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© Rodrigo Migliorin

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Endlos erstrecken sich die weiten Ebenen im Süden Brasiliens, wie kann diese Landschaft je bezwungen werden? Man mag Straßen bauen, Zäune errichten, Schafweiden abstecken und wachsam sein. Doch niemand kann überall zugleich sein und sie kommen in der Regel nachts. Die Fotografien zeugen von glücklicheren Zeiten, als hier noch Neuland war. Heute ziehen die Menschen weg und es kommen Unternehmen. Ihre Abgesandten kaufen Land auf, ihre Fahrzeuge markieren die neuen Grenzen. Dione verließ einst die Stadt, um hier zu leben, nun will er als Einziger bleiben. Angesichts sei-ner bedrohten Lage beschließt er, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und die endlose Weite neu zu ordnen. Er findet ein Gewehr, setzt an, zielt und drückt ab: zerberstende Scheiben, platzende Reifen, Autos, die sich in Feuerbälle verwandeln. Doch nicht einmal Schüsse vermögen die Stil-le zu durchdringen, jede Gewalttat bleibt folgenlos, weil die Pampa alles verschluckt. Je mehr Dione sich bemüht, die Landschaft unter Kontrolle zu bringen, desto größer erscheint sie oder wird er in Wirklichkeit kleiner? Endlos erstrecken sich die weiten Ebenen im Süden Brasiliens. Wie kann diese Landschaft bezwungen werden? James Lattimer

Produktion Paola Wink, Paulo de Carvalho, Gudula Meinzolt.

Produktionsfirmen Tokyo Filmes (Porto Alegre, Brasilien),

Autentika Films (Berlin, Deutschland), Casa de Cinema de Porto

Alegre (Porto Alegre, Brasilien), Gogó Conteúdo Sonoro (Porto

Alegre, Brasilien). Regie Davi Pretto. Buch Davi Pretto, Richard

Tavares. Kamera Glauco Firpo. Schnitt Bruno Carboni. Musik Davi Pretto, Marcos Lopes, Tiago Bello. Sound Design Marcos

Lopes, Tiago Bello. Ton Marcos Lopes. Production Design Richard Tavares.

Mit Dione Avila de Oliveira (Dione), Evaristo Goularte (Evaristo),

Andressa Goularte (Andressa), Elizabete Nogueira (Bete), Livia

Goularte (Livia), Francisco Fabrício Dutra dos Santos (Mariano),

Sofia Ferreira (Vitória).

Farbe. 88 Min. Portugiesisch.

Uraufführung 21. September 2016, Festival de Brasília do

Cinema Brasileiro, Brasilia

Weltvertrieb Patra Spanou Film Marketing & Consulting

Rifle

Davi Pretto

RIFLEPretto, Davi

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Tokyo Filmes, und wir sind seit der Oberschule miteinander be-freundet – das Zusammenarbeiten ist also etwas Natürliches für uns. Wir sprechen dieselbe Sprache.

Wie würden Sie das zentrale Thema des Films zusammenfassen?

Ich habe nach Bildern und Klängen gesucht, die eine katharti-sche Rache schildern.

Inwiefern hat der Umstand, dass Sie selbst im Süden von Brasilien aufgewachsen sind, Ihre Wahl der Schauplätze und des Erzählstils von Rifle beeinflusst?

In Rio Grande do Sul, dem Bundesstaat, in dem ich lebe, er-zählen sich die Menschen gerne eine Variante der historischen Fakten, die sinngemäß so lautet: Die reichen Grundbesitzer waren freundlich, Gegner der Sklaverei und Helden. Mit dieser Geschichte sind wir aufgewachsen, und in Brasilien entstande-ne Filme – die ich überhaupt nicht mag – reproduzieren diese Botschaft im Stil naiver Märchen. In Wirklichkeit entstand Rio Grande do Sul, eigentlich ganz Brasilien, durch Sklavenarbeit, die Armen hat man umgebracht oder verjagt. Damit erst wurde der Expansionismus der wenigen möglich, denen fast das gan-ze Land gehört. In gewisser Hinsicht ist Rifle ein ästhetisches Statement, das einen letzten Versuch des Widerstands darstellt, wenn sonst niemand da ist, um zu helfen. Wenn man Widerstand darstellen möchte, sollte der Erzählstil als eine Art oppositio-nelles Werkzeug fungieren.

Vieles in Rifle – zum Beispiel die weiten Prärien, der Konflikt zwi-schen Großgrundbesitzern und Kleinbauern – erinnert an klassische Westernstoffe. Hat das vor allem mit dem Schauplatz des Films zu tun, oder waren Sie von anderen Filmen und Regisseuren beeinflusst? Welche Rolle spielen Genres bei der Konzeption eines Films für Sie?

Die Themen tauchten während unserer Recherche in der Region und beim Abfassen des Drehbuchs ganz von selbst auf; sie sind außerdem in der lateinamerikanischen Geschichte und Literatur sehr verbreitet. Irgendwann habe ich allerdings bemerkt, dass wir es tatsächlich mit einer Art Westernmythos zu tun hatten. Einem Cineasten und besonders einem Freund des Western ist es unmöglich, nicht an John Ford, Anthony Mann oder Budd Boetticher zu denken, oder sich deren fantastischen Filme nicht immer wieder aufs Neue anzusehen – und aus genau diesem Grund wurde mir klar, dass Rifle ganz bestimmt kein Western ist. Ich stamme aus Lateinamerika, wir haben unsere ganz eigene Ästhetik, unsere eigenen Mythen und Genres. Vielleicht habe ich ein wenig mit dieser ganzen Situation gespielt – manchmal sehr akribisch, und manchmal auch nur zum Spaß.

Ein Hauptthema des Films ist die soziale Ungerechtigkeit und wie die Betroffenen darauf reagieren. Sehen Sie eine Verbindung zwischen der Situation, die Sie in Rifle beschreiben, und der ökonomischen Un-gleichheit, die weltweit wieder zunimmt?

Wir machen heute in unterschiedlichen Ländern und auf unter-schiedlichen Kontinenten die gleichen Erfahrungen; das ist eine Folge des kapitalistischen Systems, mit dem wir erwiesenerma-ßen uns selbst und unseren Planeten töten. Das Wachstum der großen Städte ist außer Kontrolle geraten, die sehr wenigen reichsten Menschen der Erde werden immer reicher, und die Kluft zwischen ihnen und der Mittelklasse und den Armen wird immer größer. Gleichzeitig bekommen rechtsextreme Strömun-gen weltweit mehr Einfluss und Aufmerksamkeit, die sich gegen Regierungsinitiativen zur Eindämmung sozialer Ungerechtigkeit

Stille Gewalt

Rifle ist ein Film über die Menschen im südlichsten Teil meines Hei-matlandes Brasilien. Eine infolge von Landflucht menschenleere Gegend, deren Bewohner sich angesichts ihrer wirtschaftlichen Not zunehmend gezwungen sehen, in den Städten Zuflucht zu suchen. Aus diesem Grund ist Rifle nicht zuletzt auch ein Film über Gewalt geworden: nicht nur über körperliche Gewalt, sondern auch über ei-ne Art stille Gewalt, die von der täglichen Koexistenz der Menschen mit einem grenzenlos expansiven Kapitalismus herrührt; von der Beziehung zwischen Mensch und Maschine; und von den Vorstel-lungen darüber, wie ein erfolgreiches Leben auszusehen hat. Ich wollte in diesem Film verschiedene Genres miteinander verbinden, ähnlich wie bereits in meinem ersten Spielfilm Castanha. Während allerdings die Schauspieler in Castanha sich in einer dramatischen Kriminalgeschichte selbst spielen, verkörpern die Bewohner des brasilianischen Südens in Rifle die Figuren einer Geschichte, die nicht ihre eigene ist – obgleich sie es durchaus sein könnte. Ge-staltet mit Elementen aus Road Movie, Western und Thriller, erzählt der Film eine Geschichte voller Getriebensein, Qual und Zerstörung.

Davi Pretto

Die Landverteilung

Rifle wurde im südbrasilianischen Vacaíqua, nahe der uruguayisch-en Grenze, mit Laiendarstellern aus der Region gedreht. Die sozia-len und politischen Probleme der Landverteilung in Brasilien sind gleichermaßen akut wie beängstigend. Erhebungen der brasiliani-schen Bundesregierung zeigen, dass über 318 Millionen Hektar – ungefähr 55 Prozent der ländlichen Gebiete Brasiliens – im Besitz von etwa 130.000 Großgrundbesitzern sind. Diese machen lediglich ca. 0,002 Prozent der Gesamtmenge von Grundeigentum in Brasilien aus. Gleichzeitig verteilen sich ungefähr fünf Millionen Klein- und Kleinstgrundstücke – das sind anteilsmäßig 90 Prozent – auf 25 Prozent der Anbauflächen des Landes. Die verbleibenden Flächen entfallen auf mittelgroßen Landbesitz. Diese Zahlen verdeutlichen, wie brisant der Zusammenhang von Gebietsstreitigkeiten, sozialer Ungleichheit und einer landesweit ungerechten Bodenverteilung ist, von dem der Film berichtet.

„Wir haben unsere ganz eigenen Mythen und Genres“

Wie sind Sie auf die Geschichte von Rifle gestoßen? Und wie gestal-tete sich die Zusammenarbeit mit Ihrem Koautor Richard Tavares?

Davi Pretto: Im Jahr 2010 machte Richard mich auf eine Kurz-geschichte mit dem Titel El Niño aufmerksam, aus ihr stammt die ursprüngliche Idee zu Rifle. Wir wollten einen Spielfilm daraus machen, und er lud mich ein, die Regie zu übernehmen. Ich er-innere mich, wie enorm spannend ich die Erzählung fand. Die-se Spannung entsprang der Energie dieses jungen Mannes, der sich in einem Identitätskonflikt befindet, während er gleich-zeitig versucht, an dem Ort festzuhalten, an dem er zu Hause ist. Wir sind häufig über Land gefahren, und immer sind uns da-bei diese kleinen Häuser inmitten der Felder aufgefallen. Wir waren uns darüber im Klaren, dass unser Film auch die Gefühle und Geschichten der Menschen, die dort leben, zeigen sollte. Also begannen wir mit einer langen Recherche, um die Kurz-geschichte mit Aspekten anzureichern, die für die Menschen dieser Region eine Rolle spielen. Richard ist mein Partner bei

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verändert und dass mehrere wichtige Rahmenprogramme abge-schafft wurden. Wir sind uns darüber im Klaren, dass von dieser Entwicklung irgendwann auch der FSA betroffen sein kann. Wir beobachten die Situation sehr aufmerksam.

Interview: Carsten Siebert, Januar 2017

wenden. Es ist absurd und traurig zugleich, dass diejenigen, die am meisten zu verlieren haben, das Geschwätz jener wenigen Milliardäre übernehmen. In meinem ersten Spielfilm Castanha habe ich einen Mann am Rande der Gesellschaft porträtiert, der in einer großen Stadt zu überleben versucht. Andererseits gibt es einige Menschen, die sich dafür entschieden haben, weiter-hin in den verlassenen ländlichen Gegenden zu leben. Und was haben sie dafür bekommen? Sie haben jetzt noch weniger Mög-lichkeiten und Unterstützung als vorher. Das ist Rifle.

Wie haben Sie die Darsteller gefunden? Während der Recherche in der Region für das Drehbuch hielt ich gemeinsam mit der Produzentin Paola Wink auch nach po-tenziellen Drehorten und Darstellern Ausschau. Wir bereisten den Süden des Landes viele Wochen lang. Erst gegen Ende ent-deckten wir Vacaíqua, ein kleines Dorf mit weniger als dreißig Häusern, nahe an der Grenze zu Uruguay. Als wir dort ankamen, wussten wir sofort, dass dies der perfekte Ort für den Film war. Wir blieben mehrere Tage dort und versuchten, alle Bewohner des Ortes kennenzulernen. Am letzten Tag begegneten wir Di-one und seiner Familie. Über einen Zeitraum von sechs Monaten kehrten wir viele Male nach Vacaíqua zurück, bis sie ihre Teil-nahme zusagten. Von diesem Zeitpunkt an waren wir praktisch Teil der Familie. Ich war dann während der Vorproduktion noch einige Male dort, um sie auf die Dreharbeiten vorzubereiten. In dieser Phase machte ich mit meiner Kamera ein paar einfa-che Aufnahmen, um ihnen zu zeigen, dass sie gute Schauspie-ler sein konnten. Es war ein unglaublich tolles Erlebnis, mit ihnen zu arbeiten.

Wie gestaltete sich die praktische Umsetzung des Films? Wie lang dauerte es von der ersten Idee bis zur letzten Schnittfassung? Was waren die größten Herausforderungen während der unterschiedlichen Phasen der Realisierung des Films? Und wie denken Sie über die Situ-ation von Filmemachern im heutigen Brasilien?

Einen Film zu machen, heißt immer, einen langen, steinigen Weg zu gehen. Richard lieferte mir die Ursprungsidee im Jahr 2010, das war sogar noch vor Castanha; eigentlich sollte Rifle mein erster Spielfilm werden. Aber es kam anders. Das Schreiben des Drehbuchs und die Sicherung der Finanzierung des Projekts be-anspruchten fünf Jahre, die Postproduktion zog sich über ein weiteres Jahr hin. Die größte Herausforderung besteht für mich immer darin, optimistisch und energisch genug zu bleiben, um all die Dinge zusammenzubringen, die nötig sind, um den Film fertigzustellen. Man stößt bei dieser Arbeit immer wieder auf Hindernisse. Es gibt Monate, in denen gar nichts vorangeht, Tage, an denen man Zweifel bekommt oder aufgeben möchte. Die Situation der Filmemacher in Brasilien hat sich in den ver-gangenen fünf Jahren enorm verbessert: Seither verfügt die brasilianische Filmbehörde Ancine über einen Fonds mit dem Namen ‚Fundo Setorial do Audiovisual‘ (FSA), der im Rahmen eines Programms der brasilianischen Bundesregierung zur Un-terstützung des Wachstums der audiovisuellen Industrie ge-gründet wurde. Die Förderung von Filmen und Fernsehserien hat sich seither exponentiell gesteigert, mit einem deutlichen Ergebnis: Allein im Jahr 2017 gibt es einen Film aus Brasilien im Wettbewerb von Sundance, fünfzehn Filme beim Internationalen Film Festival in Rotterdam, zehn Spielfilme bei der Berlinale – das ist ein beeindruckendes Zeichen. Wir dürfen aber nicht ver-gessen, dass in Brasilien im letzten Jahr ein Staatsstreich statt-gefunden hat, dass die Regierungspolitik sich momentan sehr

Davi Pretto wurde 1988 in Porto Alegre (Rio Grande do Sul, Brasilien) geboren. 2008 schloss er ein Filmstudium an der Pontifícia Universidade Católica do Rio Grande do Sul in Porto Alegre ab. Seither ist er als Regis-seur, Filmproduzent und Kurator von Film-programmen tätig. Rifle ist sein zweiter abend füllender Film.

Filme2009: Quarto de espera / Waiting Room (12 Min.). 2012: De Passagem / Passing Through (16 Min.). 2014: Castanha (95 Min., Berlinale Forum 2014). 2015: Metade Homem, Metade Fantasma / Half Man, Half Ghost (29 Min.). 2016: Rifle.

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