhalt unter den Tatbestand desMordes (§ 75 StGB) zu subsumieren, müsste es Dr. A zumindesternstlich für möglich gehalten und sich damit abgefunden haben,dass es sich bei P nicht um eine moribunde Person handelt, dieohne Aussicht auf Besserung schwer leidet und nur durch me-dizinische Intensivbehandlung am Leben erhalten werden kann,wodurch die gewählte medizinische Maßnahme mangels gegen-teiliger Indikation mehr gewesen wäre als eine bloße Hilfe imSterben. Entscheidend ist also, ob er – trotz gegenteiliger medi-zinischer Indikation – die intensivmedizinische Behandlung vor-sätzlich zu Unrecht beendet und zu früh auf eine „Komfortthe-rapie“ umgestellt hat.

Das Urteil listete die im Zuge der Obduktion festgestellten mul-tiplen Vorerkrankungen (insb die deutliche Verkalkung der Aor-ten- und Mitralklappe sowie die deutlich ausgeprägte allgemeineAortensklerose) detailliert auf und stellte nicht in Frage, dass Dr. Adiese Vorerkrankungen im Wesentlichen bekannt waren.11) Wei-ters sind als Akutdiagnosen – neben den zwölf gebrochenen Rip-pen und dem gebrochenen Brustbein – eine Entzündung der Luft-röhre, eine ausgeprägte Lungenwassersucht beidseits und begin-nende Pneumonie angeführt.12) Selbst wenn Dr. A nach den Fest-stellungen des Urteils nicht davon ausging, dass P bereits imSterben lag,13) lässt sich daraus keineswegs eine „unzulässige Ster-behilfe“ ableiten, führt doch das Urteil in den eigenen rechtlichenÜberlegungen aus: Der Umstand, dass ein Patient „nur durch me-dizinische Intensivbehandlung am Leben erhalten werden [kann][. . .] erlaubt [es], ohne und sogar gegen den ausdrücklichen odermutmaßlichen Willen des Patienten durch Unterlassen der medi-zinischen Versorgung“ den Tod herbeizuführen, wenn „schwers-

[DER PRAKTISCHE FALL]

RdM [2017] 01 19

8) LG Salzburg 63 Hv 85/15s, 5 f (Hervorhebungen im Original); das Zitat muss wie-derum Vorbem zu §§ 75–79 Rz 39 mwN lauten.

9) LG Salzburg 63 Hv 85/15s, 11 f (Hervorhebungen im Original).10) Zu diesem Wahrscheinlichkeitserfordernis s Birklbauer/Mayrhofer in WK StPO

§ 210 Rz 5 und § 212 Rz 15.11) LG Salzburg 63 Hv 85/15s, 7 f.12) LG Salzburg 63 Hv 85/15s, 8.13) LG Salzburg 63 Hv 85/15s, 9 f.

Page 5: RdM DER MEDIZIN Christian Kopetzki 01 - HASLINGER … Dateien/RdM_2017_Rene Haumer… · RdM [2017] 01 17 [DER PRAKTISCHE FALL] Entscheidung zur Komforttherapie bei infauster Prognose

tes Leiden ohne Aussicht auf Besserung“ vorliegt.14) Dr. A hättealso für die Verwirklichung des Mordtatbestands im vorliegendenFall vorsätzlich davon ausgehen müssen, dass ein solcher schwererLeidenszustand bei P nicht vorgelegen ist, was im Urteil nicht fest-gestellt wurde.

Dass Dr. A im Gegenteil ein solches „schweres Leiden“ mit dererforderlichen mehrwöchigen intensivmedizinischen Behandlungangenommen hatte, wurde in der HV dargestellt. So bezeichnete er„zwei bis drei Wochen Intensivaufenthalt [. . .] [als] kein ‚Kinker-litzchen‘ [. . .] Bei so einer dünnen Person, die kachektisch im Bettliegt, ist es absehbar, dass sie eine Reihe von Komplikationen er-fährt, die ihr Leben entweder beenden würden, dann eben zu ei-nem späteren Zeitpunkt. Außerdem ist es schmerzhaft. Diese Pa-tienten liegen mit einem Beatmungstubus im Bett, die müssenkünstlich sediert werden, weil es so schmerzhaft ist. Üblicherweisebekommen sie Blutergüsse, brauchen Thoraxdrainagen. Es kommtzu einer Prozedur nach der anderen.“15) Darüber hinaus hat auchdas Urteil festgestellt, dass Dr. A davon ausgegangen ist, dass Pnach seiner Einschätzung „kritisch erkrankt“ war und „eine etwasweniger als 50%ige Chance hat[te], nach einer etwa zwei- bis drei-wöchigen Intensivtherapie (Beatmung und Antibiose) das Kran-kenhaus lebend zu verlassen“.16) Dies unterstreicht seine An-nahme, dass P sich dem Sterben näherte und in dem Sinne mori-bund war. Zwar erscheint diese „etwas weniger als 50%igeChance“ auf den ersten Blick als eine nicht besonders negativePrognose, die bereits als „dem Tode nah“ angesehen werden kann.Diese (ungeschickt ausgedrückte) Einschätzung wurde jedoch vonDr. A selbst an anderer Stelle der Hauptverhandlung deutlich (ne-gativ) relativiert, indem er ausführte, dass aus der Literatur be-kannt sei, dass „Menschen, die reanimiert werden, sehr seltendas Krankenhaus verlassen. Da sind Zitate, wo relativ junge Pa-tienten mit einer Wahrscheinlichkeit von 10–20% nach einer Re-animation das Krankenhaus verlassen können. In so einem fort-geschrittenen Alter, mit diesen Vorerkrankungen und mit diesemextrem verminderten Allgemeinzustand war meiner Einschätzungnach – ich habe bereits 4 Jahre Intensivmedizin gemacht – sehrunwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen, dass sie sich erholenkönnte.“17)

Ad b) Keine vorsätzliche Verabreichung zu hoher Dosenvon Schmerzmitteln

Das Urteil hat sich letztlich nicht dazu geäußert, ob es Dr. A imHandlungszeitpunkt ernsthaft für möglich gehalten und sich da-mit abgefunden hat, durch sein Verhalten eine medizinisch nichtindizierte Dosis an Schmerzmitteln zu verordnen, die zum Todführt, und so „unerlaubte Sterbehilfe“ zu leisten. Dies resultiertoffenbar daraus, dass es den Fokus auf die Beendigung lebenser-haltender Maßnahmen gelegt hat und damit die Gabe von Mor-phin letztlich kaum mehr eine Rolle gespielt hat, zumal bei Dr. Akein Vorsatz für eine Falschdosierung im Raum stand.

Ad c) Kein vorsätzliches Handeln gegen denmutmaßlichen Patientenwillen

Das Urteil erwähnt die Angaben von Dr. A, nach denen er davonausgegangen sei, „dass es wahrscheinlich nicht ihr mutmaßlicherWille wäre, die Therapie an dieser Stelle fortzusetzen“. Weiterswird die Aussage des N angeführt, dass „er nicht glaube, dass seineTante künstlich am Leben erhalten werden wolle“.18) Insofern wi-derspricht die letztlich gezogene Schlussfolgerung, dass es Dr. Aernstlich für möglich gehalten und sich damit abgefunden hat, ge-gen den mutmaßlichen Willen der Patientin zu handeln, den

Denkgesetzen der Logik, beinhalten doch die Ergebnisse der HVgerade das Gegenteil. Auch wenn im Urteil angeführt wird, dass Nals Angehöriger hervorhob, „nicht dazu berechtigt zu sein, fürseine Tante irgendwelche Entscheidungen zu treffen“,19) bedeutetdies keineswegs, dass seine Aussagen nicht zur Feststellung desmutmaßlichen Patientenwillens herangezogen werden konnten,geht es doch nicht um stellvertretende Entscheidungen, sondernum das Herausfinden, was die Patientin in der Situation, wenn siesich äußern könnte, als Willenserklärung kundtun würde.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, welche Anforderun-gen an die Feststellung des mutmaßlichen Patientenwillens zurichten sind. Das Urteil hielt dazu fest: „Allein die Befragung des(Halb-)neffen der Patientin gereicht nicht hin, um den mutmaß-lichen Willen der Patientin festzustellen“,20) obwohl das Urteil ananderer Stelle erwähnt, dass Dr. A seitens des Pflegeheims mitge-teilt wurde, dass „es lediglich eine Person gebe, die gelegentlich aufBesuch kommen würde, nämlich den Neffen“.21) In diesem Zu-sammenhang stellt sich pointiert die Frage, welche detektivischenMittel der behandelnde Arzt anwenden muss, um den mutmaßli-chen Patientenwillen zu ergründen. Dies ist va vor dem Hinter-grund bemerkenswert, dass Dr. A seine Folgerungen hinsichtlichdes mutmaßlichen Patientenwillens auch auf andere Umständestützte und etwa in der HV angab, dass er davon wusste, dass Peine kardiologische Behandlung ihres hochgradigen Herzklappen-fehlers ablehnte und sich nicht operieren lassen wollte.

Berufungsurteil des OLGDas zuständige OLG hat der Berufung Folge gegeben, das angefoch-tene Urteil aufgehoben und dem Erstgericht aufgetragen, sich derVerhandlung und Urteilsfällung zu unterziehen.22) Dabei wurdedie für die ursprüngliche Anklage zentrale Frage der Verabrei-chung von Morphindosen eingeschätzt als „tatsächlich rechtlichnicht erheblich, weil bei gesetzmäßiger Beurteilung des Patienten-willens und bei einem lege artis erfolgten Behandlungsabbruch dieschmerzlindernde Sterbebegleitung eines Patienten mit Morphinnicht als (grob) fahrlässige Tötung beurteilt werden kann“.23) ImFokus standen für das OLG somit die Frage, ob der Behandlungs-abbruch lege artis erfolgt ist sowie der (mutmaßliche) Patienten-wille korrekt beurteilt wurde.

Zur Frage der dogmatischen Einstufung des Behandlungsab-bruchs stellt das OLG einleitend fest, dass „auch dann, wenn dazu– wie etwa beim Abschalten eines Beatmungsgeräts – auch einpositives Tun erforderlich ist, [dieses] nicht unter das Verbotder aktiven Sterbehilfe fällt. Es ist vielmehr anerkannt, dass diein Rede stehende Konstellation – ungeachtet der naturalistischenZuordnung der einzelnen Verhaltenselemente zu Tun oder Unter-lassen – gemäß ihrem sozialen Sinn insgesamt als Unterlassungder weiteren Behandlung zu werten und dementsprechend nachden Regeln der passiven Sterbehilfe zu beurteilen ist.“24)

Darüber hinaus wird vorweg klargestellt, dass Verzicht und Ab-bruch einer lebenserhaltenden medizinischen Maßnahme beiÜ wirksamer Ablehnung durch den Patienten (zB durch eine Pa-

tientenverfügung),

RdM[DER PRAKTISCHE FALL]

20 RdM [2017] 01

14) LG Salzburg 63 Hv 85/15s, 5.15) HV-Protokoll zu LG Salzburg 63 Hv 85/15s, 31 f.16) LG Salzburg 63 Hv 85/15s, 9 und 11.17) HV-Protokoll zu LG Salzburg 63 Hv 85/15s, 11.18) LG Salzburg 63 Hv 85/15s, 10 f.19) LG Salzburg 63 Hv 85/15s, 11.20) LG Salzburg 63 Hv 85/15s, 12.21) LG Salzburg 63 Hv 85/15s, 9.22) OLG Linz 9 Bs 23/16w v 16. 3. 2016.23) OLG Linz 9 Bs 23/16w, 10.24) OLG Linz 9 Bs 23/16w, 6 unter Verweis auf Burgstaller, JAP 2009/2010/21.

Page 6: RdM DER MEDIZIN Christian Kopetzki 01 - HASLINGER … Dateien/RdM_2017_Rene Haumer… · RdM [2017] 01 17 [DER PRAKTISCHE FALL] Entscheidung zur Komforttherapie bei infauster Prognose

Ü hinreichend dokumentiertem mutmaßlichem Patientenwillenoder

Ü fehlender medizinischer Indikationgrundsätzlich rechtlich zulässig bzw geboten sind.25)

Damit wird der im Berufungsvorbringen gewählten Darstel-lung, dass (fehlende) medizinische Indikation für eine Weiterbe-handlung und mutmaßlicher Patientenwille eigenständige Säulenfür eine Therapieentscheidung sind, die voneinander unabhängigsein können, zugestimmt. Die Erhebung desmutmaßlichen Patien-tenwillens kann sogar trotz Vorhandenseins einer medizinischenIndikation für eine Weiterbehandlung angezeigt sein, weil auf-grund der Patientenautonomie (diese ergibt sich auch aus dem in§ 110 StGB normierten Verbot eigenmächtiger Heilbehandlung)keine Behandlungen gegen den (mutmaßlichen) Patientenwillendurchgeführt werden dürfen. Dies unterstreicht das OLG, wennes an anderer Stelle die Schlussfolgerung des Erstgerichts, „der An-geklagte wollte den mutmaßlichen Willen der Patientin eruieren,obwohl er davon ausging, dass die Patientin, die sich seiner Ansichtnach in einem ‚kritischen‘Zustand befand“, ablehnt, weil der Ange-klagte als Arzt beim Einsatz lebenserhaltender medizinischerMaß-nahmen tatsächlich verpflichtet sein kann, den mutmaßlichen Pa-tientenwillen zu erforschen, um nicht den Tatbestand der eigen-mächtigen Heilbehandlung (§ 110 StGB) zu verwirklichen.26)

Mit der Feststellung des mutmaßlichen Patientenwillens hat sichdas OLG eingehend auseinandergesetzt und festgehalten, dass„eine Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen zulässig [ist],wenn nach den Umständen des Falls und bei Würdigung der In-teressenlage des einwilligungsunfähigen Patienten anzunehmenist, dass er die Zustimmung zu der anstehenden Behandlung ver-weigern würde, wenn er dazu in der Lage wäre. [. . .] Für die Ein-schätzung des mutmaßlichen Willens sind primär mündliche oderschriftliche Äußerungen des Patienten entscheidend. [. . .] [Es]sind (ua) Gespräche mit Angehörigen eine Möglichkeit, den mut-maßlichen Willen eines entscheidungsunfähigen Patienten zu er-mitteln. Dabei geht es natürlich nicht darum, wie der Angehörigeentscheiden würde. Ziel ist es – unter Berücksichtigung eines An-gehörigengesprächs – festzustellen, wie sich der Patient im kon-kreten Fall zur lebenserhaltendenMaßnahme äußern würde, wenner könnte. Nur dass es sich beim Neffen nicht um den einzigenAngehörigen der P gehandelt habe, ist letztlich irrelevant.“27)

Auch ging das OLG auf das Prozedere zur Feststellung des mut-maßlichen Patientenwillens ein. Das konkrete Handeln von Dr. A(Kontaktherstellung mit Pflegeheim und Angehörigen, die fürseine Entscheidung von Relevanz sein könnten; Gespräch mit An-gehörigen) sowie die Tatsache, dass Dr. A auch andere Grundla-gen (zB Unterlagen der Geriatrie von vorherigen Aufenthalten) fürseine Entscheidung zur Verfügung hatte, wurden als hinreichendangesehen. Insofern wurde infolge eines ausreichend festgestelltenmutmaßlichen Patientenwillens der Mordvorsatz von Dr. A ver-neint. Konkret führte das OLG aus: „Zudem ist die Annahmedes Erstgerichts, allein die Befragung des Neffen habe nicht ge-reicht, um den mutmaßlichen Willen der Patientin festzustellen,sowie der Angeklagte habe beim Abbruch der lebenserhaltendenMaßnahme mit Tötungsvorsatz iSd § 75 StGB gehandelt, vor demHintergrund der eingehenden Verantwortung des Angeklagten zuseinen Entscheidungsgrundlagen und seiner diesbezüglichenWer-tung, nicht mängelfrei begründet.“28)

Mit der Frage, inwieweit eine medizinische Indikation für einenBehandlungsabbruch vorgelegen ist, hat sich das OLG insofern ge-äußert, als es „der Vollständigkeit halber“ festgehalten hat, „dassdie beiden bislang beigezogenen Sachverständigen zu diesen Fra-gen mangels der von ihnen selbst angesprochenen Sachkompetenzim Bereich der Intensivmedizin wenig beitragen konnten. Davon,

dass eine Verurteilung wegen Mordes nahe liege, kann hier alles inallem nicht gesprochen werden.“29)

Damit war der Vorwurf des Mordes vom Tisch. InwieweitDr. A eine Fahrlässigkeit anzulasten ist, war in einem neuerlichenVerfahren vor dem LG zu klären. Das OLG gab die Richtung vor,indem es abschließend ausführte: „Dabei wird zu beachten sein,dass für eine allfällige Strafbarkeit wegen des Vergehens der grobfahrlässigen Tötung nach § 81 Abs 1 StGB erste Voraussetzungwäre, dass der Angeklagte schon bei der Feststellung des mutmaß-lichen Patientenwillens ungewöhnlich und auffallend sorgfalts-widrig gehandelt habe, sodass der Eintritt eines dem gesetzlichenTatbild entsprechenden Sachverhalts als geradezu wahrscheinlichvorhersehbar war (§ 6 Abs 3 StGB). Ein (grob) fahrlässiges Ver-halten wäre auch im Zusammenhang mit dem Abbruch einer le-benserhaltenden Maßnahme (lege artis?) zumindest denkbar.“30)

Freispruch in der neuerlichen HauptverhandlungAufgrund der für das Strafverfahren geltenden Befangenheitsvor-schriften war für das neue Verfahren ein anderer Einzelrichter zu-ständig (vgl § 43 Abs 2 StPO). In der nunmehrigen HV wurde am25. 7. 2016 nach Erörterung der Berufungsentscheidung die Ein-holung eines intensivmedizinischen Gutachtens beschlossen zurFrage der medizinischen Indikation des Behandlungsabbruchesund zur Frage, ob der Behandlungsabbruch an sich lege artisdurchgeführt wurde. Zum Gutachter wurde Univ.-Prof. Dr. Wil-fried Ilias Msc. aus Wien bestellt.

Das Gutachten wurde Mitte September vorgelegt und gelangtezum Ergebnis:

1. Die Prognose hinsichtlich Wiedererlangens eines Erlebnis-fähigen Daseins ist bei dieser Ausgangslage extrem schlecht, diemedizinischen Indikation zum Abbruch lebenserhaltender Maß-nahmen aus gutachterlicher Sicht nachvollziehbar.

2. Der Abbruch der lebenserhaltenden Maßnahmen erfolgteunter Befolgung der derzeit geltenden Empfehlungen. Die Verab-reichung von Morphium zur Unterdrückung von Schmerzen undAtemnot war iS einer Komfortmedikation gerechtfertigt.

Am 9. 11. 2016 kam es zur Erörterung des Gutachtens in derHV. Da die Aussagen des Gutachtens auch durch Fragen des An-klägers nicht erschüttert werden konnten, kam es, da kein Fahr-lässigkeitsvorwurf mehr im Raum stand, zum Freispruch mangelsSchuldbeweises (§ 259 Z 3 StPO). Der StA zog zwar in der HV denAnklagevorwurf nicht zurück, weil er die Raschheit, in der die Ent-scheidung zum Behandlungsabbruch erfolgte, nicht nachvollzie-hen konnte, auch wenn der Gutachter darlegte, dass aus einemlängeren Zuwarten keine neuen Erkenntnisse zu gewinnen gewe-sen wären. Die StA legte aber kein Rechtsmittel ein, sodass derFreispruch rechtskräftig wurde. Das Urteil samt Protokoll wurdeentsprechend den gesetzlichen Möglichkeiten in gekürzter Formausgefertigt (vgl § 488 Abs 1 iVm § 270 Abs 4 StPO). Es enthält alsBegründung nur den Vermerk: „kein Schuldbeweis“.31) Insofernlassen sich daraus keine rechtlichen Erkenntnisse mehr gewinnen.

[DER PRAKTISCHE FALL]

RdM [2017] 01 21

25) Vgl OLG Linz 9 Bs 23/16w, 6 f.26) OLG Linz 9 Bs 23/16w, 7 f.27) OLG Linz 9 Bs 23/16w, 7 unter Verweis auf Burgstaller, JAP 2009/2010/21 sowie

OGH 6 Ob 286/07p.28) OLG Linz 9 Bs 23/16w, 8 f.29) OLG Linz 9 Bs 23/16w, 9 unter Verweis auf Birklbauer/Mayrhofer in WK StPO

§ 210 Rz 5.30) OLG Linz 9 Bs 23/16w, 9 f.31) Protokollsvermerk und gekürzte Urteilsausfertigung LG Salzburg 39 Hv 15/16x v

9. 11. 2016, 2.

Page 7: RdM DER MEDIZIN Christian Kopetzki 01 - HASLINGER … Dateien/RdM_2017_Rene Haumer… · RdM [2017] 01 17 [DER PRAKTISCHE FALL] Entscheidung zur Komforttherapie bei infauster Prognose

RdM[DER PRAKTISCHE FALL]

22 RdM [2017] 01

Rechts- und kriminalpolitische SchlussfolgerungenDer geschilderte Fall kann als Musterbeispiel dafür gesehen wer-den, wie leicht juristische und medizinische Sichtweisen zu Missver-ständnissen führen können. Allein die im Rahmen einer gerichts-medizinischen Obduktion festgestellte Morphinintoxikation alsTodesursache führte zu einer Anklage. Das Vertrauen der StA inpost mortem durchgeführte Schenkelvenenblutanalysen war imvorliegenden Fall so groß, dass die Einholung eines intensiv-und schmerzmedizinischen Gutachtens zur Frage, welche Dosisan Morphin zur Schmerztherapie ex ante erforderlich war, garnicht erwogen wurde, obwohl es aus medizinischer Sicht überauskritische Stimmen gegen Schenkelvenenblutanalysen gibt, weil da-raus weder abgeleitet werden kann, wie viel Morphin verabreichtwurde, noch, welche Dosis indiziert war.

In Strafverfahren werden Fragen aus juristischer Perspektive ge-stellt.Wenn ein Mediziner gefragt wird, ob er es ernstlich für mög-lich gehalten und sich damit abgefunden hat, dass die Patientin beider gewählten „Komforttherapie“ früher sterben werde als bei ei-ner Maximaltherapie, wird er diese – aus seiner Sicht vielleichtmerkwürdige – Frage mit „Ja“ beantworten, ohne sich dabei be-wusst zu sein, dass er damit seinen „Tötungsvorsatz“ preisgegebenhat, weil es unter juristischen Gesichtspunkten für eine Strafbar-keitsprüfung auf den ersten Blick bloß darauf ankommt, ob je-mand ein Verhalten (Tun oder Unterlassen) gesetzt hat, infolgedessen ein anderer Mensch zu diesem Zeitpunkt und auf dieseWeise gestorben ist.

Freilich führt die bloße Kausalität der Todesherbeiführungnoch zu keiner Strafbarkeit, begrenzen doch Überlegungen der So-zialadäquanz die uferlose Weite der Kausalität. Doch solche Über-legungen erfordern seitens der juristischen Akteure eine einge-hende Auseinandersetzung mit medizinischen leges artis, ethi-schen Überlegungen zum Patientenwohl, dem Patientenwillenusw. Und weil solche Überlegungen nicht zum juristischen Alltaggehören, werden Behandlungsentscheidungen am Lebensendehäufig dem „juristischen Graubereich“ zugeschrieben, zumal auchso gut wie keine auf Juristen und Mediziner zugeschnittenen ge-meinsamen Fortbildungen zu diesem Themenbereich angebotenwerden. Dies sollte dringend geändert werden.

Juristen sind nach wie vor der Terminologie von (unzulässiger)aktiver, (zulässiger) passiver und indirekter Sterbehilfe verhaftet.Dadurch wird der Blick auf medizinische Indikationen, die eineTherapiezieländerung in Richtung „Komforttherapie“ statt (medi-zinisch nicht mehr indizierter) Maximaltherapie sinnvoll erschei-nen lässt, verstellt. Dass im vorliegenden Fall die Frage letztlichbloß nach vorsätzlicher Herbeiführung des Todes gestellt wurdeund nicht (auch) danach, ob der behandelnde Arzt vorsätzlich

zu Unrecht angenommen hat, dass die Patientin schwer leideund sich nicht mehr erholen werde (vorsätzlich falsche Annahmefehlender medizinischer Indikation für eine Weiterbehandlung)bzw dass es nicht ihrem (mutmaßlichen) Willen entspreche, eineKomforttherapie statt einer Maximaltherapie zu wählen (vorsätz-lich falsche Annahme des mutmaßlichen Patientenwillens), zeigterneut, wie sehr Juristen und Mediziner aneinander vorbeireden.Rückt man die Therapieziele in den Mittelpunkt der Betrachtung,erhalten ethische Überlegungen, die sich auch am Patientenwillenorientieren, zunehmende Bedeutung und ist es leichter, dem Pa-tientenwillen entsprechende Behandlungsentscheidungen zu tref-fen.

Der geschilderte Fall hat die Diskussion belebt und war insofernfür den medizinrechtlichen Bereich wichtig, wenngleich für denBetroffenen eine immense Belastung, zumal er mehrere Monateals „Mordverdächtiger“ gegolten hat. Doch es wäre trotz des positi-ven Verfahrensausgangs verfehlt, sich nach dem Freispruch zu-rückzulehnen. Das Vertrauen darauf, dass Behandlungsentschei-dungen in Richtung Komforttherapie ohnehin von den medizini-schen leges artis gedeckt sind, wie sie letztlich allgemein in § 49ÄrzteG verankert sind, reicht nicht aus. Weil sich solche Behand-lungsentscheidungen nach wie vor in einem juristischen Graube-reich befinden, wäre es rechtspolitisch sinnvoll, zB § 49 ÄrzteG indem Sinne zu ergänzen, dass es zur Wahrung des Patientenwohlsinsb auch zulässig ist, im Rahmen palliativmedizinischer Indikatio-nen Maßnahmen zu setzen, deren Nutzen zur Linderung schwererSchmerzen und Qualen das Risiko einer Beschleunigung des Ver-lusts vitaler Lebensfunktionen überwiegt. Solche Überlegungengibt es dem Vernehmen nach zwar bereits, aus Angst darüber,die Diskussion zur „Sterbehilfe“ damit erneut zu beleben, werdensie jedoch offenbar nicht weiterverfolgt. Weil der vorliegende Fallmit einem Freispruch geendet hat, sehen viele auch keine Notwen-digkeit, mit einer Gesetzesänderung für Klarheit zu sorgen. Dochdie Entscheidung stand letztlich „auf des Messers Schneide“. Ein inNuancen anderes Ergebnis des Gerichtsgutachtens oder auch eineweniger intensive Auseinandersetzung des OLG mit der Materiehätte zu einem ganz anderen Ergebnis führen können. Ein rechts-politischer Handlungsbedarf in Richtung einer Gesetzesänderung,welche die Strafverfolgungsbehörden letztlich zu einer stärkerenAuseinandersetzung mit dem medizinischen Handlungsmaßstabverpflichtet, besteht somit nach wie vor.

Alois Birklbauer/René HaumerUniv.-Prof. Dr. Alois Birklbauer, Institut für Strafrechtswissen-

schaften, Johannes Kepler Universität LinzRA Mag. René Haumer, LL.M., Haslinger/Nagele & Partner

Rechtsanwälte Linz