roux-das wesen des lebens-1915

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' ·, DIE KULTUR DER GEGENWART _, .. . -- IHRE ENTWICKLUNG UND IHRE ZIELE HERAUSGEGEBEN VON PAUL HINNEBERG DRITTER TEIL MATHEMATIK · NATURWISSENSCHAFTEN MEDIZIN _VIERTE ABTEILUNG ORGANISCHE NATURWISSENSCHAFTEN UNTER LEITUNG VON R. Vo WETTSTEIN. ERSTER BAND ...,..__ ALLGEMEINE BIOLOGIE ' . - I i REDAKTION: tCoCHUN'UNDWoJOHA!j'fNSEN UNTER MITWIRKUNG VON A. GÜNTHART I I I : ALLGEMEINE BIOLOGI f ,j i I I [ . i ' I ( BEARBEITET VON . ,-' -J ',• ,;; ·-! .. __ ' EoBAUR o Po BOYSEN-JENSEN o PoCLAUSSEN • A.FISCHEL o Mo HARTMANN. Wo JOHANNSEN o Eo LAQUEUR o t B. LIDFORSS o Wo n<:1rw• OoPORSCH oHoPRZIBRAM oEoRADL o O.ROSENBERG oWoROUX. G. SENN o H. SPEMANN o 0, ZUR STRASSEN MTI' 115 ABBILDUNGEN IM TEXT ,,

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Wilhelm Roux-das Wesen Des Lebens-1915

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Page 1: Roux-das Wesen Des Lebens-1915

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DIE

KULTUR DER GEGENWART _, .. ~...,=-===----._ . -- IHRE ENTWICKLUNG UND IHRE ZIELE

HERAUSGEGEBEN VON PAUL HINNEBERG

DRITTER TEIL

MATHEMATIK · NATURWISSENSCHAFTEN • MEDIZIN

_VIERTE ABTEILUNG

ORGANISCHE NATURWISSENSCHAFTEN UNTER LEITUNG VON R. Vo WETTSTEIN.

ERSTER BAND ...,..__ ALLGEMEINE BIOLOGIE

' . - I

.· i REDAKTION: tCoCHUN'UNDWoJOHA!j'fNSEN

UNTER MITWIRKUNG VON A. GÜNTHART

I

II : ALLGEMEINE BIOLOGI

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Page 2: Roux-das Wesen Des Lebens-1915

VI Vonvort

aber die einzelneo ,}Steine" nicht immer die ihrer Bedeutung adäquate Größe erhalten haben, muß zugegeben werden.

Die Repräsentation recht verschiedener Standpunkte durch die Autoren hat aber andererseits den Inhalt des vorliegenden Bandes sehr reich und anregend gemacht.

Besonders interessant wird wohl der Leser die höchst verschiedene Wertschätzung des Selektions-Gedankens sowie der Lamarckschen Auf­fassungen finden. Die gelegentliche Uneinigkeit der hier zusammenarbeitenden Autoren ist ja selbst ein Ausdruck des jetzigen Zustandes der biologischen Forschung, und mußte schon deshalb zu Wort kommen. Der einzelne Autor muß in dem Ringen der Ideen ftir sich selbst sprechen.

Da die zoologischen und botanischen Disziplinen in ihrer konventionellen Einteilung nicht völlig par~llellaufen, konnten die beiden Gebiete oft nicht gleichmäßig repräsentiert werden. Dies gilt besonders in bezug auf die "Ent­wicklungsmechanik''· Die botanische Seite dieser Forschungsrichtung ist sehr viel älter als die zoologische, und sie wurde von jeher als integrierender Be­standteil der Pflanzenphysiologie betrachtet. Dementsprechend wird sie unter dem Titel "Entwicklungsphysiologie" im botanischen Teil des dritten Bandes unserer Abteilung (Physiologie und Ökologie) dargestellt.

Das Register, auf welches die Redaktion besondere Sorgfalt verwendet hat, wird dazu helfen, sowohl einzelne Transgressionen der Artikel als auch die Meinungsdifferenzen der Autoren näher zu präzisieren und das Auffinden der Bedeutung der biologischen Termini zu erleichtern. So wird dieses Hilfs­mittel die sämtlichen Artikel doch zu einem organischen Ganzen zusammen­fassen und die Benutzung des Buches auch als Nachschlagewerk ermöglichen.

Mit dem Tode meines hochverehrten Kollegen, Geheimrat Professor Carl Chun, hat auch die Redaktion einen sehr schmerzlichen Verlust er­litten; Chun hatte sich mit regem Eifer an der Aufstellung des Plans und der Gewinnung der Autoren beteiligt; seine zunehmende Krankheit zog ihn aber mehr und mehr von der Arbeit ab. Die vorgenommenen Änderungen des ursprünglichen Plans fanden aber'noehseine Bil1igung, und bis an seinen Todes­tag blieb er warm für die Sache interessiert. Leider hat der verstorbene hoch­verdiente Forscher keinen eigenen Beitrag zu unserem Bande geben können.

Auch unser Mitarbeiter Professor Bengt Lidforss, der reich begabte schwedische Biologe, wurde uns durch den Tod geraubt; die Korrektur seiner druckfertig revidierten Arbeiten wurde, mit strengster Einhaltung des Wort-lauts, vom Unterzeichneten besorgt. ·

Beim Abschluß der Redaktionsarbeit muß ich allen den Herren Mit­arbeitern ftir ihre bedeutenden Leistu"ngen meinen herzlichen Dank aus­sprechen. Ganz besonders aber muß ich Herrn Dr. Günthart-Leipzig für seinen mit größtem Interesse und wärmster Liebe. zur Sache durchgeführten oft recht schwierigen, umfassenden und wichtigen Anteil an der Redaktions­arbeit meinen besten Dank aussprechen.

Kopenhagen, Juli '9'4· W. JOHANNSEN.

INHALTSVERZEICHNIS

ZUR GESCHICHTE DER BIOLOGIE VON LINNE BIS DARWIN.

VoN EM. RADL. I. Vor Darwin • •

· 11. Die -Biologie unter der Herrschaft des Darwinismus . Litenhur . . . . • . • . .

RICHTUNGEN: DER BIOLOGISCHEN FORSCHUNG .. MIT BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER

ZOOLOGISCHEN FORSCHUNGSMETHODEN. . . . VoN ALFRED FISCHEL.

Einleitung . . . . . · . . . . • • • . . . . . . . . . . • ;: /i.:.Die besChreibenden _Methoden und die beschreibenden Forschungsrich-

. :tungen •.•. :. , .•••...•••.. · -IC:bie experimentellen.- :ForschungsriChtungen und Methoden

III._ -Kombination von Methoden . . . . IV. Philo-sophische Anal~se in der Biologie

Literatur . . , . , ,

DIE UNTERSUCHUNGSMETHODEN DES BOTANIKERS VON 0, ROSENBERG.

MakroskOpische Unt~rsuchungsmethoden . Mikroskopische Untersuchungsmethoden . Literatur

ZUR GESCHICHTE UND KRITIK DES BEGRIFFS DER HOMOLOGIE.. . . . ...... .

VoN H. SPEMANN. Der Begriff der Homologie • Idealistische Periode :der vergleichenden Anatomie Historische Periode der vergleichenden Anatomie Kausal-analytische Periode der vergleichenden Anatomie . Literatur · . • . . . . .

DIE ZWECKMÄSSIGKEIT

I. Die_ Zweckmäßigkeit als Problem 1. Begriff und Umfang . . • .

VON OTTO ZUR STRASSEN.

z. Zweckmäßigkeit und "Kultur der Gegenwart" , -3· Methodelogische Einführung •

ILDer Zufall als Ursacl~e ~es Zweckmäßigen • . . · ·r. Zweckmäßiges Ges:cbehen durch reinen Zufall . . . . '2. Die Organisierung! des zufällig -zweckmäßigen Geschehens .

UI.- Die Produktion des ~nffiittelbar·Zweckmäßigen . . • . .

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Page 3: Roux-das Wesen Des Lebens-1915

VIII Inhaltsverzeichnis

IV. Die Nachahmung . . • , . . . . . I. Nachahmung qualitativ gegebener Modelle 2. Nachahmung qualitativ neuer Modelle • .

V. Das Lernen aus Erfahrung . l. Einprägung qualitativ gegebener Objekte. 2. Einprägung qualitativ neuer Objekte

VI. Die Entstehung der Mechanismen . . . . I. Die Entstehung der Mechanismen als W abrscheinlichkeitsproblem z. Die Entstehung der Phylomechanismen ' Zusammenfassung und Schluß . Literatur

DIE ALLGEMEINEN KENNZElCHEN DER ORGANISIER­TEN SUBSTA.l'IZ . .

VON WOLFGANG OSTWALD. Einleitung, Mechanismus und Vitalismus , , . . . . , A. Die allgemeinen chemischen Kennzeichen der organisierten Substanz . B. Die allgemeinen physikalischen Kennzeichen der organisierten Substanz C. Die organisierte Substanz als ein kolloides Gebilde . D. Die allgemeinsten ~iologischen Kriterien . Literatur . . . . .

DAS WESEN DES LEBENS VON WILHELM ROUX.

Unzulänglichkeit der statischen chemischen und physikalischen Definitionen Funktionelle Definition, die Elementarfunktionen Die Selbsttätigkeit, Autoergie . Die Selbstregulation Die sog. Entelechie Künstliche Lebewesen . Literatur

Seite no UO

U3 H7

"9 IZl

<'9 129 134 146 148

I$0-IJZ

ISO

15' I 57 161 169 17'

174 175 179 181 183 184 187

LEBENSLAUF, ALTER UND TOD DES INDIVIDUUMS . 188-'17 VON WALDEMAR SCHLEIF.

Das lndividuum und sein Lebenslauf . • . Der Tod . . • . . . . . . , . Alterserscheinungen und physiologischer Tod . . . . . • . . . Theoretische Vorstellungen über die Notwendigkeit des physiologischen

Todes. . Die potentielle Unsterblichkeit der einzelligen Organismen Die Einführung des physiologischen Todes ins Organismenreich Die Lebensdauer Literatur

PROTOPLASMA

Einleitung Entdeckung des Protoplasmas . Morphologie des Protoplasmas

VON B. LIDFORSS.

Chemische und physikalische Eigenschaften des Protoplasmas Bewegungen im Protoplasma Reizbarkeit . . . • . . Funktionelle Arbeitsteilung .

188 190

192

196 198 20,

207

217

,18

"9

'" 234 259 ,61

263

Inhaltsverzeichnis IX

ZELLULÄRER BAU, ELEMENTARSTRUKTUR, MIKRO· Seite

. ORGANISMEN, URZEUGUNG.

Nichtzelluläre Pflanzen Vorteile des zellulären Baues Elementarstruktur Urzeugung.

• • . • . 265-276

VON B. LIDFORSS.

.. Literatur

BE\;VEGUNGEN DER CHROMATOPHOREN VON G. SENN.

MJKROBIOLOGIE. ALLGEMEINE BIOLOGIE DER PRO-

264 2_66 268 269 275

TISTE!'!.

' -Einleitung . · .

. . , . , , Z8J-30I VON MAX HARTMANN.

zene. ~ß.d Energide. :Öie .Konstitution der Kerne:

VON ERNST LAQUEUR. Deskriptive Ent~ick11Jngsge~chichte und kausale Entwicklungsmechanik Aufgabe der Entwicklungsniechanik . . . . . . • Spezifischeundindifferente Visaehen oderdeterminierende und realisierende

Faktoren bei der Entwicklung . . . . . . . , . . . , , . I. Fragen und· Versuche :in bezug auf die determinierenden Entwick­

lungsfaktoren. (Deterni.lnationsproblem) .. , . . . . . . . • · 11, Realisierende z, T. differenzierende Faktoren. . . . . .

Entwicklungsmechanik als Bindeglied morphologischer und physiologischer Forschungen . , • , , , . . • • , . • • . • • • .

Bedeutung der Entwicklungsmechanik als Bollwerk gegen den Vitalismus Literatur

UND TRANSPLANTATION· IM TIER-

283

'84 286 ,., 294 295 '96

'9' 300

3" 30'

305

"'

1; Regeneration

343-377 VON H. PRZIBRAM. l

· 11, Transplantation 1 Literatur

UND TRANSPLANTATION IM PFLAN­ZENREICHE

! · · VON ERWIN BAUR. )' Il Die.- Regeneration verletzter !Pflimzlicher Zellen • . . . . t"ll;. Die Regenerationserscheinungen an vielzelligen Organismen )II; Transplantationen 1'' · Literatur

343 360

377

Page 4: Roux-das Wesen Des Lebens-1915

X Inhaltsverzeichnis

Soit" FORTPFLANZUNG IM TillRREICHE . . . . . . . . . . . 405-473

VON EMlL GODLEWSKI JUN. Einleitung, . , • . . . . 405

·I. Vegetative Fortpflanzung. . . • • . • • . . . . . 407 II, Geschlechtliebe Fortpflanzung • • • • • . , • . • . . 415

1. Der Eierstock und die Brunst- bzw. Menstruationserscheinungen 425 z. Der Einfluß der Gonaden auf den allgemeinen Stoffwechsel des Or-

ganismus . • , • , • . . • . . . . . • . • . • • • . 4 27 3· Der Entwicklungsgrad, Organisationszustand und Geschlechtstätig-

keit. Polymorphismus der Weibchen, Periodizität im Sexualleben . . 428 4· Hermaphroditische Individuen und ihre Geschlechtstätigkeit • • 440 S- Geschlechtsverhältnisse zwischen den Männchen und Weibchen und

ihre biologische Bedeutung fllr die Fortpflanzung. • . . • . 442 6. Geschlechtsverhältnisse bei hermaphroditischen Individuen , . 459 J. Fertilität der Tiere und das Problem der Mehrgeburten bei Säugern. 460 8. Fortpflanzung durch Parthenogenese • . . . • . . . . . . , 46z 9· Kopulation der Geschlechtselemente, das Problem der Entwicklungs-

erregung, künstliche Parthenogenese . . . . • • , . . . , 464 10. Heterogene Befruchtung, Antagonismus fremdartiger Spermatozoen 47r

Ill. Kombinierte Fortpflanzungstypen: Heterogonie, Metagenese , 473 Literatur . . . . . . . . . . • • . . 4:77

FORTPFLANZUNG IM PFLANZENREICHE . 479-5•8

VON P. CLAUSSEN. Einleitung • . . • . . . . . . . • . . . . . . . . . . • 479

l Der Generationswechsel bei den wichtigsten Pflanzengruppen 482 11. Entstehung von Sporophyten aus Gametophyten ohne Sexualakt und von

Gametophyten aus Sporophyten untCr Fortfall derSporenbildung(Reduktion) 5 x 5 III. Ungeschlechtliche Fortpflanzung des -Gametophyten und Sporophyten 517

Literatur •...•.•..•.... , . 518

PERIODIZITÄT IM LEBEN DER PFLANZE VoN W, JOHANNSEN.

~LillDERUNG DER ORGANISMENWELTIN PFLANZEUND

519-530

TIER. . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53'-534

WECHSELBEZIEHUNGEN ZWISCHEN TIER ...... .

Schutzeinrichtungen der Pflanzen gegen Tiere Lebensgemeinschaften , . . . , • • . . Symbiose zwischen Pflanzen Symbiose zwischen niederen Tieren und Algen Pflanzen und Ameisen. · Pflanzen und Milben Pflanzengallen Pilzgärten Epiphyten . Lianen . . Parasitismus Literatur

VoN OITO.PORSCH.

PFLANZE . UND

VON OTTO PüRSCH. 535-586

535 540 54' 544 545 ssz ssz s6o 569 573 533 sB6

Inhaltsverzeichnis XI Seite

HYDROBIOLOGIE (SKIZZE IHRER METHODEN UND ER-GEBNISSE) . . . . . . . . . . . . . . . 587-596

VON P. BOYSEN-JENSEN. Einleitung , . . 587

I. Die Pflanzengesellschaften 588 II." Die _Tiergesellschaften . 592

Literatur 596

EXPERIMENTELLE GRUNDLAGEN DER DESZENDENZ­LEHRE; VARIABILITÄT, VERERBUNG, KREU-ZUNG, MUTATION . . . . . 597-66o

VoN W JOHANNSEN,

:.L:::.:··· }:· ~.;~!~~~:~~~;· Eige~s~hafte~ ~nd 1ferkm~le; Variabilität • der reinen Linien: und die Selektion •

.REGISTER

der Vererbung,: Mendelismus und. andere Komplikationen .

, Infektion und Tradition und konstitutionelle Übereinstimmung

neUer Konstitutionen

.............. 66z

Page 5: Roux-das Wesen Des Lebens-1915

VIII Inhaltsverzeichnis

19. Schwingungen gekoppelter Systeme

zo. Das elektrische Leitungsvermögen

21. Die Kathodenstrahlen

2 z. Die positiven Strahlen

Seite

"' . . • • . . 382-407 VON MAX WIEN.

. . . . . . :· . ~08-449

VON H. STARKE.

. • • . • • • . 450-457 VON W. KAUFMANN. . . . . . . . . 458-466

VoN E. GEHRCKE UND 0. REICHENHEIM.

23. Die Röntgenstrahlen .

24. Entdeckungsgeschichte aktivität . . . . .

und

. . . . . . . . . . . . . . . ·467-477 VoN W. KAUFMANN.

Grundtatsachen der Radio~

. • • . • • . . • . . . . . . 478-494 VON J. ELSTER UND H. GEITEL.

25. Radioaktive Strahlungen und Umwandlungen . . . . . . . . 495-513 VoN STEFAN MEYER UND EGON V. SCHWEIDLER.

LEHRE VOM LICHT

z6. Entwicklung der Wellenlehre des Lichtes ... · .. · · · · 517-574 VON OTTO WIENER.

27. Neuere Fortschritte der geometrischen Optik ...... · · 575-603 VON OTTO LUMMER,

2 8. Spektralanalyse . . . . .

29. Struktur der Spektrallinien

30. Magnetooptik

. . . , • . . 6o4-62r VON F. EXNER.

. . . . . 6zz-6z6 VON E. GEHRCKE. • . . . • • • • 627-650

VoN P. ZEEMAN.

ALLGEMEINE GESETZE UND GESICHTSPUNKTE

31. Verhältnis der Präzisionsmessungen zu der Physik

den allgemeinen Zielen • . . . . • . . . 653-660

VON E. WARBURG.

32. Die Erhaltung der Energie tropie .

und die Vermehrung der En~

33· Das Prinzip der kleinsten Wirkung

34· Die Relativitätstheorie .

35· Phänomenologische und atomistische

36. Verhältnis der Theorien zueinander

Namenregister Sachregister

. . . . . . . . . 661-691 VON F, HASENÖHRL. , . . . • • • • • 6gz...,...7o2 VON MAX PLANCK.

. . . . . • • • . 703-713 VON ALBERT EINSTEIN.

Betrachtungsweise . . . 714-731 VoN W. VOIGT.

. . . . . • • . 732-737 VON M. PLANCK .

• 738-745

•. 746-762

ZUR GESCHICHTE DER BIOLOGIE VON LINNE BIS DARWIN.

VoN

das nachfolgende Jahrhundert führten in Li

die Ideale der Renaissance, allerdings in und. J

~i~~[fi~ijilif~~t~~ Ideale, über die, sofern sie die Biologie der modernen Naturwissen-

wurde); die Verfeinerung der Umgangs­_Auftreten von wilden Stürmern nach der

nicht SOJ?.derlich günstig einer so kühnen

·~~~~~~ii~e~:!j(~l.f~~ als, Leo'nardos, Harveys war. Immer-!h W~1t<ullm strebende Forscher zu würdigen und

po:d<mte~de.n .AuJs<:h,•ung der Wissenschaft und auch , .Kar! von Linne (1707-1778) und ! ihren Ruhm im 18. Jahrhundert begründet.

19 .. Jahrhundert hinein einen nachhaltigen ankn!Üfifend Wollen wir die Schicksale der Biologie

],~~~~:~~::~~:, bis zu der allgemeinen Anerkennung des ; : j l - verfolgen. Den Bericht über

! anderen Kapiteln dieses Werkes; die biolo­na.chdaJrwitnsc~·, m Epoche werden im nachfolgenden Artikel

Page 6: Roux-das Wesen Des Lebens-1915

2 E. RADL: Zur Geschichte der Biologie von Linne bis Darwin

Tiere, nach dem Wesen der Zeugung usw. Der Einfluß seiner "Histoire natu­relle" war. sehr großj in zahlreichen Auflagen verbreitete sich dieses großange­legte Werk über die ganze intelligente Welt, und die biologischen Probleme, die in späterer Zeit Cu vier, Pallas, Goethe, Lamarck im Anschlusse an Buffon beschäftigt haben, beweisen, daß Buffons Einfluß auch in der stren­gen Wissenschaft demjenigen des Linne nicht nachsteht.

Die Biologie, die Tochter der medizinischen Wissenschaft, von der sie im &:,:';;::;;,:,~l~eitalter der Renaissance noch nicht geschieden war, begann sich im 18. Jahr­

hundert zu emanzipieren und nach eigenem Willen zu leben; die Aufmerksam· keit der intelligenten Laienwelt, welche bisher allzu einseitig nur die mathe· matisch·physikalischen Disziplinen für ihres Interesses würdig gehalten hatte, lenkte sich allmählich auf sie. In ihren Theorien strebte diese Wissenschaft nach hohen Zielen 1 einzelne biologische Disziplinen waren jedoch wenig differenziert: Linne, Buffon, Haller, E. Darwin sowie andere Forscher jener Epoche waren Biologen im allgemeinen (nicht nur Zoologen, nur Bota· niker, nur Physiologen); es war nur die natürliche Geistesanlage eines jeden Forschers, die Buffon mehr zur Zoologie, Linne mehr zur Botanik, E. Dar· win zu Betrachtungen über die Lebensweise der Tiere und Pflanzen hinzog. Im allgemeinen herrschte gegen das Ende des I 8. Jahrhunderts in der Wissen· schaftdie Vorliebe für die Beschreibung der Pflanzen und Tiere, daneben auch für die Anatomie; die Physiologie (namentlich die vitalistische Auffassung der· selben in der berühmten Schule von Montpellier) gehörte damals noch gänz· lieh ins Gebiet der Medizin. Die Auffassung der Bildungsgeschichte des orga· nischen Körpers wurde von flachen Präformations· (Einschachtelungs·) Lehren beherrscht; man nahm nämlich an, daß die Nachkommen als voll· kommene winzig kleine Wesen im Körper der Eltern eingeschlossen sind und daß die Entwicklung in einem Heranwachsen bestehe. Es vertrat zwar C. F. Wolff (1733-1794), ein in Rußland wirkender deutscher Gelehrter, die epigenetische Theorie, nach der sich der Organismus erst während seiner Embryonalentwicklung allmählich heranbildet, doch wurde diese Lehre von den Zeitgenossen nicht beachtet.

Linnes wissenschaftliche Leistung bildete eher den Höhepunkt, den Schlußstein des durch vorangehende Jahrhunderte gezeitigten Strebens, weni· gerein Programm für die Zukunft; Buffons Anschauungen wurden dagegen zu einer Quelle, welche mehrere wissenschaftliche Strömungen der nach· folgenden Zeit speisen sollte. Rasch erblühte im engen Anschluß an Buffon die vergleichende Anatomie oder Morphologie, gewissermaßen eine Kristallographie der lebenden Körper, die gesetzliche Beziehungen zwischen einzelnen Körperteilen aufsuchte. A. v. Haller in Deutschland, P. Camper in Holland, J. Hunter in England, Daubenton und Jussieu der Ältere in Frankreich wiesen bereits auf die Möglichkeit einer solchen Wissenschaft hin, der Pariser Arzt F.Vicqd'Azyr (1748--1794) begründete ihre Selbständig­keit:in konkreten sowie in theoretischen Schriften; am Anfange des 19. Jahr­hunderts erwuchs die Morphologie unter der Führung von Cu vier, Geoffroy,

Linne; Bufion; Cu vier 3

Decandolle, Goethe und einer Reihe anderer Forscher zu einer c.c;J~ocoh,,ngesc,he•nen Wissenschaft.

G .. Cu vier· (1760-!836) suchte in seinen Lehren die wissenschaftlichen CuviE

·c•z;,,,.-- ·welche sich Linne und Buffon gesteckt hatten, zu vereinigen; überall _bekannt durch seine Klassifikation der Tiere nach einer "natürlichen"

c}tM;othode, durch die Förderung der vergleichenden Anatomie, durch die Begrün-An Buffon erinnert sein Prinzip, daß die Eigenschaf·

wie die formalen, so die funktionellen, in unlösbarem stehen, so daß die Veränderung einer Eigenschaft eine

sämtlicher anderer nach sich zieht: das Prinzip der Korrelation Es gibt ferner na'ch ihm wesentliche und unwesentliche Teile; deSto innjg'er sin\:1. sie mit der inneren Organisation des Tieres .Charakt~re sind ieiilander, lehrte er, subordiniert; als die

des ganzen Ti~res bestimmende Eigenschaft bezeichnete er

~~ru;\;:'~~·~::~~~·:w~;ä~~hn~nd z. B. die-Farbedes Körpers nur in loser Korrelation lt . desselben stehen soll. Cu vier widmete viel Arbeit der

~·~~~fi~~:::~:~~~u~~- des Tierkörpers; er ist der erste Biologe der Neuzeit, !-f anatomischen Standpunkt aus analysierte, indem

zergliederte und deren Lagebeziehung bestimmte. Anatomie nur ein Mittel zur (natürlichen) Klassifikation

·er; iin Arischlusse an Linne, als d~s letzte Ziel der Biologie Seine Einteilung des.Tierreichs in vierTypen (Wirbeltiere, Weich-

iGEe.de•rti,·ere. Strahltiere) wurde zum Ausgangspunkt für alle späteren

war auch der erste Paläontologe, denn was vor ihm über aus·

i\~l~~~~~::.:~~~;::~:~e.~~:~~~'~::.~ei~b~:;':i:,nl waren nur Gelegenheitsbeobachtun-!i;! oder Phantasien.über die Entwicklung der Erde. Cu vier stu-ariatomischen Methode die Knochenreste aus den tertiärenAb­

g~iri{Ilg<m cder Paris~r Umgebung .und glaubte den Schluß ziehen zu müssen, daß

~~:~~:;:~l;m: ehrere großartige Revolutionen erlebt habe, durch die jedesmal Leben auf weiten Erdgebieten vernichtet wurde; in die veröde-sirid dann neue Organismen aus den von der Katastrophe ver-

~,~~,;f;:i~~~~~e~~~~,G~~e~b,~ieten eingewandert; deshalb soll die Fauna und Flora I~ Perioden (bis etwa auf vereinzelte Ausnahmen) von-

i~~'!i:~,:!~:,~~: verschieden sein. Die Katastrophenlehre erfreute sich bald 1~ Anerkennung.

Pa1äcm1:oJ,oge beachtete Cu vier an erster Stelle die Wirbeltiere, wäh­

i~i1g::I!~'~~'~J~. B. La.marck sich durch die Beschreibung der wirbellosen U~ hat. Das Interesse für die neue Wissenschaft griff rasch um d.i~son.derb•m,nl<o,cmen dervorsintflutlichen Tiere und Pflanzen wurden der

und die Mutmaßungen über große Erdrevolutionen reiz­Gelehrten. :Üi~ Paläontologie erwuchs bald zu einer mäch•

tlnd- verdrängte' auf dem Kontinente die früher blühende tektonische AUffassung der Geologie. L. Agas s i z, K. Vogt 1 ,.

Page 7: Roux-das Wesen Des Lebens-1915

4 E. RADL: Zur Geschichte der Biologie von Linne bis Darwin

0. Heer, G. H. Bronn, R. Owen,]. Barrande und viele andere gehörten der Schule Cuviers an.

Ähnliche morphologischeGrundsätze, wie Cu vier, legte seinen botanischen r:~;;;:::~:.:Arbeiten A. L. Jussieu (der Jüngere) zugrunde, als er sein natü~liches Pflan­

zensystem zu begründen strebte. Während diese beiden Forscher die Anatomie nur als ein Mittel zum Aufbau des Systems der Organismen betrachteten, faß­ten der_ Zoologe E. Geoffroy- St. · Hilaire (1772-1844) und der Botaniker P. Decandolle (1778-1841) die Morphologie als eine für sich bestehende Wis· Senschaft auf. Geoffroy, ein nach weiten Zusammenhängen spürender Geist, fand wie in Paris, so auch außerhalb der Grenzen Frankreichs viele Anhänger für seine Lehrevon einem einheitlichen für das gesamte Tierreich gültigen Struk­turplan. Er bemühte sich, seine Lehre in einer Reihe vergleichend anatomischer Schriften und durch die Analyse der Monstrositäten zu bekräftigen. Als Monstrositätenforscher ist er nebst dem deutschen Anatomen J. F. Meckel der Förderer der. Wissenschaft von den Mißbildungen der Organismen oder der Teratologie, die nachher viele Bearbeiter fand.

P. Decando lle, ein klarerer Kopf als Geoffroy, lehrte wieder seine Zeit­genossen die gegenseitige Abhängigkeit der Pflanzenteile beachten und aus ihr allgemeine Gesetze ableiten.

In den letzten Jahrzehnten des rS.Jahrhunderts bemühten sich auch die am Ärzte, ihre Kunst und Wissenschaft dem biologischen Denken anzupassen, so

U. a. der Pariser Psychiater P. Pinel, der die Exaktheit der Medizin durch die Aufstellung eines "natürlichen Systems" der Krankheiten begründen wollte. Von größerem Wert für die Biologie war das Bestreben des Begründers der Histologie, X. Bichats (1771-1802). Angeregt durch die Erfolge La­voisiers, dem es gelang, die vermeintlichen Elemente Luft und Wasser in einfachere Bestandteile zu zerlegen, unternahm es Bichat, auch den mensch­lichen Körper in einfachere Teile zu zergliedern, als es die Organe waren, auf deren Kenntnis die damalige Analyse des organischen Körpers hinzielte. Für derartige einfachere Elemente erklärte Eiehat die Gewebe (z. B. Kno­chen, Knorpel, Muskelgewebe), deren jedes, den chemischen Elementen -ähnlich, mit gewissen Mfinitäten oder vitalen Kräften ausgestattet sein soll. So wurde der bisher wenig geachtete Vitalismus in den Mittelpunkt des Interesses der Biologen geschoben; namentlich in Deutschland, wo die Gemüter durch philo­sophische Spekulation auf ihn vorbereitet waren, fand die- neue Lehre viele Anhänger.

Indem wir von dem Verhältnis der Biologie zur Medizin am Anfang des 19. Jahrhunderts sprechen, dürfen wir F.J. Ga11 (1758-r8z8) nicht uner­wähnt lassen, der damals in Paris für seine "Phrenologie" und für eine neue vergleichende Psychologie eintrat und neben vieler Zustimmung (insbesondere seitens Geoffroys) auch auf Widerspruch stieß, der namentlich P. Flourens, den Schüler Cuviers, zu den Versuchen über den Zusammenhang der Ge­hirnteile mit psychischen und physiologischen Funktionen anregte, auf den mechanistisch gesinnten Descartes (gegenüber dem niiv vitalistischen Gall)

Page 8: Roux-das Wesen Des Lebens-1915

6 E. RADL: Zur Geschichte der Biologie von Linne bis Darwin

Natur· Goethes Verweben der Poesie mit der Wissenschaft wurde zum Vorbild philosophle für das wissenschaftliche Bestreben der deutschen Naturphilosophen. Die

philosophischen Anfänge dieser auf die Entwicklung der Biologie mächtig ein· wirkenden Richtung sind u. a. bei Herder, mehr aber noch bei -Kant zu suchen. Herder gewann viele Geister für seine schwärmerischen Ideen über die Entwicklung der Menschheit; Kan t machte wieder aus der Philosophie (der Metaphysik) eine Wissenschaft von der "reinen Vernunft", der er die Erfah­rungswissenschaften als ein anderes und weniger exaktes Wissen gegenüber­stellte, und suggerierte so seinen Nachfolgern die Überzeugung, daß man sich bloß mit Hilfe der Vernunft, durch eine geniale Konzeption, zu allem Wahren und Wissenswerten emporschwingen könne. Die Nachklänge der französischen Revolution, die romantische Begeisterung des jungen Deutschlands, Goethes Metamorphosenlehre, übertriebene vergleichende Methode, das Streben um je­den Preis, wenn nicht durch eine neue Einsicht, so doch durch eine neue Wort· kombinationden Zuhörern zu imponieren, und noch andere Ursachen und Ideen hatten jene phantastischen Bestrebungen zur Folge, welche unter dem Namen der Naturphilosophie bekannt sind. Als Naturphilosophen wirkten der Anatom und Physiolog L. Oken (1779-rSsr), für dessen kühne Analogisierungen die meisten seiner Zeitgenossen begeistert waren; die Philosophen J. G. Fichte und F. W. J. Schelling, G. H. Schubert, der Geologe H. Steffens und der seinerzeit sehr berühmte, heute vergessene Anatom und Arzt K. G. Carus (I789-186g). Nicht so hochfliegend stellt sich die Naturphilosophie in den Schriften anderer Biologen dar: in jenen des G. R. Treviranus, dessen

11Bio­

logie oder PhilosOphieder Natur'' immer noch von innerem Wert ist, des Physio­logen ]. Ch. Reil, des Botanikers Nees v. EsenbeCk, des Polyhistors A. v, Humboldt, des bekannten Redakteursdes großen physiologischen Wörter­buches Rud. Wagner, des Verfassers eines großen Werkes über das Gehirn, K. Burdach, des Embryologen J. Döllin'ger u. v. a.

Schon die große Zahl der angeführten Namen, unter deren Trägern sich sehr beachtenswerte Individualitäten befinden, beweist, wie rege damals das biologische Denken in Deutschland war, und obwohl später die ganze Richtung in Bann getan wurde, so sind doch viele biologische Ideen, die unter der Herr­schaft der Naturphilosophie entstanden waren, von der nachfolgenden Zeit als unerschütterliche Wahrheiten übernommen worden. Wenn es auch wahr ist, daß das Bestreben der vorwiegend von den Universitätskathedern predigenden Naturphilosophen, eine geniale allgemeine Idee vorzutragen, weit mächtiger war als-die Sehnsucht, sich selbst zu der Wahrheit durchzukämpfen, so hat die Naturphilosophie trotzdem viel Positives geleistet: aus ihren Ideen entstand die neue Embryologie, die Lehre von der Zelle, die klassische Physiologie.

Nach den dreißiger Jahren begann man die Naturphilosophen mit Spott zu überhäufen; der Chemiker J. Lie big richtete gegen sie seine s.chonungslosen

ouow''"'·fi''g'"'"• der Philosoph H. Latze untergrub ihre allgemeinen Lehren und der Physiker und Physiologe G. Th. Fechner machte sich über die Naturphilo­sophen in seinen Erzählungen lustig. An Stelle des Strebens nach genialerKon-

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8 E. RADL:- Zur Geschichte der Biologie von Linne bis Darwin

vorhandenen fertigen Körpers bestehe (Präformations~ oder Einschachtelungs~ theorien). Zwar veröffentlichte bereits 1759 C. F. Wolff seine epigenetische Theorie, derzufolge eine eigentümliche vitale Kraft den Organismus zur Ent~ wicklung-treibt, wobei derselbe seine Organe nach und nach aus einer undiffe~ renzierten Anlage bildet. Lange mißachtet, wurde W olffs Abhandlung 1812 neu herausgegeben, und bald machten sich einige Forscher, ]. Pander, d' Al­ton und K. E. v. Ba er, daran, die Entwicklung des Hühnchens im Sinne die­ser Lehre zu analysieren. Einem derselben, K. E. v. Ba er (1792-1876), war es gegönnt, durch ausgedehnte positive Arbeiten, sowie durch theoretische Auseinandersetzungen die Prinzipien der neuen Embryologie mit Cuviers Lehre in Einklang zu bringen. Großes Aufsehen machte auch seine Entdeckung des Säugetiereies, nach dem die Forscher seit Harvey vergeblich geforscht hatten. Baerstellte den Unterschied zwischen der animalen (oberen) und der vegetativen (unteren) Blattanlage des Embryo auf und teilte jede dieser An­lagen wieder in zwei Blätter ein {Haut-, Muskel-, Blutgefäß-, Schleimschicht), aus denen die definitiven Organe entstehen sollen. Diese Unterscheidung der einzelnen Keimblätter wurde von der größten Bedeutung für die spätere Em­bryologie. ]. F. Meckel und M. de Serres vertraten zu jener Zeit die Lehre, wonach jeder Organismus während der Ontogenese eine Reihe von Stadien durchläuft, derenjedes einer Stufe des Tiersystems entspricht, so daß der Mensch z. B. als Embryo durch ein Wurm-, Weichtier-, Fisch-, Reptilienstadium hin-durchgeht, ehe er die definitive Menschenform erreicht. Baer ersetzte diese an den Präformismus anklingende Lehre durch die Auffassung, nach der die Ontogenese in fortschreitender Differenzierung, d. h. im Fortschritt vom All­gemeinen und Unbestimmten.zum Besonderen und Konkreten besteht.

. A~ch in -der Botanik folgte auf die Periode der idealistischen Morpho­logie em kurzes Aufblühen der ontogenetischen Forschung. Als der Führer der­selben sei W. Hofmeister genannt, einer der besten Botaniker Deutschlands dessen in die Mitte des Jahrhunderts fallende Untersuchungen über die Ana: log_ie in der Entwicklung der Phanerogamen und Kryptogamen mit großem Betfall aufgenommen wurden. Hofmeister lehrte, daß sich in der Entwick­lung aller Pflanzen von den Moosen aufwärts ein auffallender Generationswech­sel konstatieren läßt, in dem geschlechtliche und ungeschlechtliche Generationen ü~er~ll aufeinander folgen. So wurde ein neuer gemeinsamer Zug in der Orga­~~satxon der verschiedenen Pflanzentypen entdeckt und ein neues Argument fur den bald darauf begründeten Darwinismus aufgestellt. Sonst war Hof· m~iste~ v:eniger theoretisch veranlagt als Baer, und wo ersichaufAllgemein­heiten einließ, förderte er den damals aufstrebenden Glauben an den Mechanis­mus des Lebens.

Darwin. Moder~er ~och als Baers entwicklungsgeschichtliche Forschungen war nach den VIerzigerjahren die Zellentheorie. Es traten mehrere Umstande ein, welche das Interesse für die Zellentheorie zu nähren imstande waren Durch. B~chat wurde die Aufmerksamkeit der Forscher auf feinere Körperb~stand­tede gelenkt und man gewöhnte sich allmählich, sich des Mikroskops bei der

Embryologie, Zellentbeorie, Physiologie vor Darwin 9

"1E;tf~•rs•:hlmg der Gewebe zu bedienen. R. Brown entdeckte in den Pflanzen­kleifies Körperchen, den später vielbesprochenen Kern; französische Räspail, Putrochet, Mirbel, untersuchten die feinere Textur

~~~g:~;:;:::~~e/.J;.i :,Purkinj e diejenige des tierischen Gewebes; alle diese For­l:l · dem Zellenbegriff auf der Spur. Endlich trat M. Schlei~ i!(:[8<l4·~r81ir), ei'•nkühner deutscher Reformator der Botanik, mit der Lehre cd.oljl.·sich •ier Pflanzenkörper aus Zellen als Elementarkörperehen des orga~

!Körl>ei·s aufbaut und daß die Erklärung der Entstehung des Pflanzen­,s fCe!Jlen eine der wichtigsten Aufgaben der Botanik bilde. Tiefer als >~pf<:shlstige als grü:q.dliche Schleiden erfaßte das Wesen der Zelle

·~-!""\''"!''-I 882), eiq. belgiseher Physiologe, der 1839 nachgewiesen !eJ!'f!la"'zen· und Tierbrgane aus Zellen entstehen, die aus Ze1lmem­

zusamm;engesetzt sind. fp~~d1~i1g (:lyltol•ogie) stieg rasch im öffentlichen Ansehen; der Be·

effüllten Hohlraumes wurde jedoch 1863 hePte im wesentli~hen gültigen Begriff er-

·~t~~-~"c~jJ~lrr~~~;;;'s:eeitdem ein Klümpchen Protoplasma mit ;j 'Mohl, Kölliker und Bisehoff weiß

~~~~~~I~~~!:~~lj~~~~~i'~~ Teilung (und nicht durch Kristalli-des lebendigen Körpers} vermehren. R. Virchow gelang es, die Zellentheorie für

auszunützen, indem er den Organismus ; föderativen ' Vereinigung selbständiger

i~l/~n:sei:nli•eib:n :---: d6r Zellen -:erklärte und die auf diese Art gedeutete Zellen·

;~ihv~;;~,llä~:~:·; der Kdnkheiten anwendete . ogie des I8.jahrhunderts beachtete kaum den alten Gegen· Ph

'~[t:!~::;',!~ -\).italistischen:hnd mechanistischen Deutung des Lebens und vor

;~ ith Giauben arl einen oberflächlichen Vitalismus, der aber an ~"-''~'misn;tus die· Weitestgehenden Konzessionen machte, wie es unter der

mechanistisch ofientierten Philosophie des Descartes kaum 'foögllicb wai. Konsequen'tere Vitalisten waren unter den Ärzten zu fin~

·~nknüpfend in J. F. Blumenbach, ]. Chr. Reil und ·Anfühter fanden. Das rege wissenschaftliche Leben um die

•ndlerlow<mcle machte sich auch in der Physiologie bemerkbar. Damals Entdeckung des Galvanismus (L. Galvani 1737-1798) die

überspannte Hoffnungen in die organische Elektrizität zu ell (1774-1842) fOrmulierte das nach ihm genannte Gesetz über

.:·der Rückenmarksnerven; Lavoisier brachte die Erklärung eines Oxydatidnsprozesses; die Beobachtungen Beils sowie

gaben dJn .analytisch denkeilden Franzosen Anlaß zu

\~~t~·~i,~k~;r:,·;::~ übet d~e Nerventätigkei t, durch die u.a. Leg a 11 o i s, (S ie berül;unt wurden.

des 18. Jahrhunderts wurden auch die Grundlagen zu Lte_,cialistiiscllen Auffassu~g :des Lebens seitens der Physiologen gelegt.

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10 E. RADL: Zur Geschichte der Biologie von Linne bis Darwin

Der Arzt Broussais (1772-I838) sprach sich bereits deutlich für eine mecha­; nische Lebenstheorie aus und verlangte, als ein Vorläufer des späteren Positivis­mus, Von der Medizin exakte Bestimmung und Analyse der Krankheiten. Un­ter den Biologen begann J. B. Lamarck eine materialistische Auffassung der Physiologie zu verfechten. Diese positivistischen und mechanistischen Anläufe fanden später in Magendies kühnen physiologischen Experimenten ihre Fort­setzung, während Magendies Schüler CL Bernard in der philosophischen Deutung seiner Versuche vorsichtiger war. Lamarck ausgenommen, waren die erwähnten Physiologen vOrwiegend medizinisch geschult; von den Zoologen vertrat Milne·Edwards (der Ältere) eine mehr beschreibende (weniger ex­perimentelle) Richtung der Physiologie, indem er Cuviers Anschauungen von der Einheitlichkeit des organischen Körpers auf die Funktionen desselben über­trug; seine Lehre faßte er in eine Reihe von Grundsätzen zusammen, von wel­chendas Gesetz von der Arbeitsteilunginnerhalb des organischen Kör­pers seinerzeit wie in det Biologie so auch außerhalb derselben sich große Be­achtung erwarb.

In Deutschland war bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts die synthetische Physiologie beliebt, die aus dem Bau der Organe ihre Tätigkeit abzuleiten strebte: J oh. Müller (I8oi-18S8) wurde durch seine Arbeiten über das Sehorgan, über den Bau verschiedener Tiere, durch seine Lehre von den spezifischen Sinnesenergien und namentlich durch sein großes Handbuch der Physiologie zum Hauptrepräsentanten dieser Richtung; auch ]. Purkinje, der Begründer der histologisch-physiologischen Laboratorien an deutschen Universitäten, gehörte dieser Forschungsrichtung an. j. Müller und Purkinje waren noch Vitalisten; Müllers Schüler verfochten aber sämtlich den Mecha­nismus: H. Helmholtz (in seiner physiologischen Akustik und Optik), E. du J?ois-Reymond, der Erforscher der Nerven- und Muskeltätigkeit, der Be­~ründer der Zellentheorie Tb. Schwann, der Histologe A. Kölliker, der Zoo­löge E. Haeckel u. a. Mit diesen Forschern an der Spitze eroberte sich die deutsche Physiologie eine führende Stellung in der internationalen Wissen­schaft. Noch heute zählt sie viele angesehene Forscher, so insbesondere M. Verwarn, der sich namentlich durch seinen Versuch, die allgemeine Physio­logie auf die Lehre von der Zelle zurückzuführen, ausgezeichnet hat.

Jene Forschungsrichtung, welche die unbekannten Funktionen aus dem Bau der Organe zu erraten strebt, war auch in der Edorschung der Gehirn­physiologie vorherrschend; die analytische Richtung, die der Straßburger Physiologe F.L. Goltz im Anschlusse an Flourens einzuführen versucht hat konnte lange keinen festen Boden gewinnen. Goltz' physiologisch begrün: dete Lehre von der funktionellen Gleichwertigkeit einzelnerTeile der Großhirn· rindefand viel weniger Anklang als die der Anatomiegünstigeren Lokalisations·· hypothesen,fürdiesich u.a. Broca, Hitzig, S.Exner, H. Munk, Flechsigu,a. aussprachen, und nach der es in der Großhirnrinde eine große Menge mehr oder weniger scharf umgrenzter Felder gibt, in denen verschiedene Funktionen (das Gesicht, das Gehör, die Beweglichkeit einzelner Körperteile usw.) lokalisiert sind.

Physiologie vor Darwin. Philosophische Vorläufer der Entwicklungslehre II

Entwicklung der Physiologie setzte sich ohne wesentliche innere Er­li:h:\itteiu.n"'en· bis··In die letzten Jahrzehnte des rg.Jahrhunderts fort und

darwinistischen Stürmen kaum berührtj erst seit den neunziger Jahrhunderts wird eine Reaktion gegen die Organphysiologie

weiter desto mehr an Boden gewinnt. die allgemeinsten Umrisse der Entwicklung der Biologie in dem Charakte

der vord< tWm<;i;~leretwa 100 Jahre vorDarwinsAuftreten umspannt. Die Morpho· sehen Bit

höchste Leistung dieser Epoche; man ließ seine Anschauungen bestimmen, wo, wie in der Embryologie oder in der Physiologie

besser entsprochen hätte, die Dynamik der Lebenserschei·

mit. den Wirbeltieren und den Phanerogamen, um ~~~!1~:~~~~~~i~·d~e~r Lehren zu wählen. Anfangs befaßten sich

der~-einf~cheren Organismen und auch der mikro· zu: schreiten. In diese vordarwinsche Epoche

dio' Paläoontol•ogie, die Morphologie, die Physio­die Anthropologie wurden begründet,

nachgewiesen, "die Entwicklung und die Parthenogenese im Tierreiche

.c.ho,AIIlet•nen V•On]'nachliialtig:em Einfluß aufgestellt. Die bio­idealistisch, später fast exzentrisch

Pe.fio,de materialistisch.

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12 E. RADL: Zur Geschichte der Biologie von Linne bis Darwin

der Welt nur allmählich, durch Kumulation der Erfahrungen, gelange. Einen wesentlichen Fortschritt der neuen Weltanschauung bedeutete die Lehre D. H um es, daß wir außerstande sind, die wirkenden Ursachen der Erscheinungen zu ergründen, und daß wir nur die beständige Folge der Erscheinungen zu er­kennen vermögen. Die Konsequenz dieser Auffassung, daß die G es c h ich t e die einzig mögliche Wissenschaft sei, suchten die Franzosen auf eine eigenartige Weise abzuleiten. Abb6 de Condillac {I7I5-I78o) bemühte sich nämlich, durch konkrete Beispiele die Lehre zu begründen, daß die Sinneserfahrung so­wie die menschliche Sprache sich allmählich.durch Kumulation einzelner Ein­drücke und Leistungen bilde; solche Betrachtungen wurden bald auf die Bio­logie übertragen. Neben derartigen Erörterungen über "allmähliche Entste­hung" der Naturobjekte förderten auch Rousseaus Betrachtungen über die glückliche Vergangenheit der Menschheit und über den verderblichen Einfluß der Kultur das Interesse für die genetische Philosophie. Die Bekämpfung der Orthodoxie durch die Enzyklopädisten begünstigte ebenfalls Spekulationen über unatürliche Schöpfungsgeschichten", indem die Philosophen, die sich durch den Glauben an die Heilige Schrift nicht mehr gebunden fühlten, hach einer rationellen Erklärung für das Entstehen der organischen Welt suchen mußten.

Einen Ansporn für das Interesse am Evolutionismus bildete die Philo­sophie des Leibniz. Obwohl Leibniz noch der Überzeugungvom stationären, unveränderlichen Zustande der Welt gehuldigt hat, befaßte er sich doch viel mit der "Entwicklung'\ worunter er (im Gegensatz zur historischen Kumulation der Zufälle) das Wachstum der bereits seit dem Anfange der Welt erschaffenen, aber bis zum Augenblick der anhebenden Entwicklung eingewickelten Keime verstand. Leiboizens französische Anhänger Robinet und Bonnet er­weiterten seine Evolutionslehre auf die Organismenwelt im allgemeinen und s.chrieben schon gelegentlich von der Entstehung der heutigen Organismen aus einfacheren Formen. Namentlich aber führten sie in die Biologie die Spekula­tionen über aufsteigende Reihen (Hierarch!en) der organischen Formen ein.

Leibnizens Philosophie war von mächtigem Einfluß auf die deutschen Denker, indem sie durch die Vermittlung Herdcrs und. Kants auf die ,,Natur­philosophie" einwirkte und in derselben evolutionistische Ideen hervorrief. Die vorwiegende Tendenz der deutschen Naturphilosophie war mehr der statischen als der historischen Auffassungsweise günstig, enthielt aber nichtsdestoweniger ein starkes genetisches Element. Wir brauchen nur an Herder zu erinnern, der sich als Natur- und als Geschichtsphilosoph bewährte; an Hegel, einen derbe­deutendsten Denker aus der Epoche der Naturphilosophie, der die Geschichts­philosophie zur Grundlage seines Systems machte. Hege! vertrat die Über­zeugung, daß die Verfolgung der historischen Entwicklung der Vorgänge von höchstem philosophischen Werte sei; als nach seinem Tode die allgemeine Reaktion gegen den Idealismus auch zum Kampfe gegen Hege! und zur Ver­spottung seiner dunklen Lehren geführt hat, verfiel zwar bald (innerhalb der Naturwissenschaften) der Name des großen Philosophen in Vergessenheit, aber

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'4 E. RADL: Zur Geschichte der Biologie von Linne bis Darwin

entwickeln, so fühlen sie auch verschiedene Bedürfnisse und üben je nach dem Bedarf ihre Organe, um diese zu befriedigen, und so wird ihr Organismus den speziellen Lebensbedingungen angepaßt, indem er durch Übung neue Organe erwirbt; die erworbenen Teile werden auf die Nachkommen vererbt von denselben durch fortgesetzte Übung vervollkommnet. So sind nacl; Lamarck durch beständiges Tasten mit dem Kopfe die Fühler der Schnecke entstanden; auf diese Weise bekam die Giraffe infolge eines fortgesetzten Halsstreckens ihren ungewöhnlich langen Hals.

Lamarck erzielte zwar bei seinen Zeitgenossen keinen Erfolg, trug aber dazu bei, die Forscher an den Gedanken einer natürlichen Erklarung der Ge­schichte der Organismenwelt zu gewöhnen.

Inzwischen feierte die genetische Erklärungsweise in der Geologie ihren Sieg. Der blühenden, durch Cu vier gegründeten, biologischen, auf der Paläon­tologie und der vergleichenden Anatomie fußenden Auffassung der Erdgeschichte erwuchs nämlich ein gefährlicher Gegner indergeologischen Theorie Ch. Lyells (-I8J0-18Jz); die letztere ging von der Analyse der anorganischen Natur aus und suchte zu beweisen, daß sich die Erdoberfläche allmählieh durch die Ein­wirkung kleiner, aber fortwährend wirkender Agentien verändert. Lyells The­orie wurde bald angenommen und die Katastrophenlehre verworfen.

Aber auch in der Biologie drängte bereits alles nach einer genetischen Philosophie; man sprach mit Vorliebe ·über die Geschichte der Tiere und Pflanzen, man betonte die Tatsache, daß die Organismen der aufeinanderfolgen­den geologischen Epochen sich voneinander unterscheiden, daß das Leben während der Erdgeschichte von elementaren Anfängen kontinuierlich zu im­mer höheren Formen aufstrebte, daß der Mensch nur die letzte und höchste .Stufe des Tierreiches darstellt. Man suchte auch nach Ursachen; durch welche die Geschichte der Organismenwelt auf eine "natürliche" Art "erklärt" werden könnte. Von solchen Erklärungen erregte die größte Aufmerksamkeit eine·an· onyme 1844 erschienene Schrift, "Vestiges of the natural History of Creation" (als ihr Autor hat sich später der englische Journalist Roh. Chambers er­wiesen), welche sich bemühte, dem neuen Streben auf eine geistreich urid popu­lär geschriebene Art Genüge zu tun.

Die genetische Erklärung der Organismenwelt definitiv zu begründen, ge­lang nicht lange darauf Ch. Darwin (1809-'-ISSz), dem Enkel des Erasmus Darwin, mit seinem berühmten Werk 11 Ürigin of Species" (1859). Ch. Dar­win )Var zuerst als Geologe der Lyellschen Richtung bekannt, betätigte sich aber später auch als Botaniker, Zoologe, _Anthropologe und Philosoph; seine Schrift 11 Reise eines Naturforschers um die Welt" (1839), in der er seine wissen­schaftlichen während der Erdumsegelung auf dem Schiffe Beagle gesammelten Erfahrungen mitteilt, wurde wegen der Fülle neuer Beobachtungen sowie wegen der Frische der Darstellung sehr günstig aufgenommen. Die späteren Werke Darwins sind in einem schwerfälligen Stil geschrieben und manchmal wegen der Häufung der Belege für einen nach allgemeinen Anschauungen su­chenden Leser schwer verdaulich; doch erreichten auch sie die günstigste Auf~

Entstehung der Darwinschen Theorie; die Lehre Darwins I5

":~u;~;;t~~~;::~~(:Hauptschrift über die Entstehung der Arten fand gleich ~e (1859) einen'großen Leserkreis und wurde bald zu einem

fl;SisclienWerkederBiologie. -Darwins allgemeine Grundsätze sind von in England herrschenden Empirismus {der in der induktiven Logik

verkiärten Ausdruck fand) und von dem zu jener Zeit immer :hblühienderlLiberalismus (Ad. Smith, Malthus) beeinflußt. Darwin

~~~~~~:;;:~e:i:n:;e~M~asse von fleißig gesammelten Tatsachen (nicht dUrch nicht durch logische Diskussionen) seine Lehre von

Organismen zu stützen; die organische Natur stellt er

j~~\~~~~~=~~:c~:~;: von zügellos ihre individuellen Ziele verfolgenden li -yor.; ausjhret4 Zusammenleben ergeben sich ohne weiteres

iiJ:~~: ~:;:t~:·~::.~i)~en~:,n~der Organisation, das Fortdauern und h Das organische Leben hat sich wäh-eihfachen Lebensformen entwickelt;

entstehen fortwährend Familien usw. verzweigen,

unsere Erde bewohnt hat, einen sich .je weiter desto mehr ver­

in die Vergangenheit ein Weg Anfängen des Lebens zurück.

; . alS O~fenbarpngen eines ein-: Re1he voh Formen1 deren

i'J!~{ll~ifeiA,bg~~r/it/n1(<':n nur durch die L~cken verursacht ,ql!(e'~~s i<ü•;ste~},~rrs intermediärer Stufe entstehen. ~Z.<ln !d,~r U:H'WJ\US<Oh\·,n Theorie berührten ast alle Gebiete

der Organismen nach Darwin ist, \~•~•~e~,l:\rr•mt,• •so!f.>edo•r <lie Morph o I o gi e, welche die Struk­

jb•it!·ächtllicll\~m 1<~:sel1er•;· man stellte sich fürderhin die

ti,~~t~~~r~!~~ht~'~::~ der Organismen aus ihrem Leben zu ;V der Tiere, die Ökologie, wurde jetzt

"'•·•f·"e>n ·• t i I< v·erwa'rf·D a rw in die Lehre von Plänen und Typen führte statt derselben Stammbäume

~'j(örte:inamcler ähnlichen Wesen, die in genetischem Zusammen­die früheren Systematiker unter dem Namen

:\';eir•enc p•errnanent<m Plan des tierischen Körpers verstanden, der :•,J,;<pf,mle- des Nashorn-,- des Tapirkörpers und des Körpers der

manifestiert, bezeichnete Darwi n mit jenem viel~he mit den sog. Condylarthra im Tertiär be­

ne•ot115en "~·-···~.vorläufig endigen; Die Paläontologie

tf~~i~;~l~:::i~:,~~~~e!e: Schöpfungsperiode sich offenbarenden !fl den Stammbäumen mit ausgestorbenen

o~ravrue sollte von nun an die Ursachen lüig:,nisrrlen studieren und die heutige geo­

Organ,ü•rhenwelt aus der Vergangenheit derselben

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!6 E. RÄ.DL: Zur Geschichte der Bioloiie von Linne bis Darwin

erklären. Der Anthropologie wurde die Aufgabe zugeteilt, die Verwandtschaft des Menschen mit den Tieren anatomisch, paläontologisch und psychologisch nachzuweisen.

Die älteren Forscher sprachen sich zwar meistens gegen die Theorie Dar· wins aus, aber die jüngere Gelehrtenwelt nahm sie mit EnthUsiasmus auf. In England schloß sich ihr bereits vor Darwins öffentlichem Auftreten der PhilOsoph H. Sperrcer an, der den mechanisch aufgefaßten Evolutionismus zu einem im großen Maßstabe ausgeführten System entwickelte. Der scharf­sinnige Anatom und Paläontologe T. H. H uxley förderte ungemein die neue Lehre durch seine Redegewandtheit, durch seine populären Schriften und durch die positiven Forschungen. Die Aufnahme der Theorie wurde auch dadurch be­günstigt, daß sich für dieselbe gleichzeitig mit Darwirr der englische Natur­forscher und Reisende A. R. Wallace (I823-I9I3) aussprach. Ohne von Darwins Plänen zu wissen, trat Wallace ebenfalls für die allmähliche Ent­stehung der Arten durch Kampf ums Dasein ein. In der konkreten Ausführung weist Wallaces Theorie wohl mehrere Unterschiede von der Darwirr­sehen auf. Von englischen Forschern sprachen sich namentlich der Geologe Ch. Lyell und der Botaniker R. Hooker für die neue Lehre aus.

In Deutschland wurde die Selektionstheorie namentlich von den Materia-listen (C. Vogt, L. Büchner, E. du Bois-Reymond, E. Haeckel) über­nommen. Am meisten trug zur Verbreitung des Darwinismus in Deutsch­land E. Haeckel (* 1834) bei, der, von der festen Überzeugung von der Wahrheit der neuen Lehre erfüllt, in stürmischer Weise, ohne vor irgendwelchen Konsequenzen der Theorie zurückzuschrecken, für dieselbe in populären und wissenschaftlichen Schriften eintrat und unumwunden den Gegensatz der Theo­rie zu der biblischen Lehre von der Entstehung der Welt und des Menschen predigte. Haeckel, der als der zweite Begründer des Darwinismus gelten muß, glaubte so fest an Darwin, daß er seine Theorie fast ohne Vorbehalt annahm; seine von der Darwirrsehen verschiedene Vorbildung hatte aber zur Folge1 daß er den Darwinismus auf andere Bahnen lenkte, als er von Darwin gerichtet war. Darwins Material war vorerst aus der Lehre von der Lebensweise der Tiere und dem Studium der Haustiere sowie der Kulturpflanzen ge­schöpft; Haeckel machte die Anatomie und Embryologie zum Grundpfeiler der Entwicklungslehre und paßte sie auf diese Art besser den Bedürfnissen der damaligen Hochschulwissenschaft an.

Auch sonstwurde die neue Lehrevonjüngeren deutschen Biologen günstig auf­genommen1 obwohl es an kritischen Stimmenkeineswegs fehlte. Ganz ablehnend verhielt sich namentlich der Botaniker Alb. Wigand, welcher in einem großen Werke die Vorzüge der vordarwinschen Biologie pries und die Schwächen der neuenTheorie bloßlegte; sehr viele Forscher nahmen zwar die Entwicklungsidee an, verwarfen aber Darwins Begründung derselben; namentlich um den Wert der natürlichen Auslese wurde viel gekämpft. Da aber die bedeutendsten For­scher sich wenigstens für die Wahrscheinlichkeit der Artumwandlung ausspra­chen (u. a. A. Kölliker, C. v. Nägeli, A. Braun, C. E. v. Baer, St. G. Mi-

Darwinisten und Lamarckisten I)

·I

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I8 E. R(DL: Zur Geschichte der Biologie von Linne bis Darwin

Biologen nicht los vom Glauben an die Erblichkeit gewisser erworbener Merk- :, male, namentlich solcher, welche durch Übung und durch Einwirkung der Umgebung auf den Organismus entstehen; da nun Lamarck seinerzeit auf die_ Erblichkeit solcher Merkmale großes Gewicht gelegt hatte, nannten sich Weis- ·· manns Gegner Lamarckis ten. Der Neodarwinismus erhielt sich auf die Dauer nicht,_ aber Weismanns Diskussion der Erblichkeitslehre wirkte auf spätere Theoretiker nachhaltig ein, und die modernen Untersuchungen über sprung­weise Variationen, über die Erscheinungen der Bastardierung und über die Erb­lichkeit der durch die Einwirkung der Umgebung hervorgerufenen Verände­rungen sind teilweise auf seine Lehren zurückzuführen. Der Lamarckismus fand dagegen zahlreiche Anhänger; doch wird unter diesem Namen weder eine Wiederholung der Ideen Lamarcks noch eine einheitliche moderne Lehre be­griffen, sondern als Lamarckisten werden Biologen bezeichnet, die an die Erb­lichkeit der erworbenen Merkmale glauben, sie mögen sonst was immer für Anschauungen über die Triebkräfte der Entwicklung huldigen. Es wird hierher der berühmte Münchener Botaniker und Materialist C. v. Nägeli (1817 bis 1891) gezählt, welcher eine großzügige "mechanisch-physiologische" Theo­rie der Abstammungslehre vertrat, nach der es eine phylogenetische Triebkraft gibt, die nach mechanischen Gesetzen die Organismen in neue Formen drängt. W. Roux, der Begründer der in den letzten Dezennien ernst gepflegten En t­wicklungsmechanik, einer Wissenschaft, die ebenfalls auf den konsequent durchgeführten darwinistischen Prinzipien aufgebaq.t wurde, wird wegen einiger seiner Hypothesen zu den Lamarckisten gezählt.

Als lamarckistisch gilt ferner die Lehre des Tübinger Zoologen G. Th. Ei­mer, derzufolge sich die Zeichnungen der Tiere nach im voraus bestimmbaren Gesetzen phylogenetisch entwickelt haben. Unter die Lamarckisten kann auch der englische SchriftsteUer Sam. Butler gezählt werden, welcher die Entwick­hing der Organismen nach der Analogie der Entwicklung des menschlichen Gei­stes psychologisch erklären wollte, sowie der deutsche Zoologe R. Semon, der ebenfalls in der Psychologie nach Begriffen suchte, um die Entstehung der Arten zu erklären. Als bewußter Fortsetzer der Lamarckschen Theorie kann der amerikanische Paläontologe E. D. Cape (I840-1897) gelten, welcher jedoch den Materialismus Lamarcks verwarf und eine vitalistische Theorie aufstellte, nach welcher ein dunkles Streben, deni menschlichen Willen analog, die Organis­men zu höheren Entwicklungsstufen führt; die Art-, Gattungs-, Familien· und die höheren Merkmale sollen etwas Festes1 den Atomen der Chemie Analogesbedeuten und eben diese Merkmale solien bei ganz verschiedenen Organismen auftreten.

In den letzten Jahrzehnten hat sich eine Reihe von Forschern für einen verschieden gedeuteten "Neolamarckismus" erklärt (vgl. den Artikel "Zweck­mäßigkeit'1 von zur Strassen); ü~erhaupt bewegt sich das phylogenetische Theoretisieren der letzten Zeit vorwiegend in einer dem vitalistisch umgedeute­ten Lamarck günstigen Stimmung.

Infolge der mannigfachen kritischen Auseinandersetzungen über die Gül· tigkeit der Darwipschen Prinzipien, der natürlichen Zuchtwahl und der Erb·

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20 E. RAoL: Zur Geschichte der Biologie von Linne bis Darwin

nismen resp. einzelner Organe nach der Art der Systematik in Reihen von den (ana~omisch) einfachsten zu den kompliziertesten. Diese Reihen deutete Haeckei historisch: das natürliche System bildete also die tatsächliche Grund­lage (wie bei Cu vier), und die Geschichte wurde nur in dasselbe hineingedacht. Die charakteristische Eigenschaft des Historischen, das Datum, fehlt in den Stammbäumen vollständig. Aus dem Grunde, daß Haeckels Phylogenie nur eine Umdeutung der bestehenden Systematik darbot, fand sie einen ziemlich leichten Eingang in die zeitgenössische, der Systematik und der Anatomie hul­digende Biologie.

Die morphologischen Spekulationen unterstützte Haeckel durch embryo­logische Theorien, besonders durch das sog. biogenetische Grundgesetz (vgl. den Artikel uHomologiebegriff 11 von Spemann). Auf die von Baer be­kämpften Theorien zurückgreifend, lehrte er, daß die ontogenetische Ent­wicklung eine verkürzte Wiederholung der phylogenetischen darstellt daß also . . ' ernzeine EmbryonalstadteD sozusagen neubelebte, aber schematisierte Ahnen des entwickelten Tieres darstellen.

Durch die Lehre vom biogenetischen Grundgesetz gelang es Haeckei, ein einfaches Prinzip für die Erklärung der Embryonalentwicklung der Tiere auf­zusteHen: es galt nun, die Entwicklung einzelner Formen zu beschreiben und b_ei jedem embryonalen Organ die Frage nach seiner mutmaßlichen phylogene-. tlschen Bedeutung zu lösen. Die uvergleichende 11 (beschreibende, d. h. nicht experimentelle) Embryologie aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts na~m zum größten Teil diese Methode an.

:_ Trotzdem Haeckels Lehren wesentlich nur eine nicht immer glückliche W1ederbelebung älterer Anschauungen unter Anwendung einerneuen (der gene­tis,chen) Terminologie bedeutet haben, verhalf ihnen die Kampflustihres Vertei­digers und sein fester Glaube an ihre Wahrheitinden siebziger bisneunziger Jah­re~ zu einer fast allgemeinen Anerkennung unter den Zoologen; die Phylogenie, das Aufstellen der Stammbäume, das 11 biogenetische Grundgesetz" bildeten den Leitstern für eine überaus große Menge von biologischen Untersuchungen.

Die konkrete zoologische Forschung jener Jahre zielte auf eine anatomische . und embryologische Durchforschung der Tiere; uwissenschaftliche Zoologie"· und beschreibende Anatomie und Embryologie zu phylogenetischen Zwecken gepflegt, waren fast Synonyma. Dabei ließ man das Aufsuchen allgemeiner Ge­setze der Organisation meistens außer acht; Darwin war solchen Gesetzen als konsequenter Empiriker abhold, und Haeckel stellte den Grundsatz auf daß es ke_ine allgemeinen Strukturgesetze der Organismen gibt, und er bekä~pfte Cuv1ers Lehre, die mit solchen Gesetzen rechnete. Statt in die Tiefe der ~rga~isation einzudringen, bemühte man sich, dieselbe in ihrer Mannigfal· :: tlgke1t zu erforschen, was zur Folge hatte, daß man namentlich die niederen ' Formen, ?~e VVi~bellosen, in ausführlicher Weise anatomisch, embryologisch und klass1flkatonsch analysierte. Unter der Herrschaft der idealistischen Mor­phologie wurden nämlich an erster Stelle die Wirbeltiere untersucht obwohl : bereits Cu vier auch die VVirbellosen beachtet und Lamarck die letz~eren aus- ."

Konsequenzen der Aufnahme des Darwinismus 2l

'(i~~~=,~~~::~~~-~h:atte. Je weiter desto mehr wurde nun auch den :} gewidmet, so daß in den vierzigerbis neunziger Jah-

Zoologen eben durch deren Studium berühmt wurden; so Blanchard, Lacaze Duthiers, Giard, J. Müller,

F. Leydig, C. Th. Siebold, C. Claus, A. Lang, F. E. nsen, G. 0. Sars, C. Chun, B. Hatschek, E. Haeckel,

L. Mark, F.Vejdovskjr, Ray Lankester u.v.a. Während Chaos der Wirbellosen nur undeutlich zwei Gruppen, die·

)nsel<te•n und Würmer, hervortraten, stellte bereits Cu Vier neben lie:her1 E:auphm der Wirbeltiere drei Pläne der Wirbellosen auf (Glie~

\(~~~~~~:;i Strahltiere); das Ig.Jahrhundert führte eine so ausführ­·~ Klassifikation dieser mannigfachen Formen durch, durch­

so gründlich, daß man fürderhin kaum die Entdeckung neu:r Formen erwarten kann. Niemals früher wurden d1e

ausführlich und gründlich erforscht; doch auch das Studium unter der Herrschaft des Darwinismus keineswegs ver·

mancheseiner beachtenswerten Pfleger, so u. a. C. Gegen b a ur, iedersheim, C.Rabl, T.H.Huxley, A.Kovalevskyu.a.,

_ .. ·:. ·weniger ausgesprochene Darwinisten. ogische Forschung welche unter Haecke~ls Eührung c) auf di~

' Embryologie. ,_ · an die Anatomie und Systematik getrieben urde, er· "- . A. u,fmerksamkeit. Man fand die Lehre bestät~gt, d ß die nor-

qKJungimrner mit dem Ei, d. h. mit einer Zelle begmnt, man beob· ·, kle>im1tenEinzelheiten die Art und Weise, wie sie die Eizelle . zerlegt und wie durch deren wei-

einzelne Gewebe und Organe entstehen; man tlC'<Iur·ch, aufrr<erkg,>mce Verfolgung der Zellteilungen zu erkennen,

""" "'""'·•n Entwkklungsstadien das äußere, das mittlere ~fKe,imcblatt (Ektoderml Mesoderm, Entoderm) entstehen, aus iv.o•nalzeUe durch Teilung die Geschlechtszellen, aus welcher die usf; s.ich -entwickeln; die: Keimblätter wurden für phylogenetisch >'iin~ ·Hicc eine Art Erinnerung an jene Zeit gehalten, wo die höhe­

elementaren, den: Keimblättern ähnlichen Häuten bestan-;;oißer N'>ehdn1ck wurde auf die Beantwortung der Frage gelegt,

sich einzelne Gewebe des tierischen Körpers entwickeln. ' · ·· eigenartigen Larven verschiedener Tiere, der

·'NI•••"''wnron•,, ein~ger Weichtiere und vor allem die Larven

f?~r~:~ •. ~~::,·~~:!~~~J:'~ Wirbeltieres, des Amphioxus; man ~f ähnlichen, vom entwickelten Tier da-

Beweise für ihr sehr hohes phylogenetisches geme>in;sarne4 der heute sehr verschieden

EJodliclo pnters;ch.ie<lrrmrmebcon der normalen Ent­mehrere andere mehr oder weniger

r,.r>ospung, Teilung, Entwicklung aus Spo·

'i

Page 16: Roux-das Wesen Des Lebens-1915

auf die

22 E. RÄDL: Zur Geschichte der Biologie von LinnC bis Darwin

ren u: ä. Eine möglichst minutiöse Beschreibung der normalen Embryonal­e.ntwtc~lu~g aller ~ierformen und ihre phylogenetische Deutung bildete das eigen t· hche Z~el dte~er Wissenschaft, während man anomale Entwicklungsarten (z.B. die heute tm Mittelpunkte des Interesses stehenden Regenerations- und analoO'e Erscheinungen) eher für nebensächliche Kuriositäten zu halten geneigt ,~:r.

Auf die Klassifikation wurde zwar von den Darwinisten weniger Nach· ~ruck gelegt als von der vorangehenden Epoche, trotzdem aber wurde sie eifrig m der Fo:m der 11 Stammbäume" gepflegt. Die systematischen Beziehungen der Orgamsmen wurden von den Darwinisten nach denselben GrundsätZen be­urteilt wie in früheren Epochen: man hielt diejenigen Organismen für mitei-n­ander verwandt, die einander ihrer anatomischen Beschaffenheit und ihrer Ontogenie nach ähnlich waren. Auf die physiologischen und psychischenÄh~lich­keiten achte:e man weniger, indem man sie für bloße Folgen der Körper­beschaffenheit erklärte. Am beliebtesten waren zwei Typen von Stammbäumen: solche in der Form von verzweigten Bäumen, wo die Mannigfaltigkeit der Formen auf eine Urform zurückgeführt wurde C,monophyletische" Entwicklung); andere Forscher nahmen dagegen einen "polyphyletischen" Ursprung der Organismenformen an; diese letzteren sollen aus einer Reihe von verschiedenen Ahnen entstanden sein und ihre etwaigen Ähnlichkeiten seien dann dem unifor­mierenden Einfluß der Umgebung (der "Konvergenz") zuzuschreiben. Aus Ab­neigung gegen Cuviers Typenlehre und um die große Mannigfaltigkeit der Tierf~rme~ nachzu:veisen, suchte man ferner dieAnzahl der höchsten Gruppen des Tierreichs möglichst zu vermehren.

Die Paläontologie verlor in der zweiten Hälfte des rg. Jahrhunderts · einen bedeutenden Teil des Ansehens, welches ihr in der vorangehenden Epoche . zuteil geworden war. Die Tatsache könnte auffallend erscheinen: spielte doch im Darwinismus die Geschichte der Organismen, die eben den Gegenstand der Paläontologie bildet, die allererste Rolle! Allein der an Lyells Anschau­ungen anknüpfende Darwinismus setzte sich in Gegensatz zu den damals von Cu vier abhängigen paläontologischen Lehren und wurde auch von den Paläontologen ~eistens ungünstig aufgenommen. Während die Paläontologen vor allem auf d1e Tatsache mehr oder weniger zahlreicher in sich geschlosse­ner Epochen des organischen Lebens Nachdruck legten, suchten die DarWi­nisten nach Beweisen für die Einheitlichkeit des Lebensstromes in der~ ganzen Vergangenheit und teilten der Paläontologie die sekundäre Aufgabe zu, unter den ausgestorbenen Organismen nach solchen Formen zu forschen welche die Lücken des zoologischen Systems ausfüllen und die Tatsache der

1

allmäh­lichen Übergänge nachweisen könnten.

~ gelang nun wirklich den Paläontologen, eine Menge ausgestorbener Orgamsmen zu entdecken, die von den jetztlebenden sich bedeutend unter­~ch:iden un.d ~anchmal die Eigenschaften mehrerer, heute getrennter Gruppen m Sich verei.mgen. Namentlich der Archäopteryx, ein jurassischer Vogel, der in :· mehreren Etgenschaften an die Reptilien erinnert, und die mehrhufigen Pferde ·: aus dem Tertiär bildeten eine mächtige Stütze für die Lehre von der Um- ·

Konsequenzen der Aufnahme des Darwinismus 23

Fo"rmcn. L. Rütimeyer, T. H. Huxley, K. Zittel, H. F. Os­,(:i~op. e, M. Neumayr, 0. Marshund eine Reihe anderer haben die

in den Dienst des Darwinismus gestellt. viel höheren Grade als die Paläontologie wurde vom Darwinis- t) aul

h:ie ·•o:m M f d D' h' h E' Anthrop e1 ausgestorbenen enschen ge ör ert. te psyc xsc en • tgen-(~',;M:ensclleil, auf welche die früheren Epochen das Hauptgewicht ge-

Grund deren sie sich berechtigt fühlten, einen grundsätz-.i:f5:chiedzwischen dem Menschen und dem übrigen organischen Reich

•ii:::~~!:~!~.~~d~i~:e konsequenten Darwinisten für eine bloße Folge der k der Größe und der Zusammensetzung des Gehirns. qv·.ur•de, namentlich in populären Schriften, als ein höherer Affe ge­

suchte auch paläontologisch seine Herkunft von den Tieren DieSe· Bemühungen wurden namentlich durch die Entdeckung

und der zahlreichen Skelettreste des Diluvial­der Überreste des affenähnlichen Menschen auf Java (Pithe­

gefördert. dieser Entwicklung, über die Umstände, unter wei-

He Affe.n auf zwei Füße erhoben, einen größeren Gehirnumfang er­die Intelligenz und alle übrigen für den Menschen charak­

.. gewonnen haben, war man, wie leicht zu be­. Ein Einklang wurde auch in betreff d~r näheren Be­

tierischen Vorfahien des Menschen nicht errei ht; man suchte unter den anthropoidenMfen, doch auch unte den Halbaffen.

der konsequenten Darwinisten ist es zu erdanken, daß, in den Einzelheiten, trotz des ausdauernden Wider­

Anthropologen (u. a. Virchows), die wesentlichsten

'1i~~h~=J~.~~~· ~~Thedrie, daß nämlich die Menschheit die Erde be­f.~ be~9hnt, daß der diluviale Mensch in seinen gei-

'b~~~i;~~~:~Eigensch.#ten vielfach niedriger und den Tieren ähn­~j die jetzig6n Menschenrassen und daß er mit den Tieren

als wiss~nschaftliche Thesen verteidigt werden kön-;~iiJ:I~:grUndu.ng der ': Anthropologie nahm auch

'""'' ~,,. "oaber Haeckel, der die Spekulationen über ·~~•M•em:chen ! Affen förderte; bis in die neueste Zeit fußt :!1\:oHirc:pc>lo,gie auf den von ihm gelegten Grundlagen.

inl'lti,;se.des Darwinismus lernte man den Menschen vorzugs­

·~~f~is;:~,~'!:5·,e~:~ Körper auffassen: für die wichtigsten .~ ' den Bau seines Gehirns, seiner Wirbelsäule,

' die psychischen Eigenschaften, auf die Sp.r~c,he usf., welche in früheren Epochen den

M•'*''c~>lic:h~:eit bildeten, weniger Gewicht legte. Einseitigkeit, fruchtbar, indem sie

so>ld<'rn auch auf den gesunden und star­gewordene Pflege des Körpers, der

Page 17: Roux-das Wesen Des Lebens-1915

24 E. RADL: Zur Geschichte der Biologie von Linne bis Darwm

Kampf gegen die Überbürdung der Schuljugend, die durch Nietzsches Philo~ sophie angeregte Wertschätzung der körperlichen Stärke und Gesundheit knüpfte sehr oft an darwinistische Argumente an.

Mit der materialistisch gedeuteten Anthropologie hingen eng die modernen Lehren vom Ursprung und von der Bedeutung der Menschenrassen zusam­men. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stritt man vielfach darüber, ob alle Menschenrassen einen gemeinsa111en Ursprung hätten oder ob nicht vielmehr jede Rasse von einem besonderen Adam abstammte. Darwins Theorie brachte diesen Streit zum Schweigen; die Lehre, daß einzelne Men­sch_enrassen nur Varietäten einer und derselben Art darstellen und einem ge· memsamen Urvater entstammen, wurde fast allgemein vertreten; andererseits lernte man auch auf geringfügigere Unterschiede unter den Menschentypen achtgehen, als es die spezifischen Merkmale der Neger, der Indianer usw. sind, und begann noch unter den Europäern mehrere Rassen (Blonde Brünette Langköpfe, Kurzköpfe u. ä.) zu unterscheiden und die Lehre v;m Kampf; u~s Dasein auch auf diese anzuwenden. Die biologischen Hypothesen über dte Entstehung der Menschheit, über die Bevorzugung der gesunden und kräf­tigen Individuen wurden mit hygienischen Vorschriften über die geeignete Le­bensführung in Beziehung gebracht, und es wurde viel über ihren Wert für die Veredelung_ des Menschentypus nachgedacht. Auf diesem Wege gelangte man von d~n theoretischen Betrachtungen über die Entstehung und Umwandlung der Arten bts zu ganz konkreten Anschauungen über das Wesen und das Ziel der mensch­lichen Gesellschaft. Darwinselbst, dannH.Spencer, T.Huxley,W.H.Rolph, B. Carneri, Th.Ribot_unterdenälteren, L. Wal tmann, H. S. Chamberlain, W. Schallmayer von den neueren haben solche Ideen gepflegt.

Auch die Pflanzen- und Tiergeographie erlebte unter dem Einflusse des Darwinismus bedeutende Veränderungen. In Buffons Schriften zum ersten· mal angedeutet, wurde diese Wissenschaft vom deutschen Naturforscher und Reis~nden P. S. Pallas begründet und von Al. Humboldt (1769-1859) aus­führheb bearbeitet. Die Engländer L. Sclater und A. R. Wallace führten in dieseWissenschafteineexaktereMethode ein; Wallace und Darwin deuteten ferner die tier- und pflanzengeographischen Tatsachen im Sinne der Entwick­lungslehre. Wallace wies auf verschiedene Grade der Ähnlichkeit zwischen der Fauna und der Flora einzelner Erdgebiete hin und bemühte sich mit Hilfe der Paläontologie die Richtungen anzugeben, in denen sich einzelne Typen der Or­ganismen aus ihrer Urheimat über die Erde verbreitet haben, Darwin wieder dach_te über ?ie Mittel nach, welche einzelnen Organismen die Auswanderung aus Ihrer_ Heimat erm?glichen. Die historische Erklärung der gegenwärtigen geographischen Verbrettung der Organismen erwies sich als sehr natürlich und bildete eine wichtige Stütze für die Wahrheit der Darwinschen Theorie. . In den letzte~ Dezennien lockern sich teilweise die Beziehungen der biolo­

gtsehen Geographte zum Darwinismus, indem die unter dem klassischen Dar­V:inismus vorherrschende anatomisch·klassifikatorische Richtung vor einer phy­stologisch-ökologischen zurücktritt. Man betont heute an erster Stelle die

:: Ki:msequ.enzeli der ·A.Ufnahme des Darwinismus 25

<g~,ngen1 di~ jede.Tier-.hnd Pflanzenart nötigen, einen bestimm­uo,.älllen.' Diese·Richt~ng wurde u. a. durch die zur Erforschung

· Expeditionen angeregt, zu denen besonders jene · · ·Schiff~ Beagle (1831-1836) unternommen hat,

i~r•e;xJledlition unte; der Leitung von W. Thomson, die sen, die amerikanischen Expeditionen unter

·a;;(~;;;~~~;;!~:~::~unter der Führungvon C. Ch un. Gleich-jj und Flora durchforscht und auf die

Wassertiereviel neues Licht geworfen. s:trukt;urellen Eigenschaften einzelner

aber immerhin durch das massen· : vertikalen Wanderungen im Meere,

l~:~~~:::~~',gi:;n~tiefen Wasserschichten dazu ge· ~; · zu beachten und die historischen

studierte unter dem i~.od<ir< 'bil)fil 1nit Skalpell und Nadel Ob-

jaJ\rhUnd',erts kamen verschiedene Reagenzien ;e•i<:i~lrer,?rrL".~•I das untersuchende Objekt tötete und

h~~'i•r;..",, id(;,glicru;t ähnlichen Zustande fixierte, dann

~:l,l:t:::e~:~;:~~~,,~z;.er~~legte, mit verschiedenen Farb-i:C brachte. Die Mannigfaltigkeit

(\i)igi':iFiirlnü\gs;initt·el wuchs schier ins Unendliche; in

~1;ll~.~~:~:;;:~«~l!~:~~w:~::, die zytologische Literatur. Man ~i Strukturen und stritt darüber, ob

~1i;fi'':i;;~-~~~~~:~~·u~S~c~~h:~a:umstruktur die wahre Struktur des ;~ vonO. Bütschliverteidigt1 hatte

als für das Protoplasma interessierten .!ür'd.en. inc'derrtselb<m eingeschlossenen Kern, welcher fixiert

aufweist. Die Feinheit und Rätselhaftig~ der Zellenforscher an, und bald wurde

und seiner Bestandteile, der Chromo­und der Kernveränderungen, welche

GePiete der Zellforschung. bereits an sich Interesse genug; dieses

iek·~;:;~l.~~~~~,~~~;JA~:u~~ffassung der Lebewesen als Konglo-i:": unterstützt. Man suchte nämlich

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26 E.Rä.DL: Zur Geschichte der Biologie von Linne bis Darwin

die bereits weit vorgeschrittene vergleichende Anatomie dadurch zu verfeinern, daß man anstatt der Analyse des Körpers in einzelne Organeseine feinen Bestand­teile, die Gewebe und die Zellen, in ihre Elemente zergliederte. Es entstanden ·. infolgedessen Lehren welche die darwinistischen Theoreme in die feinsten Bau- ' elemente des Körper~ projizierten: man sprach vom Kampf ums Dasein unter ' einzelnen Gewebsarten und Zellen (Weismann, Roux), man faßte die Chro- · mosomen, d. h. kleine, im Zellkern in bestimmter Weise darstellbare Körperehen ; als die Träger der erblichen Anlagen auf, man bemühte sich, die im Zellkern , sichtbaren Strukturen, die Vorgänge bei der Zellteilung und die Befruchtungs­erscheinungen durch verschiedene physikalische Analogien zu erklären, und man war überhaupt geneigt, den mikroskopischen Erscheinungen, verschiedenarti­gen in den Zellen ermittelten Körnchen und Vorgängeri. eine größere Bedeutung als den mit bloßem Auge wahrnehmbaren organischen Eigenschaften zuzuschrei­ben. Durch diese Forschungsrichtung wurde gleichzeitig die Vorliebe für die Erforschung der mikroskopisch kleinen Tiere und Pflanzen gefördert. W. Flemming, Ed. Straßburger, Th. Boveri, E. B. Wilson, 0. Hertwig, A. Weismann, Y. Delage, 0. Bütschli und eine große Reihe anderer Bio­logen haben dieser Forschungsrichtung ihre besten Kräfte gewidmet.

Das Problem der Befruchtung, das die Philosophen zu jeder Zeit bespro· aber nie gelöst haben, wurde in dieser Epoche der Biologie am eifrig·

sten von den Zytologen als das Problem der Vereinigung eines männlichen und eines weiblichen GesChlechtszellkerns studiert. 0. Hertwig gab dazu Anlaß, als er (1875) die Befruchtung auf jene von L. Auerbach (1874) beobachtete Vereinigung zurückführte. Die ganze Aufmerksamkeit der Forscher konzentrierte sich nun auf die Entstehung der Geschlechtszellen, auf ihre komplizierte Reifung, auf die unter dem Mikroskop im Zellkern sichtbaren Körperehen und deren ver· änderliche Gruppierung während der Befruchtung. DieArbeit einer großen Reihe von Zytologen wies nach, daß die erwähnten Befruchtungserscheinungen bei allen Organismen in wesentlich derselben Weise verlaufen. Gegen das Ende des vori· gen Jahrhunderts galt das mikroskopische Studium der Befruchtungsvorgänge am getöteten, gefärbten und in Schnitte zerlegten Materiale für den modernsten Zweig der Biologie.

Durch die Kernstrukturen suchte man die Erblichkeitstheorien zu stützen. Auch außerhalb der fachmännischen Kreise haben viel Aufsehen die Hypo­thesen Ch. Darwins, A. Weismanns, C. v. Nägelis, H. de Vries' erreo•t. nach denen einzelne Eigenschaften, wie z. B. Farbe, spezifische Beschaffenheit , einzelner Organe, die Disposition zu gewissen Krankheiten usw. an gewisse in der · Eizelle und im Spermatozoon eingeschlossene Körperehen gebunden sein sollen.

Der allgemeine Hang zur atomistischen Auffassung der Organismen ließ ferner die Biologen großen Nachdruck a~f die Art legen, wie die Organismen aus Zellen zusammengesetzt sind. Wie sich der Chemiker die Substanzen nicht anders als aus Molekülen und Atomen aufgebaut vorstellen kann, auf deren hypo­stasierte Eigenschaften er alle Eigenschaften der Körper zurückzuführen strebt, so huldigt man auch in der Biologie allgemein der Überzeugung, daß die Zellen

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28 E. RADL: Zur Geschichte der Biologie YOn Linne bis Darwin

mählichen Fortschritt alles definitiv erklären zu können. Seitdem hat sich die Stimmung der Öffentlichkeit verändert und derGlaube an die Allmacht der Dar­winschen Prinzipien ist geschwunden; immerhin leben viele Ideenjener Epoche . noch immer in den modernenLehren weiter. Die durch die Darwinisten gepredigte Lehre vom _einheitlichen und ununterbrochenen Strom des organischen Lebens . auf der Erde, von der Blutsverwandtschaft aller Organismen untereinander, den , MensChen mit einbegriffen, von der Bedeutung der Erblichkeit, der Variabilität, ; der Anpassung, die Lehre von einer auf Millionen Jahre geschätzten Dauer des· Lebens, die Überzeugung, daß sich · ·

dingen und beeinflussen, daß sie einen nach gewissen Gesetzen beherrschten so- ' zialen Körper bilden, alle diese Lehren bilden noch immer die Grundlage unserer-. modernenAnschauungen. Wir verdanken den Darwinisten die definitive Emanzi­pation von den Worten der Genesis und das stolze Bewußtsein, daß wir, als Biologen, Tatsachen vorbringen können, welchesich alsvoneminenter Bedeutung. für die Anthropologie, Linguistik, Soziologie, Ethik, Geschichtsschreibung usw. erwiesen haben. In älteren Zeiten galt die Astronomie (und Mathematik) für die höchste Wissenschaft; im I8.Jahrhundert nahm die Physik die erste Stelle ein;:: dank den Entwicklungstheoretikern wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts die Lehre vom Leben als die höchste unter den Wissenschaften angesehen.

Die für diese Epoche charakteristische Spezialisation der wissenschaft­lichen Arbeit und die Massenproduktion der Entdeckungen hatte wohl manche Schattenseiten: die Spezialisten, allzusehr in die Erforschung ihres manchmal nur dUrch äußerliche Grenzen bestimmten Gebietes vertieft, verloren die Füh- . lung mit allgemeinen Problemen der Biologie; die Diskussion der biologischen Theorien diente nicht selten zum ungeschickt umgehängten Deckmantel für die . Geistlosigkeit der positiven Arbeit. Unzählbare neue Beobachtungen wurden ausgeführt; dadurch wurde aber der Begriff der Entdeckung verflacht und ·' seiner kostbaren Seltenheit beraubt; die Sucht nach Entdeckungen um jeden :~ Preis ließ die Forschung manchmal in eine handwerksmäßige Kleinarbeit aus­arten; die Konzentration der Forschung in den Hochschullaboratorien hatte zur Folge, daß die Wissenschaft, welche wesentlich im freien Schaffen einer 2 unabhängigen Individualität bestehen soll, manchmal zu einem toten wurde; es war ferner im Geiste der Zeit begründet, daß man mehr die Wissen- · schaft im allgemeinen als einzelne wissenschaftliche Individualitäten achtete -und für die menschliche Seite der Forschung wenig Interesse zeigte. Wegen solcher Mängel, welche schließlich in irgendeiner Form jede praktische Durch­führung eines Ideals begleiten, sollen aber die großen Errungenschaften Zeitalters der· Biologie nicht übersehen werden. Die Überzeugung, daß man-< durch die Wahrheiten des Darwinismus und durch die biologischen Lehre~ die, Welt erobern kann, bemächtigte sich der Geister, und es entstand ein großarti- _, ges Streben, dieses Ideal zu verwirklichen. Heute, wo die Sehnsucht nach mehr idealistischen Auffassung des Lebens überall um sich greift, wird die winistische Epoche oft als der Philosophie abgeneigt geschildert - mit Unrecht,. denn Darwin, Huxley, Haeckel, Spencer waren alie bedeutende philo- ~

eignen sich u, a.:

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0. ROSENBERG: Die Untersuchungsmethoden des Botanikers

gleichzeitig mit einer festen, bleibenden Einschließung derselbe_~· Für Prä-von frischem Material, die nur die Membranstrukturen zetgen sollen,

mro!iechlt es sich, Glyzeringelatine zu benutzen, da hierbei ein.e Auswäs~erung Schrumpfung vermieden wird. Ein Kollenchymgewebe, m. Glyzerm_gela· oder in Kanadabalsam aufbewahrt, zeigt durchaus versehterlene Btlder.

anderer Vorteil des Glyzerineinschlusses ist auch der, daß dabei das Chloro· ziemlich gut erhalten bleibt.

Wenn es gilt, von fadenförmigen, nicht als Schnitte .vorliegen~en Pfl~nzen· wie Algen, Pilzen usw., Dauerpräparate anzufertigen, so müs~en d1e 0~­

zuerst fixiert werden. Wenn solche Objekte nämlich direkt m Glyzen_n . dgl. eingeschlossen werden, schrumpfen die Zellen meistens sehr stark. Ste

daher durch entsprechende Methoden fixiert u.~d gehärtet :werden, am durch Fixieren über Osmiumdämpfen und Uberführen m sehr ver·

das nachher allmählich, z. B. in einem Exsikkator, kon-

Literatur. H Mikrochemische Analyse. Harnburg und Leipzig t8gs, 1896.

;HA,MBER>CAI"·•, CH., Methods in Plant Histology. Chicago 1905.

A., Manuel de Technique Botanique. Paris 1909.

;TRASI!UBcGER, E. und KöRNICKE, M., Das botanische Praktikum. Jena 1913.

"""!ANN. 0., Pflanzenmikrochemie, ein Hilfsbuch beim mikrochemischen Studium pflanz· Objekte. Berlin 1913. H., Mikrochemie der Pflanze. Jena 1913.

f!MMEIIMA.NN, A., Die botanische Mikrotechnik. Tübingen 1892.

ZUR GESCHICHTE UND KRITIK DES BEGRIFFS DER HOMOLOGIE

VON

H. SPE~IANN .

Motto: Die Reize der vergleichenden Anatomie z~scbil· dornscheint mir überßüssig, da. sie sichjede nicht ganz verwahrlosten Geiste von selbst da ieroo, Anders verhält es sieb, wenn über ihren utzen, d. h. ihren Einfluß a.uf andere Wissenscha"fte und Bestrebungen gefragt wird.

]. F. Meckel xS~I.

Es gibt Begriffe von so zentraler Bedeutung, daß ihre Entstehung, Wand- De

lung und Auflösung, kurz ihre Geschichte, den Entwicklungsgang der Wissen· der 1

schaft bezeichnet, der sie angehören. Ein solcher ist in der vergleiChenden Anatomie der Begriff "Homologie:'.

Als homolog bezeichnete man ursprünglich formal gleichwertige Körper- Ge01

bezirkezwei er nach gleichem Grundplan gebauter Organismen. Der rechte Arm F'

eines Menschen z. B. ist dem rechten Arm eines anderen Menschen homolog, aber. ~uch.'der rechten Vordergliedmaße aller übrigen Wirbeltiere, dem rechten VorQ6rbein eines Pferdes, eines Hundes, dem rechten Flügel eines Vogels, der

: ~ech't4n· -Bi-ustflosse. eines Fische~. Diese Vordergliedmaße mag zum Greifen, zum.·.Laufen, zum Fliegen, zum!Rudern dienen, sie mag also eine Funktion habeh, welche sie will, we~n sie ~ur. demselben Bauplan folgt und in zwei nach demselben Bauplan gebildeten iprganisme~ dieselbe Stelle einnimmt, so ist damit ihre Homologie gegeben. :~omologie ist also ein Grundbegriff der Mor­phologie, der von der Funktio.n ganz abSehenden Formenlehre der organi­schen Körper; homolog heißt.koviel wie morphologisch gleichwertig.

Älter als das Wort Homologie ist der Begriff, den es bezeichnet, älter noch die morphologische Vergleichung überhaupt. Vom naiven Menschen, ja von

· jedem Kind wird sie unbewußt geübt, und führt oft zu Bezeichnungen von über· raschender UrsPrünglichkeit. Folgerichtig angewandt ermöglicht sie, die Fülle .der Tierformen in einem natürlichen System zu ordnen, und erst zuletzt ge· langt sie selbst als Methode ins Bewußtsein. Es ist schwer, manchmal vielleicht unmöglich, den Anteil der einzelDen Forscher an diesem natürlichen Entwick· lungsgang genau festzustellen; rvor allem die Anfänge liegen auch hier im

So mögen die folgendeh Beispiele nur zur Erläuterung dienen. Petrus Camper hielt imiJ~hre 1778 in der Academie de dessinvon Id·

Amsterdam zwei Vorträge "sur Üarlalogie qu'il y a entre la structure du corPs v!: . A

p

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H. SPEMANN: Zur Geschichte und Krhik des Begriffs der Homologie

et celle des quadrupedes, des oiseaux et des poissons". Goethe darüber (W. A. !I, 8, S. 71): 11 Eingenommen von der aufgefaßten Idee,

Camper, auf der schwarzen Lehrtafel, durch Kreidestriche, den Hund Pferd, das Pferd in einen Menschen, die Kuh in einen Vogel zu ver·

. . . und erreichte durch diese geistreichen, sprungweise gewagten rer,gleidrurrg<:n die Absicht, den inneren Sinn des Beobachters aufzuschließen,

nur allzuoft von Äußerlichkeiten gefangen gehalten wird." In diesem Zu· •m.m<mlrarrg erklärte Camper es für lächerlich, ja abgeschmackt, die Engel

Amoretten als Menschen mit Flügeln darzustellen, da die Arme den entsprächen. Das ist, freilich in elementarster Form, echt vergleichend·

nat·omiisch gedacht. Viel mehr als ein flüchtiges Aper~u war das allerdings nicht; und so mußte

Go e t h e berichten, daß er dem hochverehrten Mann seine Schriftüber den beim Menschen entdeckten Zwischenkiefer {os intermaxillare) zuge·

habe, 11

und zwar Format und Schrift so anständig, daß sie der treffliche mit einiger Verwunderung aufnahm, Arbeit und Bemühung lobte, sich

eurrdlich erwies; aber nach wie vor versicherte, der Mensch habe kein os inter· (W. A. !I, 8, S. IIg).

Worin bestand nun jene oft erwähnte Entdeckung Goethes? Bei allen äugel:ie:ren sitzen die oberen Schneidezähne in einem besonderen Knochen, dem wi:sd:en:ki·efe,r,, os intermaxillare; nur beim Menschen sollte das anders sein.

trat der seltsame Fall ein, daß man den Unterschied zwischen Affen und darin finden wollte, daß man jenem ein os intermaxillare, diesem aber

zuschrieb; da nun aber genannter Teil darum hauptsächlich merkwürdig weil die oberen Schneidezähne darin gefaßt sind, so war nicht begreiflich, der Mensch Schneidezähne haben und doch des Knochens ermangeln sollte,

Sie eingefügt stehen. Ich suchte daher nach Spuren desselben und fand gar leicht- -" (W. A. !I, 8, S. II9). Was diese Entdeckung denkwürdig macht, ist nicht die Schwierigkeit der

lec•na.cntung, sondern die tiefe Auffassung des Organismus und das treue Fest-an der Idee, das Goethe suchen und finden ließ. Und diese leitende

)b,erz:eugung war, 11

daß alle Abteilungen des Geschöpfes, im einzelnen wie im bei allen Tieren aufzufinden sein möchten, weil ja auf dieser Voraus­die schon längst eingeleitete vergleichende Anatomie beruht" (W. A. II,

S. II8). In diesen Worten ist treffend und anspruchslos ausgedrückt, was Gcöf·

oy St. Hilaire als seine 11

Th6orie des analogues" und sein 11 Principe des :orrn<:xi•oni;" proklamiert hat.

11Ün sait que la nature travaille constamment

memes materiaux ... on la voit tendre tOujours a faire reparaitre les eiements en meme nombre, dans les memes circonstances et avec les connexions (1807, S. 343). Les etres d'un meme groupe s'enchai:nent'

les rapports ies plus intimes, et sont composes par des organes tout a arialogues (1818, S. XVII). Un organe est plutOt altere, atrophie, aneanti, transpose" (1818, S. :XOXX).

Goethe, Geoffroy St. Hilaire, Owen

Was Geoffroy St. Hilaire hier so scharf als Analogie definiert, ist das- Die a, selbe, was wir heutzutage Homologie nennen. Das Wort ist wohl aus der Hm

Geometrie herübergenommen. Von homologen Punkten spricht man dort bei "ähnlichen" Figuren; man nennt so z. B. die eifiander entsprechenden Punkte zweier ähnlicher, d. h; .gleich gestalteter, aber verschieden großer Dreiecke. Das Gemeinsame liegt in der Forderung, daß die Gebilde, deren Teile verglichen werden, einander "ähnlich" sind, und daß die gleich gesetzten Punkte dieselbe relative Lage im ganzen einnehmen. Wobei die Anforderungen an Ähnlichkeit und Lageverhältnisse in der Mathematik naturgemäß viel strenger sind als in der Anatomie.

Wer das Wort Homologie zuerst in diesem Sinn gebraucht hat, ist wohl nicht mehr festzustellen. Geoffroy St. Hilaire nennt einmal (1825,.S. 341) die Sinnesorgane homolog, mit dem Zusatz: 11 comme- s'exprimerait la philO· sophie Allemande". Owen, der diese Bemerkung zitiert (1848, S. 5), griff das Ow·

Wort auf, definierte es noch weiter und verwandte es als erster ausschließlich ~m~ tind konsequent in diesem Sinn.- na'

Es w'urde oben auf die Tatsache hingewiesen, daß morpholOgische Ver­gleichung _schon in der vorwissens.chaftlichen Zeit geübt wurde, daß morpho· logische Ähnlichkeit Grundlage gleicher Bezeichnun-gen ist. Nun kann aber eiite sehr · · ,·geh~nde Ähnlichkeit au~h zwischen Zwei Tierformen· und ihten Or-

. _ wennbeide eine111 ~anz VerschiedenenBauplan folgen; dann näm­!'""; .. ••p.:n diese·Organe einer Fun~tion augepaßt sind, welche ganz bestimmte .... ~;~:~:;~e~,~~~': an den Bau Stellt. -$o sind Gliedertiere und Wirbeltiere gewisser-

: ~a~h ganz verschiedenen ~rinzipien konstruiert; einige ihrer Vertreter ;!i aiie'r.~.i.· B. die Insekten und die !Vögel, führen eine in mehrfacher Hinsicht

::~~~6~~e Lebensweise. Beide sind! typische Lufttiere, welche sich vom Boden -:, können. So besitzen sie d_enn beide, von vielen anderen Ähnlichkeiten zu schweigen, Luftruder, die maniin beiden Fällen als Flügel bezeichnet. Und was da~ sprachschaffende·Volk uriwillkürlich tat und tut das hat sich weit in die Wissenschaft hinein fortgeset~t. Owen dringt nun

1

hier mit besonderem N~chdruck auf eine scharfe Scheidung, wie. der Begriffe so der Bezeichnungen, D_Ie morphologisch gleichwer-tigen Teile nennt er konsequent homolog, die fun-ktionell gleichwertigen Teile dagegen anal-og. Diese Unterschei­d~ng ist seither in der vergleichenden Ana-tomie eingebürgert. Sie kann leicht, aber auch sehr schwierig sein; ja es mag Fälle geben, wo sie nicht nur tatsäch­lich, sondern prinzipiell unmöglich ist. _

Aber auch innerhalb der morpholOgischen Vergleichbarkeit selbst .machte _ Ow.en weitere Unterscheidungen. Schon die äußerliche BetrachtUng, noch mehr die anatomische Zergliederung lehren, daß der Körper der meisten Tiere aus ~iedrigeren, morphologisch glrichwertigen Einheiten zusammengesetzt· ist. S~hen :Wir ga.nz ab von den Zel;len, jenen Bauelementen des Körpers aller ~ne~zelhgen Tiere, so- wiederhole9 sich Gebilde niedrigerer Ordnung vielfach Im. Körper; m_an denke an die Sc*uppen der Fische~ die Federn der Vögel, die -Wirbel der Wirbelsäule, aber aucl). die vorderen und_ die hintereil Gliedmaßen,

K. d, G. III.JV, Bd l Allg. Biologie 5

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H. SPEMANN: Zur Geschichte und Kritik des Begriffs der Homologie

Arhle und·Bein·e der Wirbeltiere, welche nach demselben Plan gebaut sind. Gebilde kann ffian im ganzen und in ihren einzelnen Teilen untereinander

r••rgl•,icloen und die Homologien feststellen. Diese Art von Homologie mag im Grund auf dasselbe hinauslaufen wie diejenige, welche etwa zwischen

Vorderbein und einem Flügel besteht; zunächst aber ist es sicher logisch Unterschied, 'Ob man zwei Teile eines oder zweier Organismen miteinander

Owen wies wohl als erster auf diesen Unterschied hin und suchte durch die Bezeichnung zum Ausdruck zu bringenj das wurde später von nn und endlich von Haeckel aufgenommen und-weitergeführt. Haeckel (r866, S. 314) beschränkte die Bezeichnung homolog auf die

entsprechenden Teile zweier verschiedener Organismen und Unterschied dazu zwei morphologisch gl~ichwertige Teile eines und Organismus entweder homodynam oder homonym. Homo·'

dann, wenn sie als "Metamere" in der Hauptach&e des Körpers auf· einan•oer folgen, Wie etwa die Wirbel der Wirbelsäule; homonym dagegen dann,

es sich um" Epimere" handelt, welche Glieder einer Nebenachse darstellen, . etwa die einzelnen Abschnitte eines Armes, eines Beines. Die Bezeichnungen homolog und homodynam haben sich im Sinne

eingebürgert, nicht aber die Bezeichnung homonym; ich möchte weil der Begriff, für den H.aeckel ihn verwendet,. die wirklichen Ver·

~ältnitsse nicht trifft. Das Wort ließe sich vielleicht für Gebilde verwenden, die die oben angeführten Schuppen, Federn, Zähne nach demselben Typus

sind, ohne doch einer wirklichen Achse des Körpers anzugehören.

Nur Teile ·solcher Organismen können homolog sein, welchen der. gleiche ~=~~~~:~ zugrunde liegt, d. h. konkret gesprochen, man. wird Homologien nur ~, Teilen solcher Organismen aufsuchen, an denen schon andere Teile,

Ähnlichkeit sofort in die Augen springt, als homolog erkannt sind, in der daß dann auch die übrigen Teile von weniger sinnenfälliger Ähn·

homolog sein werden. Diese Erwartung wird de-nn auch immer wieder >estattgt, und so bildet sich die Idee des Typus als einer Grundform, durch

Wandlung die wirklich beobachteten Einzelformen entstehen. Dieser ist nicht starr, sondern beweglich und anpassungsfähig, aber in allem

kehren doch immer die gleichen-Teile in derselben Anordnung wieder. ganze Mannigfaltigkeit der Formen kommt durCh UmWandlung dieser Teile

zm;tande, durch Vergrößerung des einen und VerkleinerUng des anderen, und VeränderUng ihrer Gestalt. Bei aller Wandelbarkeit ist er durch ein Ge~

des inneren Gleichgewichts beschränkt, das er· nicht überschreiten.kann. BildUngstrieb ist hier in einem zwar beschränkten, aber -doch wohlein·'

ger·icllteten Reich zum Beherrscher gesetzt. Die Rubriken seines Etats,- in sein Aufwand zu verteilen ist_, sind ihm vorgeschrieben, was er auf jedes will, steht ihm; biS auf einen gewissen Grad; frei. Will er der eipen

zuwenden; so ist er nich~ ganz geh_indert, allein er ist genötigt, an einet Sogleich etwas fehlen zu lassen" (Goethe, W~ A..ll, S,:S. 16). So ist

Der Begriff des Typus

der Typus recht ein kleines Bild der Welt, deren Energien sich wohl iileinander verwandeln, in ihrer Gesamtsumme aber weder vermehren noch vermindern können.

Diese Idee entzückt~ nicht nur den großen Künstler, den sie in der Natur Typ

den verwandten Geist_ ~hnen ließ, sie beherrschte auch die anderen vergleichen· ideeu

den Anatomen jener Zeit. Man hat in ihr eine Vorstufe der später durch Dar­win herrschend gewordenen Anschauungen erblickt. Das mag in gewissem Sinn richtig sein; doch darf _man wohl auch einmal auf den einschneidenden Unterschied hinweisen, wie er gerade von den führenden Geistern jener Zeit emp­funden wurde. Der Gedanke einer Abstammung der verschiedenen Tierformen voneinander lag nämlich keineswegs so außerhalb ihres Gesichtskreises, wie man vielfach glaubt; man ist überrascht, ihm immer wieder zu begegnen, ihn ·aber gerade von den scharfsinnigsten Forschern ausdrücklich abgelehnt ZJ.l

finden. ,;Ma_n lernte allmählich die verschiedenen Tierformen als auseinander c. E.

entV?"ickelt sich denken - und schien dann, von einigen Seiten wenigstens, vergessen zu wollen, daß_ diese Metamorphose nur eine Vorstellungsart sei ... Ein Fisch, der _ans Land -schwimmt, möchte dort gern spazierengehen, wozu er sei~e Flosseh-nicht gebrauchen kann. Sie verschrumpfen in der Breite aus Mangel an_Übung und wachsen da~egen ·in die Länge. ·Das geht über auf Kinder u~d_ E~kel einig·e Jahrtausende }iindurch. Da ist es dann kein Wunder,- daß .aus_ den Flossen ·zuletzt Füße·w~rden. 11 So schreibt C. E. v. Ba er im Jahre

·zoo) • . ·Es- fehlte also nicrt etwa am letzten erlösenden Wort, viel· die· Gedanken der Ze~t noch zu sehr in anderer Richtung, u~ es zu

ii!,l~;;f~l~·~;!!,:,;.n::er Typus war ihr e;ine Idee, in-dem doppelten Sinn eines Bau· l\1 in: der schaffende:n Natur bei der Erzeugung der Organismen

Gedankenbildes~ mittels dessen der erkennende Geist nach­Wegen der Natur :~olgt. Das ist die Anschauung der ersten, der

ea.wmtsc hen Perio_de der M;orphologie. kein Beispiel, welches die Eigenart jener uns fremd gewordenen

·~c,\nsd>atlUtlgJ;w•eise schärfer hervO:rtreten ließe, als C. E. v. Baers Auffassung der .Wirbeltiere und S~iner Homologien. .

v. •. Baer unterscheidet-!vier·Typen1 den strahligen, den geglieder­massigen und den der. iWirbeltiere. Dabei ist der Wirbeltiertypus

··IucJots eigentlich Neues, vielrilehr ist er gleichsam aus den anderen, zum min­i,:"clesten. aus zweien von ihnen, zusammengesetzt (1828, S. 212). Seine

11ani·

f'Jmalert" Teile folgen dem gegliederten Typus, welchem die Gliedertiere, z. B. die ',;;;t.n,,ek:te:o, angehörenj die 11 plastischen" (wir würden sagen die 11vegetativen")

i~:i:J::~;~n dem massigen Typus, nach dem die Mollusken, also z. B. die Schnecken, :.S s_ind. Und nun homologisiert v. Baer ganz unbefangen die "ani· ,;]ti\al•en<i,: Rückenmarksganglien der Wirbeltiere mit den Bauchganglien der In­;;~~~~~~··.~,'·ein Ji>aar andere Ganglien: der Wirbeltiere dagegen, die er dem "plas­~t · -NerVensystem zurechnet, werden den Nervenknoten der Mollusken

~~~ith!(e;~etzt (S; 234-ff.). Dieses Y'erfahren ist vollständig berechtigt, wenn ma.n;.<lerl tsegnu TypuS und Homo~ogie_so rein ideell faßt, wie C. E. v. Ba er und

s•

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68 H. SPEMANN: Zur Geschichte und Kritik des Begriffs der Homologie

seine ganze Zeit es tat. Ein vergleichender Anatom von heute dagegen wird es zunächst kaum verstehen, geschweige denn auf den Gedanken kommen, eine solche Homologie aufzustellen. So wie er die Begriffe Typus und Homologie auffaßt, könnte eine Verbindung zweier Typen in einem einzigen nur durch geschlechtliche Paarung zweier diesen Typen angehörigen Tiere zustande kom­men, und jene Homologisierung würde für ihn nicht mehr und nicht weniger bedeuten als die Behauptung, daß die animalen Organe der Wirbeltiere auf ein Gliedertier, die vegetativen auf ein Mollusk als Vorfahren zurückgehen.

Diese Wandlung der Begriffe wurde bewirkt durch die Deszendenz~ .theorie, welche durch Darwin zur Herrschaft gelangte.

Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß_ der Darwinismus ein sehr zu~ sammengesetzteS theoretisches Gebilde ist, aus mehreren ineinander greifenden, aber doch voneinander unabhängigen Theorien besteht. Er hat durch jede seiner einzelnen Lehren die Morphologie aufs tiefste beeinflußt; hier. inter~ essiert uns diejenige seiner Seiten, welche sich mit dem Problem der syste· matischen Verwandtschaft der Organismen beschäftigt, die Abstammungs· lehre oder Deszendenztheorie. Sie besagt bekanntlich, daß die größere oder geringere Übereinstimmung im Körperbau der Organismen, wie die vergleichende Anatomie sie aufdeckt, ihren Grund in der Abstammung von gemeinsamen, also gleich gebauten Vorfahren hat, daß daher die nähere oder entferntere ideelle Verwandtschaft,. welche ihren Ausdruck in der Stellung der Einzelformen im natürlichen System findet, auf näherer oder entfernterer Blutsverwandtschaft beruht. Dieser AUffassungsweise hat Darwirr zu allgemeiner Anerkennung und damit zu breiter Wirkung auf die Wissenschaft verholfen; vorhanden war sie, wie Wir wissen, schon vor ihm, am nachdrücklichsten vertretendurch Lamarck. Mari ist deshalb neuerdings vielfach geneigt, das Verdienst Darwins in dieser Billsicht nicht sonderlich hoch einzuschätzen; und die fast allgemeine, begei~ sterte Aufnahme, welche seine Lehre sofort nach ihrem Auftreten gefunden hat, köfinte einen ja in der Tat etwas mißtrauisch machen, ob es bloß ihr Wahrheits· gehalt war, der -ihr zu so raschem, vollständigem Siege verhalf. Aber auch ein C. E. v. Baer, der durch Lamarck nicht überzeugt worden war, konnte sich auf die Dauer den Gründen Darwins für gemeinsame Abstammung nicht ver· schließen. Er hatte selbst in dem oben berührten Zusammenhang (1828, S. 201) die historische Entwicklung der Formen auseinander als die einfachste Er­klärungsweise bezeichnet und sie trotzdem abgelehnt. Es müssen also Hinder· nisse im Wege gestanden haben, die unüberwindlich schienen. Im Anschluß an die oben zitierte ironische Ableitung des Landtieres-.aus dem Wassertier heißt es weiter (S. 200): "Eine unvermeidliche Folge jener <ils Naturgesetz be­trachteten Vorstellungsweise war die,- daß eine früher herrschende, seitdem ziemlich allgemein als unbegründet betrachtete Ansicht von der einreihigen Stufenfolge der verschiedenen Thierformen allmählich wieder festen Fuß. ge­wann ... Auch muß man gestehen, daß, wenn jenes Naturgesetz angenommen wurde, die KonseqUenz ebenfalls -die Aufnahme dieser Ansicht forderte." Diese Folgerung nun,· die ihm unvermeidlich sc,hien, mußte C. E. v. Baer, wie vor

Darwin. Genetische Fassung des Homologiebegriffs

ihm Ctivier (1812), auf Grund seiner eigenen Forschungen ablehnen, und so fiel für ihn auch die Voraussetzung.

Darwin zeigte nun, daß jede Tierform sich nicht nur nach einer, sondern nach mehreren Richtu'ngen w'eiter _entwickeln kann, in Anpassung an die ver­schiedensten Lebensverhältnisse, und daß infolge davon der Aufstieg zu immer _größerer VOllkommenheit in dieser Anpassung nicht auf einer einzigen Stufen~ Ieiter stattfindet, sondern auf zahlreichen und immer zahlreicher werdenden. Die jetzt-lebenden Tierformen lassen sich vergleichen den Knospen eines un· geheuren Bati.mes; von jeder führt nur ein einziger Weg zurück über Zweige und ÄSte zu Stamrh und Wurzel. In dieser Linie hat die Entwicklung dieser Form st~ttgefunden; je länger ~ie mit: derjenigen zusammenlief, in welcher eine andere FOrm· aufstieg um sö näher sind die beiden Formen verwandt. Wie eine Anzahl

> voriKnospen; ~lie an einem Zweige sitzen, einezusammengehörige Gruppe bilden, · wie niehrere solcher Gruppen an einem Aste stehen, so müssen auch die

i~~~[t;,i~:f~~l~~~;~·ji~n:.ii~h~r~e~r:natürlichEm Anordnung zu Gruppen unter Gruppen zu~ können;. Und gerade zu dieser Anordnung ist die ver· im _natürlichen System gelangt. So hat Darwin aus Stütze seiner Lehre gemacht.

'~~~~~~!~[~,~~~~~;~:~~:~:::Qie-zW:eitei:id_ie historische Periode der Morphologie. Anatomen, bet!aChteten es von da an bis auf den heutigen" "'ugau·,,, d~n "St~mmbaum der Tiere zu enthüllen. Sie arbei­

alten Beg~iff der Homologie weiter, aber ganz unvermerkt er einen neuen Sinn. !

· !·Etwas ÄhnlicheS: hatte sicli schon früher einmal angebahnt. Die ursprüng~ · ···'·"''"" Definitiondes Begriffs Ho~ologie, wie siezuletztnoch von Owen (1848, S.7) ~ \';'g•eg<,b<inwurde, war eine rein g'eometrische gewesen: homolog sind solche-Teile

eirtesKör•pe<rs, welche dieselbe ~elative Lage haben. Nun besteht aber zwischen de;r g:eom<,trischen und Oer moi-phologischen Vergleichung ein tiefer sachlicher

i}\Jit\ersc:hied ~arin, daß es sich ~ei den mathematischen Figuren um unveränder~ Größen handelt, währen4 die lebenden Formen in Wandlung ·begriffen

sm.o,·uno der Vergleich sich da~er auf mehr oder weniger rasch vorübergehende bezieht. Bei zwei ährilichen Dreiecken z. B. kommt für den Vergleich

(etwa welche Seite zuerst gezeichnet worden ist) nicht in 3el:ra.cht. weil ein unfertiges Dreieck überhaupt kein Dreieck ist; ein unfertiges U''f•1ai,<!;en ist sehr wohl ein Tier, und es liegt daher die Frage auf der Hand,

die im ausgebildeten Zustand vergleichbar sind, es auch

in~i*l:~.:~t~~:~ Entwicklungsstadien sind, oder, um es anders auszUdrücken, 0.1 homologen .Körperteilen auch die Anlagen homolog sind, aus denen

~~~f;'~~;~;~z~~:In~~d~e,~r weit Mehrzahl der Fälle ist diese Frage zu die Homologisierung bei den Anlagen oft ·entwickelten Teilen. Die Beobachtungen,

zu <li.<:ser Alltv,orq;e!•ü)l<rt. haben, gehören zu den schönsten Entdek-

;~t: ~~=~ ;~~~;!~~.;~::!'~,~~:)!~i· ~~; Nur zwei Beispiele. ? moüss:en'l ihrem ganzen Körperbau nach einige Tier-

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H. SPEMANN: Zur Geschichte und Kritik des- Begriffs der Homologie

gestellt werden, denen das namengebende Merkmal der Wirbeltiere, die Yirbel.sä,,le, fehlt (z. B. das Lanzettfischchen, Amphioxus lanceolatus). An

Stelle findet sich ein ungegliederter, elastischer Strang, die· Rücken­oder Chorda dorsalis. Dieser Unterschied1 -welcher die systematische

ug,arncm•enj;el•örigl<eit in Frage stellen könnte1 ist aber nicht vorhanden, wenn muu"en Entwicklungsstadien vergleichen; denn da findet sich bei allen

Yirbe:lti<lfen, selbst beim Menschen, eine Chorda dorsalis1 und erst auf Grund unter teilweiser Verdrängung dieses embryonalen Organes entwickelt sich

die gegliederte knorpelige _und knöcherne Wirbelsäule. Fische folgen in allen Hauptzügen ihres Körperbaus dem Typus der

Yirbeltiere. doch findet sich ein sehr tief gehender Unterschied-. Ihre Schlund-ist nämlich jederseits von mehreren Spalten, den Kiemenspalten, durch­

deren trennende Wände, die Klemenbögen1 von knorpeligen oder knö­Skelettstücken gestützt und von Blutgefäßen durchzogen sind_ Dieser

Wasserleben berechnete Atemapparat der Fische fehlt bekanntlich den Ifbatnoer1de•n höheren Wirbeltieren. Man kann Sich denken, welchen Eindruck

machte, als Rathke im Jahre 1825 an Embryonen von Vögeln und Säuge­und drei Jahre später auch an solchen des Menschen mehr oder weniger

Kiemenspalten und Kiemengefäße nachwies; erst aus diesem fisch­onJ!Icr~en Zustand entwickeln sich durch Ausbildung und Rückbildung die ·eriJältnisse des fertigen Organismus.

So gibt es noch zahlreiche Fälle, und man könnte daraus den Erfahrungs­ableiten, daßvonhomologen Organen auch -die Anlagen homolog

Dieser Satz würde so lange allgemein gelten, bis eine Ausnahme nach­wäre. Aber schon früh ist man einen Schritt weiter gegangen und hat

gleichartige Entwicklung in die Definition des Begriffs Homologie auf­So Sagt Geoffroy St. Hilaire in dem oben zitierten Zusammen-

: ,)es organes des sens sont homologues ... c'est a. dire qu'ils sont ana­dans leur mode de d6voloppement, s'il existe v6ritablement en eux un principe de formation." Ein anderer vergleichender Anatom jener Zeit,

verwarf die Hornadynamie zweier Schädelkriochen1 weil sie auf er!iChie<!erie Weise entstehen, der eine durch Verknöcherung von Knorpel1

andere direkt im Bindegewebe. Owen (1848, S.6) führt diese Ansichten an, sie abzulehnen. Damals, vor Darwin, war es die beobachtete Entwicklung des Einzel­

welche auf eine Umgestaltung des Homologiebegriffs hindrängte; jetzt, Darwin, wirkte die erschlossene Entwicklung des Stammes in derselben

Uclltung. Darwirr selbst definiert homolog noch als "ideell gleich" (E. d. A. 209). Haeckel, welcher den Begriff erst rein morphologisch gefaßt hatte,

gleich darauf hinzu (1866, I, S. 314), "daß Wahre Homologie nur statt­kann zwischen zwei Teilen, welche aus der gleichen ursprünglichen entstanden sind und sich erst im Lauf der Zeit durch Differenzierung

'~~::~:;:~~entfernt haben". Dieses "nur stattfinden kann" verrät, daß hiet in die Definition des Begriffs sich geändert hat; ganz klar wird die

Haeckel, Gegenbaur 7I

Wandlung, wenn Haeckel später.sagt (1866, II, S. 411), JJbei Verwei-tung der anatomischen Ähnlichkeiten ... kommt zuletzt immer alles auf die Entschei­dung an, ob die letzten Übereinstimmungen in der Struktur als Homologien (dUrch gemeinsaine Abstammung erhalten) oder als Analogien (durch gleich· artige Anpassung erworben) aufzufassen sind. Gerade diese wichtige Ent­scheidung ist aber oft äußerst schwierig". Genau so definiert GegenbaurGcger (1878

1 S. 67) speciclle Homologie als "das Verhältnis zwischen zwei Organen

gleicher Abstammung, die somit aus derselben Anlage hervorgegangen sind". ;',Das Aufsuchen der speciellen Homologien erfordert gerraue Nachweise der verWandtschaftlichen- Beziehungen."

Solch~ Wandlungen in. der Fassung von Begriffen hat auch in anderen WissensChaften die· Entwicklung init sich gebracht; wenn man sich ihrer be­wußt:wird, so ist an sich nichts gegen sie einzuwenden. Inwieweit die logisch

· iii·:un ferseheidenden Begriffe sich sachlich decken, ob also alle nach D<ofirtition-homologen Organe auf gemeinsame Anlage zurückgehen, und

j ~ct~~iJ~1;~~~[~~;::1~~~~:Ii~~~~;~~ Organe auch im alten geometrischen noch zu- prüfen; jedenfalls beherrscht diese Ansicht

AnatOmie und ihre Methode. Schon früher· war Vor-4as VergleiChen ~weier Formen ihre "Vergleichbarkeit" ge­

~10';jJ:s:~;e;;;~·~~ , Ztig~hörigkeit zu 4emselben Typus. Da nun dieser Typus selbst if y,"gleichung festzuStell~n ist, so bestand schon damals die Arbeit des

:~v·erj;leidJertd<m Anatomen ih einein beständigen Bilden vorläufiger Annahmen Probieren, wie weit m:an mit ihnen kommt. Jetzt heißt Vergleich­

Wie Gemeinsamkeit: der Abstammung seit dem Auftreten des zu jj)'.•·~;~;;;;;·c~~~,;:n Organs; das wichti'gste Mittel, diese Abstammung festzustellen,

der Vergleich der Formen, vor allem auch der ausgestorbenen, •Jl!f<issilerllal.telneJl. Die vergleichende Anatomie wird also immer einen hypo­

<.tlhetiscoheh Charakter trage.n; ·darin liegt ihre Grenze, aber auch ihre Frucht­•barl<ei<für·an.dyre Wissensgebiet~. Sie gleicht einem Manne1 der sein Haus

':~[~~~~;;1,s~:t~:a•;.rk~;m~:it Hypotheken beiastet hat; man wird ihm deshalb nicht den U aber man wird1 i ehe man mit ihm in geschäftlichen Verkehr

:~:~·~jr:~~~::~l nach den Sicherheiten fragen. Für die vergleichende Anatomie ? es als eine wichtige Aufgabe, wichtiger als die Ausfüllung einiger \1;Ji~''~;.~a~l~s die Feststellung einige"r neuer Homologien, einmal die Kr'iterien,

,_:~ Homologien bestimmt werden1

zusammenzustellen und kritisch

!:':g~;~~~~~:u~~~~e!:;'. ~; Ohne das hier zu versuchen, will ich nur an einigen Beispielen .J; es gemeint ist.

konstituierende :Merkmal des alten Begriffs "Homologie<~ ;;,;:a~loi!ie•relativ gleiche Lage in zwei nach gleichem Plan gebauten Organismen,

~~~~~~~?~~l~h~a~~liptsächlichste~ Kr i t er i u m, zum wichtigsten Wahtschein· · geworden1 daß Homologie im neuen Sinn vorliegt, daß die

~uf denselbe:d Ausgangspunkt zurückgehen. So gelten der , : '· I .

uhd der Flüge~! dCs Vogels für homolog im neuen Sinn1 weil ';'1''•""""wären; d. h: sie we~deh deshalb für das ?-bgeänderte Erbteil vOn

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H. SPEMANN; Zur Geschichte und Kritik des Begriffs der Homologie

gemeinsamen Vorfahren gehalten, weil sie dieselbe relative Lage im Kör­dieser beiden Organismen haben, deren übrige Organe man auch homologi­

kann. Das gilt nun aber nicht allgemein; der oben zitierte Satz von Geoffroy

Hilaire, daß ein Organ eher verändert, verkümmert, vernichtet als ver­wird, ist durch die spätere Forschung nicht durchaus bestätigt worden.

Muskeln "wandern", indem sie neue Ursprungs· und Ansatzstellen In einer Hinsicht bewährt sich aber auch in diesem Fall das "Prinzip

Ve,rb:indlun.gen"' des eben genannten Autors, indem die verlagerten Muskeln Ve:rb:indlun.g mit ihrem ursprünglichen Nerv bleiben. Deshalb ist die

nn•orvati.on eines Muskels das wichtigste Kriterium zur Feststellung seiner [ornolog:ie. Aber auch kein ausnahmslos gültiges; Muskeln können auch von den

versorgt werden, in deren Gebiet sie durch ihre Wanderung gelangt sind. das möglich ist, haben neuere Experimente verständlicher gemacht. Eine solche Wanderung, auch von anderen Organen, kann während der

rdivi<lU<,11Em Entwicklung stattfinden, und ohne weiteres nachweisbar sein, die Anlagen schon gut unterscheidbar sind; sonst eventuell mit Hilfe des

Das embryonale Stadium vor Eintritt der Wanderung steht dann dem Typus näher, und wenn dieser, wie die Deszendenztheorie lehrt,

dem gemeinsamen Vorfahren Ererbte ist, so läßt sich aus der Beschaffen­der Jugendform die des Vorfahren erschließen. So kann also die Entwick­

'"I~:~::~~:~~~::Kriterien liefern für die Homologie von Teilen, deren Lagerung n Zustande die Homologisierung erschweren würde.>

das ist nur ein besonderer Fall einer viel allgemeineren Erscheinung, schon zwei .weitere -Beispiele kennen gelernt haben. Bei sämtlichen,

höChsten Wirbeltieren, finden sich im Embryonalzustand eine Chorda und Kiemenspalten, Organe, welche nur bei den niedrigsten Wirbel4

erwachsenen Zustand erhalten bleiben. Wenn sich das auf sämtliche ausdehnen ließe, so müßte also der Embryo des höheren Tieres der

:w;>ctrsenen Form des niederen Tieres ähnlich sein. im Jahre I8II hat J. F. Meckel eine Abhandlung verfaßt mit dem

ezc,iclm<m<len Titel: "Entwurf einer Darstellung der zwischen dem Embryo­der höheren Thiere und dt:m permanenten der niederenstattfindenden

anrlle[e". Was dieser Titel ausspricht, wird von demselben Autor wenige später in die Worte gefaßt: "die Entwicklungsstufen des Menschen von

ersten· Entstehen an bis zur erlangten Vollkommenheit entsprechen leilmrden Bildungen in der Thierreihe" (t8IS, S. 51).

Daß diese höchst merkwürdigen Beziehungen durch die Annahme gemein­Abstammung erklärlicher werden, erkannte schon Darwin (E. d. A.

534); das Hauptverdienst, den Gedanken zu Ende gedacht und scharf aus 4

zu haben, gebührt aber Fritz Müller. "Die Veränderungen," so in seiner Schrift "Für Darwin" (im Jahre 1864, fünf Jahre nach der

Errts·terrurrg der Arten 11, erschienen), "die Veränderungen, durch welche sich

von ihren Erzeugern entfernen, und deren allmähliche Häufung die Ent·

Das ,.biogenetische Grundgesetz" 73

stehung neuer Arten, Gattungen; Familien veranlaßt, können in früherem oder späterem Lebensalter auftreten, .in der Jugend oder zur Zeit der Geschlechts­reife .... Die Nachkorurnen gelangen also zu einem neuen Ziele, entweder in­dem sie schon auf dem Wege zur elterlichen Form früher oder später abirren, .oder indem sie diesen Weg zwar unbeirrt durchlaufen, aber dann statt stille zu stehen noch weiter schreiten . . . Im ersteren Fall wird die Entwicklungs­geschichte der Nachkaminen mit der ihrer Vorfahren nur bis zu dem Punkte "zusammenfallen können, an dem ihre Wege sich schieden, über deren Bau im

· ······~~;~~:~~~:~.Zustande wird sie nichts lehren. Im zweiten Falle wird die ganze :> der Vorfahren auch von den Nachkommen durchlaufen und, So-

Entstehung der Art auf dieser zweiten VVeise des Fortschreiteng

:t\f!)~~~~~~~::~·td~ie~·:~lt~:~, ~ntwicklung der Art sich abspiegeln in deren · In der kurzen Frist weniger Wochen oder Monde Formen: der Embryonen und Larven ein mehr oder

oder~ minder treues Bild der Wandlungen an uns

•~~~f,~~~!f~~j~·~r~i~~t:~~ die. Art im Laufe ungezählter Jahrtausende zu ihrem sich emporgerungen hat." er·s.:ß,.nsicht uriterscheidet sich also nicht unwesentlich von

lVr:ecKe•rs. per individ~elle Entwicklungsweg irgend eines Tieres ent­i hi\ltil1l. eurtacnr;ten, sicher nie v~rwirklichten Fall die Entwicklungswege aller

Vorfahren und damit auch deren erwachsene Zustände. Wenn uns diese .I•etzte~·en fossil· erhalten wären, s;o müßte sich aus ihnen die Entwicklung des : letzten -Nachkommen zusammensetzen·lassen. "Bleibenden Bildungen in der Thierreihe"aber, wie Meckel meint, könnten sie nur insoweit entsprechen, als von J~n~n Vorfahren außer den abgeänderten auch mehr oder weniger unvetän­d_er:te :Nachkommen bis auf den heUtigen Tag erhalten wären.

Diese ·eine Tendenz des Organismus, immer auf demselben Wege ans Ziel .'iil :;.derc01m:fahr•en und vielleicht noe:h darüber hinaus zu gelangen, wird nun von

zwuan•>et·en Tendenzen durchk~;~uzt, wie auch schon Fritz Müller erkannte. in der Entwicklungsgest,hichte erhaltene geschichtliche Urkunde",

fort (S. 77), ,,wird allmählich verwischt, indem die Entwicklung einen :·c;.Timrorgeraderen Weg vom Ei zuni fertigen Thiere einschlägt, und sie"wirdhäufig

eh t ,durch den Kampf Uffi;S Dasein, den die frei lebenden La~ven zu be­haben:" Für beides, für die Abkürzung des Weges durch Ausfall von

:~;~:;~;;:~~~~!~~~~~~~n und für seine Verlängerung .durch Ausbildung von sog. J können die embryonalen Atmungsorgane der höheren cVi'irl>e1Jtierre als Beispiel dienen. :c:: · L!'er· junge Embryo eines .V:ogels besitZt drei Atmungsorgane: Kiemen­ß~;~lm ~::~ -bögen mit den zugehörigen Gefäßen, nicht mehr in Funktion, ein fJ der, Zeit des Wasser,eb~ns; Lungen, als Ausstülpung des Vorder4

;a~:ge.Legt;· noch nicht in Fupk;tion; und die weit aus. der Leibeshöhle her-sg<:)v;~cll!e•ne ::flarn b I as e odei J\!llan to i s, die, mit Blutgefäßen reich ver­

' atif. der Schale I atisbreitet und durch sie hindurch den Gas­besor·et. Dem. Kiemen1ap~arat fehlt z~r Funktion der wesentlichste

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H. SPEMANN: Zur Geschichte und Kritik des Begriffs der Homologie

3es,tar1dl:eil, die Kiemenblättchen, die, von feinsten Blutgefäßen durchzogen, an durchlässigen großen Oberfläche einen ausgiebigen Gasaustausch ermög·

Sie sind bei den näheren oder entfernteren Vorfahren im erwachsenen ~ustar1de sicher vorhanden gewesen, wie sie sich noch bei den Fischen finden;

~~;'~:~~~~::! ':;;:!;n~it~c~ht mehr wiederholt, der Entwicklungsgang ist ab gekürzt. pi ist in ihrer jetzigenAusQehnung ein embryonales Organ; als Hem>lrEcan kann sie nur bei einem Embryo funktionieren, wo sie ausgebreitet

Innenfläche einer Eisehaie anliegt; und als Harnblase hat sie sicher nie eihem weit aus dem Leibe heraus gehangen. Hier ist also der Entwicklungsgang

Einschiebung eines Larvenorgans, welches sich später wieder zurück­verlängert.

Jene bedeutungsvollen Sätze Fri tz Müllers gehen gewöhnlich -unter dem Haeckelsi doch ist von diesem eigentlich nur eine knappe Formu­neu hinzugekommen. Haeckel (1866) nannte die direkt festzustellende

ldivi<]U<,lle Entwicklung eines Organismus seine Ontogenesis oder Onto-·e (I, S.ss), die indirekt zu erschließende Entwicklung derVorfahrenreihe

der Generationen seine Phylogenesis oder Phylogenie (I, S. 57), er formulierte die soeben dargelegten Zusammenhänge in folgenden Sätzen

I, S. 300): "Die Ontogenesis oder die Entwicklung der organischen Individuen die Reihe von Formveränderungen, welche jeder individuelle Organismus

der gesamten Zeit seiner individuellen Existenz durchläuft, ist un­lit,telloar bedingt durch die Phylogenesis oder die Entwicklung des organi­

Sta,mrnes (Phylon), zu welchem derselbe· gehört. Die Ontogenesis ist die schnelle Rekapitulation der Phyloi5enesiS, bed.ingt durch die physio­

•g.,•cn,en Funktionen der Vererbung (Fortpflanzung) und Anpassung (Ernäh· organische Individuum wiederholt während-des raschen und kurzen

~:~~:~:~~::;~individuellen Entwicklung die wichtigsten von denjenigen Form-welche seine Voreltern während des langsamen und langen

paläontologischen Entwicklung nach den Gesetzen der Vererbung Anpassung durchlaufen haben." Diese Sätze nebst den v,on Fritz Müll er wörtlich übernommenen Einschränkungen bezeichnete Haeckel später

S. 471} als "biogenetisches Grundgesetz", und als solches sind sie all­bekanntj Fritz Müllers Name ist in weiteren Kreisen vergessen.

Soweit die Entwicklung des Einzelwesens die des Stammes wiederholt, sie von Haeckel (1875, S. 61ff.) als palingenetisch, als Patingenie

[ez<,iclln<:t soweit sie abgekürzt oder sonst abgeändert ist, als cen o genetisch, Cenogenie. Patingenetisch wäre also an der Entwicklung der Kopfregion höheren Wirbeltiere die Bildung von Kiemenspalten, Kiemenbögen, Kie­

~er<gefälßerl;· cenogenetisch der Mangel von Kiemenblättchen. Der durch die Sätze von Meckel, Fritz Müller, Haeckel bezeichnete

fornpllex von Tatsachen ist von Anfang an auch anders gedeutet worden. seiner Entwicklungsgeschichte deS Hühnchens stellte C. E. v. Ba er die

auf (1828, S. 224): 1,Das Gemeinsame einer größeren Thiergruppe bildet früher im Embryo als das Besondere. Aus dem Allgemeinsten der Form-

Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz 75

· verhältnisse bildet sich das weniger Allgemeine und so fort, bis endlich das ·::- Speciellste auftritt JedetEmbryo einer höheren Thierform, anstatt die anderen ; . bestimmten Thiei-formen zu durchlaufen, scheidet sich vielmehr von ihnen. Im ".Grunde- ist also nie der Embryo einer höheren Thierform einer anderen Thier­. __ forin gleich, sondern nur seinem (ihrem) Embryo." Diese Sätze C. E. v.-Baers,

irt ·bewußtem Gegensatz zu dem oben angeführten Meckels ausgesprochen, treffen auch nur diesen, nicht aber das biogenetische Grundgesetz in der Fas­

Fritz Müllers und Haeckels. Sehr klar wird das durch v. Baers Worte erläutert, mit denen er fortfährt (S. 225): "Die EntwicklUng des

i ];;trii:>ryo•s iS:i: in bezug auf den Tyf:ms der Organisation so, als ob er das Thierreich französischen · sogenannten Methode analytique

iv<,rv<arldlten scheidend, zugleich aber von der · inrlererAttsbildun'g zur höheren fortschreitend.'' Stellt man die­

dar, so bekommt man die Form eines Stamm: nach Abstammungslehre zu erwarten ist.

hat o: He_rtwig (1898, 1906, 1910) sich in einen gewissen 0.1

Grundgesetz gestellt, und zwar von verschie­vOnjdenen uns hier-zunächst nur der folgende an­

:GeSe1:z-·.besag!t1 ein: Organismus durchlaufe bei seiner Ent­

;~~:~~~~~!n'i~ etwachserien Zustä:nde seiner Vorfahren, so ß;ann sich das, ganz :.:. von· den cenogenetisdhen Einschränkungen, natürlich nur auf das

aKtu,,u,nicht auch aUfdas Virtuell Vorhandene beziehen. Wenn also der Embryo "'"'"" "·'~··'· ill frühem Entwicklungsstadium Spalten, Bögen und Blutgefäße '.eine:dGem,,m,pjlarcats besitzt, uAd man sagt dann, damit durchlaufe er den er·

Zustand des-im Wass~r atmenden Vorfahren, so sind dabei, ganz ab­vOm Fehlen der· Kiemeriblättchen, doch nur die sichtbaren, in diesem

nUr die gröberen Farinverhältnisse gemeint, nicht aber die latenten .beim höheren Tier ~ich entfaltend weiterdrängen zu den Zustän­

das Wassertier weit!hinter sich lassen. Dasselbe gilt natürlich für EntwicklungSstadie_n. Daher kann der Satz, "die Ontogenie ist

W'ie<Je~·hcolung der Phylogenie", im strengsten Sinne nicht richtig sein, Endglied einer EntwlCklungsreihe schon im ersten Gliede derselben

nnni.\:pe<Jin.gt, und zwar mechanisch bedingt ist 11 (Keibel 1893, s. 4). Diesen Ge- Kci

1!Aa•ri1ten führ't nun 0. HertWig mit der ihm eigenen Klarheit im einzelnen aus. . so·wichtig diese Überlegung für die kausq.le Auffassung der Vorgänge ist, ~-CheiJ;lt sie mir für die vergleichende Anatomie belanglos zu sein; denn für

·;kommen nicht die unsichtbaren virtuellen Anlagen in Betracht, welche

~i~~,;~r~~E;:n~t~w:;i:,c~kil:u~;n~g~:s~:s~:t::a~d~ium I mit sich führt, sondern nur deren sichthare, ·und die Frage ist für sie nur, wieviel sich aus diesen de~ Vorfahren schließen läßt.

S~fff~i~ftJ'~~:r:.i:; -nun kurzlsagen: Wenn die Entwicklung rein palingene· :ß : Wenn sie rt.in! cenogenetisch verläuft, wenig oder nichts. djlfelcbte )tnlilall(sjpunkte hab ni wir im einzelnen Fall, um den Anteil von

Cenogeil€se an. der Entwicklung festzustellen? Zun.ächst die . :

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"..

H. SPEMANN: Zur Geschichte und Kritik des Begriffs der Homologie

Übereinstimmung mit vergleichend-anatomisch gewonnenen Tatsachen und Schlüssen, dann Erwägungen nicht morphologischer, sondern physiologischer Natur, endlich in neuester Zeit das Experiment. Stimmt ein Entwicklungs· gang mit dem überein, was vergleichend-anatomisch zu erwarten war, so bildet er eine willkommene Bestätigung; weicht er davon ab, so war er cenogenetisch verändert. Anders hat, soviel ich sehe, der umsichtigste Morphologe der nach· darwinischen Zeit, Gegenbaur, nie geschlossen. Und ebenso führen die phy· siologischen Erwägungen, jedenfalls in der Regel, zu einem ganz sicheren Schluß nur in negativem Sinn; Palingenese läßt sich - jedenfalls in den mei­sten Fällen - nur ausschließen, nicht beweisen. Daß der Dottergehalt eines Hühnereies cenogenetisch ist, ebenso alles, was bei der Weiterentwicklung daraus folgt, das läßt sich mit Sicherheit sagen, weil diese Entwicklungssta· dien als selbständige Tiere unmöglich lebensfähig waren. Dagegen könnten wir, wie 0. Hertwig mit Recht bemerkt, selbst den Kiemenapparat eines höheren Wirbeltierembryos aus der Entwicklung allein nicht als palingene­tisch, als rudimentären Atemapparat der Vorfahren erkennen, wenn wir nie einen Fisch gesehen hätten, bei dem er ausgebildet ist. Wir können fast immer nur sagen: solch ein Tier kann nicht gelebt haben, solch ein Tier kann ge· lebt haben; nicht aber: solch ein Tier muß gelebt haben. Unter diesen Umstän· den ist es besonders erfreulich, daß in neucster Zeit Versuche gemacht wurden, den Umfang cenogenetischer Abweichungen mittels des Experiments festzu· stellen und dadurch womöglich den ursprünglichen Entwicklungsgang zu rekon~ stru,ieren.

Es handelt sich um diejenige Art von Cenogenese, welche Haeckel als­Heterotopie bezeichnete, um Fälle also, wo recht eigentlich das Fundament der -Homologie, die relative Lagerung der Organe und damit ihre Verbindung unt~reinander, betroffen erscheint. Von R. G. Harrison (1903) stammt das erst:'e derartige Experiment, welches aber wesentlich mit entwicklungsphy~io·

Fragestellung ausgeführt wurde. Unabhängig von Harrison und teinmorphologischen Gesichtspunkten ausgehend hat H. Braus diese Ar· systematisch in Angriff genommen. Wegen seiner leichten Verständlich· mag Harrisons Experiment zur Erläuterung dienen; es betrifft die Ent· ·

der Seitenlinie bei Amphibienembryonen. und die im Wasser lebenden Larven der Amphibien haben in

f{<~~~~'~"~:~~~·:~:l~~:~ in Reihen angeordnete Sinnesorgane; mehrere solcher :--; sich am Kopf, in der Umgebung des Auges und am Unterkiefer;

""/O,K<,.l)e ~ieht an der Seite des Körpers bis zum Schwanz, die sog. Seiten­Sinnesorgane sind in vieler Beziehung merkwürdig; morpholo~

dadurch, daß sie bis an den Schwanz hin von einem Kopf· Yt•iS<>rgt v'erden,, dem Ramus lateralis des Nervus vagus. Da wir an­

jeder Nerv anfänglich nur die Organe versorgte, die in s~iine,s 1Jrspnm!!S von Hirn und Rückenmark liegen, so muß hier eine

st<ütgel'un.den haben, jedenfalls des Nerven, wahrscheinlich auch verb;unde11en Sinnesorgane. So zeigt denn auch die direkte Be·

Das Experiment im Dienst der deskriptiven Forschung 77

obachtung der EntwiCklung die erste Anlage von Nerv und Sinnesorgan auf den_Bereicp des Kopfes beschränkt, und erst mit dem Älterwerden des Embryos Sich ir:hmer weiter nach hinten ausdehnend. Das kann auf einer wirklichen Ver­schiebung der Zeilen nach hinten beruhen, braucht es aber nicht. Dasselbe Bild

:Würde auch zustande kommen, wenn die Anlage in ganzer Länge an. Ort und entstände;- und nur von vorn nach hinten fortschreitend erkennbar Die-Entscheidung führte Harrisons (1903) Experiment herbei, bei :r;· (~~~k:~:~ .. ~ach der Boinschen Methode zwei halbe Embryonen verschieden

;• Ver:w·achsung gebracht wurden, die vordere dunkel der Seitenlinie, und die hintere- helle Hälfte,

~~}j~fll~]~~~~~~,:~;;;~~~,~~ nicht nachweisbar war. Es ließ sich nun- deut-vo.rd.bren Stück aus die dUnkle Seitenlinie in das helle ),I.\te,ri<•l stammt also .in ganzer Länge aus der

Inn~rvation nach gehört. Die Cenogenese _ihrem geriauen Umfang festgestellt und da-

. rekonstruiert. ·Programm· dieser Forschungsrich·

.-~rbeit systematisch in Angriff ge·

~t1:~!~~~t~~t~~~J~:r~:~:~·::·d~a~s:~l~.e~t~zt~e!k~~u:rz zusammenzufasSen, unter-Formen und ordnet sie in Reihen. im Bau auf Vererbung von

daß' die einf~cheren Formen sich weniger , Wei:den die Formenreihen ein annäherndes

geben. Außerdem aber benützt rli•' •·mtor dem Namen des biogenetischen Grund­

Wäre die Wiederholung der Phylogenie so brauchte inan bei jeder ·organischen

· studieren, gewissermaßen ihre Personalakten

~~~;~~:~;~~:~::~ Zeit.auch über die Geschichte ihrer Vorfahren zu erhalten.· Da Olltagenie aber niCht ~n dieser Weise palingene-

·sondern _vielfach abgeändert ist, so Wird sie für die Feststellung lel''f'h;•loge•oie. erst' brauchbar, wenn dieser Cenogenetische Anteil ti~mgrenzt

u~~d''~~·~~::;:~!~~:~eworden ist. Sichere Kriterien gibt es mir Jür Ceriogeniej :~ von diesen -ist die UD.fähigkeit irgendeines Embryonalsta·

selbständigem Leb~m. Wie weit dagegen der· Geltungsbereich der ~etlir:genie sich er~treckt,_- darrb.er gehen in den Fällen, wo- die Entwicklung

anderes zeigt, :als vergleichend-anatomisch erschlossen worden i~t,0:die)v!,,in.untge.n sehr auseii11anc::ler, . und mit der objektiven Unsicherheit auf

w~chst die Krift;der subjektiven Überzeugung Und damit die :~issenschaftiidhe:n Fehden. Hier sollte eine kritische Durch­

. aufg_esarpmel~e1 I~ypot~esen ei~setzen_. Man würde erstaunen, f~<>hll;e:icht .sie: smd,- und- wte verschtedenarttg. Ganz· abgesehen von philo-

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H, SPEMANN: Zur Geschi~hte und Kritik des Begi'iffs der Homologie

sophischen Anschauungen, welche die Auffassungsweise der Tatsachen be­stimmen und nicht, wie man wohl glaubt, selbst aus ihnen folgen, sind es nicht nur morphologische Grundsätze, di~;: sich aus der Praxis der Vergleichung all­mählich herausgebildet haben und ihren _Berechtigungshachweis in ihrer Frucht­barkeit tragen, sondern auch Erwägungen physiologischer, Voraussetzungen entwicklungsphysiologischer Natur. So die schon erwähnte Überlegung, ob irgendein Entwicklungsstadium auch als freilebende Form existenzfähig wäre, zur- Entscheidung der Frage, ob der betreffende Zustand als patingenetisch aufgefaßt werden kann. Diese physiologischen Bestandteile, die ihr eigentlich fremd sind, hat die Morphologie aufgenommen, als sie aus einer formalen zu einer historischen Wissenschaft wurde; sie bieten jetzt die Angriffspunkte für die Kritik, aber auch für die Weiterbildung.

W. Roux hat wohl als erster darauf hingewiesen, welche Förderung die vergleichend-historische und die analytisch-kausale Morphologie voneinander haben könnten, und hat an Beispielen ausgeführt, "daß die Grundannahmen, von denen die vergleichend-anatomischen Untersuchungen auszugehen pflegen, in ihrem Wesen auf, ihren Autoren vermutlich unbewußten, entwicklungs­mechanischen Voraussetzungen beruhen" (1892, S. 425).

So sehen wir, daß eine neue, die kausal-analytische Periode der ver­gleichenden Anatomie sich vorbereitet. In ihren Anfängen reicht sie weit zu­rück, wie ja auch die historische Auffassung schon während der idealistischen Periode da und _dort aufleuchtet, ohne doch das ganze Gebiet der Wissenschaft dauernd zu erhellen. Wie es dam_als der Darwinschen Theorie bedurfte, um der neuen Auffassungsweise zum Durchbruch zu verhelfen, so ist es jetzt die von W. Roux in Fluß gebrachte entwicklungsmechanische Forschung, welche anfängt, auf das Gebiet der Morphologie überzugreifen. Kausale Betrachtungs­weise_ hat auch schon den Kern der Morphologie, den Homologiebegriff, er­faßt und auflösend und umbildend auf ihn eingewirkt. ·

Es läßt sich -das vielleicht am besten von einigen Experimenten ableiten, die am Wirbeltierauge ausgeführt wurden._ Dieses höchst komplizierte Organ entsteht bekanntlich durch Zusammenfügung von Anlagen, die- von verschie· denen Mutterböden aus gebildet werden. Die nervösen Teile des Auges, der Sehnerv und die Netzhaut, ebenso das Pigmentepithel, entstehen von der frühen Anlage des Gehirns aus. Von dieser, einem fast ungegliederten Rohre, wächst jederseitseine blind geschlossene Ausstülpung gegen die Ha1.1t vor, die primäre Augenblase; sie bleibt durch einen siCh verdünnenden Stiel, den. A.ugenstiel, mit der Hirnanlage in Verbindung. Die primäre Augenblase stülpt sich dann von außen her zum doppelwandigen Augenbecher ein; aus dessen äußerer Schicht wird das Pigmentepithel, aus der inneren die Netzhaut; der Sehnerv entsteht im Anschluß an den AugenstieL In gleichem ·Maße, wie die primäre Augenblase sich zum Augenbecher einfaltet, folgt die Haut an der Berührungs­stelle; dann schnürt sie sich als' Linsenbläschen ab und bildet sich zur Linse um. So kommt diese in_ die Öffriung des Augenbechers, die Pupille, zu liegen. ...,.. Wenn man nun bei einem Wassersalamander einen Teil des Auges mi_t der

Kausalanalytische Periode der vergleichenden Anatomie 79

. -L~ns_e.(Colucci, 1891) oder besser noch die Linse allein (G. Wolff, 1894, 1895) ~ntfemt,was sich mit neueren Methoden sehr schonend ausführen läßt, so wird

.sle.Jreg:en.er.iert; nun aber nicht von der den Augenbecher .bedeckenden Haut, • ~r:~:~::;··~;u~'; aus, sondern vom oberen Rand der Iris, also aus ganz anderem ( normale Linse. Trotzdem ist die Regeneration so vollkommen, . . . .. rteue Linse _nicht von der alten zu unterscheiden ist; niemand, der ihre ; .Entwicklung nicht kennte, würde· einen Augenblick zaudern, die beiden Linsen

, für-völlig homolog zu erklären. Und doch dürfen wir es nach der Definition :.·d.er-historiscl).ep. Morphologie nicht tun, denn beide Gebilde gehen nicht auf

::~::::~h~;~~~~~:;2;urück. Wenn man ferner bei jungen Embryonen verschiedener Amphibien über der primären Augenblase die Epidermis, welche

!lö•rn>ale!"'we.ise.die Linse bilden wüi-de, ablöst und durch andere näher oderferner ·gelegene Haut ersetzt, so :entsteht auch aus dieser eine Linse (Lewis, Spemann, 1-908, I9IZb};:aber auch_sie dürfte nicht als Homologon der

'!9·!J,<>rnnall~n bez~ichriet· werden, da sie nicht aus einer homologen Anlage al>er· e1"ts:te.ht sie.aus einer Anlage _mj t gleiChen Potenzen

'i!Ji.~ltt~!~IJ:~::h~\;:~~~;1~:~ _Einfluß, nämlich -dem des Augenbechers; dasselbe ;~ ~~fsche:Linsenregeneration "(Spemann, 1905).

f1i~,~~if?t~]~io~~~z~ schon ·vor vielen Jahren Vorgeschlagen, den Ray ~ a<>\tuliise'n und durch die beiden neuen Begriffe J::

l"1.011l<>Pilat!le zu ersetzen. "Homogenetisch' 1

~:4~:nt>;'s,o·l~l>e(;i<:lii\de, genetisch verwandt sind, indem sie durch gerijt:insaJtne'n Vorfahren vertreten werden (which

as _t:hey have a single representative in a ,

1 13.stische11 Gebilde dagegen entstehen,

1 :. zweier Organismen einwirken, welche genau

'~~~,;:r:~r~r~:: ·homogenetisch sind'1

(S. 39). Die rege· ;E , also nicht homogenetisch, wohl aber homo-

Ray -Lankester hält es für wahrschein· in vielen Fällen, wo sie als Homologie be·

dieser Auffassung nicht fern. Er hielt es Mon<

für wahrscheinlich, daß viele Stämme einzelliger Organism.en poly

!~~·hij·p~:ig.vc•nein>>n•oer entstanden seien, und daß aUch die Stämme der mehr- E•

sich So aus selbständigen Wurzeln entwickelt haben. Das wüiäe \i•!!P~u.en, daß aJle geweblichen Übereinstimmungen zwischen ihneti Homo­

daß sich also etwa .d<,tS Flimmerepithel, die Verdauungsdrüsen mit )tlc,e;te•"·•- die. MuSkel·- Undj NerVenzellen in den einzelnen Tiergruppen

}~~h;~;::~~::~':;:;~;:1;,a~uls .de;m :indifferenten Protoplasma der einzelligen ~ · haberi. Aber schon in der generellen Morpholo· ~'P~el;p;oty~ n>•Jetts· eh-~''. ßntstehung der Organismenwelt bevorzugt ~!>rJ~I!t H~e•clcel vOn_ einet '1'andlung seiner Ansichten; und in der gan·

~z•,.it h·~rrscl>t.in det- ver~l~ichenden Anatomie das Bestreben, wo ir~ ;;m_o.no.p·hyle1ti$che'' Entstehung _anzunehmen, also alle

Page 29: Roux-das Wesen Des Lebens-1915

So H. SPEMANN: Zur Geschichte und Kritik des Begriffs der Homologie

Tiere auf ein Urtier als Vorfahren zurückzuführen, alle Wirbeltiere auf ein Urwirbeitier, alle Säugetiere auf ein Ursäugetier, alle Menschenrassen auf einen Urmenschen. Ein Hauptmotiv hierfür ist wohl in der Selektionstheorie zu suchen, nach welcher die Zweckmäßigkeit neuer Abänderungen nicht mit dem Bedürfnis, das sie befriedigen, zusammenhängt, sondern in Hinsicht auf dieses Bedürfnis rein zufällig ist. Da hierbei an die Gunst des Zufalls oft recht hohe Anforderungen gestellt werden müssen, so hegt man eine begreifliche Scheu, ihn mehr als einmal. zu bemühen.

Daraus erklärt es sich zum Teil,-daß gerade einForscherwie C. v. Nägel i, wel· eher die Selektionstheorie ablehnt und die phylogenetische Entwicklung auf innere Ursachen und direkte Anpassung an äußere Verhältnisse zurückführt, die polyphyletische Entstehung in weitgehendem Maße zuläßt. Nicht nur für die großen Stämme nimmt er einen gesonderten Ursprung an, auch für die klei­neren Tiergruppen hält er ihn nicht für unmöglich. n Wie viele verwandte Arten und Gattungen demselben Stamme angehören, läßt sich nie mit Sicherheit be­stimmen. Wir sind geneigt, einförmige Familien, wie die Cruciferen, die Gra­mineen usw. als Abkömmlinge eines einzigen Stammanfanges zu betrachten; und wir können dafür wohl eine große Wahrscheinlichkeit, aber keine absolute Gewißheit in Anspruch nehmen. Es ist ferner ganz gut möglich, daß mehrere oder viele Pflanzenfamilien von einem Punkte ausgegangen und somit phylo­genetisch verwandt sind; aber es ist ebensogut denkbar, daß jede derselben einen besonderen Ursprung hat, daß die Gräser und Halbgräser, der Apfel­baum und der Kirschbaum, der Haselnußstrauch und der Eichbaum, ebenso im Tierreiche der Fisch und das Amphibium, d,er Mfe und der Mensch in keinem genetischen Zusammenhang stehen und ihre besonderen Abstammungslinien besit~en. Das schließt nicht aus, daß ihre Ahneil einander noch ähnlicher waren, als sie selbst es sind; es ist dies sogar gewiß, da die Abstammungslinien nicht andets als divergierend gedacht werden können. Wir dürfen auch immerhin sageri, die Phanerogamen stammen von Gefäßkryptogamen, diese von Leber­moosen, der Mensch vom Affen usw. ab;- aber diese Redensart ist nur bildlich zu verstehen, insofern die Ahnen der jetzigen- Organismen, wenn wir sie etwa aus p:lläonto_logischeri Überresten kennten, allerdings in die Gruppe der Gefäß­

! ~;,~~:~~:;':~~~Lebermoose, Affen zu stellen wären; denn die systematische !' setzt keineswegs die genetische voraus" (1884, S.468).

Abnehmende Wertschätzung der Selektionstheorie wirkt zusaminen mit ··~~~:~~~;::der vergleichenden Anatomie und der- Paläontologie, um solche An­. s auch in den "Kreisen der Zoologen· mehr in den Vordergrund tieten

lassen. Immer zahlreicher werden die Fäiie, in-. welchen die. vergleichenden 1 Aloo1:on1en zum mindesten zweifelhaft sind, ob zwei Organe, die man als homo­log ansah, "durch gemeinsame Abstammung erhalten", nicht vielmehr analog, "durch gleichartige Anpassung erworben" sind; immer zahlreicher werden die Tiergrtippen, bei denen eine tiefer eindringende ·Forschung den p'olyphyleti­sChen Ursprung nachweist (vgl. Abel, 1912, S. 6I8ff.).

In der Tat läßt sich, wenn man·genauer hinsieht,_vielleiCht in den wenig·

Der Standpunkt C. v. Nägelis BI

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H. SPEMANN: Zur Geschichte und Kritik des Begriffs der Homologie

den übrigen indifferenten Epidermiszellen verschieden, und der Vorgang ist entwicklungsphysiologisch genau derselbe bei der normalen Entwicklung und im Fall des Experiments; für beide p·aßt völlig die Definition der Homoplasie.

Bei anderen, sogar bei nahe verwandten Wirbeltieren, läßt sich eine selb­ständige Anlage der Linse viel weiter zurück verfolgen. Dasselbe gilt bei allen untersuchten Formen für die Anlage des Augenbechers und seiner Bestandteile. Schon in der weit offenen Medullarplatte, dem verdickten Teil der äußeren Keimschicht, welcher sich zum Hirnrohr zusammenfaltet und dann abschnürt, also lange ehe die primären Augenblasen sich vorgestülpt haben, sind ihre An­lagen determiniert, nicht nur für den Augenbecher im ganzen, sondern für seine einzelnen Teile, die Netzhaut, das Pigmentepithel, den Augenstiel (Spe· mann, 1912a). Geht man aber auf noch jüngere Stadien zurück, so werden auch hier die Teile "indifferent"; denn schnürt man einen solchen jungen Keim in seiner Medianebene durch, so erhält man statt eines Tieres deren zwei, und die vier Augen dieser Zwillinge lassen sich offenbar nicht mehr mit den zweien eines normalen Tieres homologisieren, weil ihre Anlagef;!. nicht homolog sind. Auf welche Weise hier, beim 11 harmonisch-äquipotentiellen System" (Driesch), die Aufteil~ng in die- Anlagen erfolgt, wissen wir nicht; höchstwahrscheinlich aber in gleicher Weise beim normalen wie beim experimentell halbierten Keim. Also würde auch auf das Verhältnis der Augenbecher zweier normal entstandener Tiere zueinander Ray Lankesters Definition der Homo­plasie zutreffen.

Wir können also die Homologisierung nach rilckwärts nur durchführen solange scholl "Anlagen" vorhanden sind, d. h. nur bis zu einem Entwicklungs~ stadium, wo die einzelnen Teile des Keims, wenn auch nicht ihrem Ansehen, so doch ihrer inneren Entwicklungstendenz nach voneinander verschieden ge­wor~en sind. Ununterbrochen von Generation zu- Generation wäre das nur der Fall bei einer ganz bestimmten Art der Entwicklung, wie sie von der reinen Evolutionstheorie angenommen wird. Wie der Augenbecher und seine einzel~ nen Teile nachgewiesenermaßen schon in der Medullarplatte durch fest deter· minierte, bestimmt gelagerte Zellgruppen vertreten sind, so würden ·;;~eh dieser Auffassung diese Anlagen selbst wieder auf Anlagen in jüngeren und immer jüngeren Stadien und schließlich auf fest determinierte, bestimmt gelagerte Teile des Eies urid seines Kerns zurückzuführen sein. Aber auch von hier in gleicher Weise immer weiter rückwärts bis zu dem Ei der vorhergehenden Gene­ration, durch dessen Wachstum und Teilung sowohl der Leib des Muttertiers wie seine Eizellen entstanden sind. Von dem anderen Partner, dem Sperma­tozoon, ist hier der Einfachheit halber abgesehen. So bestände eine materielle Kontinuität nicht nur zwischen den ganzen Tieren, ~ondern auch zwischen den Anlagen ihrer einzelnen Teile, von derselben Art, wie sie durch allen Wechsel ~_es Stoffs hindurch zwischen dem jungen und dem alten Körper eines Intli· viduums besteht, und man könnte vom Auge eines Salamanders sagen, es :stamme· von- dem Auge seiner Eltern und aller seiner noch so entfernten Vor-

H. Driesch. Bateson

· 3.1?; in demSelben Sinn, in welchem man das von den ganzen Tieren be· kann.

dieser· Weise verläuft die Entwicklung offenbar nicht, jedenfallsH.D l))i,iccht•;ipnmcer,- Ganz abgesehen von Schwierigkeiten, welche in der eben ge­

selbSt liegen, zeigen das die Fälle "abhängiger Differenzie· die Entwicklung des "harmonisch-äquipotentiellen Sy-

Proportion, welche für die einzelne Art charakteristisch Keimschicht ein Teil ausgesondert, der sich zur Hirn-

. aber ebenfalls festen Proportion ein Teil das Ausgangsmaterial verkleinert, so

nach derselben Proportion und es entsteht

illt~~;~:r.:~;~::~:.,~.7~~l!PEs:,,;i~~st:e;d~:a;·~ s Verdienst Drieschs, diese ·~; Systems" zuerst erkannt

Dann hängt aber ein Organ nicht mehr homologen Organ eines näheren oder ent­

ii>Jz.~saii).rl/en, ~ön·der:n nur ganz-indirekt, man möchte fast

'~~~~~:i~~t~i:~.,;~~~~~:ft,·Potenz des Keimes, dieses :~: es gerade an der homologen

Batesori (1892) schon vor jahrenBatc: die Zahlenvariationen im Gebiß

~fl~m~r~:·~~:~:~c~r::~:~~i:~ Fragestellung, ob dabei "die (espektiert wird'' (S. 104). ,,Each would ~ a Fellowship of a College or a Canonry

t~l."h.,:ü••.4n[irtdhridua( ]hi$t•ory, being handed on from one holder to

Ö~~ .. ;~~1:~1(i~~~f.Pt~~:·~~ others being founded, but none being \< ':i~~~~~~~; kam. zu dem Ergebnis, daß die_Va-

~i manchmal aber auch nicht. So be-Se,eh~ncde•s, wo der vierte Prämolar des Oberkiefers

unvollkommen, auf der linken ganz. Hier · durchführen, auch links, weil die zusam­

ge<!raJngt standen als die übrigen. Anders bei im Oberkiefer rechts und links statt

H<m).ol,iJgiebeg.riff in der Fassung dei-historischen aUflöst, wenn wir auf kausalem Gebiet

. nicht aus dem ganz allgemeinen Grund, i~~(\:j,~;~ji,:;;~ i;;;;;h:~,;-~ nicht restlos in feste Begriffe fassen läßt,

6'

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84 H. SPEMANN: Zur Geschichte und Kritik des Begriffs der Homologie

sondern aus dem viel schwerer wiegenden, weil die Entwicklung in anderer Weise verläuft, als man sich, wohl halb unbewußt, bei der ersten Aufstellung und späteren Handhabung des Begriffs dachte. Damit soll keineswegs die Be­deutung der historischen Betrachtungsweise überhaupt herabgesetzt werden; im Gegenteil halte ich die Auffassung der Organismen als "historischer Wesen" (Boveri, 1906) nicht nur für die heute allein noch zulässige, sondern auch für die fruchtbarste. Wenn die einzelnen Organisationsformen nur ideell verwandt sind, verschiedene Ausgestaltungen einer in der Natur wirksamen Idee, Varia­tionen auf ein Thema, wie die idealistische Periode es ausdrückte, so muß die Forschung hier schon haltmachen; angreifbare Probleme ergeben sich erst

. aus der histOrischen Auffassung, wo alles, wenn auch in noch so kleinen, noch so schwer erkennbaren Schri.tten an dem begrenzten, sichtbaren Objekt sich abspielt, welches wir in Händen halten. Nur glauben wir nicht mehr, daß wir erst den Stammbaum der Tiere feststellen können, um dann aus ihm die Ent· Wicklungsgesetze abzuleiten, vielmehr glauben wir zu erkennen, daß wir erst diese Gesetze feststellen müssen, ehe wir die Formenreihen, in denen wir die Organismen ordnen, richtig verstehen, ja oft überhaupt nur aufstellen können. Daher werden es nicht die alles umfassenden Abstammungstheorien sein, auf denen weiter zu bauen ist; denn diese sind ebenso unsicher, wie sie durch ihre Weite und Kühnheit entzücken; vielmehr werden uns die kleinen, aber sicher begründeten Entwicklungsreihen die besten Ausgangspunkte zu vertiefender Forschung werden.

So scheint die Zeit gekommen, "da auch für die Morphologie das Wandel­bare der Ziele und damit auch des Strebens sich erweist, und da andere Pro­bleme und andere Methoden an die Stelle der gegenwärtigen treten werden". Mit diesen Worten gereifter Bescheidenheit eröffnete Gegenba_ur sein Mor­phologisches Jahrbuch; schönere wüßte ich nicht, um die neu anhebende For­schu-ngsperiode an die ablaufende anzuknüpfen.

Literatur. Meine Darstellung beruht durchweg auf dem Studium der Quellen. Auf E. RADLS

groß angelegtes, höchst wertvolles Werk wurde ich erst aufmerksam, als meine Arbeit in der Hauptsache abgeschlossen war. Es ergänzt meine Skizze in wesentlichen Punkten; in manchem, so in der Wertschätzung der historischen Periode, bin ich zu abweichenden An­sichten gekommen.

ABEL, 0., 1912: Grundzüge der Palaeobiologie der Wirbeltiere. BAER, C. E. VON, 1828: Über Entwickelungsgeschichte der Thiere. BeobacP,tung und Reflexion. BATESON, W., 1892; On Numerical Variation in Teeth, with a DiscussiOn of the Conception

of Homology. Proc. Zool. Soc. London p. 102ft.

BOVERI, TH., 1906: Die Organismen als historische Wesen. Rektoratsrede. VVün:burg. BRAUS, H., 1906: Die Morphologie als historische Wissenschaft. Experimentelle Beiträge zur

Morphologie Bd. I. ~RONN, H. G., 1858: Morphologische Studien über die Gestaltungsgesetze der Naturkörper

überhaupt und der organischen Körper insbesondere, CAMPER, PETER, 1778: Deux discours sur l'analogie qu'il y a entre la structure du corps humain

et celle des quadrupMes, des oiseaux et des poissons. Oeuvres de P. Camper T.lll, p. Jzsff.

Literatur

alllgemeoi~<m Einleitung in die vergleichende" Anatomie, aus-Abtlg. II, Bd, 8 .

l~~~i~~;~fj~~~ii[~~~!d~e:'~E~n~:t;,w:u:~rfs einer allgemeinen Einleitung der Osteologie. Weim.Ausg, Abtlg.II, Bd.8.

_Bd. I, _Biologie der Kalkschwämme. und die Eifurchung der Thiere. Biolog.

i~lf;~~~~t~t:!::.:~:~:~~~i:::; sur les pieces de la tete osseuse des ani· [J '"' celle du ce•n• d" oi,.aux. Ann. du Mu,eum

les usages de l'appareil olfactif dans les poissons, !'o,Jfacii'" des animeaux qui odorent dans l'air. Annales

des Schweines. I. Morphol. Arb.

of the term Homology. Ann. Nat. Hist. Vol. VI. Experimental st9dies on the devetopment of the eye in Amphibia.

of ·the lens. Amer. Journ. Anat, Vol. 3· : Entwurf einer Darstellung der zwischen dem Embryozustande der und dem permanenten der niederen stattfindenden Parallele. Meckels

Anatomie. Bd I. Band. Allgemeine Anatomie.

Page 32: Roux-das Wesen Des Lebens-1915

H. SPEMANN: Zur Geschichte und Kritik des Begriffs der Homologie

RATHKE, 1828: Über das Dasein von Kiemenandeutungen bei menschlichen Embryonen. Ebenda Bd. XXI S. 108.

REICHERT, 1838: Vergleichende Entwickelungsgeschichte des Kopfes der nackten Reptilien. Roux, W., 1892: Ziele und Wege der Entwickelungsmechanik. Merkel-Bonnets Ergeb­

nisse der Anatomie und Entwickelungsgesch. Bd. li. SPEMANN, H., 1905: Über Linsenbildung nach experimenteller Entfernung der primären

Linsenbildungszellen. Zool. Anzeiger Bd. z8. - rgua: Über die Entwickelung umgedrehter Hirnteile bei Amphibienembryonen. Zool.

Jahrb. Suppl. XV, Festschr. f. ]. W. Spengel. - 1912 b: Zur Entwickelung des Wirbeltierauges. Zool. Jabrb. Bd. 32 WOLFF, G., 1895: Entwickelungsphysiologische Studien. I. Die Regeneration der Urodelen­

linse. Arch. f. Entw.-Mech. Bd. I.

Über Rekapitulationserscheinungen bei Pflanzen, die meistens nur ganz undeutlich auf­treten und in der botanischen Morphologie eine ganz untergeordnete Rolle spielen, vergleiche:

MASSART, J., 1894: La Recapitulation et l'lnnovation en Embryologie vegetale (Bull. de la Soc. . roy. de Botanique en Belgique T. 33, I).

G. H., 1905: Stages in the development ofthe Sium cicutifolium (Washington, Carnegie Institution, Publ. No. 30).

Im Zusammenhang mit diesem Artikel empfiehlt sich namentlich das Studium des vierten bic,loirh<,hen Bandes der "Kultur der Gegenwart", welcher die Probleme der Abstammungs.

und Systematik behandelt.

Die experimentellen Grundlagen der Abstammungslehre schildert der zweite Aitikel im vorliegenden Bande.

auch den von 0. HERTWIG und STRASBURGER redJgierten, die Zellen- und Morphologie und Entwicklungsgeschichte behandelnden zweiten biologischen

der "Kultur der Gegenwart".

DIE ZWECKMÄSSIGKEIT.

VoN

als Problem. und Umfang .

~~~~t~~~[~:iHj~~;d;as der Zweckmäßigkeit. Veränderungen, Bewegungen, die B~gri . I h bClStintU in Erscheinung treten, In so c er

des- betreffenden Individuums Und oder auchnur des Stammes unter

wird. Die Erhaltung des In·

~~r~~?:~~(~~I;~5f~f.I s016her Geschehnisse. Diesem d. h. zu seiner Erreichung ge-Vorgänge. Oder man sagt, die

-:---- riämlich dem Zwecke der Er­sie geschehen soll -, und bezeich­

: "4npas~ung", Manche aber ziehen vor, . sagen "dauerfördernd '' oder "er-

~~~±1i~~~~;;~::::::~~~x~::i:::e:Gebieten der Lebensvorgänge an. menschliches Tun urid Treiben · gr~ßeren, manchmal auch törichten. und do.ch der eigenen Ernährung, Bereiche­

.Erha.ltu.~g, und weiter ---;- durch Zeugung und Sorge Art. Die inneren Geschehnisse, auf denen

vorwiegend Z\Yeckmäßige. Dasselbe gilt ~er übrigen Geschöpfe, von hö~er~~ Tieren a~, ~ie

lernen vermögep, bis hinab zu den pnm1t1ven ReaktiOnen dk Gebiet des ]zweckmäßigen Verhaltens scP.ließt sich ohne

;~~ze~iasj<>nige derzur Er~altungnötigenVerr.ich tungeninnerer

i~j~)'i!;~~:~~~,,!Stoffudttrieb: usw. bei Pflanze und Tier. i~, der fe1rtigen Individuen und ihrer Teile, so tragen

diVid'uleÜeD: Entwick~ung, de:. "Ontogenesis", Z~eckl"'äßigkeit; denn d1ese Vorgange haben de~­

z~ einer-~FePkffiäßigen Leistung tauglich macht: d~e

Page 33: Roux-das Wesen Des Lebens-1915

WOLFGANG ÜSTWALD: Die allgemeinen Kennzeichen der Organisierten Substanz

be,ze'ich.net. Alle die genannten biologischen Vorgänge sind gleichsam ver­miteinander. So führt zuweilen eine besonders reichliche Ernährung zu

starker Fortpflanzung; manchmal löst auch gerade umgekehrt Nah­:smcangel Vermehrung aus. Umgekehrt steigert z. B. die geschlechtliche Ver·

zweier Zellen vielfach nicht nur die Fortpflanzung, sondern auch die Lebensfunktionen wie das Wachstum, die spontane Beweglichkeit usw. den Anschein, als ob man umgekehrt nicht eine Funktion beeinflussen

ohne daß nicht irgendeine qualitative oder quantitative Wirkung auf Lebensfunktionen nachgewiesen werden könnte.

Schluß sei noch hervorgehoben, daß erst das gleichzeitige Vorhau-aller dieser physikalisch-chemischen und biologischen Erscheinungen

Gebilde dazu berechtigt, dasselbe ein Lebewesen zu nennen.

V '"Stlchcen wir eine gedrängte Zusammenfassung der vorangehendenAus· über die allgemeinsten Kennzeichen der organisierten Substanz, so

wir etwa folgendes sagen: Die organisierte Substanz wird charakterisiert in chemischer Beziehung durch das ständige, gleichzeitige Vor·

ha.ndienseiin von Eiweiß, Lipoiden, Salzen und Wasser, durch Oxydations· Reduktionsprozesse und durch die große Rolle von Fermentreaktionen, in physikalischer Beziehung durch ihren kolloiden Zustand, der nur den merkwürdigen, zwischen fest und flüssig stehenden Aggregat·

zustand der lebenden Substanz, sondern auch eine Fülle physikalisch· chemischer Besonderheiten erklärt, und

in biologischer Beziehung durch das an ein und demselben Objekt nachweisbare Vorhandensein von Ernährung, Wachstum, Erhaltung1 selbst­tätiger Bewegung} Fortpflanzung, Vererbung und regulatorischer Verknüp­fung .'aller dieser Prozesse untereinander.

Literatur. chemischen Charakteristika der organisierten Substanz vgl. die zahl­der physiologischen Chemie (z. B. von HAMMARSTEN, TIGERSTEDT1 AB-

das Handbuch der Biochemie der Tiere von ÜPPENHEIMER (Jena, Verlag von die Lehrbücher der Pflanzenphysiologie von PFEFFER (Leipzig, Verlag von

:~:?r;~;~:C;Z~A::P(~E;K,:(j~ena, Verlag von Gustav Fischer). Besonderheiten der lebenden Substanz sind in vorzüglicher Weise dargestellt in L. RHUMBLER: "Das Protoplasma als physikalisches System",

1914, Verlag von J. F. Bergmann). physikalisch-chemische Seite wird ausführlich behandelt in HöBER, Physik.

Zelle und Gewebe (3. Au!l. Leipzig I9I r, Verlag von W. Engelmann). Über K o 11 o id­siehe z. B. den "Grundriß" des Verf. (3. Au!l. Dresden I9Iz, Verlag von Th. Steinkopff);

GAIDUKO>•, Dunkelfeldbeleuchtung usw. i. d. Biologie (Jena tgu, Verlag von Gustav , ~.BECHHOLD, Kolloide in Medizin und Biologie (Dresden 1912, Verlag von Th. Stein­BQTIAZZI, Cytoplasma usw. im Handb. der vergl. Physiologie (Jena 1914, Verlag von

Fischer). ; vergleiche auch die Artikel von W. Roux und B. LIDFORSS im vorliegenden Bande,

ce<imBm>deChemie der "Kultur der Gegenwart" die Artikel ENGLER-WÖHLER, anorganische 100), R. LUTHER, Beziehungen zwischenphysikalischenund chemischen Eigenschaften

besonders S z6zf., 277 f.) und KaSSEL, Beziehungen der Chemie zur Pbysiol ogie (S. 407 f.).

DAS WESEN DES LEBENS.

VoN

WILHELM Roux.

Die Naturkörper .werden geschieden in das Reich der Lebewesen und in das Reich der unbelebten Naturkörper oder Mineralien. jedermann glaubt ein Lebewesen von einem Mineral sofort unterscheiden zu können. Bezüglich der höheren Lebewesen, z. B. der Wirbeltiere, Insekten, Stachelhäuter, Mollusken wird auch darin kein Zweifel entstehen. Wir finden andererseits in der Natur bestimmt gestaltete Gebilde, die Zweifel erregten, ob sie anorganischen oder organischen Ursprungs sind. Es gibt eine Gruppe von Autoren, welche die Kristalle, ja überhaupt jedes Mineral, jedes Körnchen Erde als Lebewesen er· klären, welche behaupten, daß diese Gebilde niederste, einfachste Lebewesen seien .. Ferner aber gibt es Experimentatoren1 welche in ihrem Laboratorium Gebilde aus anorganischen Stoffen hergestellt haben1 die sie für niederste Lebe­wesen halten, eine Auffassung, die wie jene andere von uns nicht geteilt wird. Immerhin bekundet diese Verschiedenheit der Meinungen, daß es nicht so leicht ist,_ zu sagen, was e;in Lebewesen ist, was das Wesen des Lebens ist. Wir wollen im Nachstehenden versuchen, zu einer ausreichend bestimmten Definition zu gelangen.

Das Wesen einer Gruppe von Dingen umfaßt nur diejenigen Eigenschaften, welche ihnen _allen gemeinsam sind, nicht solche, welche nur einigen Unter­

-abteilungen zukommen. Daher können wir hier von dCn besonderen Eigenschaften der höheren und

höchsten Lebewesen, von den seelischen Eigenschaften, von dem Gefühls-, Wil­lens- und Erkenntnisvermögen, deren Produkte unsere in Kunst Wissenschaft Techi;lik bestehende Kultur darstelien, ebenso wie von den seelisci1en Leistunge~ der höheren Tiere absehen, und beschränken uns der Hauptsache nach auf die Eigenschaften, die auch den einfachsten Lebewesen sicher zukommen.

Bei diesen niedersten Lebewesen ist schon die Sonderung von pflanzlichen und tierischen Gebilden oft nicht möglich1 so augenfällig beide Gruppen auf höherer Stufe sich voneinander unterscheiden. Aus diesem Grunde und aus an­deren Gründen wurde ein Reich einfachster, einzelliger Lebewesen abgesondert, von dem man annimmt, daß es i~ seinen Eigenschaften denen der ursprünglich ersten Lebewesen noch am näch5:ten steht: das Reich der Urlebewesen Proti­

, sten, das wieder nach Möglichkei~ in: Protophyten und Protozoen, in ur;flanzen ·und Urtiere geschieden wird. (Vgl.!den Artikel Hartmann.) . Lange Zeit hat man eine ch~m-ische Definitiori des Lebens für möglich

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WILHELM Roux: Das Wesen des Lebens

und gesucht, indem man annahm, daß es eine "einfache", in sich "ho~ also gleichartige Lebenssubstanz gäbe und geben könnte, welche

lei<:h'"o:hl alle Eigenschaften des niedersten Lebens habe. Die chemischen Ana· der Lebewesen hatten in der Tat ergeben, daß alle Lebewesen iri ihrer

lau.pt:masse gemeinsam aus bestimmten Verbindungen von nur wenigen ehe~ Elementen: Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Wasserstoff, Schwefel,

Kalium, Natrium, Calcium und mehreren anderen nur in geringerer in ihnen enthaltenen Elementen zusammengesetzt sind. Und alle Tiere

·Pflanzen enthalten in den lebenstätigen Teilen der Hauptmasse nach die~ aus der ersteren Gruppe von Elementen gebildete Substanz, welche als bezeichnet wird. Im Eiweiß wäre also die spezifische Lebenssubstanz

erblicken. Aber den spezifischen Bau des lebenden, also noch lebenstätigen kennen wir nicht. Unsere Kenntnis bezieht sich bloß auf das tote

also auf dasjenige Eiweiß, welches nicht mehr fähig ist, Lebenstätigkeit tsz·uübeJn, somit fehlt uns hier schon die Hauptsache. Und auch dieses toten

wahren Aufbau, dessen chemische und eventuelle physikalische un~ Struktur: die Metastruktur Roux\ ist uns noch unbekannt. Immerhin

es doch eine wichtige Aufgabe, nach der chemischen Konstitution der ein~ lebenstätigen Substanz zu suchen. Doch hat diese von den Physiologen Substanz auch noch nicht alle Lebenseigenschaften, sondern nur eine

undgrurme derselben. zureichende statische physikalische Definition ist ebensowenig

oder zurzeit möglich. Man hat zwar auch in dieser Beziehung all~ erkannt, so z. B. daß eine weiche und sog. kolloide Beschaffenheit der

Teile allgemein vorhanden ist und eine notwendige Vorbedingung : Lebenstätigkeiten darstellt. (Vgl. den Artikel Ostwald.) Aber das tote

be1"eei'.e nkann auch wieder diese Eigenschaft noch haben, ohne lebenstätig sein Sie stellt also nicht das zureichende Charakteristikum des Lebens dar.

noch manche physikalische Eigenschaften, die nur bei Lebewesen ·komrneJo, wie die meisten der typischen Gestalten und sichtbaren Struk~

derselben, die aber nach dem Tode noch erhalten sind, also nicht für allein das Leben bewirken. Auch sie sind also nicht das Leben, sondern bloß Produkte und Werkzeuge

die zum Leben nötig sind.

Nach diesen unzureichenden Versuchen muß es unternommen werden, das auf eine ganz andere und besser bezeichnende und uns besser bekannte zu definieren.

In allen "lebenden" \\lesen geschieht etwas, das Leben selber ist Ge~ ist bestimmte Art des Ge-schehens, es ist Prozeß: Auch aus diesem

keine "statische", also nur einen Zustand bezeichnende, sei es oder physikalische Definition des Baues je zureichend sein können. wären wir sehr froh, wenn wir die Struktur so genau kennten, daß

aus ihr, wenn sie aktiv ist, das Lebensgeschehen ableiten ließe.

Statische und funktionelle Definition '75

Das L~bensgeschehen ist das Leben, es stellt das Leben dar, es erhält zu- n;, gleich das Lebewesen und bewirkt das weitere Leben des Lebewesens. jedes ein~ zeine Teilgeschehen dient normalerweise zur "Erhaltung" des ganzen Lebens­geschehens eines einzelnen Lebewesens. Jedes Einzelgeschehen ist somit eine dem ganzen Lebewesen zu seiner Forterhaltung, also zur Dauer seines Lebens nützliche, ja, nötige Leistung, diese Leistung nennt man Funktion. Die ver· schiedenen Funktionen sind bei den sog. höheren, d. h. den sichtbar geglieder~ ten, also in sichtbarer Weise kompliziert gebauten Lebewesen auch an sichtbar verschiedeneTeile gebunden; die Funktionen sind Produkte der Tätigkeit dieser Teile. Diese tätigen Teile sind also ·werkzeuge im Dienste des ganzen Lebe­wesens, sie heißen Organe, Werkzeuge; das ganze Lebewesen ist ein Komplexorw von Werkzeugen, und heißt daher Organismus. Die anderen Naturkörper werden iJ? Gegensatz dazu auch als Anorgane bezeichnet.

Wir könneh die Lebewesen d.aher nur durch diese Lebensvorgänge, welche Fun1 Leistungen für die Dauerfähigkeit des einzelnen Lebewesens oder altruistisch d~e auch füt eine Gemeinsamkeit von Lebewesen sind, charakterisieren; nur eine funktionelle Definition des Lebens ist zurzeit möglich.

;Die .allgemeinen, allen Lebewesen ,.bei voller Aktivität 11 ohne Ausnahme_ Die

·z'-lk?mril~nden Leistungen sind folgende: ~~=: .Um mit dem Bekanntesten und zugleich Fundamentalsten, Nötigsten zu

:~beginnen, so weiß jeder, daß all~ Lebewesen: Pflanzen und Tiere, absterben, Wenn es ihnen nicht möglich ist, ~euen Stoff aufzunehmen. Sie brauchen stän- ·

·_dig St()ff, auch wenn sie nicht wachsen, nicht ihn aufspeichern, sie "verbrauchen' 1

ihn in irgendeiner Weise. Er ist dann verwendet und nicht mehr neu "verwend~ bar", .obgleich er in seinen Elementen-noch vorhanden ist.

~ Er wird verändert; und das :Veränderte wird ausgeschieden. -:" _:Ohne den neuen Stoff verhungern, verdursten sie; das ist die Folge desLeistu ):~toH:wechsels" den alle Lebewesen haben, solange sie leben, d. h., solange sie Stoff·

. )<~b,,m,tätig sind. Manche niedere L~bewesen, z. B. Infusorien, können durch Ein~ #oclkn•ung, andere, .iuch höhere, d.urch Einfrieren in einen Zustand übergehen, ,-·· ----, sie nicht lebenstätig sind, a.lso nicht leben, ohne aber deshalb auch schon

zu Seinj denn tot ist, was nie wieder lebenstätig werden kann. Sie aber '"'' 'nna noch .lebensfähig, sie können durch Anfeuchten, durch langsames Auftauen

~eder in den Zustand der Lebenstätigkeit zurückkehren. In diesem Zustande des bloßen "Nichtlebens" ruht auch der Stoffwechsel ganz oder fast ganz· es

_findet kein Verbrauch und keine weitere Leistung statt. Im lebenstätigen Zu­~tande dagegen geht beständig Stoffwechsel vor sich, und er ist um so stärker, J_e stärker die Lebenstätigkeit stattfindet.

Dieser ~toffwechsel.setzt sich ~us folgenden einzelnen Vorgängen oder Lei·, Stungen zusammen:

I. ~us der Ve~änderung, D~ss.imilation. Diese findet beständig statt, :;">c,/LSIOI:m§~e:das Lebewesen wirklich lebt. Sie führt den Stoff in einen Zustand über,

nicht mehr für das LebeJes~n brauchbar" ist ja in dem er durch seine ,An"•es·ehihei't direkt schädlich wirk1t. iDie Lebewesen

1

Würden also durch diese !

Page 35: Roux-das Wesen Des Lebens-1915

I

WtLHELM Roux: Das Wesen des Lebens

Dissimilation sich verzehren und sich außerdem quasi mit den von ihnen selber produzierten Stoffen vergiften oder wenigstens mechanisch schädigen.

Da dieses gewöhnlich nicht eintritt, sondern die Lebewesen viele Jahre sc.heinb•ar unverändert am Leben erhalten bleiben und dabei oft sogar an Masse

z~~;~;~;:.' wachsen können, so bekundet dies das Stattfinden noch anderer \ anderer Leistungen. Diese sind:

2.' Die Ausscheidung des bis zur Unbrauchbarkeit Veränderten. 3· Die Aufnahme neuer Substanz, der sog. Nahrung in das Innere, zum

der veränderten Lebenssubstanz. Dabei findet eine qualitative Nahrungs· statt; denn es wird zumeist zu diesem Ersatz geeignete Substanz aufge·

nom1ne.n .. Diese Nahrung dient teils als Energievorrat zum Betrieb der Lebens· m'>Schii' 1e, teils zum Ersatz abgenutzter Maschinen teile. Dazu ist nötig:

4- Die Assimilation, die Umwandlung der Nahrung in neue Lebenssub­resp. in neue, zum bloßen Betriebe der Lebenstätigkeit geeignete Substanz.

Erstere· Leistung ist je nach der chemischen bzw. physikalischen unsicht­Struktur, der Metastruktur der_ lebenstätigen Substanz als chemische., · und "morphologische" Assimilation (Roux) zu unterscheiden und"'' sind natürlich um so schwieriger, je komplizierter diese Lebensstrdktur ist.

Die Assimilation zum bloßen Ersatz der abgenutzten Lebensstruktur ist nur Reparation. ~it diesen vier Leistungen ist der Stoffwechsel im Prinzipiellen charak­

ceriSH!rt· Er macht das Lebewesen schon an sich unverändert erhaltungsfähig fortwährender Veränderungen.

Physiologen nehmen an, daß es besondere Lebenssubstanz gibt, die nur liese lleisttmg;en hat, und diese Substanz ist es, welche sie chemisch zu charakte·

s~chen. Sie~eißt Isoplasson (.?-o ux 1892) oder Biogen (V erworn r898). gtbt aber kem Lebewesen, dessen Leistungen mit diesen vier Leistungen

!erscJo,·o·J pft wären. Lebewesen haben ferner, wenigstens zeitweise, das Vermögen ihre

. ~pezifische Lebenssubstanz zu vermehren, also das Vermögen, 's. des eztftschen Massenwachstums. Von dem "bloß dimensionalen" Wachs-

(Roux), von der Vergrößerung bloß einer oder zweierDimensioneneineS ohne Vermehrung seiner Masse, welches Wachstum also nur durch Um­

ag,eru.ng schon vorhandener Substanz geschieht und daher eine rein gestal-Leistung ist, sei hier abgesehen. "

Dieses Massenwachstum geschieht zwar durch die Assimilation und zwar Sinne der Bildung der ganzen Lebenssubstanz (nicht bloß der Re;aratur ab·

. Teile); es .wird aber bloß dann sich ergeben, wenn die Assimilation 1st als der Verbrauch von Lebenssubstanz durch Dissimilation und

~usS<oheidlung.

U~sächlich betrach_tet kann dieses Wachstum selbständig, d. 4. von ande­Letstungen, z. B . .vom Verbrauch unabhängig stattfinden. Es kann aber

durch deri funktionellen Verbrauch bei anderen Leistungen oder direkt

Überkommene funktionelle Definition des Lebens I77

durch diese. angeregt werden; dann stellt es Überkompensation im Ersatze des Verbrauchs, reine Aktivitätshypertrophie dar. Immerhin geschieht das Wachstum durch Assimilation, also durch ein dem Stoffwechsel zugehöriges Geschehen, weshalb es dieser Gruppe von Leistungen zuzurechnen ist.

Ferner haben alle Lebewesen wenigstens zeitweise das Vermögen: 6. derBewE aktiven Bewegung-, sei es Bewegung auf äußeren Anlaß hin, die sog. Re· flexhewegung, oder ohne wahrnehmbare äußere Ursache, die sog. automatische Bewegung. Bei dieser Bewegung wird ein Vorrat von Energie aktiviert, aus­gelöst. Also muß die Energie vorher aufgespeichert sein, es muß Speicherung vorher stattgefunden haben, was auch eine besondere Art des Geschehens beim Stoffwechsel (sog. Ektropismus, Hirth, Auerbach) ist.

Weiterhin kommt dazu: 7· die Vermehrung der Zahl der Lebewesen mit Fon

der Erhaltung ihrer Eigenart, also 8. mitVererbung. Diese beiden Leistungen ve~ werden stets gemeinsam durch zwei Vorgänge bewirkt. Letztere sind: die Verdoppelung aller nötigen Keimteile durch entsprechende Assimiiation (die Qesamtmasse kann, braucht aber deshalb nicht notwendig größer zu werden) und dann die Teilung des so in sich doppelten Gebildes durch einen Mecha­n!smus, welcher die richtige_ Sonderung aller verdoppelten Teile voneinander, die sog. qualitative Halbierung Roux' bewirkt. Durch diese beiden ~~istu.ngen _wird bewirkt, daß die Nachkommen die Eigenschaften der Eltern erhalten.

Von Details, wie der eventL Vererbung neuer Eigenschaften der Eltern, ~uß hier ·abgesehen werden. Diese werden in einem besonderen Abschnitt behandelt. (Vgl. den zweiten Artikel ] ohannsen.)

Das siD.d die acht Elementarfunktionen, die allen Lebewesen von den· . niedersten bis zu den höchsten Tie~en und Pflanzen zukommen. Die Pflanzen h~ben? obschon es z. T. weniger auffallend ist, gleichfalls die Fähigkeit der Auf­n~hme von Stoffen (Kohlensäure,' Wasser, Mineralien), der Assimilation dieser,

.ß~i' 1\tl:Sscheidung (Sauerstoff), so'Yie der Bewegung, wennschon letztere weniger i~_- _ qe! ·Form- der äußeren Ortsveränderung als allgemein als Protoplasma­

-: bewegung in den Zellen vorkommt~ Die anderen Leistungen: die des Wachstums, ·de.rVermehrung mit Vererbung sind auch von den Pflanzen jedem bekannt.

Von den allerniedersten, allereinfachsten Lebewesen abgesehen, kommt Entwi _allen anderen noch 9. das Vermögen der sog. Entwicklung, das ist die Bil­

'd,ung bestimmter, meist recht komplizierter Gestaltung von einem 11 einfach erscheinenden Ausgangsstadium" aus zu, die Gestaltbildungen, wie sie die ver­schiedenen Pflanzen- und Tierklassen, Familien, Spezies charakterisieren.

Das ist die Übersicht über die neun seit lange bekannten Leistungen der ---Lebe:wesen, welche diese Körper als Lebewesen charakterisieren. Sie bestehen

im Stoffwechsel, in Bewegu~g, Wachstum, Vermehrung mit Vererbung "t , '""'"m~ist noch Entwicklung. All~ diese Leistungen sind nicht bloß erschlossen, vk<son,de!:,n durch taUsendfältige BeoJ?aqhtungen und Experimente sicher ermittelt.

die_ Gesamtheit dieser }:.-eistungen unterscheiden sich die Lebewesen ,·;;. '~"·'~" deutllich Yon den Anorganeh. ·

'· ECd.(J:4l<.••,Bd, All·g. Biollogio i

Page 36: Roux-das Wesen Des Lebens-1915

,., .

WILHELM Roux: Das Wesen des Lebens

Aber es muß doch die Frage aufgeworfen werden: Ist das Wesen des Lebens wirklich Voll erfaßt, auch wenn wir von den bisher nicht erwähnten, we·

für viele Lebewesen sicher bekannten seelisChen Leistungen der höhe-Tiere, dem Gefühls-, Willens- und Erkenntnisvermögen hier absehen, ob­

einige Forscher solches Vermögen in einfachster VV:eise auch den nieder­Lebewesen zuerkennen? Nein! Wenn wir uns das uns bekannte Lebensgeschehen recht deutlich und

hlJ.,>'nrilo vorstellen, so haben wir das Gefühl, daß uns doch bei der vorstehen· Definition noch etwas den Lebewesen allgemein Eigenes1 und zwar etwas Wesentliches, Charakteristisches fehlt. Es ist keine einzelne besondere Art Leistung, etwa wie die Drüsensekretion (die wir als aus Teilen des Stoff­

bestehend, hier nicht besonders aufgeführt haben), sondern etwas All­~rrteiJOei:es, etwas allen Leistungen Zukommendes. Ist es in einer der früheren

enthalten? Ernst Haeckel nennt r866 Organismen alle jene Naturkörper, welche die

jge:ntünilicohe•n Bewegungserscheinungen des "Lebens" und namentlich ganz all· diejenige der Ernährung, ferner willkürliche Bewegung1 Empfindung

Fortpflanzung zeigen. Das ist die funktionelle Definition, wie sie vor· nur ausführlicher, dargelegt worden ist.

Der bedeutende Physiologe E. Pflüger definierte das Leben folgender· · ,,Der Lebensprozeß ist die intramolekulare Wärme höchst zersetzbarer

Dissoziation sich zersetzende, in Zellensubstanz gebildeter Eiweiß­Ol<•kü,le, welche sich fortwährend regenerieren und auch durch Polymerisie­mg;~w,~cbtseJo." Diese Definition beziehtsich wesentlich nur auf den Stoffwechsel.

H •'.riYeirt Spence:r definiert (1863) das Leben als reine bestimmte Kombi­gleichzeitiger als aufeinander folgender Verände·

I - bezeichnet. schließlich als die allgemeinste und vollkommenste De­, vom Leben folgende Formulierung: "Leben ist die fortwährende An­

innerer Relationen an äußere Relationen." Diese Definition verflüch­allen konkreten Inhalt: Dasselbe ist bei einigen neueren Definitionen

Carl Hauptmann bezeichnet unter Berücksichtigung der Definitionen d_u Bois_ Reymo nd, für den das 1,labile Gleichgewicht" das Wesent­des Lebens ist, und anderer Autoren die Lebewesen als Systeme, in denen einfache Massenteilchen, sondern verschiedene Prozesse sich gegenseitig

Gleichgewicht halten. John Brown definiert: Das Leben ist die Eigenschaft der Körper, durch

erregt zu werden. Bernhard Rawitz, der neueste Autor, sagt (1912), wohl imAnschluß an

flüger: "Leben ist eine besondere Form der Molekularbewegung und alle Le­:ensällß<orutng:en sind eine Variation davon."

· nur diese Definitionen kennen würden, so würde niemand sich ors:tellle•lkönnen, was ein Lebewesen ist. Keine vonihnen gibt deutlich auch das,

uns nach dem vorstehend Gesagten noch fehlt. Was ist das noch Fehlende?

Die Autoergie der Lebewesen 1)9

Es ist das was man unklar als Innerlichkeit der Lebewesen bezeichnet. Dito I

Diese besteht 'offenbar in noch etwas ganz Besonderem außer den einzelnen Leistungen. .

Was ist aber dieses Besondere? Worin besteht diese Innerlichkeit? Ich glaube das vor drei D~zennien (in der Schrift über den Kampf der Teile) als in zweierlei bestehend erkannt zu haben.

Das erste ist die Selbsttätigkeit (Autoergie, Roux) der Lebewesen. Di? • ke1t

Diese besteht darin, daß alle diejenigen Faktoren, welche dte genannten n_eun du·

"Arten" von Leistungen "bestimmen", ih den Lebewesen selber enthalten smd1

während aber zum Bewirken dieser Tätigkeiten, zur Vollziehung noch äußere Faktoren nötig sind. Erstere nannte ich Determinationsfaktoren, letztere Reali· sationsfaktoren. Erstere sind in jedem Lebewesen, welches andere "Art" der Tätigkeit und Gestaltung ausübt, entsprechend andere; letztere sind für vi~le sehr verschiedene Lebewesen dieselben, so Sauerstoff, Wasser und sonstige Nahrung der Tiere, Licht und Kohlensäure für die Pflanzen.

Also nicht das Geschehen im Ganzen, sondern bloß die besondere Art des Geschehens wird von innen her bewirkt, also ,, bestimmt''; die Ausführung des so Bestimmten wird z. T. von außen her bewirkt.

Iri diesem kausalanalytischen Sinne, in bezugauf den Ort der "determinie­renden" -Faktoren können wir somit von Selbsttätigkeit der Lebewesen in allen ihren_: Leistungen reden, als einem wesentlichen Charakteristikum. Und da diese wichtigsten Faktoren alle innerhalb des Lebewesens liegen, bewirken sie

·seine ·Besonderheit, seine Innerlichkeit. Die oben aufgeführten neun Leistungen sind also alle Selbstleistungen, so- J

A • • "1 • S lb h • Solb mit im einzelnen: I. Selbstveränderung1 utodisSimi atlo. 2. e staussc e1- des

dung, Autoexkretio (und Autosekretio). 3· Selbstaufnahme, Autorezeptio. · 4. Selbstassimilation, Autoassimilatio, chemische und morphologische. 5· Selbst· wa~hstum, Autocrescentia. 6. Selbstbewegung, Autokinesis. Auch die Reflex·

, bewegung ist-Selbstbewegung irri Sinne unserer Definition des Selbst, insofern, als die 1\.rt der Bewegung und die Größe derselben, also das Quantum der akti~

;: vierten Energie, die Größe der durch die äußere Einwirkung 11Veranlaßten" . Bewegung großenteils durch die in dem Lebewesen liegenden Aufspeicherungs­

und Labilisierungsfaktoren bestimmt wird. 7· Ferner Selbstvermehrung, Auto­. proliferatio, mit 8. Vererbung1 Hereditas, beide bewirkt durch Kombination von Selbstverdopplung der Keimteile in ihrer Anordnung (Autoduplicatio partium) und Selbstteilung (Autodivisio) nach Art der qualitativen Halbierung.

. Da'zu 9. Selbstentwicklung (Autophaenesis, Roux, wörtlich: Selbstsichtbar· - -'Yterdung des im determinierten Zustande zumeist Unsichtbaren).

Durch die Erkenntnis dieser Selbsttätigkeit sind wir nun dem Wesen der LebeWesen viel näher gekommen. Das Lebewesen hat nun ein eigenes Selbst

· und- damit eine .sog. Innerlichke.it. Diese Selbstleistungen bewirken in ihrer Gesamtheit die Selbsterhaltung :des Lebewesens. . Aber diese,Vervollständigun

1g i~t doch noch nicht erschöpfend; sie bezeich- Wa:

n~ch nicht alles, was den Le~eWesen allgemein eigen ist. Was fehlt noch? .,.

Page 37: Roux-das Wesen Des Lebens-1915

WJLHELM Roux: Das Wesen des Lebens

Um uns des noch Fehlenden als nötig und allgemein vorhanden bewußt zu werden, müssen wir uns die Erfordernisse der millionenjährigen Dauer der Lebewesen und der tausendjährigen Konstanz vieler Spezies derselben klar­machen_ Die millionenjährige Dauer der Lebewesen ist von ganz besonderer Art.

Noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts glaubte man, daß die in einer wässerigen Flüssigkeitoder in einer Pfütze nach einigen Tagen oder

W<>cn.en sich findenden vielen kleinsten Lebewesen in ihr durch sog. Urzeugung, von selber entstanden seien. Paste ur zeigte aber an Nährflüssigkeiten wel­in kleine Glasröhrchen getan, gekocht und dann sogleich durch Zuschm

1

elzen Gläschens von der Außenwelt abgeschlossen waren, daß.auch im Lauf von Mo­

keine Lebewesen darin entstehen. Dieses Experiment widerlegte die rasche ~~~:~::~'i; und bekundete, daß die in isoliert stehenden Flüssigkeiten ge­h Lebewesen aus von außen hinzugekommenen Keimen von Lebewesen entsteh•en.

Man glaubte vorher auch noch, daß in unseren Körpersäften, so in den Ausschwitzungen, den Exsudaten, neue kleine lebende Gebilde,

Zellen (~~s welch:n alle höheren Lebewesen zusammengesetzt sind), von entstunden. V1rchow, Remak und viele andere Forscher erwiesen durch zahlreiche Untersuchungen, daß in diesen Flüssigkeiten nur an Orten neue Zellen entstehen, wo schon vorher Zellen vorhanden waren.

dieser Befunde wurde der Satz: Omnis cellula e cellula Jede Zelle von einer Zelle ab, aufgestellt. '

war die Urzeugung, die neue Entstehung lebender Gebilde ohne Ab­.tamrlmng von anderen Lebewesen in der Jetztzeit sogar für die einfachsten

Gebilde . und selbst aus organischen Säften als Matrix zurück­die höheren, in typischer Weise sichtbar kompliziert gestalteten

Lebe·wese.' H". Lr Urzeugung vorher schon allgemein als unmöglich angenommen. Jetzigen Lebewesen müssen also von der unbekannten früheren Entste­Herk~nft einfachster Lebewesen an kontinuierlich durch Teilung ver-­

me,hrt~rorrlensem un~ allmählich durch erbliche Umwandlung so überaus man-1igfaltig geworden sem, wie sie es jetzt sind; und viele Familien von ihnen

vieltausendjährige Dauer haben, wie dies auch viele in den Schichten Erdrinde aufgefundene Versteinerungen bekunden. ~u dieser Dauer trugen alle die genannten neun Funktionen, sowie auch die

äußeren Verhältnissen augepaßten Gestaltungen bei; besonders der eben darge~egt~ Umstand, daß alles Wesentliche der vererbten Eigen-

der Lebewesen m dtesen selber "determiniert" ist. Wie diese Selbstdeter­bei de_r B~ldung neuer Stämme, Klassen, Familien, Spezies entstanden

ob .~urch Wlrkb.che "Selb.ste~twicklung" oder als abhängige Differenzierung . außere altenerende Emwukung mit nachfolgender Vererbung der neuen

oder aus beidem gemeinsam, das wird in der Abstammunas­erörtert. (Vgl. den von R. Hertwig und R. v. Wettstein redigiert~n

Band der bio!. Abh. d. K. d. G.)

Hungerregulation !8!

Aber selbst die Autoergie in den neun Leistungen vermag den Lebewesen 1

noch nicht dies lange individuelle Dauerfähigkeit und die Konstanz der Spezies, Familien usw. zu verleihen. Denn es werden sich in den großen, oft schon in kleinen Zeiträumen wesentliche äußere Umstände verändern1 diese Änderungen werden auch schon am einzelnen Lebewesen Änderungen sowohl in bezug auf die Beschaffenheit wie auf die Selbsterhaltungsfähigkeit zur Folge haben.

Wenn z. B_ Nahrung am Aufenthaltsorte zu spärlich geworden ist, so wird. das Lebewesen Umkommen, wenn nicht etwas geschieht, daß trotzdem genug Nahrung zum Ersatz des Veränderten erlangt werden kann. Um .~auerfähig zu bleiben, muß also bei Nahrungsmangel in dem Lebewesen eine Anderung ein­treten, die die Nahrungsbeschaffung für dasselbe bessert: geschehe dies dur.ch Steigerung der chemischen Affinität für die in zu geringer Konzentration 1m umgebenden Medium vorhandene flüssige Nahrung oder durch Veranlassung von Bewegungen, welche die aktive Aufnahme von Körnchen festerer Nahrung verb€ssert

1 wie Ausstrecken von Pseudopodien (Scheinfüßchen) oder Ortsver­

änderung nach jeder Richtung, welche wenigstens die Möglichkeit darbietet, .-daß einige der vorhandenen .Lebewesen an einen Ort mit besserer Ernährungs­

gelegenheit gelangen oder eventl. gar Ortsveränderung nach der Richtung stär­, kere"r Konzentration der flüs$igen Nahrung. Dazu kann ferner auch die ver­ni~hrb~· Selbstteilung

1 hier bei Nahrungsmangel also ohne vorheriges Wachstum,

blOß durch inneie Verdopplu?g unter Umarbeitung vorhandenen Materials be­hilflich sein (eine Vermehrung) die nach Eugen Schultz in der Tat in Hungerw periodenbei manchen tierischen Lebewesen vorkommt),~ weil dadurch die Lebe­wesen gleichfalls auf einen größeren Raum mit eventl. z. T. vermehrter Ernäh­rungsgelegenheit verteilt werden. Diese durch Nahrungsmangel in dem Lebe­W~sen bewirkte Änderung muß also von der Art sein, daß in ihm Reaktionen veranlaßt werden, welche zur Verbesserung der Ernährung führen. Das ist eine S:~lbstregulation der Nahrungsaufnahme. Den sie vermittelnden Zustand nennen wir bei den höheren Tieren 11 Hunger". Aber auch die niedersten Lebe· ·wesen schon müssen Hunger haben, um dauerfähig zu sein, wobei _das Wort Hunger im rein mechanisch regulatorischenSinne, nicht aber in dem Sinne einer bewußten Empfindung gebraucht ist.

Wenn ferner die Lebewesen irrfolge verstärkter Tätigkeit mehr Stoff ver· braucht haben, wenn also größere Nahrungsaufnahme zum Ersatz nötig ist, sc muß auch dies den Hungerzustand bewirken und damit die Selbstregulation ·in der Ernährung veranlassen. Ohne diese Selbstregulation und diejenigen det

··.anderen Erhaltungsleistungen wären scholl die einzelnen Lebewesen nicht dauer· fä_hig, also auch nicht die Arten, Familien, Klassen.

Wenn ferner die äußeren Umstände, z. B. die klimatischen Verhältnisse de! , A:i,tfenthaltsortes sich erheblich ändern, oder wenn~ mit dem Aufenthaltsort dies(

<i~:~~·~~;~i~~:,·geändert werdep1 ,so werden dadurch auch manche bisher 11be· :- Qualitäten des Lebewesens durch die anderen äußeren Einwirkunger ·•·~bgeä:ndert:,weroien, trotz derl 11 ~elbstgestaltung" der typischen Gestaltungen ii

.··. ' '""'" <>b.en definierten Sinne; 4elln ganz widerstandsfähig gegen alterierende Ein

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WILHELM Roux: Das 'Wesen des Lebens

Wirkungen wird durch die Selbstdetermination der typischen Gestaltung das Lebewesen nicht.

Da gleichwohl viele Spezies jahrtausendelang· konstant blieben, sind Wir­im Individuum nötig, welche die alterierenden äußeren Einwirkungen

ausgleichen und so im Wechsel der Umgebung die Konstanz der Art be· Das sind also gestaltliehe Selbstregulationen, welche wir aus

Konstanz der Spezies erschließen. Andere gestaltliehe Selbstregulationen, nämlich gegen direkt störende, d. h.

Erhaltung des Lebewesens gefährdende Einwirkungen, sogar schon während Entwicklung vorkommende, können wir im Experiment direkt beobach-

z. B. werden Zerstörung oder Verlagerungen von Furchungszellen, hoch­Deformation des Keimes oft, ohne die sich entwickelnden Lebewesen

~'~~~::,~::i~~~e~r~tr~a~g~;e;n:·,:~i;ndem trotz dieser hochgradigen Störungen schließlich Lebewesen entwickelt werden. Das beweist einesehr hochgradige

· der Gestaltbildung. Ohne dieses Vermögen _würden in freien Natur die meisten sich entwickelnden Wesen direkt absterben oder

lebensfähige Mißbildungen hervorbringen, denn an störenden Einwir­fehlt es trotzmannigfacher Schutzvorrichtungen, wie Eihäute, bei dem Zustande der Keime wohl nie. (Vgl. den Artikel Laqueur.)

Wir haben damit in der Selbstregulationsfähigkeit der Erhaltungs­Gestaltungsfunktionen noch eine allgemeine Eigenschaft der Lebewesen er­

und zwar ist das eine solche, welche die Lebewesen in besonders hohem von den anorganischen Gebilden unterscheidet; denn derartiges Gesche~

kommt im Reiche des Anorganischen in ähnlicher Weise nicht vor. In: manchem großen Naturgeschehefl findet wenigstens ein "Ausgleich" statt,

lange Dauer ermöglicht, so z. B. die Kombination vom Abfließen des , . von dem Lande in die Meere und Seen, von Verdunstung daselbst, Bil­

Von Wolken und von Regen, wodurch das Land wieder befeuchtet wird. e~st dann läge Selbstregulation vor, wenn diese Kombination von Vor-

derartig wirkte, daß es über trocken gewordenem Lande mehr regnete, über noch feuchtem, was aber nicht der Fall ist.

Die Selbstregulation in der Ausübung aller Selbstleistungen ist eine sehr

h:;:~::~:~~s~=:~~ Eigenschaft der Lebewesen, sie erhöht das Fürsichsein, die In-e: Lebewesen in hohem Maße.

Wenn wir das Ergebnis unserer Darlegung kurz zusammenfassen, so sind ie Lebewesen Naturkörper, welche durch eine Summe von acht, bzw.

meisten von neun eigenartigen Vorgängen charakterisiert sind. Diese Vor­tragen sämtlich dazu bei, das einzelne Lebewesen und noch mehr ihre

i~~~~t:;~!~:zu erhalten, und so die wund er bare Dauerfähigkeit derselben :e Einige von ihnen, die Leistungen Nr. 4, 5, 7 und 8 machen das ;ebeweS<:n auch in seiner speziellen Eigenart dauerfähi.g. Diese Dauerfähigkeit

aber noch dadurch sehr vergrößert, daß die Faktoren, welche die ' . dieser Leistungen bewirken, in dem Lebewesen selber enthalten daß somit alle-Leistungen in diesem Sinne "Selbstleistungen", Autoer-

Selbstregulation als allgemeines Lebensgeschehen

giendes Lebewesens sind; und zweitens wird die Dauerfähigkeit noch~als und in besonders hohem Maße dadurch gesteigert, daß alle diese Selbstletstungen noch mit Selbstregulation in der Ausübung verbunden sind, so daß_ auch_in manchem Wechsel der äußeren Verhältnisse die Dauer des Lebens emersetts dadurch möglich ist daß Störungen ausgeglichen werden, und andererseits die Dauerfähigkeit hers~ellende Anpassung des Lebewesens an die geänderten äußeren Verhältnisse stattfindet.

Alles was die Dauerfähigkeit" der Lebewesen herstellt oder erhöht, sind , wir gewohnt als z;eckrnäßig zu beZeichnen, ~.n.deU: Gefühl, daß die Dauer-

fähigkeit die nötige Vorbedingung der Lebenstatlgkett darstellt. . · Wir haben jetzt eine rein tatsächliche, eine alle bekannten allgememen Tatsachen umfassende Definition vom Wesen des Lebens gewonnen und haben es dadurch genauer bezeichnet, als die üblichen, den speziellen Inhalt verflüch· tigenden oder Wesentliches übergehenden Definitionen der Philosophen und selbst der Physiologen. . .

Ein Lebewesen ist durch unsere Definition vollkommen kenntheb besttmmt. Jedes Gebilde, welches alle die ~rst genannten acht Leistungen mit Au_toergie un_d_ Selbstr~gulation vollzieht, werden wir ein Lebewesen nennen, mag es Irgend­

;, -,W1~.~_h~mi~ch ocler·physikalisch b:~schaffen und irgendwie entstanden oder ~ünst· -lich:hervorgebracht sein. Aber ;yielleicht gibt es in bezug auf den chemischen

. Bati h-nd auf die allgemeinste pliysikalische Beschaffenheit solcher Wesen nur ;· ·;~~~ig V~iationsmöglichkeiten, ~- B. ist ein sog. halbflüssiger bzw. kolloider Zu­: · .. stati.d. eine notwendige Bedingur).g vieler dieser Vorgänge.

Glauben wir somit das Lel;len durch seine Leistungen im allgemeinsten n>''OPl">"''u>•o u charakterisiert zu.haben, sollbehaupten ''wir aber keineswegs,

§li:'::OaL1JliF atich die letzten Ursachen: seines Seins und Geschehens erfaßt zu haben. Philosophen suchen hinter den mannigfachen tatsächlichen Arten des

>4\!;';:>,~'b!'l'''gescllel•erLS noch etwas Einheitliches für sich. r:~e~st:~;~~~:t~ ist in die~em si~nc deutbar die ·von uns als eine universelle Ei- Die

::: der Lebewesen erkanrlte Selbstregulation aller Funktionen. Und esse~· je,f:zt einmal wieder eine Periode gekommen, in der man diese Einheit i~ ei·

:nem ·:auch die ,,Gestaltungen" beherrschenden zwecktätigen Agens, emer ".·Sog. Entelechie oder Gestaltungsseel~, den: Ar_cheus des Paracel~~s an· ;nimmt. Das ist die bequemste, aber auch eme kem Emzelgeschehen erklarende

· es der strikten Kausalität unterstellende Erklärung. Sie hat daher für die ,>:oÄ='co Naturforschung keinen Wert; dies auch deshalb nicht, weil diese Ente-

nicht experimentell faßbar ist. Die Naturforscher haben die unendlich l~:,(:sct1wi>erige,re Aufgabe, die ganze I-:Iarmonie des Lebensgeschehens und die Selbst­

J:rei:ulati>on>er "möglichst weit' 1 ohne zwecktätige "gestaltende" Seele zu erklären. philosophischen Verlegenheitsannahmen, die keinen einzigen Vor­

·der Art sein"es GeschehenJ ufid in seinen Faktoren aufzuklären gestatten,

(~:~~::~~'~ leiderjetzt auch in de1K.reise von Naturforschern wieder Kurswert, :~~ bel-eits eine große Gru. p~ früher wunderbarster Selbstregulationen: lpiie,ifu.'oktionellen Anpassungen

1 er Struktur und Gestalt der Organe an neue

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' '

\VILHELM Roux: Das Wesen des Lebens

Funktionsweisen, in einer lückenlos kausalen Art erklärt ist. (Siehe Lit. 1881 und den Artikel Laqueur.)

Diese Ableitung tausendfach verschiedenen, anscheinend nur durch ein zwecktätiges Agens möglichen Gestaltungsgeschehens ist zudem so einfach daß sie nun hinterher Manchen als eine Selbstverständlichkeit erscheint. Ka~n es mit den anderen Selbstregulationen nicht auch so sein? jedenfalls ist es wissen· schaftlieh exakter, wenn auch viel schwieriger, eine solche Ableitung zu suchen, als gleich ein zwecktätiges Agens zu Hilfe zu rufen und damit auf eine exakte naturwissenschaftliche Erklärung zu verzichten.

Künstliche Lebewesen.

Nachdem wir das Wesen des Lebens im allgemeinsten seines Tatsächlichen charakterisiert haben, sind wir geeignet vorbereitet, um zu der jetzt mehrfach gemeldeten künstlichen Herstellung von Lebewesen Stellung zu neh· men. Es gibt, wie eingangs bereits erwähnt wurde, zurzeit eine Anzahl von Ex· perimentatoren, welche glauben, Lebewesen künstlich hergestellt zu haben; und dieser Glaube wird bereits in populären Zeitschriften als Tatsache .und als neuer TriumPh der Wissenschaft dem Volke verkündet. Sehen wir zum Schlusse wie es mit diesem auch von uns erhofften und erstrebten Triumphe zurzeit j~ Wirklichkeit steht.

Unter den beteiligten Autoren sind verschiedene Gruppen zu unterschei· den. Die einen sagen: Alles ist belebt: die Erde, die Kristalle, es gibt keine un­belebten Körper. Diese Autoren arbeiten mit einer so vagen Vorstellung vom Leben, daß ihre Auffassung nicht ernstlich in Betracht kommen kann. Da alle ~at~rkörp_er veränderlich sirid; vie~e (abe~ durch äußere Anlagerung) wachsen, v1ele

1

zerteilt werden oder gar schembar s1ch selber zerteilen, so sind sie Lebe-­wesep iin Sinne dieser Autoren. Daß aber keine "Selbsttätigkeit" in dem oben defi~ierten kausalanalytischen Sinne vorliegt, daß kein innerer Stoffwechsel mit Selb~tzersetzung, Selbstausscheidung, Selbstaufnahme, innerer Selbstassimi~ latioh, ferner keine Selbstbewegung, keine Selbstteilung, daß also nicht einmal die einfachsten "Selbstleistungen" diesen Gebilden eigen S:ind, das wird von diesen Autoren nicht gewürdigt.

Viel höher stehen die Leistungen einer anderen Gruppe von Autoren. Es sind Experimentatoren, welche im Laboratorium sich bemüht haben wirkliche G~bilde mit Lebe~s~igens~haften künstlich hervorzubringen. Tropf~n von ge· w1sser Substanz, d1e m bestimmtem Medium eine Niederschlagsmembran umsich bilden, durch welche Membran dann je nach dem Verhältnis der Konzentration inn_en un~ außen F~üssigkeit ein- oder austritt, wobei das Gebilde größer oder ~lemer wtrd, also wachst oder schwindet. Doch liegt auch hier nur eine äußere Ahnliehkelt vor,_ aber kein dem organischen entsprechender Stoffwechsel mit _Selb~tveränderu~g, Selbstassimilation, nicht einmal strenge ,,Selbstaufnahme'' 1m Smne der ob1gen; das 'Wesen bezeichnenden Definition des Selbst" Und dieanderenFunktiorien: Selbstbewegung, Selbstteilung, Vererbu~g, fehie~gan~.

Andere Forscher betrachten das stets bloß äußere Kristallwachstum gleich~

Künstliche Lebewesen

wohl als d{:m (durch innere Stoffaufnahme und Assimilation charakterisierten) organischen Wachstum entsprechend und vergleichen die interessanten Gestal­tungen, die bei ersteren vorkommen, mit ähnlichen organisc~1en Gestaltungen. Es ist auch gelungen, vielen organischen Gebilden recht ähnhch gestaltete Pro­dukte künstlich entstehen zu lassen, die auch wachsen. Gleichwohlliegen auch hier keine den organischen vergleichbaren "Selbstgestaltungen" durch innere determinierende Faktoren vor. Wieder andere Forscher produzierten kleinste Gebilde die fortwährend oder zeitweilig in Bewegung sind, flüssige oder halb· flüssige 'Gebilde, z. B. sog. flüssige KriStalle, Körper, deren Gestalt sich ~ndert und die in kleine Stücke zerfa~len, also angeblich "sich" teilen, ohne daß aber erwiesen wäre, daß wirklich die die "Art" dieses Geschehens bestimmenden Ursachen in den Gebilden selber gelegen sind. Auch fehlen andere nötige Lei· stungen der Lebewesen, so der ganze Stoffwechsel, sowie die die Dauerfähigkeit ·erhöhende Selbstregulation. "Qualitative Halbierung 11 ist bei diesen "homo· genen 11 Gebilden bei ihrer mechanischen Teilung keine _bes~ndere Leist~ng, sondern selbstverständlich. Manche Forscher versuchen mtt Hilfe der kollotden Beschaffenheit, also mit der Leimähnlichkeit, die den organischen Gebilden eigen ist, organische-Gestaltungen nachzuahmen. Ferner ':urde_n Tropfen.~rodu­ziert die ähnlich den sog. Amöben kriechen, sogar gegen eme R1chtung starkerer Kön~entration im MediUm hinkriechen; aber sie wachsen nicht und haben nicht einen dem oben charakterisierten organischen entsprechenden Stoffwechsel.

Überschauen wir die Ergebnisse dieser Bestrebungen, so sehen wir, es sind mit' Fleiß undAuSdauervon Herrera, Leduc, Kuckuck, Butler~Burke, 0. -Lehmann u. a. vielerlei Vel-suche gemacht, und Gebilde mit je einigen der neun Lebensleistungen produziert worden. Diese Arbeiten sind verdienstlich und ihi-e Ergebnisse sind z. T. an sich sehr schätzenswert. Aber zu ~edau:rn ist, daß bei der Bewertung der gewonnenen Gebilde als Lebewesen mcht d1e vor~ stehende zureichende, funktionelle und teils schon kausale, also entwicklun~s­mechanische Definition der niedersten Lebewesen zugrunde gelegt worden 1st.

- Es fehlt jedem dieser" Kunstgebilde noch viel zum Leben: erstens fehlen jedem stets einige der minimalen acht Leistungen, ferner die 11 Selbsttätigkeit" .in unserem Sinne von Selbstdetermination der Art des Geschehens, mindestens der Nachweis der Selbsttätigkeit und durchweg die NB. am schwierigsten her· zustellende Selbstregulation.

Um weiter zu kommen, muß, wie ich schon vor einiger Zeit dargelegt habe, 1

methodisch synthetisch vorgegangen werden. Statt der Einzelversuche muß methodisch versucht werden,-die acht nötigen :

Einzelleistungen in einem einzigen Gebilde zu vereinigen, den Stoffwechs~l aus den oben genannten vier Vorgängen mit Selbstveränderung, Selbstausscheidung

- des. Veränderten, Selbstassimilation, zuletzt auch mit Selbstaufnahme, dann ·mit einem Anfang von mechanischer Hungerregulation im obigen Sinne bei

! Nahrung. Ein;solches Gebilde habe ich Isoplasson (Gleiches-J

~~ ' ~:::~~:~;atg~·e::n~:a~n:n~,t~.,~Dieses muß dann mit niederster Selbstbewegungsfähigkeit )i Es erreic~tso den Rang des Au tokineon (Selbstbeweger).

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WILHELM Roux: Das Wesen des Lebens

Kommt dazu die Selbstteilung, so heißt das Gebilde Auto m er i z o n, Selbstteiler. Diese Leistung wird auf der einfachsten Stufe nicht sehr schwierig werden. Aber unendlich viel schwieriger wird es sein, die Selbstteilung eines Gebildes, das infolge der Vereinigung der bisher genannten Leistungen schon, sei es in sichtbarer oder unsichtbarer Weise, bereits ,,kompliziert strukturiert" sein muß so einzurichten daß jeder besonders beschaffene Teil, so wie er ist, dabei verd~ppelt und jede; von zwei solchen Geschwisterteilen auf eine andere Seite gebracht wird, wie dies der Mechanismus der indirekten Kernteilung der Zellen als qualitative Hal­bierung leistet.

. Dann fehlt ?iesem Automerizon noch die Selbstregulation in der Ausübung dteser letzten Leistungen, die allmählich zu vervollkommnen wäre. Später käme dazu die Produktion bestimmter Gestartungen aus inneren bestimmenden Ur­s~chen, mit Selbstregulation auch ihrer Herstellung (Idioplasson). Dadurch wird das Gebilde in seinem Inneren wieder viel komplizierter und damit würde die jetzt auch "morphologische" Assimilation und die Selbstteilung mit quali­tativer Halbierung noch viel schwieriger.

Man sieht also, daß wir noch sehrweitvon der Herstellung einfachster künst­Lebewesen entfernt sind. Man hat diese hier angedeutete methodische

Synthese solcher Gebilde durch "sukzessive" Herstellung und Häu-ng der einzelnenelementaren Lebensleistungen in einem einzigen Ge-

. noch gar nicht begonnen.

Ob~leich bisher von den Autoren, selbst von Ha e c k e I, immer angenommen tst, daß das erste Leben fast so plötzlich wie bei einer Schöpfung auch bei

·· Entstehung auf einmal entstanden sei, so ist dies im letzteren unmöglich. Dazu sind wohl Jahrh.underte oder Jahrtausende

Et·dg:es•Ch<oh<ms nötig gewesen, indem dauerfähige Arten des Geschehens ent­l_ange andauerten, dabei z.T. durch weitere Einwirkungen variierten,

Wieder die dauerfähigsten am längsten andauerten variierten und so indem immer die dauerfähigen Geschehensarten sich aufspeicherten, so

von den Charakteren der Lebewesen übrigbleiben und andauern denn die Lebewesen gehören zu den dauerfähigsten Gebilden infolge

oben charakterisierten Eigenschaften einschließlich der Selbstvermehrung, und Selbstregulation.

Der spezielle Gang der ersten·Entstehung der Lebewesen ohne Schöpfer wohl annähernd der vorstehend für die künstliche Synthese von mir als bezeichnete gewesen sein:

Von den Grundleistungen des Stoffwechsels mußten wohl die Selbstver· S~lbstaussch~idung und die chemische Selbstassimilation zugleich

en,tst,eh<>n .. Dte bekanntheb leicht durch Selbstentzündung entstehende Flamme .Selbs~veränderungund Selbstassimilation; die Ausscheidung

i:;'~~::~n~:~~;'e~ wtrd mtt durch die Schwerkraft bewirkt ist also keine reine S! sie ist aber doch mit der Schwerkraft stets ~nd ausreichend vor­

Die Aufnahine neuen Stoffes in die Flamme ist noch keine Selbst­mfnahm<e ins Innere; aber sie ist immerhin ausreichend zur Dauerfähigkeit,

Methodische Synthese von Lebewesen r87

sofern nur die nötige Nahrung vorhanden ist. Die Flamme hat auch die Fähig­keit des Selbstwachstums und einer Selbstregulation im Ersatze des Verbrauch­ten, denn wenn sie stärker brennt, bildet sie auch mehr Wärme und as~imiliert rascher aber Hungerregulation hat sie nicht. Wenn aus der Flamme Sich das· selbe Geschehen allmählich bei niederer Temperatur im Laufe des chemischen Erdgeschehens bildete, so war in diesem Isoplasson schon eine sehr dauerfähige Vorstufe des Lebens gegeben.

Von vielen im Laufe der Zeiten zufällig entstehenden Variationen solcher Grundsubstanz des Lebens mußten sich -die dauerfähigsten am längsten erhal­ten, mußten sich aufspeichern. Das betraf zunächst Gebilde mi~ der ~echa­nischen Hungerregulation, dann mit Selbstbewegung und Selbsttellung, Immer sehr bald mit qualitativer Halbierung bei der Selbstteilung und bald nach jeder Erwerbung in derselben mit Selbstregulation. . . .

Es ist nicht auszuschließen, daß das, was so durch unendlich viele Zufälle und. Selbstaufspeicherung im Laufe sehr langer Zeiten des Erd~eschehens von selber entstehen konnte, durch den Scharfsinn des Menschen, bei streng metho· disehern Geschehen schon im Laufe von Dezennien hervorgebracht werden kann. Bei diesen Nachahmungsversuchen werden wir auch die zu diesen Leistungen "nötige 11 besondere chemische und physikalische Struktur ~llmählich erkennen, die die Physiologen bisher vergeblich durch Analyse zu ermitteln .gesucht h<:tbe~. Beide Arten der Forschung, die Analyse und Synthese, müssen Immer Hand m Hand gehen. Und wenn wir auch noch sehr weit vom.Ziel.e sind, so :Vird uns doch diese Art der Forschung der Erkenntnis vom physikalisch chemischen Wesen des Lebens immer näher bringen. (Siehe auch die· Artikel: Protoplasma, von Lidforss, und Kennzeichen der organisierten Substanz von Ostwald.)

Literatur. Roux, w., x881: Der Kampf der Te:ile im Organismus, Kapitels: Ü~er das ~esen des

Organischen. Leipzig. Neudruck: in: Gesammelte Abhandlungen uber En~wJckelungs-mechanik, Bd. I, Leipzig 1895. !: • • ,

_ 1902 : Über die Selbstregulation d~r Lebewesen. Arch. f. Entwtckelung~mechan.'k Bd. 13.

_ 1905: Vorträge und Aufsätze über! Entwickelungsmechanik. Nr. I: D1e Entwickelun.gs· mechanik, ein neuer Zweig der Biologie. Leipzig. Urzeugung S. IOS-II9, Pro biO·

logie S. 149-154· _ xg'o6': Die angebliche künstliche Erzeugung von Lebewesen. Die Umschau, Wochen·

schrift, Nr. 8, - 1907: Über Psychomorphologie. Arch. f. Entw.-Mech., Bd 24-, S. 687. - 1go8: über Psychomorphologie. Arch. f. Entw.-Mech., Bd. 25, S. ]zo. . •

RHUMBLER, L., 1go6: Aus dem Lückengebiet zwischen organismischer und anorgamsm1scher Materie; Ergebn. d. Anat. u. Entw.-Gesch. .

BARFURTH, 1912: Regeneration und Verwandtes. Fortschr. d. natunv1ss. Forschung (heraus­geg. v, Abderhalden), Bd. VI.

, Roux, 1912 : Terminologie der Entw.-Mech. Artikel Probiologie, Automerizon, lsoplasson.

Man vergleiche auch die Artikel bsTw ALD und LIDFORSS im vorliegenden Bande, sowie die letzten Abschnitte des "Kultur de~ Gegenwart".Bandes Naturphilosophie vonE.BECHER.